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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Editorial: Ein Jahr des brutalen Wahnsinns

    Editorial: Ein Jahr des brutalen Wahnsinns

    Ein Jahr des brutalen Wahnsinns und Schreckens liegt hinter uns, vor allem hinter den Menschen in der Ukraine, hinter deren Angehörigen und den Geflüchteten. Das, was bevorsteht, verspricht nichts Besseres. Am Dienstag, bei seiner Rede vor der Föderalversammlung, hat Putin die Bevölkerung eingeschworen auf einen langen Krieg.

    Ähnlich sieht Maxim Trudoljubow die Lage. In seinem Text Die schwindende Macht der Angst, den wir als eine Art Bilanz dieses Jahres ausgesucht haben, beschreibt der Autor die Situation ungefähr so: Putins Angstmache gen Westen hat nicht die gewünschte Wirkung gezeigt – nach innen jedoch hat sie gewirkt. So stark gewirkt, dass sich das Land im und auf den Krieg einrichtet.
    Das zweite Publish dieser Woche zeigt den Schrecken der Wehrlosesten. Bilder vom Krieg #10: „Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“.

    Das zurückliegende Jahr bekommt von uns heute keine Beschreibung in großen Worten. dekoder hat versucht, die Geschehnisse adäquat zu begleiten und abzubilden. Fühlt euch eingeladen nachzulesen und nachzuschauen: Das Dossier zum Krieg sammelt chronologisch die Materialien, die wir veröffentlicht haben. 

    Zunächst sind dort übersetzte Medientexte – kritische Perspektiven aus Russland und Belarus, dazu angesichts der neuen Lage erstmals auch Stimmen aus der Ukraine.
    In Bezug auf Russland war vor allem eine Verlagerung der Medien auf YouTube zu bemerken – ein Marker dafür, dass wir am Ende dieses Kriegsjahres feststellen müssen: Viele unabhängige Medien wurden mit Beginn der Invasion von der russischen Führung ins Exil gezwungen. Die belarussischen Medien und Journalisten haben sich bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine im Ausland eine neue Arbeitsbasis geschaffen. Sie waren im Zuge der historischen Proteste von 2020 schließlich ins Exil getrieben worden – auch in die Ukraine, von wo sie mit dem Beginn des Krieges wieder flüchten mussten. 
    Zwei wissenschaftsbasierte Formate haben in diesem Jahr auf dekoder stark an Gewicht gewonnen, um auf aktuelle Fragen reagieren zu können. Das schnelle Fragenformat Bystro und die FAQs. Zusammengefasst sind Letztere in dem Special Russlands Krieg gegen die Ukraine – Fragen und Antworten.
    In den ersten Tagen des Angriffskriegs haben wir aufgrund der überbordenden Menge an wichtigen Informationen begonnen, auch externe Leseempfehlungen zu sammeln.
    Neu enstanden ist die Reihe Bilder vom Krieg, die wir seit Mai veröffentlichen, jeweils begleitet von Texten der Fotografinnen und Fotografen. Unmittelbar nach dem 24. Februar begannen wir bis April mit einem Fototagebuch aus Kyjiw, das zu diesem Zeitpunkt half, die unfassbare Situation wahrzunehmen. Es war damals ähnlich grau wie jetzt.

    Mittlerweile ist aus den übersetzten Medientexten ein Buch zu diesem Jahr entstanden – die Flugschrift Das ist ein Ozean aus Wahnsinn – kritische Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus, die dieser Tage bei der edition FOTOtapeta erscheint und jetzt beim Verlag zu bestellen ist. Auf WDR 3 haben wir das Buch bereits vorgestellt, live machen wir das am 2. März in Berlin in der Kurt-Tucholsky-Buchhandlung. Wir freuen uns, wenn ihr kommt.

    Vielen Dank an alle, die dekoder in diesem Jahr unterstützt haben und damit geholfen haben, nicht in Sprachlosigkeit zu fallen. Wir hoffen, dass wir durch unsere Arbeit einen Teil leisten konnten auf dem Weg.

    Eure dekoderщiki 

  • In eigener Sache

    In eigener Sache

    Unsere Chefredakteurin Tamina Kutscher verlässt dekoder zum 1. Februar 2023. Hier verabschiedet sie sich von euch Leserinnen und Lesern – und wir danken ihr für sieben gemeinsame Power-Jahre.

    Liebe dekoder-Leserinnen und -Leser, 

    zum 1. Februar werde ich nicht mehr Teil von dekoder sein. Dies zu schreiben fällt mir nicht leicht. dekoder war nie nur ein Job für mich. Seit dekoder-Gründer Martin Krohs mich Anfang 2016 als Chefredakteurin ins damals drei Monate junge Projekt geholt hat, war dekoder eine Aufgabe, die mich voll gefordert und erfüllt hat. 

    Was heißt es, Russland zu entschlüsseln? Das wurde ich sehr oft gefragt in den letzten sieben Jahren. Auf dekoder heißt es, genau hinzuhören – auf den unabhängigen Diskurs, den wir ins Deutsche bringen. Und gleichzeitig, zu hinterfragen, zu kontextualisieren und einzuordnen – mittels Fakten und Expertise aus der Wissenschaft. Mit allzu einfachen Antworten geben wir uns auf dekoder nicht zufrieden, auch unsere Leserinnen und Leser nicht. In sieben Jahren ging es auch darum diesen dekoder-Geist, den Martin Krohs dem Projekt eingehaucht hat, weiterzutragen: Es sind zahlreiche neue Formate entstanden, ein Buch (und ein zweites ist auf dem Weg), wir haben einen russischsprachigen Europa-dekoder und einen Belarus-dekoder aus der Taufe gehoben, ein ganzes dekoder-lab und viele unterschiedliche Specials. Zwei Grimme Online Awards und der Friedrich-Wilhelm-Fricke-Preis waren uns dabei wichtige Anerkennung und Ansporn.

    Der nahe und gleichzeitig analytische Blick, den dekoder bietet, auf Russland, auf Belarus und auf Europa, ist mit Sicherheit jetzt besonders wichtig, da Russland in der Ukraine einen schrecklichen Krieg führt. Wir merken es an den vielen Anfragen, die dekoder gerade seit dem 24. Februar 2022 erreichen, und auch an den deutlich gestiegenen Zugriffen auf unsere Seite.

    Und doch: Für mich ist es nun Zeit zu gehen. Nach sieben ereignis- und erfolgreichen Jahren in einem großartigen Team gilt es, Neues zu wagen. Im Moment blicke ich erwartungsfroh auf noch Unbekanntes, als Journalistin werde ich mich auf jeden Fall weiterhin mit Gesellschaft und Medien in Russland/Osteuropa beschäftigen. 

    dekoder weiß ich dabei in Händen eines wunderbaren Teams, unterstützt von euch allen, interessierten, im besten Sinne kritischen und treuen Leserinnen und Lesern. Und ich weiß auch: Wohin mich der Weg auch führen mag, ich bleibe dekoderщik im Herzen.

    Und wir alle wissen: Man sieht sich im Leben immer zweimal. Wann und wo auch immer – ich freue mich schon darauf!

    Danke für alles.

