Der russische Fotograf Max Sher lebt im Exil in Berlin. Er fotografiert die Stadt – hauptsächlich den Westteil – und interpretiert das, was er entdeckt, als postsowjetischen Raum. Doch das ist keine Nostalgie, wie er sagt, sondern Zeichen eines Übergangs im Leben – für ihn und für hunderttausende andere Menschen, die Russland verlassen haben.
Die Serie ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
„Ich habe diese Fotos in Berlin mit einem alten Handy gemacht, hauptsächlich im ehemaligen Westteil der Stadt.
Schon seit einigen Monaten ist Berlin mein neues Zuhause. Davor war ich 10 Jahre in Moskau, 13 Jahre in Piter (die Petersburger mögen dieses Wort nicht), 12 Jahre in Kemerowo und die ersten 11 Jahre im spätsowjetischen Leningrad.
Man könnte meinen, diese Bilder seien ‚Symptome‘ von Nostalgie: Darauf sind Orte und Details der urbanen Landschaft festgehalten, die jedem aus der ehemaligen UdSSR irgendwie vertraut vorkommen.
Nostalgie ist überhaupt eines der wichtigsten Themen für die migrantische Kultur. Doch alles mit Nostalgie Verbundene wirkt auf mich höchst anachronistisch – vielleicht wegen meines eigenen halben Nomadenlebens. Obwohl ich in allen Dokumenten jetzt Immigrant oder Migrant bin, bevorzuge ich für mich die Bezeichnung ‚Expat‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung, frei von allen Konnotationen: ein Mensch, der einfach ex patria, außerhalb seines Geburtslandes, lebt. Zudem ist die Bezeichnung, auch wenn das vielleicht persönlich und symbolisch ist, eine Herausforderung für die etablierte Hierarchie unter den verschiedenen Kategorien von Zuwanderern.
Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie.
Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. Dieser Blick hat sich innerhalb eines Jahrzehnts geformt, während meiner Erkundungen im Bereich der Landschaftsfotografie und während meiner Reisen durch den postsowjetischen Raum (der Begriff ist veraltet, doch einen anderen gibt es wohl leider noch nicht). Und infolge dieser ‚déformation professionelle‘, dieser eigenartigen künstlerischen Entstellung, erfasst mein Blick in der Landschaft Berlins nun ähnliche Orte und Details, auch wenn sie nicht gerade typisch für die Stadt sind. Im Übrigen sehen die nur dann ‚postsowjetisch‘ aus, wenn man sie oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Ähnlichkeit.
Vielleicht ist es so, dass ich mit Hilfe dieser Flashbacks eine weitere Lebensphase abschließe und eine neue beginne.“
Nahezu 75 Prozent der Bevölkerung in Russland unterstützt die sogenannte „Spezialoperation“ – den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada hat diese Zahlen ermittelt. Warum sind so viele Russen für den Krieg? Und kann man diesen Zahlen überhaupt trauen? Mit Verweis auf mutige Akte des Protests ziehen manche Soziologen wie der Moskauer Grigori Judin die Aussagekraft von Umfragen in autoritären Systemen generell in Zweifel, und während eines Krieges erst recht. Die Lewada-Soziologen dagegen betonen, dass Umfragen durchaus eine Tendenz anzeigen.
Als Gründe für die Zustimmung oder den ausbleibenden Massenprotest nennen Soziologen neben der Wirkung der Propaganda vor allem eine über Jahre im autoritären System erlernte apolitische Haltung und Atomisierung.
Lew Gudkow, Vize-Direktor des Lewada-Zentrums, sieht im Interview mit Meduza „eine sehr bequeme Form der demonstrativen Identifikation mit dem Staat, bei gleichzeitiger völliger Zurückweisung der eigenen Verantwortung für die Mittäterschaft an dessen Verbrechen“. Weil der Staat, und nicht ein bürgerschaftliches Selbstverständnis die kollektive Identität stifte, hätten viele Russen ein Problem damit, sich gegen ihn zu stellen.
Die „Spezialoperation in der Ukraine“ darf von Gesetzes wegen nicht als „Krieg“ bezeichnet werden. Noch dazu werden unterschiedliche Erklärungen von seiten des Staates geliefert, weshalb es überhaupt dazu gekommen sei: wegen der Aggression des Westens, der notwendigen „Entnazifizierung“ der Ukraine und/oder des Donbass. Diese unterschiedlichen Deutungen stifteten aber auch Verwirrung – und die wiederum mache viele für weitere Propaganda nur noch zugänglicher, so Gudkow.
Warum sind so viele Russen für den Krieg? Das fragt auch der Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko – und zwar im Hinblick auf seinen eigenen Freundeskreis. Und beschreibt eine Entwicklung, für die er selbst keine Erklärung finden kann.
Sein sehr persönlicher Text ist noch vor der „Teilmobilmachung“ und den weiteren Annexionen ukrainischen Territoriums im Projekt Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder entstanden.
Der 24. Februar 2022 hat mein Leben in Stücke gerissen. In lauter kleine Splitter. Trümmer. Die Raketenangriffe auf die Ukraine haben die Welt, in der wir lebten, zerstört. Entsetzen, Scham, Angst, Hass, das Gefühl, in einem schlechten Traum zu sein, aus dem man aufwachen will und nicht kann. Seit Monaten ein unaufhörliches Dröhnen im Kopf, das man abstellen will und nicht kann. Das Bewusstsein ist zerborsten, du versuchst, die Einzelteile einzusammeln, hältst ein Bruchstück an das andere, versuchst sie wie ein Puzzle zusammenzufügen. Es geht nicht.
Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten
Ein paar Tage vor dem Krieg bat mich meine Schwiegermutter, ein Familienerbstück zu reparieren – von der Porzellanfrau im Folklorekleid war der Krug abgebrochen. Es war übrigens ukrainische Tracht. Ich klebte es mit Sekundenkleber an, aber die Bruchstelle blieb sichtbar. Vor kurzem ist der Krug wieder abgebrochen. Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten.
Makejewka
Geboren wurde ich in Makejewka, nicht weit von Donezk, meine Familie lebte dort, bis ich acht war. Danach zogen wir nach Sibirien, tauschten den Donbass gegen den Kusbass ein, mein Vater war Bergmann. Unser Nachname ist ukrainisch, aber gebürtig stammte mein Vater aus der Gegend bei Woronesh – das ist nicht weit von der ukrainischen Grenze, quasi nebenan, man spricht dort Surshyk. In der Schule wurde ich als Chochol gehänselt, aber nur zum Spaß: Im Schmelztiegel Sibirien kommen alle möglichen Nationalitäten zusammen. Und mit der Zeit ist auch mein frikatives „g“ verschwunden.
In Makejewka wohnten wir im Bezirk Chanshenkowo, das war damals eine eigenständige Siedlung – gleich hinter der vierstöckigen Chruschtschowka lagen das Maisfeld und die Müllhalde. Ich war nie wieder dort, außer in meinen Träumen.
Ich habe nur die erste Klasse in Makejewka beendet, ab der zweiten hätten wir Ukrainisch gelernt. Ich hatte schon mein Lehrbuch, es kam mit mir nach Kemerowo, irgendwann ging es bei einem Umzug verloren. Jetzt lese ich mithilfe des Übersetzungstools auf dem E-Reader Zhadan und Andruchowytsch, vielleicht wage ich mich irgendwann daran, ein paar ihrer Gedichte zu übersetzen.
Nowosibirsk
Ein paar Tage vor Kriegsbeginn hatte ich eine Übersetzung von Molières Tartuffe für das Projekt Theatre HD abgeschlossen. Am 14. Januar lief das Stück in der Comedie francaise, inszeniert von Ivo van Hove. Die Produktionsfirma CoolConnections, die das Projekt Theatre HD in Russland betreibt, verwendet oft alte Theater-Übersetzungen, die zum Teil vor hundert Jahren entstanden sind, deshalb wirken moderne Klassik-Inszenierungen, gelinde gesagt, archaisch. Und die Tartuffe-Übersetzung hatte ich schon vorliegen … Jedenfalls freute sich das Theater über meinen Vorschlag, und ich tüftelte etwa sechs Wochen an der Überarbeitung, kürzte, schrieb um … Es ist gut geworden.
