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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Teppiche stehen für den Traum von einem besseren Leben”

    „Die Teppiche stehen für den Traum von einem besseren Leben”

    Lesia Pcholka gründete 2017 die Initiative VEHA – „als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte”. Denn die sei vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges konstruiert. Seitdem sammelt Pcholka mit Mitstreiterinnen Fotos aus Familienarchiven, um die Alltagsgeschichte der Belarussen visuell aufzuarbeiten.  

    Für das Projekt Najlepšy bok (dt. Die beste Seite) hat die Initiative Fotos von Belarussen in der Provinz zusammengetragen, die sich in den 1920er und 1950er Jahren vor Webteppichen fotografieren ließen. Wir haben mit Lesia Pcholka gesprochen und zeigen eine Bilderauswahl. 

    Die Frau des Fotografen Schura Taranda steht rechts. Privatarchiv Mikola Taranda / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Die Frau des Fotografen Schura Taranda steht rechts. Privatarchiv Mikola Taranda / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

    dekoder: Wie kam es zum Projekt Najlepšy bok
     
    Lesia Pcholka: Najlepšy bok war unsere erste Sammlung und auch das erste Projekt, das vom VEHA-Archiv präsentiert wurde. Wir haben dafür dieses visuelle Thema ausgewählt, das Porträts von Menschen aus Belarus und dem Begriff der Schönheit nachgeht. Im Sammeln von Familienfotos sahen wir eine Möglichkeit, uns mit von allen geteilten Erinnerungen und den non-verbalen Seiten des Alltagslebens zu befassen. Diese Heimatfotografien sind soziale Artefakte, die die Identität, Werte und Ästhetik der Menschen einfangen und aufdecken, wie sie von anderen gesehen und erinnert werden wollen.

    Es ging uns darum, die Menschen durch eine neue künstlerische Herangehensweise aktiv in die Bewahrung des kulturellen Erbes einzubeziehen. Für diese Idee waren die Webteppiche, die auf den Fotos der Sammlung Najlepšy bok als Hintergrund dienen, das perfekte Symbol.   

    Woher stammt die Tradition, Teppiche als Dekoration an die Wand zu hängen, und was verrät das über Belarus in diesen Zeiten?  

    Die Tradition, Teppiche als Wanddekoration aufzuhängen, entstand im ländlichen Belarus, vor allem zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Fotos in unserer Sammlung Najlepšy bok wurden in Dörfern aufgenommen, oft von fahrenden Fotografen, die Webteppiche mit sich führten, um ein einfaches, mobiles Fotoatelier aufzubauen. Sie dienten als Hintergrund für Familienporträts, ähnlich wie die Kulissen in städtischen Ateliers.

    Teppiche und Bettüberwürfe gehörten zu den schönsten Ausstattungsgegenständen in ländlichen Haushalten. Sie wurden von Frauen gefertigt, in Zeiten des Mangels und wirtschaftlicher Probleme. Das Weben war eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Textilien standen für Schönheit, Behaglichkeit und den Traum von einem besseren Leben. Sie wurden als Teil der Aussteuer von Generation zu Generation weitergereicht und rückten so nach und nach ins Zentrum der Inneneinrichtung und der visuellen Kultur. Die Verwendung von Webteppichen als Fotohintergrund ist Ausdruck tief verwurzelter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gegebenheiten und zeugt zugleich von der starken Tradition des Textilhandwerks in der Region und von Praktiken des visuellen Erzählens.   

    Wer waren die „fahrenden Fotografen“?  

    Diese Fotografen reisten von Dorf zu Dorf, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und machten Fotos der dort ansässigen Menschen. Fotoateliers befanden sich in den Städten, und die Dorfbevölkerung hatte oft nicht die Möglichkeit oder das Geld, dort Porträts oder Familienfotos machen zu lassen. Das war nicht gerade billig und der Weg dorthin war beschwerlich. Die fahrenden Fotografen wurden oft in Naturalien bezahlt – mit dem, was es im Dorf gerade gab, etwa Milch, Eier und andere Waren.   

    Existiert die Tradition, Teppiche als Hintergrund für Fotos zu nutzen, heute noch? 

    Die Tradition, Menschen vor Teppichen zu fotografieren, ist nicht verschwunden; sie hat sich verändert. Viele haben noch Fotos von sowjetischen Wohnungen, in denen ein Teppich an der Wand hinter dem Sofa hängt. Non-verbale Alltagspraktiken verschwinden nie völlig, sie entwickeln sich immer weiter. Das ist das Interessanteste an unserer Arbeit. Gewohnheiten und visuelle Codes dienen uns dazu, dass wir uns über die Gegenwart und die Alltagspraktiken verständigen, die uns prägen und von anderen unterscheiden.   

    Wie entstehen Projekte bei VEHA?

    Bevor wir anfangen, Fotomaterial zu sammeln, legen wir ein Thema fest. Bei unserer Recherche in zahlreichen belarussischen Archiven sehen wir, dass bestimmte Stilmerkmale und Szenen immer wieder vorkommen. Aber am wichtigsten ist, dass wir – sobald das Thema steht – erst einmal abwarten, was die Menschen uns schicken und erst dann Schlussfolgerungen ziehen.

    Das betrifft auch die Datierung: Wir analysieren die Objekte, die bei uns eingehen, und dann können wir das Jahr und den Ort der Aufnahme ermitteln. So haben wir festgestellt, dass die Fotos in dieser Sammlung überwiegend in der Zwischenkriegszeit und vor allem im westlichen Teil von Belarus entstanden sind. Wir legen in unseren Texten zu den Projekten immer offen, dass unsere Schlussfolgerungen auf unseren Methoden beruhen und auch andere Herangehensweisen an die Geschichte denkbar sind.

    Unsere Recherche beschränkt sich auf die Gruppe derer, die sich aktiv beteiligen und uns Fotos zusenden. Das sind zwischen 50 und 500 Personen.  

    Wie erfahren die Leute von der Fotosammlung? 

    Wir machen öffentliche Aufrufe, um Fotos zu sammeln: Alle Menschen können uns Bilder aus ihrem Familienarchiv schicken, wenn diese vor 1980 auf dem Gebiet des heutigen Belarus aufgenommen wurden und in eine der fünf bestehenden VEHA-Sammlungen passen.

    Bei den ersten Sammlungen wie Najlepšy bok haben wir auch staatliche Museen und ethnografische Institutionen kontaktiert. Dank der Unterstützung von Medien und dem öffentlichen Interesse konnten wir die Materialien für das Buch innerhalb kurzer Zeit zusammentragen.

    Selbst wenn wir ein Foto nicht in die Sammlung aufnehmen, fördert das Stöbern im Familienarchiv das Bewusstsein für das Familiengedächtnis und trägt dazu bei, dass die Bilder weiter erhalten bleiben. Wir sammeln keine Originale, nur digitale Kopien.

    Aber VEHA ist mehr als nur ein Onlinearchiv. Wir wollen neue Sinnschichten im Alltag freilegen und die visuelle Geschichte von Belarus sichtbar machen. Wir heben die Rolle der einfachen Menschen in der Geschichte hervor und präsentieren Archivmaterial in zeitgemäßen, zugänglichen Formen. 

    Mittlerweile dürfte eine Kooperation mit staatlichen Stellen schwierig sein. 

    Heute kontaktieren wir keine staatlichen Museen mehr – auch deshalb, weil es unter den jetzigen politischen Umständen für sie womöglich nicht sicher ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber wir sind offen für die Kooperation mit europäischen Einrichtungen, die viele Fotos aus Belarus aufbewahren (auch wenn diese schwer auffindbar sind, weil sie oft fälschlicherweise Polen oder dem Russischen Reich zugeordnet werden). Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgen und unterstützen die Menschen unsere Arbeit weiterhin und das VEHA-Archiv ist seit 2017 bis heute aktiv.

    Zurzeit bereiten wir mit der Arsenal-Galerie in Białystok ein neues Buch mit dem Titel Ruinen von Belarus vor. Kürzlich ist unsere Arbeit in einer der umfassendsten Publikationen über belarussische Fotografie gewürdigt worden.1 Die Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft und die Unterstützung durch so seriöse Institutionen wie Arsenal sind für uns ein sehr großer Ansporn.

    Wir sind ja im Grunde immer noch Erinnerungsaktivistinnen, eine kleine Gruppe von Frauen, die ein Onlinemuseum der belarussischen Geschichte aufbauen. 

     

    Links: 1952, Dorf Sarytawa, Ljachawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Nadseja Mazjuschenka mit ihren Töchtern Ljubai und Waljai. Fotograf Petryk Taranda. Privatarchiv Mikola Taranda.  
    Rechts: Dorf Holjawitschy, Baranawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Privatarchiv Aljaxandr Huk. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Um 1950. Privatarchiv  Sjarhei Leskez. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Um 1950. Privatarchiv Sjarhei Leskez. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1955 Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Das Ehepaar Kutschynski. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje.  
    Rechts: 1940, Nawassjolki, Hrodsenski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Familie von Franzischek Martulja. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1950er Jahre, Merkulawitschy, Tschatscherski Rajon, Homelskaja Woblasz. Familie Kuljaschowych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1950er Jahre, Merkulawitschy, Tschatscherski Rajon, Homelskaja Woblasz. Familie Kuljaschowych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Anfang 1950er Jahre, Dorf Sdsitawa, Bjarosauski Rajon, Breszkaja Woblasz. Mikalai Wassileuski. Privatarchiv Anastassija Danilowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Anfang 1950er Jahre, Dorf Sdsitawa, Bjarosauski Rajon, Breszkaja Woblasz. Mikalai Wassileuski. Privatarchiv Anastassija Danilowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1950, Tscherwen, Minskaja Woblasz. Ema Lipen mit Freundin. Privatarchiv Jury Naidowitsch. 
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1952-1953, Dorf Kanjuchi, Pinski Rajon, Breszkaja Woblasz. Valjanzina Marwenjuks Ehemann mit Freunden. Quelle: Belarussisches Oral History Archiv. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Links: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    Um 1960, Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Abschied in die Armee. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Um 1960, Hlybokaje, Wizebskaja Woblasz. Abschied in die Armee. Historisch Ethnografisches Museum Hlybokaje. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: Um 1950. Privatarchiv Sjarhei Leskez.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1930-1940. Familie Paulouskich. Aljaxandr Lutschyna. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1930-1940. Familie Paulouskich. Aljaxandr Lutschyna. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940-1950, Dorf Lapki, Staubzouski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Swjatlana Kukel. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940-1950, Dorf Lapki, Staubzouski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Swjatlana Kukel. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: 1966, Menewesh, Drahitschynski Rajon, Breszkaja Woblasz. Sofja Dsjamidauna Baryssjuk-Sorka aus Raschyn und Ahrypina Dawydauna Serada-Sorka aus Dseraunaja. Privatarchiv Iryna Sorko.  
    Rechts: 1950-1952, Dorf Puhatschy, Waloshynski Rajon, Minskaja Woblasz. Privatarchiv Dsmitry Sjarebranikau. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1940, Dorf Paljaninawitschy, Bychauski Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Lissawych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1940, Dorf Paljaninawitschy, Bychauski Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Lissawych. Privatarchiv Maxim Szepanenka. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    Links: Um1950, Dorf Aharodniki, Lidski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Priester Boris Shabrouski der Pryabrashenskai Kirche mit seiner Frau. Privatarchiv Vera Tyschkewitsch.   
    Rechts: 1946, Budslau, Mjadselski Rajon, Minskaja Woblasz. Hanna Sadouskaja, Erstkommunion. Privatarchiv Lesia Pcholka. / Fotos © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok 
    1945-1947, Dorf Lankau, Bjalynizki Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Trussawych. Privatarchiv Darja Jakubowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok
    1945-1947, Dorf Lankau, Bjalynizki Rajon, Mahiljouskaja Woblasz. Familie Trussawych. Privatarchiv Darja Jakubowitsch. / Foto © VEHA-Archiv, Sammlung Najlepšy bok

    1 Siarhiej Hruntoŭ, Photography and the Culture of Memory among Belarusians in the Second Half of the 19th – Early 21st Century, Belarusian Science, 2023.