    Tamina 

    Liebe Tamina,

    dieser Abschied fällt auch uns als Redaktion nicht leicht. In sieben Jahren haben wir gemeinsam ein Medium aufgebaut, haben angesichts von Krieg und immer neuen Repressionen Wut und Entsetzen geteilt, sind ausgerastet vor Freude, als wir diverse Preise erhalten haben, haben gemeinsam geflucht über „Bleiwüsten“ und „Textriemen“ (bzw. „RIEMEN“ in deiner Schreibweise), haben mit unseren tollen Übersetzerinnen und Lesern (leider viel zu selten!) Klubabende bis in die Nacht gefeiert, haben über das dekoder-lab weitere Brücken in die Wissenschaft errichtet, …

    All das wäre niemals möglich gewesen ohne dich, liebe Tamina, ohne deinen unermüdlichen Einsatz als Chefredakteurin. Mit deiner fachlichen Kompetenz, deiner journalistischen Feinfühligkeit und Erfahrung hast du dekoder federführend zu einem professionellen Medium mit starken Partnern gemacht – ein Medium, das heute gefragter ist denn je.

    Auf die intensiven Jahre und das gemeinsam Erreichte können wir voll Dankbarkeit zurückblicken. Und genau deswegen können wir auch trotz Abschiedsschmerz mit Zuversicht auf das Kommende blicken – sowohl bei dekoder als auch für deine Zukunft. Вперед!

    Deine dekoderщiki

    Alena, Anton, Bianca, Daniel, Ingo, Mandy, Leonid, Rike und Martin

    Oh, darf ich (Martin) noch ein PS?

    Liebe Tamina! Lass mich nur drei Sätze noch ergänzen – persönliche. Nach innen wie nach außen hast du dekoder verkörpert, wie es sich kein Gründer besser wünschen kann. Was für ein Glück, dass du bereit warst, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht nur als hochprofessionelle Fachperson – das steht sowieso außer Zweifel –, sondern auch als leuchtende Persönlichkeit, deren Integrität, Format, frische Gelassenheit und natürliche Souveränität uns alle um dich herum immer wieder beeindruckt und berührt.

    Du wirst diesem Projekt sehr fehlen, publizistisch wie menschlich. Diese sieben Jahre hast du geformt, ja: geprägt. Sie werden weiter glänzen. Das Allerbeste dir. Hab größten Dank!


    Ausrasten. Köln, 2016.

     

    Perestroika bei dekoder, 2017.

     

    Gopniki. Foto © M. Bustamante

     

    Redaktionsalltag in Corona-Zeiten, 2021.

     

    Wieder ausrasten: Grimme Online Award 2021. Foto © Tanya Tkachova
  • Editorial: Friedensnobelpreis für Dmitri Muratow

    Editorial: Friedensnobelpreis für Dmitri Muratow

    Es war eine Überraschung, die für einen Tag das Scheinwerferlicht der gesamten Welt auf die bedrückende Lage der unabhängigen Medien in Russland lenkte: Die Bekanntgabe des Friedensnobelpreises 2021 für den Chefredakteur der Novaya Gazeta, Dmitri Muratow. Noch einmal dürfte dieses Schlaglicht so ausfallen, wenn im Dezember die eigentliche Preisverleihung ist. Mit ihm wird die philippinische Journalistin Maria Ressa ausgezeichnet. Heute gibt es erst einmal Lesestoff rund um diese Entscheidung, die so wohl niemand auf dem Zettel hatte.

    Er ist der Preisträger, doch Dmitri Muratow machte sogleich deutlich: Dieser Preis gehöre allen Kolleginnen und Kollegen auf dem Redaktionsflur der Novaya – das erklärte er in einem Interview mit Meduza. Und: Er widme den Friedensnobelpreis vor allem jenen, die wegen ihrer journalistischen Arbeit ihr Leben lassen mussten: 

    „Der Friedensnobelpreis wird nicht an Tote verliehen, sondern an Lebende. Offensichtlich haben sie entschieden, ihn mir zu verleihen, der ich am Leben bin, meinten jedoch eigentlich Jura Schtschekotschichin, Igor Dominikow, Anna Politkowskaja, Nastja Baburowa und Stas Markelow, Natascha Estemirowa.“

    Die Novaya Gazeta ist Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland. An die 100 Artikel aus der Novaya hat dekoder bis heute übersetzt. Was die Zeitung ausmacht, welche Rolle Muratow hat, welch berühmte und mutige Journalistinnen und Journalisten für sie arbeiteten und arbeiten: Das erfahrt ihr in unserem Medienporträt. Unter dem Portrait findet ihr auch Links zu allen Novaya-Texten, die dekoder übersetzt hat.

    Die Novaya Gazeta ist jedoch nicht „die letzte unabhängige Stimme Russlands“. Versteht man den Nobelpreis wie Muratow als Preis für die Kämpfer für Meinungsfreiheit in Russland, muss man sie alle auch erwähnen: unabhängige Medien, deren mutige Journalistinnen und Journalisten trotz aller Einschränkungen, gerade der vergangenen Monate, weitermachen. 

    Wie stark die Meinungsfreiheit in Russland gerade in diesem Jahr immer stärker eingeschränkt wurde – vor allem nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny und angesichts der Dumawahl – zeichnen wir in den Beiträgen unseres Mediendossiers nach. 

    Und wir empfehlen diesen Artikel von Tatjana Stanowaja über den Druck auf jede Art von Opposition, zu der eben auch unabhängige Medien gezählt werden, einfach, weil sie kritisch sind: Wer nicht Freund ist, ist Feind.

    Noch am gleichen Tag, nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe der Träger für den Friedensnobelpreis, hat das russische Justizministerium drei weitere Organisationen als „ausländische Agenten“ eingestuft, darunter das Investigativportal Bellingcat, außerdem neun Einzelpersonen, darunter die Medienrechtsanwältin Galina Arapowa. „Die Phase der Nicht-Anwendung des Gesetzes unmittelbar nach seinem Inkrafttreten hat bald darauf einer aktiven ‚Agentenjagd‘ Platz gemacht“, schreibt  Anton Himmelspach in unserer Gnose zum Agenten-Gesetz

    Für heute: Wir gratulieren Dmitri Muratow, Maria Ressa und allen mutigen Journalistinnen und Journalisten!  

    Eure dekoderщiki
    09.10.2021

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  • Editorial: dekoder entschlüsselt Belarus! Dafür brauchen wir Euch!

    Editorial: dekoder entschlüsselt Belarus! Dafür brauchen wir Euch!

    200 Tage Protest: Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und ihre Grundrechte. Derzeit vor allem in Mini-flashmobs, bei Abendspaziergängen in kleinen Gruppen …  Die großen Straßenproteste sind mittlerweile verschwunden, was vor allem an den massiven Repressionen liegen dürfte, mit denen der Machtapparat Lukaschenkos gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Sei es gegen Journalistinnen wie beispielsweise Kazjaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa, die kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. (Sie hatten ein Live-Streaming eingerichtet von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern in einem Minsker Hinterhof zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag.) Sei es gegen Oppositionspolitiker wie Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antreten wollte, aktuell vor Gericht steht und dem 15 Jahre Haft drohen. Sei es gegen Musiker wie denen von der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies), die für ein Privatkonzert 15 Tage Haft aufgebrummt bekamen. Sei es gegen jegliche Graffiti oder Symbolik des Protests. Die 75-jährige Iraida Misko beispielsweise erhielt eine Geldstrafe von 175 Euro, weil sie an einer „nicht genehmigten Kundgebung“ teilgenommen haben soll. Als Beweis präsentierten die Justizbehörden ein Foto von Iraida Misko, auf dem sie ein weiß-rot-weißes Lokum, eine Süßigkeit, in der Hand hält

    Menschenrechtsorganisationen wie Libereco haben ermittelt, dass seit Beginn der Proteste über 33.000 Menschen inhaftiert wurden. 266 werden aktuell als politische Gefangene geführt. 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen. Es wurden über 1000 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Der Politologe Waleri Karbalewitsch analysiert, dass sich Belarus aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet, für deren Lösung das Regime nur eine Antwort hat: Gewalt und Repressionen. Er schreibt: „Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht.“ Wie es weitergeht, ist aktuell schwer zu sagen. 