Die Premiere in Nowosibirsk fand am 9. März statt, da war natürlich niemandem mehr nach Tartuffe … Ich erzählte vor fünfzig Zuschauern nervös irgendwas von Molière, von meiner Arbeit an der Übersetzung, vom Widerstand gegen die Barbarei, versuchte, das Wort „Krieg“ zu vermeiden
Nach der Vorstellung stießen wir im Café des Kinos im kleinen Kreis mit einem Glas Wein an. Ich fing an, mit der Prorektorin des Theaterinstituts (ich nenne sie mal Jana), mit der ich gut befreundet war, darüber zu sprechen, wie schrecklich alles ist, wie unangebracht diese Premiere jetzt wirkt – und hörte plötzlich von ihr, dass wir keine Wahl gehabt hätten, dass sie acht Jahre lang die Menschen im Donbass umgebracht hätten, dass Russland den Donbass beschützen müsse … Ich sprach von zerbombten Städten und zivilen Opfern – und musste zu meinem Erschüttern hören, dass „diese Nazis sich selbst beschießen“ würden … Und von den amerikanischen bakteriologischen Laboren hörte ich auch …
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper, mir war schlecht, es tat mir körperlich weh.
Es ist nicht nur so, dass ich nicht erwartet hätte, so etwas ausgerechnet von ihr zu hören, ich konnte vielmehr nicht glauben, dass ich das überhaupt höre.
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper
Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, seit Ende der 1980er, als Jana Studentin der Philologischen Fakultät war, intelligent, lustig, sie hatte etwas von der jungen Tatjana Drubitsch, der Filmschauspielerin, sie liebte Poesie … Sie schrieb ihre Dissertation über Brodsky, holte mich Ende der 1990er aus Arzamas, wo es mich mit meiner Familie hin verschlagen hatte (ich mochte den poetischen Namen der Stadt) und wo ich mich als Packer, Hausmeister und Nachtwächter verdingen musste, weil ich in dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, weder am Institut noch in der Regionalzeitung, ja nicht einmal bei der Betriebszeitung einen Job bekam … Ich schrieb Gedichte und verdiente schmales Geld, indem ich Möbel schleppte, in einem Kindergarten Nachtwache hielt und das Laub der Kirsch- und Apfelbäume wegfegte, bis Jana meinen ehemaligen Universitätsprofessor überredete, mich als Doktorand aufzunehmen – und ich kehrte nach Kemerowo zurück.
Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt, zog wegen ihr nach Nowosibirsk, quälte sie und mich zwei Jahre lang mit meiner Eifersucht, machte ihr Szenen, aber wir schafften es irgendwie, unsere Freundschaft und sogar Zuneigung zueinander zu bewahren. Wenn ich irgendwem ein Gedicht zeigen wollte, dann war es immer sie … Sie lebt seit zehn Jahren in Scheidung, ich bin seit acht Jahren verheiratet; sie machte Karriere, ich blieb ein brotloser Künstler, aber das hinderte uns nicht daran, befreundet zu sein und einander zu verstehen …
Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch den Krieg rechtfertigen?
Was ist passiert? Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch, der mehrere Sprachen spricht, das Ausland bereist hat, die Literatur liebt und selbst schreibt, den Krieg rechtfertigen, einen Überfall auf einen anderen Staat, Mord und Zerstörung? Wie kann er ihn damit rechtfertigen, dass „wir unsere Leute“ nicht im Stich lassen konnten … Jana besitzt doch nicht einmal einen Fernseher! Woher hat sie diese Phrasen?! Über die Biolaboratorien und die virustragenden Fledermäuse … Als ich einem gemeinsamen Freund am Telefon von unserem Gespräch erzählte, riet er mir spöttisch, ich soll in solchen Fällen antworten, dass sich ein Russe, wenn er von einer solchen Fledermaus gebissen wird, in Batman verwandelt …
Das war für mich wohl die traumatischste Trennungserfahrung. Die persönlichste, intimste; sie verlief nicht entlang einer Sollbruchstelle, sondern wurde mit dem Fleisch herausgerissen. Danach, mit anderen, tat es nicht mehr so weh.
Unter den Unterzeichnern dieses monströsen Briefs zur Unterstützung des Kriegs mit Verweisen auf Alexander Newski und Dimitri Donskoi, waren auch Bekannte von mir – ich wage nicht mehr sie als „Freunde“ zu bezeichnen.
Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her?
Einen älteren von ihnen kannte ich aus einem Literaturverein in Kemerowo, dem ich mich in meinem früheren Leben nach der Armee angeschlossen hatte – diese Zeit hatte ich bis zuletzt sehr positiv in Erinnerung. Ein anderer, jünger als ich, hat mir gewissermaßen seinen Erfolg als Lyriker zu verdanken. Wir hatten viel und freundschaftlichen Kontakt, er fing gerade an zu schreiben, ich zeigte ihm Gedichte von Jeremenko, Shdanow und Gandlewski – am Ende studierte er sogar Literatur, veröffentlichte ein paar Bändchen mit gar nicht so schlechten Versen und wurde in der Regionalabteilung des Schriftstellerverbands zum Herausgeber des literarischen Almanachs. In den letzten zwanzig Jahren habe ich sie nur noch selten gesehen, nur, wenn ich meine alte Heimat besuchte, unsere Wege haben sich längst getrennt. Ich verstehe ja: ein provinzielles Umfeld, hinterwäldlerisch-rechtsextreme Anschauungen (mir war in meiner Jugend einmal wegen Judenfreundlichkeit mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband gedroht worden, weil ich ein paar bissige Rezensionen zu regional verehrten Klassikern geschrieben hatte …). Trotzdem unerfreulich. Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her? Warum hat diese Bekannte, die deine Lyrik so schätzt, einen dermaßen blutrünstigen Hass auf die Ukraine?
Das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider
In meinem Kopf klirrt es die ganze Zeit. Natürlich hat das mit dem Alter und dem Blutdruck zu tun, aber da ist noch etwas, das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider. Ununterbrochen diskutiere ich in Gedanken, argumentiere, versuche zu überzeugen, im Traum wie im Wachzustand, meine Gedanken ergeben kein klares Muster. So kann ich an nichts anderes denken, mich nicht konzentrieren. Ich kann keine Gedichte schreiben, es schnürt mir die Kehle zu und lässt nicht locker. Das Einzige, was mir hilft, sind meine Übersetzungen, in die ich mich vertiefe und mir einrede, dass sie noch gebraucht werden, zwar nicht jetzt, aber nach dem Krieg, nichts ist umsonst, das wird alles noch gebraucht werden. Wobei man natürlich nicht umhinkommt sich zu fragen, wann das denn sein wird, diese Zeit nach dem Krieg.
Meinen Zustand erklärte mir ein technisch bewanderter Bekannter: Es ist genau das, was man unter dem Begriff „Kontaktprellen“ versteht – ein kurzer Effekt in elektromechanischen Apparaten beim Ein- oder Ausschalten. Da passiert ein mehrfaches, unkontrolliertes Öffnen und Schließen der Kontakte.
Dieses „Kontaktprellen“ erschöpft, verblödet, zehrt an den Kräften.
Reale Begegnungen kosten ebenfalls eine enorme Überwindung. Zudem hast du einfach Angst, auch noch so gute Bekannte zu treffen – womöglich hörst du, dass „alles nicht so eindeutig“ sei – und das noch im besten Fall. Im schlimmsten Fall gratuliert dir ein guter Kumpel zum Geburtstag, Fotograf an der Oper, der fast alle Arbeiten der sibirischen Künstergruppe Die blauen Nasen mitgestaltet hat, mit dem du selbst Ausstellungen gemacht hast, noch dazu so radikale wie die Vereinigten Staaten von Sibirien. Mittlerweile ist er in einem Video mit dem halben Hakenkreuz-Symbol Z im Hintergrund aufgetreten …
Doch auch Kino, Theater, Ausstellungen, Cafés fügen dir solche Schmerzen zu, als hätte man dir die Haut abgezogen. Wie kann man sich Filme ansehen, Musik hören, Wein trinken, Fliederduft atmen, die Pfingstrosenblüte bewundern? Der Flieder war dieses Jahr betörend wie nie zuvor, richtig widerlich, und die Pfingstrosen zum Kotzen schön …
Jetzt verstehe ich, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt
Ich habe keine Erklärung, wie man zum Zombie wird und woran es liegt: am Fernsehen, an der Nähe zur Regierung, am sozialen Umfeld, an der Mehrheitsmeinung? Natürlich ist immer alles individuell, aber für mich ist offensichtlich, dass weder Bildung noch Vernunft, weder Geschmack noch Wahrheitsliebe noch geistig-seelische Qualitäten eine Impfung dagegen sind. Was kann die Abwehrkräfte stärken? Kritisches Denken? Misstrauen? Intellekt? Empathie? Ich weiß keine Antwort.