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  • Eine sibirische Odyssee

    Eine sibirische Odyssee

    An den Ufern des Amur im russischen Fernen Osten leben indigene Gemeinschaften bis heute in enger Verbindung mit der Natur. Nenzen, Ultschen und Nanai ernähren sich traditionell vom Fischfang und von der Jagd, sammeln Beeren und Kräuter. Der Amur ist der Mittelpunkt ihres Lebens. Er dient ihnen nicht nur als Nahrungsquelle, viele ihrer Rituale, Lieder und Erzählungen sind mit dem Fluss verbunden. 

    Die indigenen Völker Sibiriens stehen heute vor der Herausforderung, sich an eine sich ändernde Umwelt anzupassen und gleichzeitig ihre Traditionen zu bewahren. Raubbau an der Natur, Umweltverschmutzung und Klimawandel bedrohen ihren Lebensraum. Junge ziehen in die Städte auf der Suche nach Arbeit, immer weniger sprechen noch ihre Stammessprache, traditionelle Lebensformen verändern sich. Gleichzeitig gibt es Versuche, kulturelle Praktiken zu bewahren oder neu zu beleben, etwa durch Sprachkurse oder Kunstprojekte. 

    Kurz nach der Auflösung der Sowjetunion begab sich die französische Fotografin Claudine Doury erstmals auf eine Reise an den Amur. Für ihr Projekt Peuples de Sibérie (deutsch: Völker Sibiriens) wurde sie 1999 mit dem Prix Leica Oskar Barnack ausgezeichnet. Thema ihrer träumerisch-poetischen Bilder sind Erinnerung, Identität und die Übergangsphasen des Lebens. Dourys Arbeit ist eine Mischung aus Dokumentarfotografie und persönlicher Erzählung – sie geht über reine Reportage hinaus und schafft eine subjektive, fast mythische Sicht.  

    2018 kehrte Doury an den Amur zurück, um zu erkunden, wie sich das Leben der indigenen Gemeinschaften über die Jahrzehnte verändert hat. Die Serie A Siberian Odyssey dokumentiert den Verlust traditioneller Lebensweisen, die Folgen der Modernisierung und die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Projekt ist nicht nur eine visuelle Erkundung Sibiriens, sondern auch eine Reflexion über Erinnerung und Identität. Mit einer weichen, fast malerischen Farbgebung schafft Doury eine träumerische Ästhetik und verweist auf eine tiefere, emotionale Dimension des Lebens in der sibirischen Weite.  

    Die Welle (Siedlung Bulawa im Ultschewski Rajon, Region Chabarowsk) / Foto © Claudine Doury 
    Das Dorf Nergen (Nanaiski Rajon) im Winter / Foto © Claudine Doury
    Der Spiegel (Siedlung Ust-Gur, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Ein blauer Schmetterling (Siedlung Nergen, Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Die Brüder Kostja und Daniil zuhause in der Siedlung Ust-Gur (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Das Haus von Anjas Eltern in Nergen (Nanaiski Rajon) / Foto © Claudine Doury 
    Dascha in Nergen, einer Siedlung der Nanai / Foto © Claudine Doury 
    Eine Mahlzeit, Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Anjas Hochzeit in Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Marinas Eltern, Nergen / Foto © Claudine Doury
    Kostja, Ust-Gur / Foto © Claudine Doury
    Warten auf Tauwetter, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Der Autofriedhof, Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Sommer in Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Margarita, die ehemalige Bürgermeisterin von Nergen / Foto © Claudine Doury 
    Schmetterling und Libelle / Foto © Claudine Doury 
    Eine junge Tänzerin in der Tracht der Ultschen, im Dorf Bulawa / Foto © Claudine Doury 
    Blick aus dem Fenster des Tragflügelboots in Komsomolsk. Es verbindet die Dörfer an beiden Ufern des Amur-Flusses / Foto © Claudine Doury 
    Hochwasser in Chabarowks / Foto © Claudine Doury 
    Amelia in ihrer Schuluniform, Nergen / Foto © Claudine Doury 

     

    dekoder: Was hat Sie dazu bewegt, nach so vielen Jahren nach Sibirien zurückzukehren? 

    Claudine Doury: 1991 machte ich auf einer Reise entlang des Amur-Flusses – von der Quelle bis zur Mündung – Halt im Dorf Nergen. 1997 kehrte ich dann zurück in die Dörfer, um mehr über das Leben der indigenen Sibirier zu erfahren. Die Zeit verging und ich begann mich zu fragen, was wohl aus den Menschen geworden war, die ich damals getroffen hatte.

    Mit dieser Reise hat sich  ein Kreis geschlossen: Ich bin an die Orte meiner ersten eigenen Arbeit zurückgekehrt, um zu sehen, was die Zeit mit ihnen gemacht hat. Und mit mir. 

    Was hat Sie in den 1990er-Jahren überhaupt nach Sibirien gezogen und dazu gebracht, sich fotografisch mit der Region zu beschäftigen? 

    Auf meiner ersten Reise in den russischen Fernen Osten, nach Chabarowsk im Jahr 1991, traf ich Angehörige des Nanai-Volkes. Ich musste sofort an Edward Curtis denken, den amerikanischen Fotografen, der die nordamerikanischen Ureinwohner porträtierte. 
    Damals wusste ich nicht, dass es indigene Völker in Sibirien gibt – und dass sie mit den amerikanischen Ureinwohnern verwandt sind. Ich beschloss daraufhin, Sibirien zu bereisen, um das Leben dieser Menschen fotografisch zu dokumentieren. 

    Zu welcher ethnischen Gruppe gehören die Menschen, die Sie fotografiert haben? 

    Die meisten gehören dem Volk der Nanai im Dorf Nergen und dem Volk der Ultschen im Dorf Bulawa an. Die Nanai leben auf beiden Seiten des Amur, in Russland und in China. 

    Die Ultschen, die ich in Bulawa traf, leben rund 500 Kilometer weiter nördlich am Fluss, gegenüber der Insel Sachalin

    Was hat sich seit den 1990er-Jahren verändert? 

    Das Leben im Fernen Osten Russlands hat sich in den Städten seit 1990 bis 2017 stark verändert – in den Dörfern, die ich besucht habe, dagegen nur sehr wenig. Nach fast dreißig Jahre hatte Nergen noch immer kein fließendes Wasser, und die Straßen waren weiterhin unbefestigt. Es war, als sei die Zeit dort stehen geblieben. 

    Was hat es mit dem geheimnisvollen Spiegel auf sich, der in einem Ihrer Bilder auftaucht? 

    Ich begegnete einer Familie am Amur-Fluss, die viele Kinder hatte, und blieb eine Weile bei ihnen. Für mich war das ein Ort des Glücks. Alle Kinder waren vom Bruder der Mutter adoptiert worden, weil sie krank war und sich nicht um sie kümmern konnte. Die Kinder halfen bei den täglichen Arbeiten, aber sie spielten auch ausgelassen am Fluss. Bei einem Spiel nahm eines der Kinder einen Spiegel und spielte mit dem Licht. 

    In Ihren Bildern tauchen immer wieder Schmetterlinge auf. Haben sie eine besondere Bedeutung? 

    Vielleicht liegt das daran, dass ich nie dem Amur-Tiger begegnet bin…Da habe ich mich auf die Schmetterlinge konzentriert, die in der Sommerzeit in großer Zahl vorhanden waren. 

    Welche Rolle spielt Erinnerung in Ihrer fotografischen Arbeit? 

    Erinnerung steht im Mittelpunkt dieser Arbeit, die sich über fast dreißig Jahre erstreckt. Es geht um die Wirkung der Zeit – auf das Leben der Menschen, die ich fotografiert habe, und auf mein eigenes. Erinnerung und Identität: Ich betrachte das Hier und Jetzt durch das Prisma der Zeit. Zwischen dem, was im Begriff ist zu verschwinden, und dem, was bleibt. 

    Ihre Bilder aus A Siberian Odyssey wirken oft zeitlos, fast traumartig. Würden Sie dieses Projekt heute – nach dem 24. Februar 2022 – anders angehen?  

    Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, nach Russland zu reisen. Aber ich hoffe sehr, dass ich meine Freunde dort eines Tages wiedersehen werde.  


    Die französische Fotografin Claudine Doury (geb. 1959) arbeitete als Bildredakteurin für die renommierte Nachrichtenagentur Gamma und die Zeitung Libération, bevor sie sich dokumentarischen Langzeitprojekten widmete. 2000 erhielt sie den World Press Photo Award, 2004 wurde sie mit dem Prix Niépce ausgezeichnet, einem der wichtigsten französischen Fotopreise. In Artek, un été en Crimée (2004) und Sasha (2011) widmet sie sich dem Aufwachsen in post-sowjetischen Gesellschaften. Ihre jüngere Serie A Siberian Odyssey (2018–2020) knüpft an ihr früheres Werk in Sibirien an und reflektiert über kulturellen Wandel, Erinnerung und Zugehörigkeit. 

    Fotografie: Claudine Doury  
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 15.07.2025 

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  • Bilder vom Krieg #28

    Bilder vom Krieg #28

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Philippe de Poulpiquet

    Lilia fährt gemeinsam mit ihren Kumpels in den Schacht eines Kohlebergwerks in der Oblast Dnipropetrowsk ein. / Foto © Philippe de Poulpiquet 

    dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten? 

    Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben. 

    Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus? 

    Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will. 

    Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um? 

    Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.  

    Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.  

    Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung? 

    In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend. 

    Was bedeutet ihr dieser Job?  

    Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.  

    Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen. 

     

    Philippe de Poulpiqet (geb. 1972) wurde für seine Reportagen aus Konfliktgebieten wie Afghanistan, Irak, Libyen und der Ukraine mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Grand Prix des quoitidiens nationaux (2011) und der Award of Excellence bei Pictures oft the Year International (2012). Seine Bilder wurden unter anderem beim internationalen Fotojournalismus-Festival Visa pour l’Image in Perpignan ausgestellt. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf arbeitet er als Kameramann für Dokumentarfilme und hat mehrere Bücher veröffentlicht / Foto © Philippe de Poulpiquet 

     

    Foto: Philippe de Poulpiquet, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 01.07.2025 

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  • Kampfplatz der Imperien

    Kampfplatz der Imperien

    Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert

    Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.  

    Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.  

    Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.  

    Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.  

     

    Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern. 

    Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow 

    Das heutige Dorf Akçalar hieß bis 1928 „Choroscheje“ (Russisch „gut“) und war eines von fünf russisch-orthodoxen Dörfern, die im Zuge der Kolonisierung rund um Kars gegründet wurden. Eine dieser Siedlungen erhielt sogar den großsprecherischen Namen „Wladikars“, Russisch für „Beherrsche Kars“. Er erinnert an zwei andere Außenposten des Imperiums: Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) am Pazifik und Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“) in Ossetien. Die Siedlungspolitik in der Region Kars zielte auf eine loyale russischsprachige Bevölkerung, auch mit religiösen Minderheiten wie Molokanen und Duchoborzen. Nach dem Rückzug Russlands 1921 verließen fast alle Siedler die Region / Foto © Max Sher 
    Ein Telefon mit gesperrter Wählscheibe in der mittlerweile geschlossenen Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi. Sie wird in Pamuks Roman Schnee erwähnt / Foto © Max Sher
    In einer Trauer-Prozession über die Faikbey-Straße erinnern Mitglieder der Schia-Gemeinde an den Tod von Imam Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed. Etwa jeder vierte Bewohner von Kars gehört diese Strömung des Islam an. Die meisten von ihnen sind ethnische Aserbaidschaner / Foto © Max Sher 
    Blick über Kars mit den Vierteln Sukapı und Kaleiçi. Man erkennt mehrere Moscheen, darunter die frühere armenische Kathedrale, heute die Merkez-Kümbet-Moschee / Foto © Max Sher 
    Links: Der Landarbeiter Lawrenti lud uns zu sich nach Hause ein. Er wohnt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Kars in Arpaçay. Er verstand Russisch, antwortete aber auf Türkisch. Er, seine Frau und sein Sohn waren wohl die letzten am Ort verbliebenen Nachfahren russischer Molokanen. Rechts: Eine Besucherin auf der Skipiste in den Allahuekber-Bergen / Fotos © Max Sher 
    Schneebedeckte Felsen im Viertel Sukapı. In der Nähe stand einst das Haus des armenischen Dichters Jeghische Tscharenz / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Kars Çayı / Foto © Max Sher 
    Die Çamçavuş-Brücke auf der Straße von Kars nach Ardahan, über den Fluss Kars Çayı. Der Lkw-Fahrer und das Vieh, das er transportierte, kamen bei dem Unfall ums Leben – verursacht durch vereiste Fahrbahn. Das Gebiet wurde später vollständig vom Çamçavuş-Stausee überflutet, der 2020 gebaut wurde, um die Bewässerung in der Region zu verbessern. Der neue Stausee verschlang zwei Dörfer: Çamçavuş (ehemals Malo-Woronzowka) und Boğazköy (ehemals Prochladnoje). Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Molokanen gegründet – im Rahmen der russischen Kolonisation des Karser Grenzgebiets / Foto © Max Sher 
    Ruinen russischer Festungsanlagen aus dem späten 19. Jahrhundert / Foto © Max Sher
    Männer spielen Okey (vergleichbar Rummikub) in der Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi, bekannt aus Pamuks Roman Schnee / Foto © Max Sher 
    Ein Autohalter hat seinen Wagen mit einem Teppich abgedeckt. Es steht in der Mimar Oktay Ekinci Straße nahe der Vaizoğlu-Moschee. Das umliegende Viertel wurde in den 2010er Jahren abgerissen, um das historische Zentrum von Kars für Touristen „attraktiver“ zu machen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass dieses Projekt an die Versuche der russischen Kolonialherrscher zur „Neuordnung“ der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert / Foto © Max Sher 
    Gendarmen am Kuyucuk-See, einem wichtigen Naturschutzgebiet nahe der armenischen Grenze / Foto © Max Sher 
    Links: Ein Mann mit heißem Tee im Skigebiet bei Sarıkamış 
    Rechts: Yavuz Uzgur, Schriftsteller und Imam der Evliya-Moschee. Die Moschee wurde im Jahr 2000 an der Stelle errichtet, wo zuvor eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert stand, die jedoch während der russischen Invasion von Kars im Jahr 1877 zerstört worden war. Sie soll das Grab von Abul Hassan Harakani beherbergen, einem verehrten Sufi-Mystiker aus Chorasan / Foto © Max Sher 
    Die Festung von Kars thront über dem ältesten Stadtteil Kaleiçi. Heute ist sie ein Museum / Foto © Max Sher 
    Ein Blick auf Kars, wie er häufig auf Postkarten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen war. Zu sehen ist der Fluss Kars Çayı und – von links nach rechts: das verfallene Herrenhaus von Ahmet Tevfik Paşa, der laut einigen Quellen im 19. Jahrhundert Gouverneur der Provinz Kars war; die Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert, auch bekannt als Brücke von Vardan oder Vartan; die Merkez Kümbet Moschee aus dem 10. Jahrhundert (ehemals armenische Kathedrale der Heiligen Apostel), das Minarett der Evliya-Moschee aus dem 16. Jahrhundert und das Mazlum Ağa Hamamı, ein verlassenes öffentliches Bad aus dem 18. Jahrhundert. Alexander Puschkin erwähnte dieses Bad in seiner Reise nach Erzurum. Kars und Erzurum waren die einzigen Orte außerhalb Russlands, die Puschkin je bereiste – und auch das nur im Zuge eines imperialen Feldzugs / Foto © Max Sher 
    Ein Gedenkmarsch anlässlich des 95. Jahrestags der Schlacht von Sarıkamış in den Allahuekber-Bergen. Diese Schlacht zwischen osmanischen und russischen Truppen im Ersten Weltkrieg forderte zwischen Dezember 1914 und Januar 1915 auf beiden Seiten zehntausende Todesopfer. Sie begann mit einer Offensive unter der Führung des osmanischen Oberbefehlshabers Enver Paşa, der versuchte, das Gebiet um Kars von Russland zurückzuerobern. Die Aktion endete in einer verheerenden Niederlage der türkischen Armee – verursacht durch strategische Fehlentscheidungen, schlechte Kommunikation zwischen den Truppenteilen und fehlende Vorbereitung auf winterliche Kämpfe im Gebirge. Allein am 13. Dezember 1914 erfroren tausende türkische Soldaten bei dem Versuch, die Berge auf dem Weg zur russisch kontrollierten Grenzstadt Sarıkamış zu überqueren. Auf russischer Seite kämpften auch mehrere tausend armenische Freiwillige, was Enver Paşa dazu veranlasste, seine Niederlage allein ihnen zuzuschreiben. Historikern zufolge führte dies zu Deportationen und Massakern an osmanischen Armeniern – geplant und durchgeführt durch Enver Paşa und seine Verbündeten – und mündete schließlich im Völkermord an den Armeniern von 1915  / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren. 
    Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden. 
    Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion. 
    Letztere erhob jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Gebietsansprüche auf Ostanatolien – unter dem Vorwand, es mit Sowjetarmenien und -georgien „wiederzuvereinigen“. Dies führte dazu, dass die bis dahin neutrale Türkei – militärisch unterlegen und nicht bereit, Territorium abzutreten – der NATO beitrat und Verbündeter der USA wurde / Foto © Max Sher 
    Die nebelverhangene Geisterstadt Ani und die Kirche des heiligen Gregor aus dem 13. Jahrhundert. Ani war von 961 bis 1045 Hauptstadt des Bagratiden-Königreichs Armenien und zählte damals zu den größten Städten der Welt. 1236 wurde sie von den Mongolen geplündert und 1319 durch ein Erdbeben schwer beschädigt. In den folgenden Jahrhunderten fiel Ani unter die Herrschaft verschiedener Reiche: Byzanz, Seldschuken, Georgier, Armenier, Timuriden, Safawiden, Osmanen. Nach und nach verfiel die Stadt und war spätestens im 17. Jahrhundert völlig verlassen. 2016 wurde Ani in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen Foto © Max Sher 

     

    Fotos und Texte: Max Sher 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Veröffentlicht am 24.04.2025 

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    Imperiale Spuren im „nahen Ausland“

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    Imperiale Spuren im „nahen Ausland“

    Wenn russische Diplomaten vom „nahen Ausland“ sprechen, schwingen viele Bedeutungen mit. Gemeint sind die Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind: Sie sind zwar formal unabhängig, doch erhebt Moskau weiter den Anspruch auf Mitsprache. In seiner aktuellen Ausstellung New Fatigue legt der Fotograf Eiko Grimberg offen, wo dieser imperiale Anspruch auch an der Oberfläche sichtbar wird: an Gebäuden und in Städten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in öffentlichen Ritualen und Demonstrationen.  

    Zu Diptychen kombiniert, entfalten Grimbergs Bilder eine zusätzliche Bedeutungs-Dimension. Die Ausstellung mit Fotografien aus drei Jahrzehnten ist noch bis zum 10. Mai in der Galerie K‘ in Bremen zu sehen:  

    Galerie K’ 

    Alexanderstraße 9 b / Weberstraße 51 a 
    28203 Bremen 

    Weberstraße: Eiko Grimberg  
    New Fatigue 

    Alexanderstraße: Arne Schmitt
    viel oder wenig Bild oder Text 

    Odessa 1993 / Fotos © Eiko Grimberg
    Odessa 1993 / Fotos © Eiko Grimberg
    Simferopol / Kyjiw 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Simferopol / Kyjiw 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Warschau 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Warschau 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016/2017 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016/2017 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin und Prag 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin und Prag 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Zu Wasser, zu Lande und in der Luft / Fotos © Eiko Grimberg
    Zu Wasser, zu Lande und in der Luft / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park Berlin 9. Mai 2022.  Berlin 24.8.2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park Berlin 9. Mai 2022. Berlin 24.8.2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024. Berlin 2023 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024. Berlin 2023 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2016. Berlin 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2016. Berlin 2024 / Fotos © Eiko Grimberg

     

    dekoder: Ihre aktuelle Ausstellung trägt den Titel New Fatigue. Was steckt dahinter? 