    Aus Anlass des 200. Protesttages lassen wir die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in einem visuellen Rückblick Revue passieren. Es sind zweifelsohne Ausformungen eines  historischen Selbstermächtigungsprozesses, mit dem die Belarussen nicht nur sich selbst, sondern auch die internationale Staatenwelt überrascht haben. Sie zeigen, dass die Sehnsucht der Belarussen nach Wandel nicht nur lange unterschätzt wurde, sondern auch, dass wir mehr auf dieses Land schauen müssen, dass wir Wissen brauchen, um entsprechende kulturelle und gesellschaftspolitische Codes und Entwicklungen entziffern und verstehen zu können. 

    Deswegen haben wir im November 2020 mit unserem Projekt begonnen: Belarus zu entschlüsseln, mit originären Texten, die wir dem deutschen Leser zugänglich machen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Politik, sondern wir unternehmen auch Ausflüge in die Literaturgeschichte – wie bei der Gnose über Janka Kupala – oder in die belarussische Staatswirtschaft.
    Wir haben viele Glückwünsche und Lobesbekundigungen zum Start des Projekts erhalten. Sonja Zekri hat uns in der Süddeutschen Zeitung wärmstens empfohlen, das Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks berichtete ebenfalls. Seit Anfang Januar hat sich neben der S. Fischer Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. auch ein neuer Förderer zu uns hinzugesellt, worüber wir uns außerordentlich freuen: Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) wird in Kooperation mit dekoder die wissenschaftliche Begleitung und Fundierung des Projektes unterstützen. So können wir beispielsweise unser Gnosen-Programm zu Belarus entsprechend ausbauen und vertiefen – mit Jakob Reuster als Gnosenredakteur auf unserer Seite.

    Wir leisten Pionierarbeit. Damit wir das Projekt „Belarus entschlüsseln“ aber insgesamt auf solide Beine stellen können, die eine Langfristigkeit garantieren, brauchen wir vor allem Eure und Ihre geschätzte Unterstützung. Im Belarussischen nennt man solch eine kollektive Untersützungsleistung talaka. Früher kam sie zum Tragen, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, sie zu reparieren oder neu zu errichten. Bei uns ist glücklicherweise nichts abgebrannt, wir wollen etwas aufbauen. Deswegen werden wir in den kommenden Wochen über die sozialen Medien mit einer speziellen Spenden- und Unterstützungskampagne auf den Belarus-dekoder aufmerksam machen. Helft uns dabei! Reicht uns weiter, schreibt und erzählt von uns, und verschenkt eine Klub-Mitgliedschaft, oder gerne auch zwei. 

    Die ersten 15 eingehenden Spenden, die uns aufgrund – sagen wir – ihrer durchschlagenden Überzeugungskraft fröhlich und freudig stimmen, erhalten als kleines Dankeschön die CD The Red Book of Belarusian Music. Dabei handelt es sich um die erste Compilation belarussischer Musik, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Und zwar im Jahr 2006, als die Machthaber in Belarus gegen Musiker und Band vorgegangen sind: ein wirklich historisches Kulturstück also, das eigentlich längst nicht mehr erhältlich ist.

    Für eure Unterstützung und Hilfe sagen wir jetzt schon: Danke und dzjakuj! 

    Euer Ingo 
    Belarus-Redakteur

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    Bild: Lena Gordejewa für dekoder
     

    Wart Ihr schon einmal im russischen Dampfbad, der Banja? Das ist, wenn man aus der extremen und feuchten Hitze unmittelbar in die bittere Kälte des Eislochs wechselt. Wir waren gerade da und sind nun richtig schön durch- und ausgeschwitzt und mit einer unheimlichen Freude erfüllt. 
    Gestern ist unser Longread zur Banja erschienen. Ein Jahr haben wir daran gearbeitet, mal mit Feuer und Flamme, wenn alles klappte, mal mit kaltem Wasser übergossen, wenn der Plan nicht realisierbar schien. 

    Nun sind wir angenehm erschöpft und mit Freude erfüllt. Der Banja-Longread ist online und wir laden Euch ein auf eine Reise in die Nebelwelten des russischen Dampfbades. Kommt mit! Taucht ein! Öffnet die schwere Holztür, dekoder führt euch in die mythischen Welten der Banja.

    Diese Freude muss man aber genauer anschauen. Was für eine Art Freude ist es? Freude am Tun? Sicher! Ästhetische Freude? Auch! Aber auch eine andere, die dem dekoder-Geist immanent ist: Freude an der Komplexität. Und diese wollen wir teilen.
     
    Viele Dinge sind komplex und gerade deswegen bereiten sie Freude. Freude, frei zu sein. Freude an der Vielfalt. Freude, zu wissen und zu denken. Selbstverständlich ist das jedoch nicht immer. Es ist ein Prozess. Also doch auch eine Anstrengung. Aber wie wäre es, wenn die Freude zuerst kommt?

    Genau das wollen wir!

    dekoder stellt die etablierten Mechanismen des Wissenstransfers in Frage und probiert neue Wege und neue Formate aus. Wir experimentieren mit Formen, Themen und Sprache. Und nun schaffen wir dazu auch einen größeren Rahmen. Ein Labor. Ein dekoder-lab.

    dekoder-lab ist eine Initiative von dekoder.org, die in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Universität Basel entstanden ist. Sie ist aus dem Projekt Wissenstransfer hoch zwei hervorgegangen. Dabei schrauben wir an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus, entwickeln neue Formate, die eine komplexe (Osteuropa-)Welt nicht verkürzen, aber mit Freude erschließen. Wir schreiben, redigieren, coden, designen und zeichnen und teilen unsere Begeisterung für diese Welt. Der Aufbau von dekoder-lab wird von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius unterstützt.

    Und unserer Idee nach soll dekoder-lab eine offene Plattform für alle bieten, die wie wir das Wissen als Wert empfinden und die andere für das Wissen begeistern wollen. Deswegen: Wenn ihr Ideen, Anregungen, Kritik (oder Lob!) habt, dann schreibt uns gerne an! Und vielleicht können wir sogar etwas gemeinsam machen?! 

    dekoder-lab@dekoder.org 

    Also: Kommt! Taucht ein! Öffnet die schwere Holztür des Wissens und geht zusammen mit dekoder-lab in eine volle Welt, die genau so komplex bleiben kann. Wir schätzen sie in ihrer Komplexität, weil sie eine Freude ist.

    Freut euch über die komplexe Welt ringsum!