Während ich kürzlich noch verstand, „was die Maus fühlt, wenn sie die Luft aus dem Glaskasten saugen“ – wie es in Sergej Tschudakows Gedicht heißt –, verstehe ich jetzt, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt. Ich bin mir nicht sicher, was mir dieses Wissen bringt.
In der Technik gibt es mehrere Möglichkeiten, das Prellen zu unterbinden. Eine ist es, die Kontakte zu unterbrechen, bis eine stabile Verbindung (oder eine stabile Entkopplung) hergestellt ist. Eigentlich ist es dieses Szenario, das ich intuitiv umzusetzen versuche. Ich suche den Kontakt zu jenen, bei denen ich mir hundertprozentig sicher bin, denen ich vertraue, von denen ich nicht höre „ist alles nicht so eindeutig“. Ich verkleinere meinen Bekanntenkreis, werde zum Einsiedler, verschanze mich im Sommer auf der Datscha, im Winter in der Küche, übersetze Molière und Marivaux, schreibe für die Schublade …
Was das Kontaktprellen betrifft … Jana und ich sind immer noch Freunde. Wir treffen uns manchmal, trinken Kaffee, weichen dem wichtigsten Thema aus. Ich weiß, dass sie nicht so gemein ist, mich zu denunzieren, dass sie nicht für eine offenkundige Abscheulichkeit stimmen würde. Als meine Frau wegen ihrer Unterschrift auf einem offenen Brief gegen den Krieg und wegen mehrerer Antikriegspostings auf Facebook von ihrem Posten als Theaterdirektorin gekündigt wurde, bot Jana ihr (und auch mir) an, ab nächstem Schuljahr am Institut zu unterrichten. Ich weiß, dass sie alles tut, was sie kann, um uns zu helfen und uns zu unterstützen. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, dass das auch nur vorübergehend eine Lösung ist: Julia steht garantiert auf der schwarzen Liste, und ich erscheine, nachdem ich den Preis der Zeitschrift Sibirskije ogni abgelehnt habe, die auf ihre Titelseite ein Z gepappt hat, sicher auch nicht im besten Licht. Ich fürchte, da ist nichts zu retten.
Leben muss ich trotzdem in einem offen faschistischen Staat, mit Blutsaugern und Hyänen oder zahnlosen Spießern, ich muss dieselbe Luft atmen wie sie, dieselben Straßen benutzen. Und das wird immer unerträglicher. Und auch gefährlicher.
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder
Wenn alles aussieht wie immer, aber nichts mehr so ist wie zuvor: Dieses Tagebuch führte die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko im März 2022, bevor sie die Grenze zwischen Russland und Estland überquerte. Im Text sind alle Zeitangaben aus dem Gedächtnis rekonstruiert: Sämtliche Chats und Nachrichten mit den genauen Daten der Einträge aus dem Frühling hatte sie vor dem Überqueren der russisch-estnischen Grenze bei Iwan-Gorod/Narwa am 7. April 2022 gelöscht.
Der Text erscheint im Rahmen des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
4. März – Schnee
Der Schnee war bereits festgetreten, sodass man darauf laufen konnte, ohne einzusinken. Er war noch winterlich weiß, ohne schwarze Spuren. Die Schatten der Bäume waren lang wie im Februar, das grelle Sonnenlicht zog scharfe blaue Linien in den Schnee. Ljussjas fuchsrotes Fell flackerte auf, als sie darüber lief, meine weiße Hündin Ingrid lief ihr entgegen. Ljussjas Besitzerin Mascha kam auf mich zu. Wir schauten uns an und weinten beide los.
„Aber du hast doch die israelische Staatsbürgerschaft“, sagte Mascha ermutigend. „Wie kommst du darauf?“ „Nein? Ich war mir sicher … Du siehst aus wie jemand, der die israelische Staatsbürgerschaft hat.“
Am nächsten Tag landete Mascha mit ihrer Familie in Jerewan. Der Flug war mehrmals verschoben worden, manche Maschinen hatten umdrehen und nach Moskau zurückfliegen müssen. Am selben Tag reiste mit denselben Verschiebungen und Nervenzusammenbrüchen meine andere gute Freundin Mascha ab, sie brachte ihren 19-jährigen Sohn aus dem Land.
Ich wurde nur 34 Jahre nach dem 8. Mai 1945 geboren. Ich lebe schon acht Jahre länger als die Anzahl an Jahren, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und meiner Geburt liegen. Ich wurde also etwa in die Mitte des friedlichen Stücks Geschichte hineingeboren.
Trotzdem haben wir viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidshan, Georgien und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen, wie Kolonnen von Flüchtenden Richtung Grenze ziehen, und ich spüre fast körperlich, dass das bald mit uns, mit mir, mit meinen Nachbarn passieren könnte. Nicht nur könnte, sondern muss – nach dem Prinzip der Gerechtigkeit. Und das macht es umso schlimmer.
Wir haben viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidschan, Georgien, und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen
6. März – Wegfliegen
Gleich am 25. Februar schrieb mir meine Freundin, die Journalistin K., dass sie sofort wegfliegen würde, mit den Kindern und dem Kater. Später schrieb ihr Mann, fragte mich, ob ich Geld für sie mitnehmen könnte.
Dann schrieb meine Freundin S. – Journalistin, „ausländische Agentin“. Sie hatte Angst vor der Passkontrolle. Sie musste dringend weg, wie auch K. Es gab eine deutliche Warnung, dass man sie sehr bald verhaften würde. S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Sie hatte Angst. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt.
Ein paar Tage später trafen sich K. und S. in Istanbul. Sie begegneten sich zum ersten Mal. Beide steckten wegen des Schneesturms in Istanbul fest. Zwei meiner engsten Freundinnen, beide haben zwei Töchter, waren tagelang in Istanbul eingeschneit. Sie warteten auf besseres Wetter, ihre Bankkarten funktionierten [wegen des SWIFT-Ausschlusses – dek] nicht mehr, sie mussten Geld für Essen auftreiben. Und ich konnte ihnen nicht mehr helfen.
Meine lieben, wagemutigen Mädels in Istanbul. In der Stadt, in der ich für eine sehr kurze Romanze glücklich gewesen war. Das war noch vor der Pandemie, vor dem Krieg, in jener Vergangenheit, in der irgendwas falsch gelaufen ist. In Istanbul bekommst du auf der Straße aus dem Samowar kleine Gläser mit Tee, den du auf niedrigen Holzscheiten trinkst, im Café nebenan dampft in einem großen Kessel nach Gewürzen duftende Suppe, der Morgenhimmel über dem Bosporus ist golden wie auf Ikonen, der Wind zerzaust deine Haare, auf den Prinzeninseln blühen riesige purpurne Blumen, die Hagia Sophia ist noch keine Moschee, die Fresken auf den Emporen noch nicht verdeckt, im asiatischen Teil der Stadt streunen große gutmütige Hunde, und an der Schießbude im Park kann man auf Luftballons zielen. Die Hunde, die Blumen, die Samowars und die Luftballons sind ziemlich sicher noch da. Nicht mehr da ist das Leben. Und der Schnee. Bald wird er ganz aufhören, und alle werden in verschiedene Richtungen davonfliegen.
S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt
13. März – Timofej
Seit dem 24. Februar gibt es in Russland keinen Gott mehr, und alles ist erlaubt. Es gibt keine Gesetze, keine Moralvorstellungen, keine Verfassung, höchstens die Verkehrsregeln werden aus praktischen Gründen noch beachtet. Wenn du keine Nachricht überprüfen kannst, es nur Gerüchte, Leaks und Propaganda gibt, glaubst du für alle Fälle alles, selbst das, was noch eine Woche zuvor vollkommen unvorstellbar war.