    Eiko Grimberg: New Fatigue spielt auf eine Erschöpfung an, die gerade viele empfinden, und die aus der Flut schlechter Nachrichten resultiert: erst Corona, dann der russische Krieg gegen die Ukraine, der 7. Oktober und der Krieg in Gaza und ganz aktuell US-Zölle und Kurseinbrüche. Die Dichte an Nachrichten ist so hoch, dass man ihr manchmal kaum noch folgen, geschweige denn sie verstehen und verarbeiten kann. Das führt bei vielen Menschen zu einer Ermüdung, man spricht dann von „news fatigue“. In der Ausstellung gibt es ein Video mit dem Titel Journal, das diese Überforderung spürbar macht: eine schnelle Abfolge von Bildern und Videos, die kaum zu verarbeiten ist. Gleichzeitig entsteht daraus aber auch ein Sog, der den Betrachter hineinzieht. 

    Sie waren bereits in den 1990er Jahren mit Ihrer Kamera in der Ukraine und auch in Russland unterwegs. Jetzt kontrastieren Sie die Bilder von damals mit aktuellen Fotos. Was ist Ihnen dabei aufgefallen? 

    Mir ging es dabei um die Perspektive von heute auf das Damals. Ich habe mir meine alten Bilder angesehen und mich gefragt, ob man darin vielleicht Hinweise auf die Entwicklungen finden kann, von denen heute einige sagen, man konnte das nicht kommen sehen. Manchmal sieht die Kamera ja Dinge, die wir selbst nicht bemerken und die uns erst später auffallen. Gleichzeitig habe ich dadurch aber auch etwas über mich selbst gelernt und darüber, mit welchem Blick ich nach dem Untergang der Sowjetunion in diese Region gefahren bin. 

    Und was war das für ein Blick? 

    Ich würde ihn heute als tendenziell nostalgisch beschreiben. Als junge Männer Anfang 20 aus Westdeutschland haben meine Reisegefährten und ich nach den sichtbaren Manifestationen alles Sowjetischen gesucht. Ich habe die Treppe in Odessa fotografiert, die durch den Sergej-Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin weltberühmt wurde, rote Sterne und Stalinbauten. Mit der Perspektive von heute erkenne ich in diesen Monumentalbauten aber noch etwas anderes, nämlich eine imperiale Markierung, die Moskau an Orten hinterlassen hat, die das Regime heute als „nahes Ausland“ bezeichnet und es damit weiterhin als eigene Einflusszone beansprucht.  

    Moskau hat mit diesen Bauten seinen Einflussbereich also gewissermaßen visuell markiert? 

    Genau. Ich war im vergangenen Jahr zwei Mal in Warschau. Dort steht ja mitten in der Stadt der Kulturpalast, ein Geschenk der Sowjetunion im Stil des Sozialistischen Klassizismus, auch Zuckerbäckerstil genannt. Und mir ist klar geworden, warum die Polen nach dem Krieg den Wiederaufbau der von der Wehrmacht zerstörten Altstadt so vorangetrieben haben. Die wollten offensichtlich den Sowjets nicht so viel Raum geben. Die hatten sich schon den zentralen Platz direkt am Hauptbahnhof genommen, also guckt man, wie man das begrenzt. Das ist schon eine interessante Entgegnung.  

    Etwas Ähnliches sehen wir ja in der Ukraine: Dieses Wiederentdecken von nationalen Traditionen, die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität, um nicht eine fremde übergestülpt zu bekommen …  

    Es gibt noch einen anderen interessanten Trend: In Putins Erzählung ist Stalin stark und Lenin schwach. Lenin wird heute fast ausgeblendet, während Stalin als großer Verteidiger des Vaterlandes wieder gefeiert wird. Damit geht einher, dass die Architektur der Moderne der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht besonders pfleglich behandelt wird. Vieles wird abgerissen, wenig steht unter Denkmalschutz. Das ist insofern bemerkenswert, als nicht wenige dieser Modernisten ukrainische Wurzeln hatten. Wladimir Tatlin etwa oder auch Kasimir Malewitsch. Das spielte damals vielleicht keine Rolle. Aber es ist spannend zu sehen, wie diese Künstler je nach politischer Konjunktur eingemeindet oder wieder ausgeblendet werden. Die Internationalität der Sowjetunion dieser Periode wird heute als Schwäche betrachtet. 

    Mit einem Ort in Moskau haben Sie sich sehr ausführlich beschäftigt: 1931 ließ Stalin die Christ-Erlöser-Kathedrale am Ufer der Moskwa sprengen. Am selben Ort sollte der Palast der Sowjets errichtet werden. Auf dessen Fundament entstand unter Chruschtschow dann ein riesiges Freibad mitten in der Stadt. Und 1995 begann dort der Wiederaufbau der Kathedrale. Was erzählt das über das Land? 

    Mich faszinierte an diesem Pool, dass er gewissermaßen in einer Falte der Geschichte lag. Er war groß, er war zentral, aber anders als die Sieben Schwestern erstreckte er sich nicht vertikal, sondern horizontal im Raum. Das kreisrunde Bassin Moskwa war ein Sieg über die Natur, weil man dort auch bei Minusgraden im beheizten Wasser das ganze Jahr über schwimmen konnte, umgeben von einer eindrucksvollen Dampfwolke. Fast wie durch Zufall hatte sich die Gesellschaft da etwas Tolles gebaut. Aber dann wurde das sofort wieder verdrängt und zurückgebaut. 

    Gar nicht weit von dieser Stelle, vor den Mauern des Kreml, steht seit 2016 die Statue des Großfürsten Wladimir. Welche Rollte spielt sie? 

    Auf die Statue bin ich gestoßen, während ich an dem Projekt über den Pool gearbeitet habe. Ich war zufällig gerade dort, als mit einem Kran das große Kreuz eingehängt wurde. Ich habe das fotografiert, aber mir wurde erst später klar, welcher Wladimir hier eigentlich gewürdigt wird und was das politisch bedeutet. Er schaut ja auf die Kathedrale, er schaut vor allen Dingen aber in die Ukraine, glaube ich. Das war für mich so ein Moment, da dachte ich: Das ist jetzt eine Zäsur. Die Kirche, das war noch Wiederaufbau. Aber hier kommt etwas Neues dazu, was absolut Gegenwart ist und gleichzeitig Anspruch auf eine bestimmte Lesart der Vergangenheit behauptet. 

    Der russische Deutungsanspruch und das Ringen darum begegnen uns auch hierzulande. Das wird besonders in dem Bilderpaar deutlich, das die Gedenkfeier zum 9.Mai 2022 am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park und eine Demonstration von Ukrainerinnen im gleichen Jahr zeigt. 

    Dieses Diptychon ist bewusst konfrontativ gesetzt, ein bisschen polemisch. Da ist einmal diese Riege von Männern in Anzügen, vorne der russische Botschafter Sergej Netschajew mit St. Georgs-Band, dahinter Soldaten und Popen. In der Nähe wurde protestiert von Leuten, die sagten, Russland kann nicht bei uns den Sieg im Weltkrieg feiern, wenn es gleichzeitig Krieg gegen die Ukraine führt. Die zweite Fotografie zeigt geflüchtete Frauen in ukrainischer Tracht, die für mehr Unterstützung für ihr Land demonstrieren. Über den Männern in ihren Anzügen und Uniformen sieht man im Hintergrund diesen metallenen Lorbeerkranz. Die Frauen tragen ein Tarnnetz wie einen Baldachin.  

    Wenn Sie nochmal an Ihre frühen Bilder von den Reisen von vor 30 Jahren zurückdenken. Könnte man solche Bilder heute noch machen? 

    Ich würde behaupten, wenn ich heute in Odessa oder in Moskau wäre, dass ich ähnliche Bilder wiederholen könnte. Es gibt große Veränderungen und gleichzeitig eine unheimliche Kontinuität im Stadtbild. Diese stalinistische Architektur war ja auf Dauer angelegt. Aber sie wird von Neuem überlagert. Das ehemalige Hotel Ukraina in Moskau – ebenfalls eine der Sieben Schwestern – steht heute durch die Skyline der modernen Moscow City im Hintergrund in einem neuen Kontext. Diese Schichtungen der Epochen zu zeigen, hat mich immer gereizt. 

     

    Fotografie: Eiko Grimberg 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 15.04.2025 

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    Bilder vom Krieg #27

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Iva Sidash 

    Zuhause: Uliana und Aliona im Garten ihres Hauses in Slatyne, Region Charkiw / Foto © Iva Sidash 

    dekoder: Im Garten ihres Hauses unweit der Front schmiegt sich die 13-jährige Uliana an ihre Mutter Aliona. Wie ist dieses Bild entstanden? 

    Iva Sidash: Ich wollte eine Geschichte über den Krieg aus der Perspektive der Zivilist:innen erzählen. Es wird viel über militärische Operationen berichtet, man sieht Panzer und Drohnen. Aber wie leben die einfachen Menschen in der unmittelbaren Nähe der Front? Über Bekannte hörte ich von Aliona, die mit ihrer Tochter in dem kleinen Ort Slatyne in der Region Charkiw lebt. Als ich sie dort zum ersten Mal besuchte, habe ich meine Kamera gar nicht ausgepackt. Ich möchte immer erst eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, bevor ich anfange zu fotografieren.  

    Abends machten wir ein Feuer im Garten, denn aufgrund der Zerstörungen gibt es im Ort keinen Strom. Wir kochten das Abendessen über dem Feuer. Dann legten wir uns ins Gras und schauten in den Nachthimmel. Es war August und wir sahen viele Sternschnuppen. Gleichzeitig hörten wir aus der Ferne Artilleriefeuer. Im Angesicht des Todes die Schönheit des Moments genießen zu können, das ist für mich eine der Eigenschaften, die den Ukrainerinnen und Ukrainern bis jetzt geholfen hat, durchzuhalten. 

     

    Das Bild strahlt ein Gefühl von Geborgenheit aus. Kann es die im Krieg geben? 

    Gleich nach Beginn des russischen Überfalls war Aliona mit ihrer Tochter zunächst nach Polen geflohen. Aber sie hielten es dort nicht lange aus. Erst zogen sie nach Kyjiw, nach einem Jahr kehrten sie nach Slatyne zurück. Der Ort ist verwüstet, die Schule ist zerstört, die Kirche ist zerstört, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die Front ist nicht weit weg. Trotzdem fühle sie sich dort freier als irgendwo sonst, sagt Aliona.  