    Euer Leonid
    dekoder-lab

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  • Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln

    Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln
    Foto © Vola Kuzmich/«Support Belarus» Art-action

    Seien wir ehrlich: Wir wissen kaum etwas über Belarus. Ich selbst bin 1995 als Student der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik zum ersten Mal nach Belarus gereist. Ein Land, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte. Überhaupt gab es nur wenige Informationen, die über die üblichen Formeln wie beispielsweise „Freilichtmuseum des Sozialismus“ oder später „die letzte Diktatur Europas“ hinausgingen. Exemplarische Geschichten und Tiefenwissen, die die komplexen kulturhistorischen Verwerfungen dieses faszinierenden Kulturraums sichtbar machen, erzählen, seine quicklebendige zeitgenössische Musik-, Literatur- und Kunstszene erklären, oder eben das über Jahrhunderte eingeübte Ertragen von autoritären Herrschern. Wer von uns hat in der Schule schon gelernt, dass das Magdeburger Stadtrecht auch im belarussischen Kulturraum galt oder dass sich die Geschichte vieler berühmter Juden, die als Warner Bros. oder als israelische Präsidenten Karriere machten, dorthin zurückverfolgen lässt? Und wer hat schon davon gehört, dass es im Belarussischen solche wunderbaren Wörter wie schtschymliwa (шчымліва) gibt, die einen schönen Herzschmerz beschreiben?

    Das Land zwischen Warschau und Moskau bietet viele solcher Überraschungen. Über die Jahre der Beschäftigung mit diesem Land ist in mir die Überzeugung gereift, dass Europa nur zusammenwachsen kann, wenn wir uns öffnen und wenn wir nicht nur übereinander lernen wollen, sondern vor allem voneinander. Das hilft nicht nur gegen ermüdende Stereotype und gefährliche Propaganda. Gut recherchierte und aufbereitete Informationen sind die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens. 

    Seit über drei Monaten protestieren die Belarussen gegen den Machthaber, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert. Nicht nur den autoritären Strukturen scheint entgangen zu sein, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat und nun einen politischen Wandel einfordert. Von diesem schleichenden Wandlungsprozess haben auch in der EU und in Deutschland wohl nur die wenigsten etwas geahnt. Dass er sich in diesem Jahr auf eine derartig überwältigende, friedliche und kreative Art und Weise seinen Weg bahnen würde, hat wohl überhaupt niemand geahnt. Die Belarussen, die als duldsam und unpolitisch gelten, haben die Welt überrascht – und sich selbst. Noch 2010 sagte mir der Schriftsteller Viktor Martinowitsch: „Es ist nicht so, dass die Belarussen gar keine Veränderung wollten. Sie haben nur einfach Angst davor, die Quelle der Veränderung zu sein. Denn viele kennen all die Geschichten von denen, die politische Wechsel initiiert haben und vom Staat grausam bestraft wurden. Aber wenn wir wirkliche Bürger werden wollen, müssen wir das endlich lernen.“

    Offensichtlich sind die Belarussen nun bereit, wirkliche Bürger zu werden. Ein Wandel ist im Gange, dessen politischer Ausgang noch in den Sternen steht. Dennoch dürfte klar sein, dass es sich um einen tiefgreifenden Wandel handelt, der das Land schon heute verändert. 

    dekoder begleitet die Ereignisse in Belarus bereits seit August mit eigenen Übersetzungen. Aber wir haben beschlossen, das Dossier Werym, Mosham, Peramosham: Proteste in Belarus auch strukturell zu verankern und künftig auszubauen. Die Interviews, Essays, Reportagen oder Erklärstücke, die wir übersetzen und nach dekoder-Art journalistisch und wissenschaftlich kontextualisieren, stammen aus unabhängigen belarussischen Medien, die in den vergangenen Jahren ein hohes Niveau an Professionalität und thematischer Diversität erreicht haben. Diesem Pluralismus wollen wir eine Stimme geben. Zudem werden bekannte Wissenschaftler und Fachexperten im Textformat der Gnose landestypische Phänomene und Entwicklungen erklären – und es geht auch darum, die Ereignisse aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive einzuordnen und zu begleiten.

    Seit dem 1. November verantworte ich bei dekoder alles, was mit Belarus zu tun hat. Wir freuen uns, dass wir mit dem German Marshall Fund of the United States, der Alfred Toepfer Stiftung und der S. Fischer Stiftung Partner gefunden haben, die diesen Neustart fördern. Und wir haben noch viel vor:

    dekoder Belarus soll, das ist unser Ziel, zu einer zentralen und lebendigen Wissens- und Informationsplattform werden, die neugierig macht und die den Wandel in Belarus auf lange Sicht begleitet. Wir sind uns sicher, dass unsere wissbegierigen Leserinnen und Leser diesen Schritt mitgehen werden. Es ist Zeit, dass wir Belarus besser kennenlernen. Auch damit wir uns in Europa besser kennenlernen. Darauf will ich, wollen wir dekoderщiki, mit Euch anstoßen, wie es die Belarussen tun: Будзьма! Budsma!

    Euer Ingo

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    Editorial: Erinnerung

  • Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

    Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

     „Liebes Tagebuch, übrigens ist gerade irgendwas mit der Wiedervereinigung mit der Ex-DDR. Was genau versteh ich nicht ganz, geht mir zu schnell. Ciao Bussi“
    Das schrieb ich am 3.10.1990 als 13-Jährige teenie-cool ins Tagebuch. Dennoch, die Ereignisse von 1989 bis 1991 waren gefühlstechnisch eine zumindest bei mir ziemlich nachhaltige Mischung aus Exotik, Euphorie und Verheißung, die mich in gewisser Weise 30 Jahre später zu dekoder katapultieren sollte. 

    In der dekoder-Textlandschaft zum Jahrestag der Deutschen Einheit geben wir den Russlanddeutschen einen besonderen Platz. Weil bis heute rund 2,4 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland kamen, der größte Teil seit den 1990er Jahren. Sie haben sich mit-vereinigt in das, was Deutschland heute ist und ausmacht. Und weil man an dieser extrem vielseitigen Gruppe viel übers Deutschsein lernen kann. Zum Beispiel:

    Warum man Deutscher sein kann, aber irgendwie auch Russe oder zumindest ein Kind der Sowjetunion
    Warum man Deutscher sein kann, der in Russland lebt und kein Deutsch spricht
    Warum man Deutscher sein kann und gleichzeitig Migrant, der nach Deutschland kommt

    Zu 30 Jahren Deutsche Einheit dekonstruiert unser Dossier Russlanddeutsches Diarama in zunächst sechs unterschiedlichen Beiträgen essentialistische Konzepte vom (Russland-)Deutschsein. Auf Deutsch und auf Russisch. Gestaltet haben wir das Dossier zusammen mit dem IKGN und Studierenden eines Lehrprojekts der Universität Hamburg, gefördert wurde es vom BKM.


    Ach, du Deutsche Einheit, Zweiheit, Dreiheit, du Europäische Vielheit, ick liebe dir.
    So viel Pathos darf heute doch mal sein, oder?
    Ciao Bussi
    Eure Tamina und die anderen dekoderщiki

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  • Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus

    Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt. 

    Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern. 

    Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. 
    Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1

    Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus. 

    Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.

    S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki!
    Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!

    eure Rike
    Übersetzungsredakteurin bei dekoder


    1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet.
    Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. 
    2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? 