Am 2. März kamen Gerüchte auf, dass Putin am 4. März vor der Föderationsversammlung das allgemeine Kriegsrecht verkünden würde. Das hätte die Schließung der Grenzen bedeutet, zumindest für Männer im wehrpflichtigen Alter. Also für Studenten, Söhne.
Also begann ein Massenexodus. Die Flugpreise gingen durch die Decke (am 3. und 4. März kostete ein Ticket nach Dubai bis zu 500.000 Rubel [etwa 4200 Euro – dek] ), die Tickets waren im Nu ausverkauft. Ich geriet in Panik. Dann bat ich einen Freund, der sich mit Flugtickets auskennt und immer die unkonventionellsten Lösungen findet, nach einem Flug für uns zu suchen. Ich hatte Freunde, die seit einem Jahr in Montenegro lebten und ihre Hilfe angeboten hatten. Überhaupt sind die Worte „Freunde“, „Freundin“, „Freund“ die Schlüsselworte dieser Tage. Das ist die wichtigste Errungenschaft meines Lebens – geliebte, nahestehende Menschen. Und wahrscheinlich das Einzige, was uns diese Katastrophe überstehen und vielleicht sogar bei Verstand bleiben lässt.
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. Der Flug kostete 70.000 Rubel [etwa 600 Euro – dek]. Er war fast 24 Stunden unterwegs. In dieser Nacht verstand ich, dass Mir zerreißt es das Herz keine Metapher ist. Irgendetwas innen drin zerreißt. Der Schmerz ergießt sich aus diesem Riss in deinen Körper, gluckert, bricht als Schluchzen hervor und verebbt kurz, um dann wieder anzuschwellen. Er gleicht einem heißen Ozean, endlos rollt er in Wellen ans Ufer und wieder weg, spült Erinnerungen an Land, Gesprächsfetzen, Kinderschuhe.
Wir erledigten alles sehr schnell. Ich verlor nur einmal die Orientierung, als wir auf dem Weg zum Notar waren. Ich wusste plötzlich nicht mehr, in welche Richtung wir mussten und wo ich überhaupt war. Wir waren zwei Straßenblocks von unserem Haus entfernt. Timofej machte yandex.maps auf und nahm mich an die Hand.
Mir war bewusst, dass ich innerhalb eines Tages über sein Schicksal entschied. Er studierte gerne an der Wyschka, hatte viele Freunde, klare Pläne für sein Leben, eine Zukunftsvision, Träume. Ich weiß nicht, ob er irgendwann wieder ein Zuhause haben wird. So viel Angst wie in diesen 24 Stunden hatte ich noch nie in meinem Leben. Noch nie hatte ich derart endgültige und mich erschlagende Entscheidungen getroffen.
Selbst wenn der Aufschub für Studenten bei der Wehrpflicht nicht aufgehoben wird, sind junge Männer hier Zielscheibe für Polizei und die Sicherheitsdienste. Ich war mir selbst zuwider, als ich hinter ihm herlief und sagte: „Lösch diese Story. Hör auf, diese Demo-Aufrufe zu teilen. Warum hast du wieder was über Putin bei Insta geschrieben? Willst du dein Schicksal herausfordern? Ist deine Meinung etwa so wichtig?“ Er hat immer geantwortet: „Warum dürfen du und deine Freunde das und ich nicht? Was ist das für eine Doppelmoral?“ Ja, ich war mit ihm auf der Demo, als Nawalny verhaftet wurde. Ja, er war mit einem Freund noch einmal ohne mich da, „nur mal schauen“. Aber die meisten seiner Freunde waren bereits auf dem Revier, einen von ihnen mussten wir aus einer Haftanstalt in Jegorjewsk holen.
Selbst wenn Timofej in Russland geblieben und es ihm gelungen wäre, nicht in die Armee oder ins Gefängnis zu kommen – nach dem 24. Februar hätte es hier für ihn keine Zukunft mehr gegeben. Ich sagte zu ihm: „Es wird wie in der Sowjetunion. Aus Perspektivlosigkeit werden die Menschen zur schlimmsten Version ihrer selbst: der ständige Druck, das ständige Umschauen – nicht, dass noch was passiert –, die Selbstzensur, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, all das führt zu Komplexen, Kränkungen und Aggressionen, die an den Nächsten ausgelassen werden. Ich will nicht, dass das mit dir passiert.“
Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Wnukowo löschten wir alle Apps von seinem Telefon. Der Flughafen ist fast menschenleer, aber nicht so leer, wie er es während der Pandemie war. Die Leute stehen ruhig in der Schlange an der Gepäckannahme, als würden sie in den Urlaub fliegen. Ich lächele und mache Scherze, berühre Timofej bei jeder Gelegenheit – mal an der Schulter, mal an der frischrasierten Wange. Wir umarmen uns, er geht zur Passkontrolle, ich schaue ihm hinterher: Er trägt seine Lederjacke (er wollte sie nicht dalassen, sie piept bei jedem Metallrahmen), einen schweren Rucksack, er reckt seinen Hals – mein Kleiner, mein kleiner großer Junge. In jenen Minuten, die er vor der Kabine auf seinen Pass wartete, wusste ich nicht, was ich mehr wollte: dass man ihn durchlässt, oder dass man ihn mir zurückgibt. Wir würden es schon irgendwie schaffen. Ich würde ihn einfach auf der Datscha verstecken …
Sie gaben ihn mir nicht zurück. Ich saß alleine im leeren Flughafencafé, trank Bier und bewegte mich zwei Stunden lang nicht vom Fleck. Ich bestellte das Taxi erst, als er im Flugzeug saß.
Eine Woche später, als er sich in Montenegro eingerichtet hatte, antwortete Timofej auf die Frage, wie es ihm geht: „Ganz ok, außer dass ich aus meinem Leben gerissen wurde.“ Ich sagte: „Du wurdest nicht herausgerissen, sondern dieses Leben existiert nicht mehr.“
Aus Gewohnheit nehme ich im Supermarkt zwei Brötchen für meine zwei Jungs mit. Dann erinnere ich mich wieder und lege eins zurück. Meine Freundin hat sich einen Alarm eingerichtet, um mich jeden Tag auf Telegram zu erinnern: „Du hast alles richtig gemacht.“
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. In dieser Nacht verstand ich, dass ‚Mir zerreißt es das Herz‘ keine Metapher ist
18. März – Scham
Meine lustige Haushaltshilfe Natascha kommt. Alle meine Freunde und Freundesfreunde kennen die absurden Natascha-Geschichten und den Spruch „und dann kam Natascha“. Sie putzt sehr schnell und ordentlich, plappert pausenlos, kommt niemals pünktlich, und man könnte eine endlose Slapstick-Komödie über sie drehen.
Natascha kommt aus der Ukraine, aus Iwano-Frankiwsk. Vom ersten Tag an schrieb sie mir auf WhatsApp. Fragte, was jetzt wird. Was wir jetzt tun sollen. Das kann doch nicht sein? Echte Truppen? Und was ist mit der Grenze? Wie komme ich nach Hause? Und wenn ich hier bleibe? Was soll ich tun, Xenia? Was mache ich jetzt? Da sind doch meine … Was, was, was wird jetzt sein? Sie fragte mich nach einem Vorschuss, damit sie ihrer Mutter so viel wie möglich überweisen konnte, ich gab ihr das Geld natürlich.
Jetzt fragt mich Natascha jedes Mal, wenn sie kommt: „Weinen Sie wieder, Xenia? Lassen Sie uns nicht weinen.“ Und wischt sich selbst die Tränen ab, wenn sie gerade telefoniert hat. Sie hat verstanden, dass sie nirgendwohin kann, dass sie hier festhängt, aber wenigstens fallen hier keine Bomben … Wir nehmen uns jetzt in den Arm, obwohl ich vor dem Krieg Distanz gewahrt habe. Ihre Mutter hört die Bomben. Natascha hört sie auch, wenn sie sie anruft.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr. Jedes Mal muss ich mich überwinden, um die Frage bei WhatsApp oder Facebook zu stellen. Die Antworten lauten in etwa: „Ich bin wieder in Kyjiw, in Sicherheit, wobei das relativ ist: Luftangriffe, Raketenbeschüsse, russische Untergrundkämpfer und all die anderen Herrlichkeiten, die der Krieg so mit sich bringt“, „Wir sind okay, heute Nacht nur drei Stunden im Bunker“ (Lwiw, eine junge Frau mit vierjähriger Tochter), „Ich war im besetzten Gebiet, jetzt bin ich in Kyjiw“. Nicht ein böses Wort, obwohl ich darauf gefasst war. Nur Großherzigkeit. Ich möchte da einfach nur heulen – also heule ich.