    Sie hat dafür eine schöne Metapher gefunden: „Als Flüchtling in einem fremden Land kam ich mir vor wie eine abgeschnittene Blume. Als hätte mich jemand in eine schöne Vase gestellt, aber innerlich fühlte ich mich leer und einsam. Erst hier in meiner Heimat fühle ich wieder meine Wurzeln.“  

     

    Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die Ukrainer nicht auf einen Teil ihres Landes verzichten, damit der Krieg aufhört? 

    So etwas kann nur jemand sagen, der selbst nie seine Heimat verloren hat. Es geht ja nicht um das Territorium, es geht um die Menschen, die dort zuhause sind. Wer nicht fliehen kann, muss unter der Unterdrückung leben. Und wer flieht, ist für immer entwurzelt.  


    Iva Sidash (geb. 1995) stammt aus Lwiw im Westen der Ukraine. 2023-2024 studierte sie am International Center of Photography in New York. Ihre Bilder erschienen unter anderem im Atlantic Magazine, in der Financial Times und im Spiegel und wurden in Ausstellungen in New York, London, Paris und Berlin gezeigt. 

    Foto: Iva Sidash

     

    Fotos: Iva Sidash, aus der Serie: Seeing the Unseen, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans  
    Veröffentlicht am: 18.3.2025 

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    Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

    Immer wieder gab es in den 1097 Tagen dieser drei Kriegsjahre Ereignisse, die einen fassungslos und sprachlos zurückließen. Deshalb zeigt dekoder – eigentlich ein Projekt der Sprache – regelmäßig Arbeiten von international renommierten Fotografinnen und Fotografen aus dem Kriegsgebiet und von anderen Orten, auf die der Krieg sich auswirkt – die Nachbarländer, das Exil. Sie können vermitteln, was sich nur schwer in Worte fassen lässt.  

    Es begann mit dem Fototagebuch aus Kyjiw, in dem Mila Teshaieva im Auftrag von dekoder dokumentierte, wie Gewalt und Zerstörung in ihren Alltag einbrachen. In unserer Serie Bilder vom Krieg nehmen Fotografinnen und Fotografen seitdem immer wieder neue Aspekte in den Fokus: Wie Bomben menschliche Körper zerstören und menschliche Seelen, wie der Beschuss Wohngebäude und Industrieanlagen vernichtet, was der tägliche Kampf mit den Soldaten macht, mit den Kindern und Familien – und auch mit den Politikern. Einige Bilder erzählen aber auch von der Selbstbehauptung einer Nation und von der Kraft der Erneuerung

    Alle Fotostrecken findet ihr hier

    Der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus zeigt vom 28. Februar bis zum 25. Mai 2025 Fotografien von Johanna-Maria Fritz unter dem Titel Zeit der Umbrüche. Eine Aufnahme der Fotografin war vor einem Jahr auch Teil unserer Serie Bilder vom Krieg. Im Interview gestand Johanna damals: „Ich habe fotografiert und dabei geweint.“ 

    Noch bis zum 2. März ist im Stadtmuseum Münster die Ausstellung Blackout des Fotografen Daniel Pilar zu sehen. Pilar berichtet seit fast 25 Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten weltweit und war auch immer wieder in der Ukraine.  

    Zum dritten Jahrestag des Kriegsbeginns haben wir einige Momentaufnahmen dieser beiden Fotograf:innen aus drei Jahren Krieg zusammengestellt. 

    Juni 2022: Ein Truppentransporter bringt ukrainische Soldaten von der Front bei Siwerskodonezk zurück zu ihrem Stützpunkt / Foto: © Johanna-Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie A Grave in the Garden 

    Juni 2023: Ein überschwemmter Vorgarten auf der Insel Korabel in der Region Cherson nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms / Foto: © Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie Die Flut 

    August 2023: Ein Wachposten hat sein Geschütz nahe der Ortschaft Malokateryniwka mit einer Decke getarnt. Von seiner Position aus hat er einen weiten Blick über den ausgetrockneten Kachowka-Stausee / Foto: © Daniel Pilar 
    Januar 2024: Der Bahnhof von Kramatorsk ist für viele ukrainische Soldaten der Ort, an dem sie sich von ihren Angehörigen verabschieden – und an dem sie sie nach der Rückkehr von der Front wieder in die Arme schließen / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: Roman, Kommandeur der 43. Artilleriebrigade der ukrainischen Armee, steht im Sandsturm, den seine Panzerhaubitze 2000 aufgewirbelt hat / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: In einer Kampfpause vertreiben sich Soldaten der 43. Artilleriebrigade die Zeit mit ihren Handys. Ihr Erdloch haben sie mit Holzpaletten und Campingmatten ausgelegt. Es dient als Schlafplatz und als Schutz vor russischen Bomben / Foto: © Daniel Pilar 

     

    Fotos: Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, Daniel Pilar
    Bildredaktion: Andy Heller

     

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  • Oma geht auf Hecht

    Oma geht auf Hecht
    Foto © Takie Dela
    Foto © Takie Dela

    „Wenn du eine Frau mit zum Angeln nimmst, wirst du nichts fangen“ – Weisheiten dieser Art füllen in Russland beliebte Kalender für Angler. Eine andere lautet: „Trifft ein Mann auf dem Weg zum Angeln eine alte Frau, bringt das Unglück. Zeigt er ihr aber im Vorbeigehen den Finger und spricht einen Fluch, dann bringt das Glück.“ Und ein Aberglaube besagt, dass eine Frau nicht mit ihrem Mann streiten soll, wenn er zum Angeln geht – sonst ist es ihre Schuld, wenn er ertrinkt. 

    In Gegenden, in denen es kaum Arbeit gibt und die Renten nur für das Nötigste reichen, ist der Fischfang nach wie vor wichtig für den Nahrungserwerb. Dort fischen auch viele Frauen das ganze Jahr über. Nicht zum Vergnügen, sondern um zu überleben. Obwohl: zum Vergnügen schon auch. Takie Dela hat einige Dörfer in Karelien besucht, gleich an der Grenze zu Finnland, und ist dort mit Frauen zum Winterfischen gegangen. Wie sich herausstellte, waren sie alle Rentnerinnen. Und fast alle waren Witwen. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass der Fischfang sie rettet – jede auf ihre eigene Weise. 

    In vielen karelischen Häusern hängt ein getrockneter Hecht-Schädel über dem Eingang in die Wohnstube. Sein Maul ist mit hunderten Zähnen besetzt, die sich nach innen biegen. Der Volksglaube besagt: Wenn ein Gast mit bösen Absichten kommt, dann schluckt der Hecht das Böse und lässt es nicht wieder heraus / Foto © Takie Dela 

    Einen Zander zu fangen ist erhabener und süßer als die Liebe. 

    Аnton Tschechow 

    Antonina Karlowa im Dorf Woknawolok 

    Durch das Fenster ihres kleinen Hauses sieht Antonina Karlowa direkt auf den See Werchneje Kuito. Früher ist sie regelmäßig mit ihrem Mann zum Fischen gegangen. Als er starb, hatte gerade die Laichzeit begonnen. „Ich habe das Boot und einen Motor, ich habe die Netze, ich kenne die guten Plätze“, dachte Antonina. „Ich werde doch jetzt keinen Fisch kaufen!“ / Foto © TakieDela 
    Ein Webstuhl für Fischernetze. Die Schlaufen werden größer oder enger geknüpft – je nach dem, welche Fische man fangen möchte. Seit Jahrhunderten ernähren sich die Menschen hier von der Fischerei, sammeln Pilze und Beeren. Einige gehen auch auf die Jagd. Von dem Geld, das sie mit dem Verkauf von Moltebeeren, Moosbeeren, Preiselbeeren und Heidelbeeren verdienen, reparieren sie ihre Häuser und kaufen das Nötigste / Foto © Takie Dela 
    Antonina Karlowa und ihr Enkel Miron haben Löcher in das dicke Eis gebohrt. Jetzt warten sie auf den ersten Biss. In Woknawolok fischen alle von klein auf bis ins hohe Alter. Je nach Jahreszeit mit Schleppangeln, mit der Grundangel, mit Reusen oder Netzen. Mehr als alle anderen angeln Rentner und Rentnerinnen. Wer arbeiten muss und Kinder hat, hat keine Zeit, am Wasser zu sitzen. Mit dem Alter kommt die Freiheit / Foto © Takie Dela 
    In dem feinen Sieb wird der Rogen der kleinen Maräne gewaschen. „Zur Laichzeit hat mein Mann früher immer Urlaub genommen“, erinnert sich Antonina. „Er steuerte das Boot, und ich habe zuhause mit Freundinnen die Fische ausgenommen und konserviert – in Öl, in Tomatensoße, viel haben wir auch eingefroren. Das hat uns für den ganzen Winter gereicht.“ / Foto © Takie Dela 
     

    Als ihr Mann vor zwölf Jahren starb, traute Antonina sich zunächst nicht, allein mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Also fragte sie ihre Nachbarin Galja, ob sie mitkommt. Nach dem ersten Mal hatten sie’s raus und die beiden wurden dicke Freundinnen. „Als im Frühling die Maränen kamen, sind wir rausgefahren und haben unsere Netze aufgestellt“, erinnert sich Antonina. „Ringsum waren Männer in ihren Booten unterwegs, und mittendrin wir zwei Frauen. Die Männer haben ihre Mützen geschwenkt und uns zugewunken.“ Spott habe sie nie gehört. In ihrem Dorf haben alle Respekt vor den Fischerinnen. 