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    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Da werden wir 5 und schon fühlt es sich an, als wären wir richtig groß. Unbeschwertes Feiern erinnern wir aus Kindertagen: Heißa, war das eine Freude, als wir 2016 – nach einem Jahr – frei von Erwartungen nach Köln zur Grimme-Gala fuhren und preisgekrönt und durchgefeiert wiederkamen.
     
    Der nächste große Meilenstein war mit 3, als wir selbstständig wurden. Unser Gründer Martin Krohs machte uns zu Gesellschaftern der Dekoder gGmbh und sagte, „Nun macht mal, ihr Teufel“ – ohne uns je Zuneigung, Zuwendung und Kooperation zu entziehen. Das war auch die Geburtsstunde des dekoder-Klubs, der uns seitdem einen stabilen mentalen Hintergrund gibt in der volatilen Online-Welt. Unterdessen haben wir unser erstes Buch produziert, entschlüsseln Deutschland und Europa für russischsprachige Leserinnen und Leser und sind auf dem Weg, die Multimedia-Wissenschaftskommunikationswelt mit Specials aus dem dekoder-Lab zum Leuchten zu bringen.

    Es gibt derzeit nichts zu beschönigen: Die Vergiftung eines Oppositionellen mit heftigem diplomatischem Schock zwischen Deutschland und Russland, das passt nicht zu Geburtstagsfeiern. Und doch zeigen uns die Entwicklungen einmal mehr, wie wichtig das gegenseitige Dekodieren und Entschlüsseln ist. 

    Wir sind jetzt 5 Jahre alt. Das erste Jubiläum! Als uns das bewusst wurde, hatten wir die Idee, uns beschenken zu lassen. Und so haben uns Wegbegleiter, Freunde und Förderer ihre Glückwünsche zugesandt. Und ganz ehrlich: Was kann es Schöneres geben, als sich gemütlich in den Sessel zu setzen und einem Chor der Freude zu lauschen – der Freude über das, was wir seit 5 Jahren tun. Dankbar dafür, in dieser schwierigen Zeit eventuell einen kleinen Beitrag zu leisten, und dankbar, vielen Menschen damit eine Freude zu machen, etwas zu geben, was ihnen wichtig ist. Dieses Gefühl ist ein großes Geschenk. 

    Danke und auf die nächsten 115!
    eure dekoderщiki
     
    Falls ihr uns noch was Kleines oder Großes schenken wollt, wir freuen uns – jede Geburtstagsspende wird von der Konvert-Stiftung verdoppelt!


     

    „Ich kenne kein anderes Portal, wo man sich über den Osten Europas so intensiv, so facettenreich informieren kann. Ich bin ständig auf eurem Portal und ich unterstütze es, soweit es geht!”
    Thomas Wiedling, Wiedling Literary Agency
     

    „Die Wirklichkeit ist nicht immer so, wie sie erscheint. Danke, lieber dekoder, dass du seit 5 Jahren Russland für uns entschlüsselst“
    Ulrich Schmid, Slawist und Buchautor („Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“)

     

    „Hi dekoder, ich finde toll, dass ich bei komplexen Zusammenhängen oft einfach einen Text von dekoder verlinken kann. Ich danke euch für eure tolle Arbeit.“
    Denis Trubetskoy, Journalist, Kiew
     

    „Cheppi Börsdej“
    n-ost border crossing journalism
     

    „Die Matrix des Putinismus wird von Geheimdienstlern geschrieben. Umso wertvoller die Arbeit des dekoder-Teams, Eindrücke, Hintergründe, Fundstücke für die mühevolle Spurensuche. Danke dafür und herzlichen Glückwunsch.“
    Udo Lielischkies, Journalist und Buchautor („Im Schatten des Kreml“)

     

    „dekoder hat sich zur Aufgabe gemacht, die Themen und Diskurse aus Russland heute nach Deutschland zu bringen. Das Goethe-Institut versucht auf dem Gebiet der Kultur und Sprache etwas sehr Ähnliches. Heute, im Sommer 2020, ist das vielleicht wichtiger denn je!“
    Günther Hasenkamp, Goethe-Institut Sankt Petersburg

     

    https://www.youtube.com/watch?v=R5n_rzTuslQ

    „Fünf Jahre, in denen ihr alle Tage für Aufmerksamkeit gesorgt habt, für Verständnis gesorgt habt, für Genauigkeit und Entschlüsselung …  Eine großartige und hochachtbare Arbeit, die ihr täglich tut, für viele, die ihr habt gewinnen können, sich darüber Gedanken zu machen, wie unsere Länder funktionieren, was dort geschieht, wie sie sich verstehen und verständigen können – man kann es nämlich auch, anders als das berühmte russische Zitat sagt, mit dem Verstand begreifen, durch Lesen und durch Gucken. Wir wünschen euch, dass ihr selbst begeistert bleibt, dass ihr uns weiter so begeistert, dass ihr diese differenzierte Betrachtung für uns weiter schafft.“
    Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch

     

    „Ich weiß gar nicht, was ich die ganzen Jahre ohne euch gemacht habe – dekoder ist mittlerweile unverzichtbar in der deutschen Medienlandschaft und ein unverzichtbarer Brückenbauer zwischen Russland und Deutschland.“
    Christian Mihr, Reporter ohne Grenzen

     

    https://www.youtube.com/watch?v=JA0_x3gFCOw

    „Ihr schafft auch für jemanden wie mich, der in der alten Gutenberg-Welt zu Hause ist, viele neue Zugänge und Informationen, die mir ganz unentbehrlich sind. Also vorwärts im Kampf, ihr wisst schon!“
    Gerd Koenen, Historiker und Buchautor („Die Farbe Rot“)

     

    „Alle Bücher hinter mir beschäftigen sich mit der alten Sowjetunion und mit Russland. Das war meine Vergangenheit. Heute ist dekoder meine Zukunft, denn dekoder informiert, dekoder orientiert und dekoder hilft zu verstehen, was Russland betrifft.”
    Johannes Grotzky, Journalist und Buchautor („Lenins Albtraum“)

     

    „Happy birthday, dekoder“
    Julia Spiering, Musikerin

     

    https://www.youtube.com/watch?v=3iWhs_TUVyw

    „S prasdnikom. Ich freue mich sehr, dass es euch gibt und dass ich euch kenne. Nicht nur wegen eurer Leidenschaft für Osteuropa, den freien Journalismus und das Dekodieren, sondern weil ihr mir auch die Möglichkeit gebt, dazuzulernen und zu teilen. Und an Wunder zu glauben. Wsego choroschego. Do 120!”
    Irina Bondas, Dolmetscherin und Übersetzerin

     

    „Ihr berichtet ohne rosarote Brille, aber auch nicht schwarzweiß, sondern spendet Durchblick. Die Beschenkten sind wir. Dafür vielen Dank!“
    Henrike Schmidt, Slawistin und dekoder-Gnosistin

     

    Löwenmäulchen Geburtstagsgruß
    Ruth Altenhofer, Übersetzerin

     

    „Ich bin russischer Cellist und wohne in Hamburg. Ich lese euch regelmäßig, ihr seid Teil meines Alltags. Ihr macht eine unglaublich wichtige und tolle Arbeit“
    Alexey Stadler, Cellist

     