Einer von „meinen“ Ukrainern ist Geistlicher. Er erzählt mir auf Facebook, wie ein gemeinsamer Bekannter am Tag zuvor über einen humanitären Korridor aus besetztem Gebiet nach Hause zurückkehrte und wie er davor zwei Wochen ohne Strom, Wasser und Kontakt zur Außenwelt verbracht hatte. Ich sage: „Passen Sie bitte auf sich auf, wir müssen uns unbedingt wiedersehen.“ Und er: „Wir sehen uns ganz sicher wieder, wir werden die ganze Ewigkeit haben, um miteinander zu sprechen“ – „Ich würde es aber im Diesseits bevorzugen“ – „Ich auch. Christus ist unter uns.“ Und ich denke: Glaube ich daran gerade?
Und so liege ich hier auf meinem Bett in Moskau, neben mir schnurrt mein warmer Kater, den ich in zwei Wochen verlassen werde, um mich herum mein Zuhause, von dem ich mich in jeder Sekunde verabschiede. Und er sitzt in seinem Zuhause in Kyjiw, jederzeit gefasst darauf, einen Luftalarm zu hören und ins Versteck zu rennen. Zwischen uns ist das Facebook-Fenster, ich sehe seine Antworten grau und er meine. Kann Christus wirklich unter uns sein? Das ist unbegreiflich, aber andererseits – wo sollte Er sonst sein?
Wir kommunizieren über Telegram und Signal. Wir besprechen Luftangriffe, Gefangene, besetzte Gebiete, Einkesselungen, Flüchtlinge. Die Digitalisierung kollidiert auf merkwürdige Weise mit der Archaik. Wie kann es in der digitalisierten Welt Kriege geben? Krieg – das ist doch etwas Mittelalterliches, Chthonisches. Im Krieg gibt es dreieckige Frontbriefe, Funker, Telegramme, schwarze Lautsprecher mit Juri Lewitans Stimme, im besten Fall einen Fernseher. Aber nun wird auf Facebook von Bombenschutzbunkern und Splitterverletzungen berichtet.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr
20. März – Alles ist jetzt strafbar
Am 4. März, da war Timofej noch auf Zwischenstopp in Dubai, trat ein Gesetz gegen Fake News in Kraft. Dazu schreibt mein Freund Ilja Ber später: „Ich habe mir im Vorhinein überlegt, wann es mir zu viel wird. Jetzt.“
Mir wurde auch ganz leicht, leer und haltlos zumute. Als wäre ich ein Luftballon, bei dem man die Schnur durchschneidet. Jetzt war die Klarheit da. Ich kann ganz objektiv hier nicht mehr leben, ich habe keine Wahl mehr.
Journalismus, journalistische Ausbildung, Medienkompetenz – das alles ist jetzt strafbar.
An den zwei Universitäten, an denen ich arbeite – an der Schaninka und an der RANCHiGS – begannen Diskussionen, ob das Gesetz gegen Fake News denn anwendbar sei auf das, was die Lehrenden in den Hörsälen sagen. In der Schaninka trafen wir uns und besprachen die Risiken. Ich sagte, dass erstens mehr als die Hälfte der Lehrenden, alles Journalisten, weggegangen seien, und dass es zweitens keine Redaktionen mehr gebe, in denen die Studenten ein Praktikum machen könnten – alle waren entweder geschlossen oder von Roskomnadsorgesperrt oder zumindest als „ausländischer Agent“ deklariert oder überhaupt eine schillernde Kombi aus allen drei Versionen. Und der Inhalt des Studiums selbst ist strafbar geworden: Jeder zweite Lehrende fällt unter einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, sobald er den Mund aufmacht, und durch die Bank weg jeder von ihnen bringt den Studenten etwas bei, das sie bei gewissenhafter Erfüllung auf die Liste der „ausländischen Agenten“, in die Haftanstalt oder gar in die Strafkolonie bringt.
Die Urgesteine an unseren Unis rieten uns, „auf die Theorie auszuweichen“, den Großteil der Fächer theoretisch zu lehren, ohne irgendeinen „Aktualitätsbezug“. Aber das geht nicht. Der Lehrplan ist ein rechtsbindendes Dokument, in das man nicht nachträglich Änderungen einbauen kann. Und vor allem: Strafbar ist nicht nur der Inhalt, das wäre wirklich halb so wild, sondern sind die Methoden selbst! Informationen verifizieren, Quellen prüfen, alle Konfliktparteien abbilden, Beweise suchen, alles in Zweifel ziehen – das ist das Wesen, die Grundlage unseres Berufs. Und genau das ist jetzt unmöglich geworden – in der Praxis wie in der Lehre. „Ziehen Sie wenigstens noch dieses eine Semester durch“, bittet mich die Leitung der RANCHiGS, als ich ihr meine Argumente vorlege. Immer dieses Ziehen und Zerren.
Sieben Jahre habe ich diese Lehrpläne entwickelt und alles aufgebaut, wir hatten mit einer Gruppe von zehn Studenten begonnen, und jetzt sind es mehr als 500. Und dutzende Lehrende, darunter die besten Journalisten Russlands. Ich habe ein großes, lustiges Team – ich liebe es, Menschen zusammenzubringen, die ich gut finde, damit wir gemeinsam etwas Tolles machen. Wir hatten so viele Ideen und konnten das eine oder andere sogar umsetzen.
Der Niedergang begann schon im Herbst [2021], als unser Rektor Sergej Sujew aufgrund einer fingierten Anklage wegen Betrugs eingesperrt wurde. Schon damals erstarrten wir, duckten uns und hielten uns die Ohren zu. Ich ging zu den Gerichtsverhandlungen, las die Akten, schrieb interne Texte, nahm an strategischen Diskussionen teil, versuchte zu verstehen und zu helfen. Wir hielten uns alle aneinander fest und bemühten uns, einander im Auge zu behalten. Wir wurden mit Ermittlungen und staatsanwaltlichen Überprüfungen überschüttet. Sogar die Diplomarbeiten der letzten Jahre und die wissenschaftlichen Publikationen unserer Mitarbeiter wollten sie sehen.
Aber das Schlimmste ist, einem Menschen, der in U-Haft langsam, aber sicher umgebracht wird, über das Briefsystem der Strafvollzugsbehörde eine Nachricht zu schreiben. Und er schreibt zurück, versucht sogar zu scherzen, und du liest den handgeschriebenen Brief, den der Zensor fotografiert und als JPG geschickt hat, und du weißt, dass die Hand gezittert hat, dass die Kraft zu schreiben schwindet.
Schon damals war klar, dass wir nicht lange durchhalten werden. Aber wir wollten noch kämpfen, noch irgendwas retten, uns Umgehungsmanöver ausdenken. Zumal Sergej Sujew uns bei unserem letzten Treffen gebeten hatte, „an der Routine festzuhalten“.
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut.
Eine Predigt des Priestermönchs Giovanni Guaita, die seine Zuhörer auf YouTube gestellt haben, dauert 30 Sekunden: „Heute gedenken wir der Enthauptung des Heiligen Johannes. Johannes der Täufer war ein Prophet, der mit dem Leben dafür bezahlte, dass er die Wahrheit sagte. Es ist sehr tragisch, wenn wir eine solche Angst davor haben, die Wahrheit zu sagen, dass wir bereit sind, alles zu verlieren, um nur ja nichts zu riskieren. Amen.“
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut
23. März – Anschwärzen
Am 16. März erhielt der Rektor der RANCHiGS eine „Darlegung“ der Staatsanwaltschaft, in der es hieß, dass die Studienpläne unserer Fakultät Liberal Arts der Verfassung und „den Strategieprinzipien der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ widersprächen und „auf eine Zerstörung der traditionellen Werte der russischen Gesellschaft und auf eine Verfälschung der Geschichte“ abzielten. In der Schaninka traf genau dasselbe Dokument der Staatsanwaltschaft ein.