    Vor einem Jahr hatte ihre Freundin einen Schlaganfall. Seitdem fischt Antonina allein. „Wir haben immer viel gelacht mit Galja, das Angeln hat uns so viel Spaß gemacht“, erzählt sie. „Wenn wir um sieben Uhr früh zusammen rausgefahren sind, die Sonne aufging und der Kuckuck rief. Herrlich! Dann haben wir die Ruder aus dem Wasser gezogen, inngehalten und gelauscht.“ 

    Heute findet Antonina nur noch selten eine Begleitung: „Kaum jemand mag mit mir Angeln gehen, weil man mich dann nur schwer wieder nach Hause kriegt. Wenn ein Fisch an meinem Köder spielt, kann ich bis zum Abend auf dem Eis sitzen“, sagt sie. Die Kälte macht ihr nichts aus: Mehrere Schichten Kleidung und eine Kiste mit einem Fell zum Sitzen, damit kann sie es stundenlang aushalten. „Nur die Eislöcher kann ich nicht mehr selbst bohren, meine Hand schmerzt. Also bitte ich meinen Nachbarn, der hilft gern.“

    In einem Bastkorb wird Trockenfisch aufbewahrt. Im Nordwesten Russlands trocknen viele ihren Fisch noch zuhause im russischen Ofen, der gleichzeitig Herd ist und die Stube heizt. Antonina schickt ihren Fang ihren Kindern, die in der Stadt wohnen. Die Katzen in der Nachbarschaft bekommen auch was ab. Sie sei zufrieden mit ihrem Leben, sagt sie. Langeweile kennt sie nicht. Sie singt im Chor, sie besucht den Karelisch-Kurs im Kulturhaus, sie strickt und stickt, und im Sommer hat sie ihren Garten mit dem Gewächshaus und den Wald mit Pilzen und Beeren. Und natürlich den See mit den Fischen / Foto © Takie Dela 

    Nadeshda Kirillowa, Woknawolok 

    Nadeshda Kirillowa zieht vier Paar Strümpfe übereinander, bevor sie an den See geht. Oft verbringt sie dort den ganzen Tag. Die 76-Jährige hat in Woknawolok den Ruf, die eifrigste Anglerin des Dorfes zu sein / Foto © Takie Dela 
    Barsche und Rotaugen lieben Maden. Nadeshda hat für sie immer einen kleinen Vorrat davon zuhause in ihrem Kühlschrank / Foto © TakieDela 
    Mit einem selbstgebauten Schlitten fährt Nadeshda zu ihrem Angelplatz. Ihr Hund Milli begleitet sie. Ihr Mann lebt nicht mehr. Er war ein starker Trinker. Vor fünf Jahren ist er eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Es war Nadeshdas Geburtstag. „Ich habe ihm immer wieder gesagt: ‚Witja, hör auf mit dem Trinken, du sollst am Leben bleiben“, erzählt sie mit leiser Stimme. „Zuerst habe ich ihn geliebt, dann tat er mir leid. Als wir ihn beerdigt hatten, dachte ich: ‚Jetzt gehe ich erstmal angeln‘.“ / Foto © Takie Dela 
    Ungeduldig springt Milli herum, während Nadeshda ein Loch ins Eis bohrt. Sie will keinen neuen Mann: „Ich habe schon zwei Männer, meine Söhne. Und im Dorf gibt es niemanden, der mir gefällt. Worüber soll ich mit denen denn reden? Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt.“ / Foto © Takie Dela
    Der Schlitten dient beim Angeln als Sitz. Der erste Barsch passt leicht in einen Fußstapfen von Nadeshdas Winterschuhen. Für sie ist die Fischerei beides – Nahrungserwerb und Vergnügen. „Ich muss mit meiner Rente auskommen, und die Fische ernährt mich. Mal salze ich welche ein, mal koche ich eine Suppe, mal mache ich eine Pastete. Am meisten mag ich gebratene Barsche und Fischfrikadellen. Für den Hund koche ich Getreidebrei mit Fisch. Und dann habe ich ja noch den Gemüsegarten, Hunger leiden müssen wir nicht.“ / Foto © Takie Dela 
    Zwei Jacken, zwei Pullover, eine Strickjacke, eine warme Weste, drei Hosen und vier Paar Socken – dick eingepackt wie eine Zwiebel kann Nadeshda den ganzen Tag auf dem Eis verbringen, ohne zu frieren. „Meine Großmutter hat auch viel geangelt“, erzählt Nadeshda. „Sie hat elf Kinder geboren, fünf haben überlebt, und es war schon nicht leicht, die durchzufüttern. Damals haben alle Frauen hier gefischt. Die Männer hatten anderes zu tun, die haben sich um die Ernte gekümmert, Holz gehackt. Unsere Großmütter haben gefischt, um zu überleben. Als ich klein war, standen im ganzen Haus Fässer: Im einen Barsche, im andern eingesalzene Rotaugen. Viele haben wir auch getrocknet. Nachdem mein Vater starb, habe ich die Netze zusammen mit meiner Mutter aufgestellt.“ / Foto © Takie Dela 
    Die besten Tage seien die, an denen ihre Söhne nicht trinken, sagt Nadeshda. Sie macht sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kommen. Dann lässt sie die Tür geöffnet, wenn sie ins Bett geht, liegt wach, versucht, sie am Telefon zu erreichen. Allein mit der Angel auf dem See kommt sie zur Ruhe: „Im Winter, wenn ringsum alles weiß ist und still. Herrlich!“ Noch lieber mag sie den Sommer, da kann sie sich noch länger in die Einsamkeit zurückziehen. Manchmal mag sie gar nicht heimgehen, erzählt die 76-Jährige, dann übernachtet sie in ihrem Boot: „Ich schlafe wenig. Ich sitze einfach da, trinke Tee und schaue in die Sterne.“ / Foto © Takie Dela 

    Olga Pekschujewa, Woknawolok 

    Olga Pekschujewa unterrichtet seit 36 Jahren Mathematik und Physik an der Dorfschule. Neuerdings leitet sie auch einen Schachkurs und gibt Sportunterricht. Im Winter fährt sie auf Skiern zu ihren Angelplätzen. Sie hat ihre Söhne und einige Schüler mit ihrer Leidenschaft angesteckt. Zusammen nehmen sie an Angelwettbewerben in der Umgebung teil / Foto © Takie Dela 
    Auf Olgas Esstisch steht ein Teller mit gekochtem Fisch. Ihre Begeisterung für die Fischerei hat sie von ihrem Mann. „Er war Karelier, und die Karelier sind alle Fischer“. Vor zwei Jahren ist er gestorben, mit gerade 55 Jahren. „Krebs, und getrunken hat er auch“, sagt Olga. Seitdem geht sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen fischen / Foto © Takie Dela 
    Beim Eisangeln trägt Olga oft die Dienstjacke ihres verstorbenen Mannes. Er war beim Katastrophenschutz. Die beiden hatten vier Kinder zusammen. Die beiden Töchter haben geheiratet und sind weggezogen. Ihre Söhne Roma, 26, und Pascha, 17, leben noch zuhause. Sie machen oft gemeinsam Ausflüge, schnallen sich Jagdskier unter und wandern durch den Wald zu einem See. „Ich liebe solche Wanderungen“, sagt Olga: „Lagerfeuer, ein Kessel mit Tee.“ Für sie ist Angeln vor allem ein Vergnügen und ein Mittel, um mit ihren Kindern und Schülern in Kontakt zu bleiben / Foto © Takie Dela 

     

    Olgas jüngster Sohn Pascha und zwei ihrer Schüler ziehen mit dem Eisbohrer los. Im Winter wird der Fang an Land sofort tiefgefroren und bleibt schön frisch / Foto © TakieDela 

     

    Ljubow Filippowa, Siedlung Wedlosero 

    Eine Holzskulptur am Ufer des Sees in Wedlosero. Die Siedlung liegt im Zentrum von Karelien / Foto © Takie Dela 
    Ljubow Filippowa sitzt mit ihrem Vater an einem Eisloch und wartet auf einen Biss. Er hat sie schon mit zum Angeln genommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dann heiratete sie, begann zu arbeiten und bekam Kinder – und für das Angeln war kaum noch Zeit. Vor kurzem hat sie ihre Stelle bei der Gebietsverwaltung gekündigt. Jetzt zieht sie auch manchmal alleine los / Foto © Takie Dela 
    Die Angel, die sich ihr Vater als Kind selbst gebastelt hat, benutzt er heute noch. Früher sei sie der Ansicht gewesen, Angeln sei nur etwas für Männer, sagt Ljubow Filippowa. Seit sie allein angelt, hat sie ihre Meinung geändert. Obwohl – ein paar Besonderheiten gibt es schon: Die Eislöcher bohrt immer noch ihr Vater für sie. Und wenn sie mal muss, während sie da mitten auf der weiten Eisfläche des Sees sitzt, hat sie ein Problem. Die meisten Männer gehen dann allerdings auch ans Ufer. Ein Aberglaube besagt, dass es Unglück bringt, aufs Eis zu pinkeln / Foto © Takie Dela 

     

    Ein anderer Aberglaube besagt, dass man auf dem See nicht fluchen und sich nicht über einen schlechten Fang beklagen darf. Wenn der erste Fang der Saison ein Erfolg war, haben die Karelier früher am Ufer eine Suppe daraus gekocht und sie für den Herren des Wassers zurückgelassen. Davon versprachen sie sich Petri Heil für die ganze Saison.  
    Ljubow Filippowa hält nichts von solchen Volksweisheiten und auch nichts von Anglerkalendern, in denen die günstigen Tage markiert sind. Wenn sie Lust hat, geht sie angeln. Wenn nicht, bleibt sie zuhause / Foto © Takie Dela 
    Nacht über dem See von Wedlosero. An einem Eisloch brennt noch Licht / Foto © Takie Dela 

    Valentina Moissejewa, Tschornaja Lamba 

    Valentina Moissejewa prüft eine Reuse. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann, einem Sohn und zwei kleinen Enkelkindern in dem kleinen Dorf Tschornaja Lamba. Hier gibt es noch nicht einmal richtige Straßen. Dafür liegt das Dorf zwischen zwei Seen / Foto © Takie Dela  
    Auf dem Weg zum See. Valentinas Sohn steuert den Motorschlitten. Valentinas Mutter war in einer Kolchose für die Aufzucht der Kälbchen verantwortlich. Von frühester Kindheit an half Valentina mit: molk die Kühe, gab den Kälbchen die Flasche. Manchmal stand sie vor der Schule um fünf Uhr früh im Stall. Wenn sie mal einen freien Tag hatten, nahm die Mutter sie mit zum Angeln / Foto © Takie Dela 
    Valentina prüft ihre Grundangel. Buran wartet ungeduldig auf den ersten Fang / Foto © Takie Dela 
    Beim Angeln findet Valentina Frieden. Sie hat einige Schicksalsschläge hinter sich. Ihr erster Mann trank. Als der älteste Sohn zehn Jahre alt war, erhängte sich der Vater im Suff. „Ich blieb allein zurück mit drei Kindern“, erinnert sie sich. „Von meinem Lohn und der Hinterbliebenenrente konnten wir kaum leben.“ Da begann sie mit dem Fischen. „Das hat uns Freude gemacht und danach haben wir alle zusammen unseren Fang gegessen.“ / Foto © Takie Dela 
    Das Warten hat sich gelohnt. Den ersten Fang bekommt Buran. Ihren Teil der Beute nimmt Valentina mit nach Hause. Die kleinen Rotfedern legt sie im Ganzen ein mit Öl, Salz und Gewürzen: „Die musst du nicht einmal putzen. Die garst du sechs Stunden auf dem Herd oder im Ofen, danach schmelzen sie im Mund, sogar mit Gräten.“ / Foto © Takie Dela 
    Auch der Kater Luntik begleitet Valentina gern beim Angeln. Früher ging sie gemeinsam mit ihren zweiten Ehemann fischen. Seit der sich das Bein verletzt hat, sind Buran und Luntik ihre einzigen Begleiter / Foto © Takie Dela 
    Valentina nennt den Kater im Scherz die „Fischereiaufsicht“. Die Kiste mit den Angelsachen ist auch Zuhause sein Lieblingsplatz. Draußen auf dem See streicht er Valentina um die Beine und linst ins Eisloch, ob sich da was tut. Im Sommer steigt er zu ihr ins Boot und wartet dann dort, bis ein Fisch am Haken hereingeflogen kommt / Foto © Takie Dela 
    Nikita und Veronika toben sich nach dem Kindergarten auf dem Sofa aus. Valentina hat ihre Enkel vor drei Jahren zu sich genommen. Das Amt hatte ihrer Mutter – Valentinas Schwiegertochter – das Sorgerecht entzogen, und ihr Sohn kam alleine mit zwei kleinen Kindern nicht zurecht. So wurde die Großmutter noch einmal Mutter / Foto © Takie Dela 
    Einen typischen Tag beschreibt Valentina so: „Um fünf Uhr stehe ich auf. Ich heize den Ofen ein, mache Frühstück und gucke kurz ins Internet. Dann bringe ich die Kinder in den Kindergarten und gehe fischen. Da kann ich mich entspannen. Wenn ich heimkomme, nehme ich die Fische aus und putze sie. Dann wird gekocht. Wenn die Kinder aus dem Kindergarten kommen, machen wir Hausaufgaben oder spielen. Um zehn gehe ich ins Bett.“ / Foto © Takie Dela 