    „Eure Arbeit ist eine Bereicherung! Ich habe durch eure Aufsätze und Hintergrundberichte so viel hinzulernen dürfen, dass ich nur sagen kann: Macht weiter so!“
    Dirk Wiese, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft der Bundesregierung bis August 2020

     

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    Editorials

  • Editorial: Erinnerung

    Editorial: Erinnerung

    „Die Erinnerungen in meiner Familie an den Krieg brechen alle irgendwann ab. Oder sie haben keinen Anfang. Oder sie beginnen erst nach dem Krieg. Es sind keine schönen und auch widersprüchliche Geschichten, über die nicht viel gesprochen wurde.“

    Dieses Editorial ist die Summe eines Versuchs. 75 Jahre nach Kriegsende in Europa hatten wir als dekoder-Redaktion die Idee, ein Echo zu geben auf eine Publikation in unserem Partnermedium Meduza: In Weißt du, da war Krieg erzählen Mitarbeiter des online-Magazins ihre Großeltern-Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Zum 75. Jahrestag antworten wir mit Erinnerungen aus der dekoder-Redaktion, gerade weil bei uns mit Декодер – читая Европу (dekoder – Europa lesen) seit Ende vergangenen Jahres der Austausch in beide Richtungen möglich ist.

    Doch es ist schwierig. Denn das Erinnern an den Krieg in Deutschland ist etwas anderes als in Russland. Die deutschen Geschichten handeln von Schuld („Irgendwann wurde mir klar, dass es gar nicht so normal ist, zwei Opas zu haben, die im Dritten Reich Richter waren.“ ), von erkannter Schuld („Nach allem, was die Deutschen verbrochen haben, ist keine Versöhnung mehr möglich. Nimm die Beine in die Hand und flieh!“) von weniger Schuld („Da war der vorsichtige Stolz meines Opas, weil sein Vater seine Funktion als Blockwart genutzt hatte, um im Krieg Juden zu verstecken“) – kurz vom Gestalten, Verwalten, Ertragen des eigenen, in gewisser Hinsicht selbst geschaffenen Horrors, vom Überleben, selten vom Verhindern.

    Ist es schwierig, den russischen Geschichten deutsche zur Seite zu stellen? Warum gibt es Unbehagen, die Erinnerungen ins Netz zu stellen? Warum teilweise Bedenken vor der Familie? Immer noch. 75 Jahre danach. Wir nehmen es wahr und tun es trotzdem, denn hier gilt Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes außer man tut es. 
    Auch wenn es ein Versuch bleibt.

    eure dekoderщiki

    [bilingbox]Leonid A. Klimov, Wissenschaftsredakteur:
    Polina Stepanowna war die Cousine meines Opas. Sie lebte in Sankt Petersburg, und nach Petersburg zu fahren, bedeutete immer, zu Tante Panja zu fahren. So nannten wir sie. Wenn wir kamen, brach der Esstisch unter den Köstlichkeiten zusammen. Schon auf dem Weg hatte man mir gesagt: Es wird aufgegessen! Es gab für Tante Panja keine größere Kränkung, als etwas auf dem Teller liegenzulassen. Nach dem Essen kehrte sie mit der Handkante die Krümel auf dem Tisch zusammen und steckte sie sich in den Mund. 
    Tante Panja war eher klein, dünn, hatte ein rundes Gesicht und große Augen, ein singendes Lachen und lautlose Tränen. Und immer redete sie über die Blockade.
    Es gab viele Geschichten. Doch hinter allen Erzählungen stand eines: der Hunger. Er war verzehrend, existentiell, vor seinem Hintergrund waren sogar die Deutschen zwar immer noch das absolute, aber dennoch abstrakte Böse. Der Hunger war überall. Vor Bomben konnte man sich verstecken, vor dem Hunger nicht. Er war allgegenwärtig.
    Zu ihrem „Blockadegeburtstag“ bekam sie von ihrer Mama eine Porzellantasse geschenkt. Ein Gegenstand von überwältigender Schönheit, bemalt mit paradiesischen Blumen. Aber völlig sinnlos: Schon damals hatte sie einen Sprung, trinken konnte man nicht aus ihr. Sie hatte 65 Gramm Brot gekostet – eine halbe Tagesration. 
    Doch selbst Jahrzehnte nach Kriegsende war sie das wertvollste Stück im Haus, niemand durfte sie berühren. Als Tante Panja starb, konnte ich mir aussuchen, was ich haben wollte, und ich entschied mich für die Tasse. Da nahm ich sie zum ersten Mal in die Hand. Sie und die Angst und den Schmerz, den sie barg.~~~Леонид А. Климов, Научный редактор:
    Полина Степановна была двоюродной сестрой моего деда. Она жила в Петербурге и поехать в Петербург означало поехать к тете Пане, как ее часто называли. Потом это изменилось, Петербург стал моим собственным, а вот Ленинград так и остался ее. 
    Она жила вместе с мужем в маленькой квартире на проспекте Просвещения. Мы приезжали, стол в гостиной ломился от еды. И уже по пути меня предупреждали – съесть надо будет все. Пожалуй, не было для тети Пани большего оскорбления, чем если что-то оставалось в тарелке. После еды она краем ладони собирала крошки со стола и отправляла их в рот.
    Тета Паня была невысокого роста, худая, с круглым лицом и большими глазами. С тихим, переливчатым смехом и беззвучными слезами. О блокаде она рассказывала всегда. 

    Историй было много, она рассказывала их в мельчайших подробностях. Но за всеми рассказами стояло одно – голод. Это была всепоглощающая, экзистенциальная проблема, на фоне которой даже немцы были хоть и абсолютным, но все-таки абстрактным злом. Голод был везде. От бомбежки можно было укрыться, а от него нет. Он был вездесущ. 
    На свой „блокадный“ день рождения она получила от матери в подарок фарфоровую чашку. Это была потрясающей красоты вещь, расписанная райскими цветами. Но совершенно бессмысленная: уже тогда она была треснута и пить из нее было невозможно. Стоила она 65 граммов хлеба – половину дневного рациона. Но и спустя десятилетия после окончания войны это была самая дорогая вещь в доме – ее никто не имел права до нее дотрагиваться. Когда тетя Паня умерла, мне разрешили взять на память то, что я хочу, и я выбрал эту чашку. Тогда я впервые взял ее в руки – в ней были боль и страх.[/bilingbox]