An den Universitäten finden Versammlungen mit Studierenden statt, bei denen Lehrende und Beamte „in Zivil“ erklären, worauf jetzt zu achten sei. Auch bei uns gab es für die Studierendenvertreter Vorträge zum Thema „geopolitische Aufklärung der studentischen Jugend und Orientierung bei aktuellen Herausforderungen und Gefahren im Bereich der Informationssicherheit“. Sofort spülte es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, die aber in der Minderheit gewesen waren. Natürlich ließen die Studierenden dem Medium DoxaZitate aus dieser Versammlung zukommen, die besagten, dass die Leitung der RANCHiGS den russischen Präsidenten rückhaltlos unterstütze und man wachsam sein solle vor dem Hintergrund des Cyberkriegs und der Verbreitung von Russophobie. Was so viel heißt wie: Man soll die Lehrenden anschwärzen.
Schon am nächsten Tag kamen E-Mails von Studenten. Das sind natürlich historische Dokumente. Ich speichere Screenshots davon.
„Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie warnen möchte: Eine Studentin am Institut für Soziologie will Beschwerde einreichen (Denunziation) über Ihre Haltung und darüber, was Sie in den Vorlesungen vermitteln. Ich weiß nicht, ob sie es durchzieht, aber ich möchte Sie auf jeden Fall wissen lassen, dass es unter den Studierenden schon welche gibt, die zu solchen Denunziationen bereit sind.“
Sofort spült es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, aber in der Minderheit gewesen waren
27. März – Gehen oder Bleiben
Als ich mir einen Hund anschaffte, war mir absolut bewusst, was das für eine Verantwortung ist.
Ich holte Ingrid zu mir, als ich ein stabiles Leben und Pläne hatte: Datscha, Auto, verlässliche Arbeit – und das jahrein, jahraus. Wir gingen täglich zwei Stunden spazieren – eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Ich konnte meinem Hund ein schönes, glückliches Leben bieten. Jetzt kann ich das nicht mehr. Wahrscheinlich muss ich in den nächsten Monaten (Wochen?) doch noch das Land verlassen. Natürlich nur, wenn die Grenzen offen bleiben und sofern kein Wunder geschieht.
Das bedeutet nicht nur, dass ich Ingrid wahrscheinlich im Gepäckraum eines Flugzeugs unterbringen werde müssen, sondern ich werde sie auch in meinem Vagabundenleben hinter mir herschleifen müssen. Arbeit und Wohnung werden wir nicht mehr haben.
Ich beantrage die Dokumente, bespreche mich mit allen. Bloß zuhause ist alles wie immer. Mein jüngerer Sohn und ich wohnen zu zweit in der Wohnung, in der sich nichts verändert hat, nur viel leiser ist es jetzt. Meine fünfzig Zimmerpflanzen stehen an ihren Plätzen, im Frühling steht das große Umtopfen auf dem Plan. Kescha, der Gecko, raschelt wie immer nachts in seinem Terrarium. Wieso noch mal wegfahren? Und wohin?
Wiener Juden in den 1930ern. Acht-Zimmer-Wohnungen, Klaviere, Schulkinder, Spaziergänge in den Parks. Auch sie sagten: Wo sollen wir denn hin? Unser gewohntes Leben passiert hier. Wie sollen wir das alles zurücklassen? Dann war es zu spät. Im Versuch zu bleiben, wollen wir die Vergangenheit festhalten, denn die Gegenwart ist zu schrecklich, und eine Zukunft gibt es nicht.
Wir bleiben nicht lange. Nur ein paar Monate. Wir warten ab und kommen zurück. Die nächste Falle.
Die Russen flohen nach der Revolution ebenfalls, nach Harbin, Konstantinopel, Prag, Belgrad, Paris, Berlin – um abzuwarten. Sie lebten jahrzehntelang ein temporäres Leben und starben als Fremde. Wieso sollte es diesmal anders sein?
Andererseits, wie können wir erkennen, dass das auch mit uns passiert? So richtig echt? Wenediktow hat kürzlich irgendwo auf YouTube gesagt: „Im Geschichtsbuch zu leben ist eine Katastrophe.“ Es passiert was, etwas Unsichtbares, Unhörbares, Ungreifbares. Du klappst den Laptop zu – und weg ist es. Aber davon, dass ich meinen Laptop zuklappe, hören die Menschen in Mariupol nicht auf zu sterben, das Gericht in Twer erstarrt nicht wie ein Meereswesen und erklärt Facebook so oder so für „extremistisch“.
Kürzlich war ich im Einkaufszentrum Afimall. Manche Geschäfte sind wirklich geschlossen. Aber generell ist die Stimmung nicht gedrückt. Wäre ich da aus meinem normalen friedlichen Leben hineingestellt und gefragt worden: „Was stimmt hier nicht?“ – ich hätte es nicht sofort bemerkt. Die Leute flanieren, shoppen, lachen, essen Eis. Musik spielt. Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Wieso habe ich mein Kind weggeschafft und ihm Wohnung, Studium und Freunde weggenommen? Was soll das, meinen zweiten Sohn mitten im Schuljahr zu verschleppen? Sieh mal, ist doch alles in bester Ordnung, nichts anders als sonst? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: „Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!“
Am Morgen war ich mit dem Hund draußen und traf einen Jungen aus dem Nachbarhaus, den Sohn eines berühmten Rockmusikers, mit seinem Mops. „Oh“, sage ich, „ihr seid noch da?“ (Er hatte mal seine israelische Staatsbürgerschaft erwähnt.) „Wissen Sie, ich bin Banker, da ist in Israel die Konkurrenz sehr hoch, das ist mir zu riskant. Ich stecke mir lieber ein Z ans Revers, wenn’s sein muss, aber sonst treib ich keinen Aufwand.“ Noch hat ihn niemand dazu aufgefordert, und vielleicht wird das auch niemand tun, aber mental hat er seine Entscheidung schon getroffen! Kürzlich hat eine Bekannte zu meiner Freundin gesagt: „Ist mir scheißegal. Was ich denke, geht keinen was an, und wenn ich ein Z malen soll, mach ich das eben.“ Sie werden Zs malen. Und sich Zs ans Revers stecken.
Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: ‚Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!‘
28. März – Camouflage
Ich wohne neben der Frunse-Militärakademie und gehe jeden Tag mit meinem Hund daran vorbei. Im Februar/März ist dreimal wöchentlich morgens die Durchfahrt über das Dewitschje-Feld gesperrt: Marschkolonnen proben für die Parade zum 9. Mai. Mit Blasorchester, Trommeln, roten Flaggen. Das massive Gebäude der Akademie ziert ein Turmsockel, auf dem ein Schützenpanzer steht und in dem mit monumentaler Schrift ein Stalin-Zitat eingemeißelt ist – ohne Namenszeichen, als wäre es eine Volksweisheit: „Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir, aber auch kein Handbreit unseres Bodens geben wir her.“
Da marschieren sie also mit roten Flaggen unter diesem Schriftzug. In den Pausen sitzen sie im Park verstreut auf den Bänken und tippen in ihre Handys, kaufen sich was im Supermarkt Pjatjorotschka, schlendern durch die Alleen. Das ganze Viertel ist in Camouflage. Und ich gehe immer wieder an ihnen vorbei. Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen? Auf Telegram lese ich: das Theater in Mariupol, das zerstörte Charkow, Irpen, Sumy, Nikolajew, Cherson. Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir.
Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen?
30. März – Goliaths Sieg
Letzten Herbst habe ich meinen Journalismus-Studenten zum ersten Mal eine Vorlesung über Dissidenten gehalten. Am 24. Februar 2022 musste ich natürlich sofort an den 21. August 1968 denken, daran, was meine ältere Freundin Lena Dorman, die Tochter der Dissidenten Veronika Turkina und Juri Schtein, erzählt hat. Wie sie und ihre Mutter da gerade in der Tschechoslowakei waren, wie sie weinten vor Scham und wie schlimm es war, nach Hause zu fahren, wie die Tschechen sie trösteten: „Wir wissen ja, dass das nicht ihr seid.“ Und weiter Panzer, Panzer, Panzer.
Das war für mich eine sagenhafte, fast mythische Geschichte. Die ich immer als Sieg Davids über Goliath verstand, die davon erzählt, wie es nach der finstersten Finsternis wieder Licht wird, wenn man sich nur nicht von seinem Weg abbringen lässt: Die Gefängnistore öffnen sich, die Eisernen Vorhänge und Berliner Mauern fallen, und nur Brodsky will nicht zurück nach Hause.