    Im Sommer hat Valentina sich einen Traum erfüllt: ein E-Bike. Sie hat lange darauf gespart. Sie sammelt Beeren im Wald und verkauft sie auf dem Markt. Das Rad ist eine Investition: So kommt sie schneller in den Wald an die guten Plätze, wo die Heidelbeeren wachsen.  

    Nikita und Veronika schauen aus dem Fenster ihres Hauses. Valentina hat ihnen schon gesagt: „Wenn ich einmal sterbe, legt mir eine Angel mit ins Grab.“ / Foto © Takie Dela 

    Irina Iwanowa und Galina Martynowa, Kinelachta 

    Irina Martynowa und ihre Mutter Galina Iwanowa breiten ein Netz aus. Der Fischfang hat der Familie geholfen, schwer Zeiten zu überstehen. Galinas Großvater – Irinas Urgroßvater – wurde im Großen Terror erschossen. Seine Frau blieb allein mit fünf Kindern zurück. Um sie satt zu kriegen, begann sie mit der Fischerei. Sie lernte, wie man Netze knüpft, den Zwirn dafür stellte sie aus Leinen selbst her. Früh am Morgen lief sie drei Kilometer zum See und stellte ihre Netze auf / Foto © Takie Dela 
    Auf der Fahrt über den Sinemuksa-See hat Irina Iwanowna ihren Mann und ihre Mutter im Schlepptau. Seit ihre Urgroßmutter aus der Not mit dem Fischen begann, wird die Tradition von Generation zu Generation weitergegeben / Foto © Takie Dela 
    Der Tag beginnt mit einem kleinen Barsch. Galinas Großmutter hat ihr beigebracht, wie man Fische fängt. Später hat sie gemeinsam mit ihrem Mann geangelt. Seit er gestorben ist, sitzt sie meistens allein am Wasser / Foto © Takie Dela 
    Kleine Fische machen auch satt – wenn man genug davon fängt. Früher hat Irina mit ihrer Mutter auch Reusen und Netze aufgestellt, wenn der See gefroren war. Das ist harte Arbeit. Heute wartet Galina meistens zuhause und übernimmt dann das Putzen und die Zubereitung des Fangs / Foto © Takie Dela 
    Zurück aus der Kälte. Galina Martynowa heizt den Samowar ein / Foto © Takie Dela 
    Als kleines Mädchen hat Galina gelernt, was Hunger bedeutet. Ihre Großmutter hat die Familie mit den Fischen durchgefüttert, die sie aus dem See gezogen hat. Der Hunger ist Vergangenheit, aber Galina hat immer einen Vorrat im Haus – getrocknet und in der Tiefkühltruhe / Foto © Takie Dela 
    Der Himmel über dem See / Foto © Takie Dela 
    Galina Martynowa blickt auf in die Sterne / Foto © Takie Dela 

     

    Text & Fotos: Takie Dela 
    Veröffentlicht am:  11.02.2025

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  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

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    Menschen, deren Liebesleben nicht mit den Vorstellungen der Gesellschaftsmehrheit von „traditioneller Partnerschaft“ übereinstimmt, hatten es nie leicht in Russland. Seit dem Verbot angeblicher „Propaganda von Homosexualität“ 2013 haben die Repressionen stetig zugenommen. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine dreht sich die Repressionsspirale immer rascher, Queerfeindlichkeit und Gewalt werden weiter normalisiert. 

    Im November 2024 stufte das Oberste Gericht der Russischen Föderation schließlich eine „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ ein – dass es eine solche Organisation gar nicht gibt, war den Verantwortlichen offenbar einerlei. Der russische Fotograf Sergei Stroitelev porträtiert queere Paare, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben. 

    Wladimir und Denis auf der Kölner Pride-Demo im Juli 2024 / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns“ – Wladimir und Denis

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Wladimir (29) und Denis (25) haben sich 2020 in Nowosibirsk über ein Dating-Portal kennengelernt. Wegen des Corona-Shutdowns dauerte es zwei Monate, bis sie sich zum ersten Mal treffen konnten. Denis hielt die Treffen zunächst vor seinen Eltern geheim. Als er sich ihnen schließlich offenbarte, reagierten sie überraschend gefasst. Sein Vater erlaubte sogar, dass Wladimir über Nacht blieb. Wladimir beichtete seinen Eltern schließlich ebenfalls, dass Denis mehr ist als nur ein Freund: „Meine Mutter antwortete, dass Satan endgültig die Oberhand gewonnen habe.“  

    Aufgewachsen ist Wladimir in Usbekistan: „Dort war Homosexualität kriminalisiert. Ich habe schon im Kindergarten gemerkt, dass mir Jungs besser gefallen. Als ich 17 war, zog meine Familie nach Nowosibirsk. Aber auch da war es für mich nicht leicht. Wegen meines asiatischen Äußeren wurde ich oft von Polizisten kontrolliert. Da ich auch noch schwul bin, hatte ich doppelt Angst.“ 

    Als 2021 Alexej Nawalny verhaftet wurde, begann das Paar darüber nachzudenken, Russland zu verlassen. Als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, waren für sie alle roten Linien überschritten und sie reisten im März 2022 aus. „Ich dachte, meine Mutter als religiöser Mensch müsste verstehen, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten“, sagt Wladimir. „Aber sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns dafür, dass wir ausgereist sind.“ 

    Wladimir und Denis. Das Bild von Adam und Adam im Paradies haben sie in Russland gemalt und nach Deutschland mitgenommen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Entenfüttern mit Freunden. Das befreundete Paar ist ebenfalls mit humanitären Visa aus Russland nach Deutschland gekommen / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Wladimir und Denis: „Das Imperium wird nicht frei sein“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Verrecke, Schwuchtel!“ – Alexander und Sascha 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Alexander (32) kommt aus einem kleinen Ort in Burjatien, Sascha (47) aus Joschkar-Ola, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Mari El. Mit dem Umzug nach Moskau entflohen beide Mobbing und Scham. Sascha engagierte sich in der Hauptstadt sogar in einer Organisation für LGBTQ-Sportler:innen.  

    Die beiden lernten sich 2018 kennen und zogen schnell in eine gemeinsame Wohnung: „Sofort gingen die Probleme mit den Nachbarn los“, erzählt Alexander: „Sie wollten wissen, warum Sascha auf dem Balkon Blumen pflanzt, sowas machen Männer doch nicht! Und warum wir keinen Besuch von Frauen bekommen.“  

    Alexander unterrichtete an einer Berufsschule. Er sprach mit den Studierenden über queeres Leben und sagte offen seine Meinung über den russischen Angriff auf die Ukraine. „Ab Oktober 2022 bekam ich regelmäßig SMS: ‚Verrecke, Schwuchtel‘. Ein Telegram-Kanal mit den Buchstaben Z und V im Profil veröffentlichte Videos aus meinem Unterricht, wo ich über Butscha und über LGBT sprach. Ich zitterte vor Angst und mir wurde klar, dass ich hier weg muss.“  

    Alexander ging nach Deutschland und beantragte Asyl. Derweil bekam Sascha in Moskau Besuch von Männern in Zivil, die sich nach Alexander erkundigten. Schließlich folgte er seinem Partner. Alexanders Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Sascha wartet noch auf eine Entscheidung. 

    Sascha spielt Akkordeon, Alexander liest. Das Instrument und die Bücher gehören zu den wenigen Dingen, die die beiden aus Russland mitgenommen haben / Fotos © Sergei Stroitelev
    Beim Sport im Hof / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Sascha: „Hoffnung“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Seid ihr etwa lesbisch?!“ –​ Tanja und Alexandra 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexandra (41) und Tanja (40) kommen beide aus einem kleinen Bergarbeiter-Ort in der Oblast Swerdlowsk. „Mein Vater trank, ich wurde oft geschlagen“, erinnert sich Alexandra. „Mit 18 gestand ich meinen Eltern, dass ich Frauen liebe. Die Schläge nahmen zu, sie nannten mich eine Schande für die Familie. Mein Bruder brach mir die Nase und eine Rippe. Er saß immer wieder im Knast.“ 

    Auch Tanja war bereits Mutter, als die beiden sich kennenlernten. „Es war das erste Mal, dass ich mich in eine Frau verliebte. Ich schämte mich“, erinnert sie sich. Als Tanjas Mutter von ihrer Beziehung erfuhr, drohte sie, Tanja in eine psychiatrische Klinik zu stecken und Sascha zu töten.  

    Ihre Asylanträge stellte die Familie in Bochum. „Der Sachbearbeiter war ein Spätaussiedler aus Ufa und, wie sich herausstellte, ziemlich homophob“, erzählt Tanja. „Seid ihr etwa lesbisch?!“, habe er sie gefragt. „Er musterte uns, als seien wir Monster.“ Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, das Paar und die Kinder seien keine Familie. Ein Gericht gab ihnen schließlich recht und verfügte, dass die Familie nicht getrennt werden dürfe. Aber die Entscheidung über die Asylanträge steht immer noch aus. Zu allem Überfluss muss Tanja jetzt noch gegen eine Krebserkrankung kämpfen. 