    [bilingbox]Tamina Kutscher, Chefredakteurin:
    Ein Foto: Das Kaufhaus meiner Großeltern väterlicherseits in einer Kleinstadt in Mähren. Aus jedem Fenster hängen Flaggen, auf jeder Flagge ein Hakenkreuz. Es ist das Jahr 1939. 
    Sechs Jahre später ist mein Großvater in Kriegsgefangenschaft – im ehemaligen KZ Auschwitz. Er schreibt seiner Frau nach Hause, dass nach allem, was die Deutschen verbrochen hätten, keine Versöhnung mehr möglich sei. Sie solle die erste Gelegenheit ergreifen, um Mähren zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Das Kaufhaus überschreiben meine Großeltern einem tschechischen Angestellten. Er wird später enteignet. Aber das weiß zu dem Zeitpunkt noch keiner. 
    Meine Großmutter macht sich mit fünf Kindern im Flüchtlingstreck auf Richtung Bayern. Nach einem Tieffliegerangriff auf den Treck findet sie ein Baby neben der toten Mutter im Straßengraben, nimmt es mit und gibt es an einer Rot-Kreuz-Station wieder ab. Mein Onkel fasst mit der Verzweiflung eines 10-Jährigen den Vorsatz, eine Pistole zu besorgen und die ganze Familie zu erschießen. Als Erwachsener erzählt er davon und lacht.~~~Тамина Кучер, главный редактор:
    На фотографии магазин моих деда и бабушки по отцовской линии в каком-то городке в Моравии. В каждом окне флаг, на каждом флаге свастика. 1939 год. Через шесть лет мой дед в плену — в бывшем концлагере Освенцим. Он пишет домой жене, что после всех преступлений, совершенных немцами, никакого прощения быть не может. Она должна при первой же возможности уехать из Моравии в Германию. Магазин этот моя семья переписала на работавшего у них чеха. Позже все имущество национализируют. Но этого пока никто не знает.
    Бабушка с пятью детьми в колонне немецких беженцев отправляется в сторону Баварии. После авианалета на их колонну, в канаве, рядом с мертвой женщиной она находит младенца и несет его до следующего поста Красного креста. Мой дядя, с отчаянием десятилетнего мальчика, твердо решает раздобыть пистолет и застрелить всю свою семью. Спустя много лет он вспоминает эту историю со смехом.[/bilingbox]


    [bilingbox]Polina Aronson, Redakteurin:
    Ich lebe seit zwölf Jahren in Berlin. Oft habe ich die Frage gehört, von Deutschen wie von Russen: „Wie kannst du als Enkelin Überlebender der Blockade, zudem noch als Jüdin, mit Deutschen zusammenleben?” Die Antwort fand ich, wo ich sie am wenigsten vermutet hätte – im Blockade-Tagebuch meines Großvaters mütterlicherseits, Oscher (Iosif) Basin.
    Mein Opa beginnt sein Tagebuch mit einem Goethe-Zitat. Nur wer seine Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart. Nicht die Deutschen nennt er den Feind, er benutzt selbst in den schrecklichsten Momenten beharrlich das Wort Faschisten oder Hitleranhänger. Als er aus der Prawda von der Massenvernichtung von Juden erfährt, wo seine Eltern zurückgeblieben waren, schreibt er: „Das sind nicht mal Menschenfresser oder Tiere. Das sind Hitler-Faschisten. Das ist es: Diese Hitler-Faschisten sind eine eigene Spezies.“
    Mein Großvater stammte aus einem kleinen jüdischen Stetl und war bis zu Kriegsbeginn ein glühender Anhänger kommunistischer Ideale – er war den Bolschewiken dankbar für seine Ausbildung, für seine Arbeit, für sein Leben. 
    Nachdem er den ersten Blockadewinter überlebt hatte, wurde er nach Kujbyschewe evakuiert und ging dann an die Front. Bei Kriegsende war er in Warschau. Beinahe unversehrt kehrte er aus dem Krieg zurück – und war schwer enttäuscht von dem Kommunismus, an den er früher geglaubt hatte. 
    Ende der 1940er Jahre schickte die Leningrader Führung meinen Opa für einige Monate nach Leipzig. Von Hass war in ihm keine Spur. Der Frieden hatte begonnen – und das war sein einziger Wunsch. 
    Wenn selbst mein Großvater als Überlebender der Blockade und des Kriegs zwischen Deutschen und Nazis unterschieden hat, dann sollte ich das doch wohl erst recht können. Alles andere wäre undankbar – ihm gegenüber und gegenüber dem Land, in dem ich lebe.~~~Полина Аронсон, Редактор:
    Я живу в Берлине уже 12 лет. Сколько раз я слышала этот вопрос: „Как можешь ты, внучка блокадников, к тому же еврейка, спокойно жить с немцами?
    Ответ нашелся в самом неожиданном месте – в блокадном дневнике моего деда по материнской линии, Ошера (Иосифа) Басина. 

    Дед начинает дневник словами из Гете: „Только тот, кто знает свое прошлое, может понять свое настоящее“. Он не называет врага „немцами“ – он настойчиво пишет „фашисты“ или „гитлеровцы“. Верен себе он остается даже в самые страшные минуты. Узнав из „Правды“ о массовом истреблении евреев в тех местах, где остались его родители, он пишет: „Нет, это даже не людоеды, не звери – их имя гитлеровцы. Это просто гитлеровцы“. Выходец из небольшого еврейского местечка, до начала войны дед свято верил в идеалы коммунизма – он был благодарен большевикам за свое образование, за свою работу, за свою жизнь.

    Пережив первую блокадную зиму, Иосиф сначала эвакуировался в Куйбышев, а затем ушел на фронт и встретил окончание войны в Варшаве. Он вернулся с войны почти невредимым – и сильно разочаровавшимся в том коммунизме, в который верил раньше. в конце сороковых – ленинградское руководство отправило его в Лейпциг. Прожив там несколько месяцев, он вернулся в Ленинград, и никакой ненависти в нем не было. Наступил мир – и ничего другого он не мог пожелать. Если бы я, его внучка, позволила себе сегодня „ненавидеть немцев“ – это не было не просто неблагодарностью к стране, где я живу и работаю. Это было бы неблагодарностью к памяти деда – человека, пережившего блокаду и фронт.[/bilingbox]


    [bilingbox]Friederike Meltendorf, Übersetzungsredakteurin:
    Mein Großvater war schon immer sehr alt. Ihn umflorte irgendein Geheimnis. Ich wusste als Kind nur, dass er elf Jahre in russischer Gefangenschaft war. Und danach noch eine Doktorarbeit oder ähnliches in Philosophie geschrieben hatte. Das war für mich ein dicker Stapel Papier.
    Er war im Ersten Weltkrieg als Fliegeroffizier abgestürzt und der erste Mensch, der mit einem Wirbelsäulenbruch geheilt wurde. Dafür hatte er ein halbes Jahr gehangen. Davon hatte ich ein sehr genaues Bild vor Augen: eine Sprossenwand war da im Spiel, das einzige wo ich mir vorstellen konnte, dass man dran hängen kann. 
    Danach studierte er Jura und lernte meine Oma kennen, die als eine der ersten Frauen in Freiburg Jura studierte. Jurist und Offizier war er also und kam dann Ende der dreißiger Jahre ans Reichskriegsgericht, eines der höchsten Gerichte im Dritten Reich. Die Familie wohnte in einer Villa in Berlin Nikolassee. Es gab dort wohl eine Hitlerecke, von der es heißt – jedoch herrscht Uneinigkeit – da habe früher einmal Hitler gesessen. 
    1941 wurde dieser Opa vom Richterdienst suspendiert, weil er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und Zeugen Jehovas zum Tode zu verurteilen, oder weil er Urteile hinausgezögert hat, darüber gibt es unterschiedliche Geschichten.
    1945 kam er zu Besuch auf das Rittergut, wo seine Frau, meine Lieblingsoma, mit ihren drei Kindern evakuiert war: meine Mutter, die damals sieben war und ihre beiden Brüder. 
    Man hatte meinen Opa gewarnt, er solle nicht kommen, die Russen würden alle holen, doch er war der festen aufrechten Überzeugung, nichts Falsches getan zu haben. Sie nahmen ihn mit. Er kam nach Bautzen und elf Jahre später nach Hause, nach Berlin. Meine Mutter war unterdessen 19 Jahre alt.~~~Фридерике Мелтендорф, Редактор перевода:
    Сколько себя помню, мой дедушка всегда был очень старым. Еще ребенком я была в курсе, что он провел одиннадцать лет в плену у русских. А потом написал диссертацию по философии или что-то в этом роде. Для меня это была просто большая стопка бумаг.
    Во время Первой мировой он служил в авиации, и когда его самолет разбился, он стал первым пациентом, выздоровевшим после перелома позвоночника. И чтобы разгрузить позвоночник его полгода как-то подвешивали. Я очень ясно себе это представляла: наверняка, там была какая-то шведская стенка, — ну а на чем еще может висеть человек?
    Потом он поступил на юридический и познакомился с моей бабушкой, одной из первых девушек, учившихся на юрфаке во Фрайбурге. Был он, значит, юрист и офицер, и вот в конце тридцатых поступил на службу в Имперский военный суд, один из высших судов Третьего рейха. Его семья жила на вилле возле озера Николазее в Берлине. В этом доме, еще до них, говорят, бывал Гитлер – впрочем тут мнения в семье расходились.
    В 1941 году дедушку отстранили от судейской должности, так как он отказался вступать в НСДАП и не стал приговаривать к смертной казни Свидетелей Иеговы, или, по крайней мере, затягивал вынесение приговоров, на этот счет тоже были разные истории. 
    В 1945 году он приезжал в загородное поместье, где в эвакуации жила его жена, моя любимая бабушка, с тремя детьми: моей мамой и ее братьями. Дедушку предупреждали, что ехать не следует, что русские всех заберут, но он был абсолютно искренне убежден, что не делает ничего плохого. Его забрали. Он попал в Баутцен, а через 11 лет вернулся домой, в Берлин. Моей маме тогда исполнилось 19 лет.[/bilingbox]