All diese Jahre habe ich in der festen Überzeugung gelebt, dass das eine Geschichte mit Happy End ist und wir in der Zeit danach leben. Ein langweiliges Leben, ohne Heldentaten. Auf ihren Schultern.
Und plötzlich finde ich mich in einer Umarmung mit Lena Dormans Tochter Anja in Lenas Küche wieder. Wir zittern. Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. Anja fliegt übermorgen mit ihren Kindern weg. Wir fragen einander immer wieder: „Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?“
Und da wird mir klar, dass wir es noch übler erwischt haben als die Titanen. Mariupol, Wolnowacha, Irpen, Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf, Millionen Familien ohne Väter. Das ist das Fegefeuer, bei uns ist die Hölle.
Und sollte ich irgendwann einmal wieder irgendwelchen Studenten von Dissidenten erzählen, dann wird das ungefähr so klingen: „Für die damalige Generation war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei, die russischen Panzer in Prag so wie für euch die Bombardierung von Charkow. Nur dass damals etwas mehr als hundert Menschen ums Leben kamen und nichts zerstört wurde.“
Am Ende hat also doch Goliath gesiegt.
Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. ‚Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?‘
1. April – Steh auf und geh! Ertrag es nicht!
„Lass alles hier und folge mir.“ „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.“ „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg Deine Gebote nicht vor mir …“
Nicht, dass ich früher nicht gewusst hätte, dass einem letztlich nur die Hoffnung auf Gott bleibt und nicht „auf die Fürsten, auf die Söhne der Menschen“. Oder gar keine Hoffnung – auch eine Option. Nackt kommt ihr auf diese Welt und nackt geht ihr. Doch nie zuvor habe ich mich so als Jüdin empfunden wie jetzt. Ich höre die Stimmen meiner Großmütter und meiner Urgroßväter, die Rabbiner waren und mich jetzt anfeuern: Auf und los! Ertrag es nicht! Sieh nicht zurück! Weine, heule, beiß die Zähne zusammen und renn! Und mein schweigsamer griechischer Großvater nickt zustimmend: Fremdling wurdest du getauft – geh und erfüll deine Vorsehung, ein Engel behüte deinen Weg.
Ich stehe auf und gehe. Ich gehe durch mein Zuhause, in dem ich 15 Jahre gewohnt habe, und streiche über die Wände. Ich lege mich auf meinen schönen Holzfußboden und liege da, als wäre er die Erde, die mir Kraft gibt. Ich sortiere meine Tischtücher und Geschirrtücher im Schrank, stelle Tassen und Teller um – die haben wir aus Korfu mitgebracht, und das ist polnisches Porzellan, und das meine zwei liebsten Weingläser aus der Glasbläserei im spanischen Biota. Ich lege mich auf mein Bett, mal der Länge nach, mal quer, rolle mich bis zur Nasenspitze in meine Decke ein – wie viel Kummer habe ich da hineingeweint, wie oft eine Bronchitis und Ohrenschmerzen, wie viele Migränen und Kater darin auskuriert. Nein, nein, ihr sollt nicht Schätze sammeln auf Erden, bindet euch nicht, denn das ist kein Anker, sondern ein Wackerstein um den Hals, ein Betonklotz am Bein – den man sprengen, absäbeln, zerhacken, zerreißen muss.
Meine Heimat – das ist der Sommer im Dorf auf der Datscha. Das heiße Flimmern über den Wiesen, die würzige, von Kräuterduft gesättigte Luft, der staubige Wegerich entlang der Feldwege und die Kletten an den kurzen Hosen. Letzten Sommer fuhr ich nach dem Lockdown in mein Dorf und lag jeden Tag im Gras am Teich.
Keine Spuren der Zeit – keine Stromleitungen, kein Straßenlärm, kein Müll. Ich lag da und dachte darüber nach, dass sich hier absolut nichts verändert hatte seit … seit wem eigentlich? Welche Stämme lebten früher auf dem Gebiet des heutigen Zentralrussland, sagen wir mal zwischen Oka und Dnjepr?
Seit ich 13, 16, 25 bin, war hier der Juli immer gleich – eine schon trockene Wiese voll fliederfarbener Blümchen, ein Birkenhain, eine staubige Straße den Feldrain entlang, weiter hinten Kiefern, dicke und dünne Libellen.
Jetzt werde ich nicht mehr hier sein. Der Teich, die Wiese, die Walderdbeeren, die Kornblumen und die Rufe der Vögel hoch am Himmel werden wiederkommen. Auf meiner Terrasse wird meine alte Mama abends die orange Lampe anzünden, und die Nachtfalter werden an die Fenster klopfen.
Am 7. April hat Xenia Lutschenko Russland über die Grenze Iwan-Gorod/Narwa nach Estland verlassen.
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder
Alexander Gronsky ist einer der berühmtesten russischen Landschaftsfotografen. Er fotografiert seit vielen Jahren Straßen, Brachflächen, Höfe und Plattenbauten. Seine Fotos werden in Berlin, Paris, Riga und New York gezeigt. Gronsky blieb nach dem 24. Februar in Russland und fotografierte: in Stadtstraßen und Randgebieten. Der Fotograf sagt gegenüber Meduza, dass er gar nicht anders kann, als an Bekanntem anzudocken und so einen Weg aus der Starre zu finden. Was hat sich in Russland über diese Monate verändert? „Im Grunde nichts. Und gleichzeitig alles“, sagt Gronsky. „Allein das Datum verändert das Verhältnis zu den Bildern, verleiht einem normalen Motiv enorm viel mehr an Kontext.“
Die folgenden Fotografien sind in Moskau entstanden, und zwar während der ersten drei Monaten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Alexander Gronsky schreibt dazu:
„Ich habe geträumt, dass ein Atomkrieg begonnen hat, in Moskau drei Explosionen. Es ist klar, das war’s. Das war’s einfach. Ich kriege im Traum keine Panik, ich denke einfach nur, okay, dann geh ich los und knipse, wie sich alles verändert hat.
Für mich ist dieser Traum wortwörtlich zu nehmen. Seit Anfang des Krieges fotografiere ich Moskau und spende die Fotos für Hilfsprojekte in der Ukraine. Dahinter steht kein besonderes künstlerisches Konzept, es ist einfach ein fassungsloses Sich-im-Kreis-Drehen.
Nichts hat sich geändert, und alles hat sich geändert.
Ich fotografiere, verschicke das Foto, jemand hängt es sich an die Wand und schickt jemandem, der es braucht, 150 Euro. Ganz schlichte Handlungen, die mir sehr helfen.“
„За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“„Frühling – der Tag des Sieges naht“
Fotos: Alexander Gronsky Übersetzung: Friederike Meltendorf Veröffentlicht am: 07.07.2022
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder
Soziologe Grigori Judin hat schon vor dem 24. Februar 2022 vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukrainegewarnt. In zahlreichen Interviews hat er an das Gewissen jedes Einzelnen appelliert, die Situation in Russland mit den Jahren 1938/39 in Deutschland verglichen und auch die Aussagekraft von Umfragen – angesichts massiver Repressionen – immer wieder kritisch hinterfragt.
In diesem aktuellen Text reflektiert er über Schuld und Verantwortung – auch des Westens. Und sagt: „Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind.“
Judins Text entstand im Rahmen des Projektes Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren. Auf Russisch ist er auch bei Meduza erschienen.
Ich stehe in einem modernen Wagen der Moskauer Metro und lese auf meinem Smartphone Prognosen von Militärexperten zum Kriegsverlauf. Da tritt ein junger Mann an mich heran und sagt verlegen „Danke“. Seit Kriegsbeginn passiert mir das regelmäßig.
Ich bin Wissenschaftler, und mein Alltag spielt sich normalerweise zu Hause am Computer ab. Ich gehe nicht besonders viel raus, in den letzten Monaten noch weniger als sonst. Aber seit dieser Krieg herrscht, kommen ausnahmslos jeden Tag fremde Menschen auf mich zu und bedanken sich. Und zwar egal, wo ich mich aufhalte – ob in Moskau oder Wien, in Jerewan oder Berlin. Wofür sie sich bedanken? Schlicht und ergreifend dafür, dass ich mich gleich zu Beginn öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen habe.