    Alexandra und Tanja haben gemeinsam Diskriminierung, Flucht und Kämpfe mit der deutschen Bürokratie durchgestanden. Sie sind entschlossen, auch Tanjas Krebserkrankung zu besiegen. Der kleine Charlie Brown ist ihr Talisman / Foto © Sergei Stroitelev 
    Abendspaziergang am Rhein. Die Familie bewundert den Kölner Dom / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Hier sind wir: ein bisschen müde, ein bisschen erschlagen. Aber am Leben“. Tagebuchnotiz von Alexandra und Tanja / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Ich merke, dass in mir ein Rest Homophobie sitzt“ – Alexander und Wladimir 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexander (38) und Wladimir (35) kommen aus Nishni Nowgorod. Dort sei die Situation von queeren Menschen nicht viel besser als in Tschetschenien, sagen sie. Die Polizei und queerfeindliche Gruppen machten Jagd auf Schwule, Lesben und trans* Personen. Als Alexander sich einmal über ein Dating-Portal verabredete, erwartete ihn am vereinbarten Treffpunkt eine Gruppe junger Männer: „Mir war sofort klar, was los war, und ich rannte davon. Ich bat Passanten, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte. Die Typen verprügelten mich und drohten mir mit einem Messer.“  

    Wirklich akzeptieren konnte er seine Sexualität erst mit 26 Jahren. Wladimir derweil erinnert sich, wie er immer wieder zu seiner Mutter sagte: „‚Guck mal, der hübsche Mann da!‘ Als sie irgendwann kapiert hat, dass ich keine Witze mache, wurde ihre Einstellung immer ablehnender und sie begann, mich zu verurteilen.“ 

    Bis zum Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine sahen Alexander und Wladimir ihre gemeinsame Zukunft in Russland und sparten für eine eigene Wohnung. Nach dem ersten Schock zu Kriegsbeginn sammelten sie die nötigen Dokumente für eine Ausreise. Als im Herbst 2022 dann die Teilmobilmachung verkündet wurde, reisten sie zunächst nach Belarus. Von dort aus bemühten sie sich um ein humanitäres Visum für Deutschland. Den Ausschlag für die Anerkennung habe letztlich wohl Alexanders Engagement für die Wahlbeobachtungsorganisation Golos gegeben, glauben sie. 

    An die Freiheit in Deutschland müssten sie sich erst gewöhnen: „Ich merke, dass tief in mir immer noch ein Rest Homophobie sitzt“, sagt Alexander. „Ich traue mich nicht, öffentlich mit meinem Mann Händchen zu halten. Aber nach und nach ändert sich das. Früher habe ich Gay-Paraden abgelehnt. Ich war der Meinung, dass sie den Hass gegen Schwule nur anfachen. Heute finde ich diese Veranstaltungen gut, weil es wichtig ist, dass alle Menschen sich frei ausdrücken können“.

    Trotz der Queerfeindlichkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche hält Wladimir an seinem Glauben fest. Ein Gebetsgürtel gehört zu den Dingen, die ihn mit der Heimat verbinden / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Alltag für die Neuankömmlinge in Deutschland: Anstehen bei der Tafel. Danach geht es gleich weiter zum Integrationskurs / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Wladimir / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Die Depression war das Ergebnis des enormen Drucks“ – Deidara und Lira 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Als Deidara (42) sich vor vier Jahren zur Transition entschied, waren er und Lira bereits seit mehreren Jahren ein Paar. „Mir war klar geworden, dass die Kosten für die Prozedur doch nicht so schrecklich hoch sind, wenn ich dafür endlich ich selbst sein darf, statt auf eine Reinkarnation als Mann irgendwann in einem nächsten Leben warten zu müssen“, erklärt Deidara. Lira nahm das gelassen auf: „Frauen gefallen mir zwar besser, aber ich liebe doch diesen konkreten Menschen, da ist es mir egal, welches Geschlecht er hat“, sagt sie. 

    Nach Kriegsbeginn wurde ihnen schnell klar, dass die militärische Aggression auch Auswirkungen auf ihr Leben haben wird. „Erst hofften wir, die Situation aussitzen zu können“, sagt Deidara. „Aber bald haben wir verstanden, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie uns in die Konversionstherapie schicken.“ Deidara hat eine Tochter – geboren, nachdem Deidara als junger Mensch Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Als der russische Staat 2023 Geschlechtsumwandlungen verbot, fürchtete er, dass die Behörden ihm das Sorgerecht entziehen könnten.  

    Bis die Berliner LGBTQ-Organisation Quarteera ihnen Visa besorgt hatte, verhielten sie sich so unauffällig, wie es nur ging. „Bei uns beiden wurde eine klinische Depression diagnostiziert, in Russland waren wir mehrfach zur Behandlung in einer Klinik. Aber hier konnte mein Mann die Antidepressiva absetzen. In der sicheren Umgebung hier geht es ihm besser“, sagt Lira. „Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die Depression das Ergebnis des enormen Drucks war, unter dem wir lebten.“  

    Deidara bindet seiner Tochter die Haare. Das Paar im Hof ihrer Unterkunft in Hamburg / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Pause beim Spaziergang in einem Hamburger Park / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Ein anderes Land, eine andere Sprache, ein anderes Leben. Aller Anfang ist schwer. Aber Russland zu verlassen ist nicht nur die beste Entscheidung, es war die einzig richtige. Das Recht man selbst zu sein wiegt schwerer als alle Probleme.“ Tagebuchnotiz von Deidara und Lira / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Eine glückliche Zeit“ bis zum Krieg – Dima und Andrej 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Dima (23) und Andrej (36) haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Dima kommt aus Gelendschik, einem Urlaubsort an der russischen Schwarzmeerküste. Andrej wurde in der ukrainischen Stadt Isjum in der Oblast Charkiw geboren. Beide haben in ihrer Jugend Diskriminierung erlebt.  

    Erst als er aus Isjum wegging und nach Kyjiw zog, habe er ganz zu seiner Homosexualität stehen können, sagt Andrej. „Als ich mit 20 meinen Eltern gesagt habe, dass ich schwul bin, hatte ich schon seit einem Jahr eine feste Beziehung. Sie haben es gefasst aufgenommen, aber sie hatten Angst um meine Sicherheit – ich habe mich damals ziemlich schrill gekleidet.“ 

    Später ging Andrej als Tänzer an ein Moskauer Theater, lebte mit einem jungen Mann zusammen. „Eine glückliche Zeit“ sei das gewesen – bis Putin den Überfall auf die Ukraine befahl. Russland sei seine zweite Heimat, sagt Andrej. „Meine Großeltern kommen dort her.“ Von Moskau aus organisierte er die Flucht seiner Familie aus Charkiw und Isjum nach Deutschland. Dann reiste er selbst hinterher. In Deutschland engagierte er sich in der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland. „Ich liebe Russland, obwohl ich Ukrainer bin“, sagt er. „Ich hoffe, ich kann eines Tages dorthin zurückkehren, in ein freies Land ohne den Irren Putin.“

    Ein Stück Himmel hinter dem Fenster von Dimas Zimmer. Rauchpause im Heck von Andrejs Wagen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Dima und Andrej bei der gegenseitigen Maniküre / Fotos © Sergei Stroitelev
    „Es ist schwer.“ Tagebuchnotiz von Dima und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration“ –​ Dmitri und Andrej 

    Ein Bild aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    In Moskau haben Dmitri (26) und Andrej (26) sich einiges getraut: Sie gingen in der Öffentlichkeit Hand in Hand und demonstrierten gegen Russlands Überfall auf die Ukraine. Diskriminierung kennen sie seit ihrer Kindheit: „Als mir klar wurde, dass ich auf Männer stehe, fielen mir die Worte meines Vaters ein, der einmal sagte, dass man Schwule verbrennen sollte“, erinnert sich Dmitri. „In der Schule wurde ich heftig gemobbt, die anderen Kinder schimpften mich eine ‚Schwuchtel‘. In der Folge habe ich lange Zeit gestottert“. 

    Andrej hat seine Kindheit im Nordkaukasus verbracht. „Die Atmosphäre gegenüber LGBT war dort extrem feindlich“, erzählt er. „In der Schule wurde ich gehänselt, weil ich ein künstlerischer Junge war.“ Das änderte sich erst, als Andrej in eine Schule mit musikalischem Schwerpunkt wechselte: „Ich spielte Cello und Klavier und begann, mich zu entfalten. Im ganzen Kaukasus findet man schwerlich einen Ort mit einer größeren Dichte an LGBT-Personen als diese Schule. Wir waren ganze zehn!“  

    In Moskau unterrichtete Andrej an einer Musikschule. „Als ich am 24. Februar 2022 von einer Freundin aus Dnipro erfuhr, dass Russland die Ukraine bombardiert, rauchte ich erst einmal eine ganze Packung Zigaretten weg. Dann bin ich zur Arbeit gegangen und habe den Kindern das Lied ‚Wir wollen keinen Krieg‘ aus Prokofjews Oratorium ‚Auf Friedenswache‘ vorgespielt“.  

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration gegen den Krieg“, erzählt Dmitri. „Da wurde ich zum ersten Mal festgenommen. Bei einem Gedenkmarsch für Boris Nemzow folgte dann die zweite Festnahme. Danach beschlossen wir, auszureisen.“  

    Andrej und Dmitri nahmen einen Kredit auf, angeblich für den Kauf eines Cellos. Dann flogen sie in den Tschad und weiter nach Istanbul. Dort stellten sie einen Antrag auf ein humanitäres Visum für Deutschland.  

    Eine von Andrejs ersten Erinnerungen in Deutschland ereignete sich im Supermarkt: „Im Lidl neben unserem Wohnheim fragte mich die Verkäuferin auf Englisch, aus welchem Land ich käme. Als ich ihr sagte, dass ich leider aus Russland sei, antwortete sie: ‚Wir machen euch keine Vorwürfe, wir machen Putin Vorwürfe.‘ Das war in dem Moment genau, was ich brauchte.“

    Das Armband hat Andrej Dmitri einst in Russland geschenkt. Einander die Hände gehalten haben sie dort auch in der Öffentlichkeit. / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Das Paar ist froh, seine Beziehung in Deutschland offen leben zu können. Beim Radfahren kann das trotzdem gefährlich sein – neulich sind sie so gestürzt / Fotos © Sergei Stroitelev  
    Tagebuchnotiz von Dmitri und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    Fotos: Sergei Stroitelev, aus der Serie: „Dreamers: Queer Refugees from Russia in Germany“
, 2024 

    Bildredaktion: Andy Heller 

    Das Projekt wurde mit Unterstützung von Quarteera e.V. und dem Auswärtigen Amt im Rahmen des Programms “Civil Society Cooperation” durchgeführt. 

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