    [bilingbox]Alena Schwarz, Controlling:
    Meine Oma war erst vier, als der Krieg begann. Ihre Erinnerungen daran setzen sich aus einzelnen Episoden zusammen. Wie sie 1943 ihre Puppe verpfändet hat, um ihrem Bruder ein Weihnachtsgeschenk kaufen zu können, oder wie sie jeden Mittag im Keller den Schimmel von der Graupensuppe abgeschöpft hat. 
    Im März 1945 entschloss sich meine Uroma, mit ihren vier Kindern aus Koszalin (dt. Köslin) in Westpommern zu fliehen. An diese Flucht in letzter Sekunde erinnert sich meine Oma sehr genau: im Rucksack nur Bettwäsche, Kleidung, für den jüngsten Bruder ein Teddy. Schnee und Eis, Dunkelheit, offene Güterzüge, im Bauch eines Schiffes, Beschuss durch Tiefflieger. 
    Meine Urgroßmutter brachte alle Kinder unversehrt quer durch Polen und Deutschland bis nach Cuxhaven. Die Familie, auf deren Hof sie untergebracht wurden, war sehr gastfreundlich und hilfsbereit. Den Neffen des Landwirts hat meine Oma acht Jahre später geheiratet. ~~~Алена Шварц, Администрация:
    Когда началась война, бабушке было всего четыре. У нее остались отрывочные воспоминания об этом времени. Например, как в 1943 году ей пришлось продать куклу, чтобы купить подарок брату на Рождество, или как в обед она каждый раз снимала плесень с перловки в подвале.
    В марте 1945 года моя прабабушка решила забрать своих четырех детей и бежать из Кезлина в Западной Померании. Это бегство в последнюю минуту бабушка помнит очень хорошо: в рюкзаке только постельное белье, одежда, плюшевый мишка младшего брата. Снег и лед, темень, товарные поезда, трюм какого-то корабля, обстрелы штурмовиков.
    Прабабушка довезла всех детей живыми и здоровыми через всю Польшу и Германию до Куксхафена. Семья фермеров, к которым они попали, была очень дружелюбна и добра к ним. Восемь лет спустя за племянника хозяина фермы бабушка вышла замуж.[/bilingbox]


    [bilingbox]Dmitry Kartsev, Redakteur:
    Mein Opa Wadja war nicht sehr gesprächig, besonders zum Ende hin. Den Großteil der Geschichten von der Front weiß ich nicht von ihm, sondern von den anderen Verwandten. Dass er und seine zwei älteren Brüder, Opa Jura und Opa Ljowa in den Krieg gingen – und wie durch ein Wunder alle drei zurückkamen. Dass er zur Pioniertruppe kam, weil er ein bisschen Deutsch konnte (falls Gefangene verhört werden mussten), und er dort mit seinen 17 Jahren als Jüngster und Liebling der Familie mit Verbrechern und Straftätern zusammen diente, da man hinter der Frontlinie Leute brauchte, die selbstständig Entscheidungen treffen konnten. Dass er einmal seiner zukünftigen Frau, meiner Oma Lisa, einen kurzen Brief schrieb: „Warum zum Teufel schreiben Sie nicht?“ (aus irgendeinem Grund weiß ich, dass das sein einziger Brief war). Dass zwischen meinem Opa und meiner Oma nicht alles einfach war (aus dem Inhalt des Briefes kann man da durchaus darauf kommen). 
    Mit eigenen Augen habe ich nur Ansichtskarten noch nicht zerstörter deutscher Städte gesehen, die er meiner Oma nach dem Sieg schickte. Sie kannten sich seit dem Kindergarten, doch er siezte sie und die Texte auf den Postkarten waren romantisch und schwülstig.
    Mein Großvater erzählte wenig vom Krieg, der nie den Schwerpunkt unseres Familiengedächtnisses bildete. Dafür bin ich ihm wohl genauso dankbar wie für seine Heldentat. ~~~Дмитрий Карцев, Редактор:
    Мой дедушка Вадя был не из разговорчивых, особенно под конец. Кажется, большую часть фронтовой истории я знаю не от него, а от других наших родственников. О том, что на войну ушел он и двое его старших братьев, деда Юра и деда Лева, — и настоящее чудо, что все трое вернулись. О том, что его взяли в саперную разведку, так как он немного знал немецкий (на тот случай, если нужно будет допрашивать пленных), — и, он 17-летний младший ребенок в семье и всеобщий любимец, служил там вместе с бандитами и уголовниками, которых брали, потому что за линией фронта нужны люди, которые умеют самостоятельно принимать решения. О том, что однажды он написал своей будущей жене, моей бабушке Лизе, короткое письмо: «Какого черта не пишете?» (почему-то мне запомнилось, что это было его единственное письмо). О том, что между бабушкой и дедушкой не все было просто (по содержанию письма, впрочем, можно было догадаться).
    Своими глазами я видел только открытки с видами еще не разрушенных немецких городов, которые он посылал бабушке уже после победы. Они были знакомы с детского сада, но он обращался к ней на «Вы», и тексты открыток были одновременно романтичными и вычурными.
    Я знаю, что дед был ранен под Вязьмой (и где-то дважды еще), его наградили, и наградной лист можно найти в интернете. Он мало рассказывал о войне, и она не стала главным содержанием нашего коллективного семейного опыта. И за это я, пожалуй, благодарен ему так же, как и за его подвиг.[/bilingbox]

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