Da sind viele, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl nicht verloren haben
Das Ganze fühlt sich seltsam an: Als wäre man Mitglied eines unsichtbaren Ordens, einer riesigen, lautlosen Widerstandsbewegung, die auf ihren Moment wartet. Unerwartet zeigt sich mir, was viele um mich herum nicht ahnen: dass sie nicht allein sind. Dass da viele sind, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl und das Verantwortungsbewusstsein für ihr Heimatland nicht verloren haben. Doch sie kommen einzeln auf mich zu, sagen das Wort „Hoffnung“ und gehen wieder weg, finster und resigniert.
Ich kenne dieses Leiden nur zu gut – es heißt Atomisierung. Wenn zwischen uns alle Verbindungen gekappt sind, wenn man sich in jeder Runde dumm und ungelenk vorkommt, über „gefährliche Themen“ zu sprechen, wenn das einzige, was man über seine Nachbarn weiß, aus sozialen Umfragen kommt – dann fühlt man sich umgeben von einer feindlichen, abgestumpften und verbitterten Masse. Du kannst darin aufgehen und dich auf ihre Stärke stützen. Oder du kannst dich von ihr distanzieren und dir überlegen und kultiviert vorkommen. Du kannst allen Mut zusammennehmen und dich ihr widersetzen. Aber du kannst unmöglich mit ihr reden, ihr widersprechen. Sie wird dich sowieso unter Druck setzen. Wird heranrollen und dich bedrohen. Sie wirkt wie eine unbezwingbare Macht – obwohl es sie gar nicht gibt.
Jeden Tag erreichen mich neue Nachrichten von Journalisten aus der ganzen Welt, die alle dasselbe wissen wollen: Wie kann es sein, dass über 80 Prozent der Russen diesen Krieg unterstützen? In ihrer Frage höre ich Erstaunen und Empörung: Sie sehen genau diese beängstigende Masse vor sich, brutale, grausame Russen, eine einzige Horde von Mördern, Dieben und Vergewaltigern. Ich fange an, eine Antwort ins Telefon zu tippen: „Wissen Sie, so funktioniert das nicht. Wenn Wladimir Putin am 24. Februar erklärt hätte, dass er aus wichtigen sicherheitspolitischen Erwägungen die Gebiete der DNR und LNR an die Ukraine zurückgibt, wäre die Zustimmung genauso hoch gewesen …“ Ich drücke dem Fremden die Hand, die er mir entgegenstreckt, und schaue mich im Wagen um, versuche unwillkürlich die aus der Ferne gestellte Frage des Journalisten auf die Passagiere zu projizieren.
Ich möchte dem Journalisten gerne so antworten, dass er seinen Lesern nicht erklären muss: „Sehen Sie, die Russen sind eben ganz anders als wir.“ Denn das ist nicht wahr. Um zu verstehen, wie die Russen ticken, muss man sich nur anschauen, wie ein Gerhard Schröder, ein François Fillon oder eine Karin Kneissl ticken. Sie sind keine blutrünstigen Mörder, und sie wünschen dem ukrainischen Volk kein Leid. Viele wollen, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und das „normale Leben“ wieder beginnt – ein Leben, in dem sie gut verdienen und angesehen sind.
Zu unser aller Bedauern haben die Russen nichts besonders Bösartiges an sich, denn dann würde es ausreichen, sie einfach zu isolieren, eine hohe Mauer zu bauen und den Planeten sicher vor ihnen zu schützen. Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert – er hat die Schwächen und Hebel erkannt, die man bedienen muss, um sie zu lenken. Die Gesellschaftsordnung, die er in Russland aufgebaut hat, ist eine radikale Version des modernen neoliberalen Kapitalismus, in dem die Gier herrscht, in dem das Maß aller Dinge der persönliche Wohlstand ist – und Zynismus, Ironie und Nihilismus das rettende Gefühl von leichter Überlegenheit verleihen.
Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert
Putin ist nicht plötzlich aus den sibirischen Wäldern aufgetaucht – er hat jahrelang die globalen Finanz- und Polit-Eliten korrumpiert. Seine Oligarchen haben so lange auf der ganzen Welt zügellosen Luxus und Schmeicheleien genossen, bis sie allen Grund hatten, sich als die Herren dieser Welt zu fühlen. Putin hat derart erfolgreich die Politiker dutzender Länder pervertiert, indem er sie in seine Aufsichtsräte setzte und offenkundig blutiges Geld mit ihnen teilte, dass er allen Grund hat, sie als Schwächlinge zu betrachten. Putin hat den Russen dasselbe Prinzip angeboten, das die Starken dieser Welt so gut verinnerlicht haben: „Wenn ihr etwas mit Geld nicht erreichen könnt, habt ihr einfach nicht genug geboten.“
Meine Auslandskorrespondenten fragen sich, wie die Russen bloß so „propagandaverblödet“ sein können. Aber ich schaue mich um und sehe ich überhaupt keine Idioten. Stattdessen sehe ich einen Haufen Leute, die die wichtigste Lektion gründlich verinnerlicht haben: Versuch gar nicht erst, Putin zu widersprechen, diese Welt ist sowieso so angelegt, dass er immer gewinnt. Ich sehe jene Menschen, die versucht haben, die derzeitige Katastrophe abzuwenden, die ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt und jedes Mal gesehen haben, dass Putins Geld alles entscheidet. Dass Putin nach jedem niedergeschlagenen Aufstand neue Milliardenverträge abschließt, seine Oligarchen noch reicher werden und seine „europäischen Freunde“ neue Posten in neuen Aufsichtsräten besetzen. Dass die internationalen Technologie-Riesen für ihre Gewinne auf dem russischen Markt zu jeglichen Konzessionen bereit sind – angefangen bei Google, das bereit ist, physische Bedrohungen durch russische Geheimdienste gegen ihr Top-Management zu verschweigen, bis hin zu Nokia, das Putin geholfen hat, ein System zur totalen Überwachung seiner Gegner zu erschaffen. Immer wieder von Neuem haben diese furchtlosen Russen angefangen – sie führen seit langem Krieg gegen Putin, nur ohne Panzerabwehrlenkwaffen und Haubitzen. Und jedes Mal haben sie aufs Neue gehört: „Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.“ Und mittlerweile glauben das tatsächlich viele.
Meine Freunde, die in internationalen Konzernen arbeiten, erzählen mir oft, wie ihre Geschäftsführer auf den Krieg reagieren. Nämlich gar nicht – darüber wird kein Wort verloren. Allgemeinen Unmut hingegen rufen die berühmt-berüchtigten Sanktionen hervor, die sie dazu zwingen, durch eigenes Handeln ihre reichen Erträge aus dem russischen Markt zu begrenzen. Und während man diese Unzufriedenheit in amerikanischen und britischen Firmen verbergen muss, um die globale Führungsriege nicht zu verärgern, sagen deutsche und vor allem französische Firmen ziemlich unverblümt, dass sie nicht verstehen, was sie mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben und wieso sie deswegen finanzielle Einbußen hinnehmen sollen.
‚Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.‘ Mittlerweile glauben das tatsächlich viele
Im Interview mit dem Spiegel sagt der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dass Masha Gessens Buch Future Is History sein Verständnis von Russland beeinflusst habe. Dieses Buch führt auf mehreren hundert Seiten beharrlich einen Gedanken aus: Russland wird sich nie ändern, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind totalitär, und jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, ist vergeblich. Wladimir Putin und seine liberalen Kritiker haben sich längst genau darauf geeinigt: Russland wird sich niemals ändern. Scholz macht auf mich den Eindruck eines Menschen, der von dieser Angst vor den Russen eingeschüchtert ist, dieser Angst vor einer wilden Horde, mit der man sowieso nie fertigwerden wird.
Noch einmal sehe ich mich in meinem Moskauer Metro-Waggon um. Schwere Blicke, starr auf die Fenster oder den Boden gerichtet: Die Russen lächeln bekanntlich nicht gern. Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind. Erst wenn die globale Wirtschaft sich für das Leben der Ukrainer verantwortlich fühlt und nicht nur für die Dividenden ihrer Aktionäre. Erst wenn die Welt versteht, dass wir alle in diesem Waggon der Moskauer Metro sitzen. Und erst, wenn Kanzler Scholz daran glaubt, dass ein anderes Russland möglich ist.
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder