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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sieg der Stille

    Sieg der Stille

    Die Wahl zur Staatsduma am vergangenen Sonntag hat der Partei Einiges Russland eine breite Machtbasis verschafft. Präsident Putin ist selbst ist nicht Mitglied, steht offiziell über jeder Partei. In der Praxis gilt Einiges Russland jedoch als Mittel zum Zweck, als Machtpartei, um dem obersten Mann im Kreml und seinen Direktiven auch über die Dumawahl Legitimität zu verschaffen. Bereits bei allen drei Parlamentswahlen zuvor hatte sich Einiges Russland die Mehrheit gesichert und geht aus der jetzigen Wahl mit 76 Prozent der Dumasitze so stark hervor wie nie.

    Aber heißt das auch tatsächlich, dass die Menschen ihr in allem wofür sie steht, zustimmen? Grigori Golossow, Politikwissenschaftler an der Europäischen Universität St. Petersburg, geht für das unabhängige Magazin slon der Frage nach, woraus sich die immense Stärke von Einiges Russland speist. Welche Rolle spielt die Verstrickung von politischer Elite und Staatsbediensteten? Und wieso ist die Wahlbeteiligung auf ein historisches Tief gefallen? Millionen sind zu Hause geblieben. Ob das ein souveräner Akt war, darüber fällt Golossow ein zweischneidiges Urteil.

    Falls an den Wahlergebnissen etwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision – findet Grigori Golossow / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    Falls an den Wahlergebnissen etwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision – findet Grigori Golossow / Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Am 18. September 2016 wurde die nächste – vielleicht sogar die letzte oder vorletzte – Seite  in dem traurigen Buch über das russische Demokratieexperiment geschrieben. Falls an den Ergebnissen irgendetwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision. Nach leichtem Ab- und Aufrunden der Stimmanteile und unter Einbeziehung der Direktmandate führt die Stimmauszählung zu folgender prozentualer Zusammensetzung der neuen Staatsduma: 75 (Einiges Russland) – 10 (KPRF) – 10 (LDPR) – 5 (Gerechtes Russland). Die Präzision besteht nicht darin, dass die Zahlen den Prognosen entsprechen. Nicht einmal die allerloyalsten Soziologen haben der Partei Einiges Russland  54 Prozent zugedacht. Die Präzision liegt in der Magie der Zahlen, an der man erkennt, dass die russischen Machthaber dieses Mal ihre Aufgabe voll und ganz erfüllt haben.

    Der Mechanismus, durch den eine solch filigrane Präzision erreicht wird, ist wohlbekannt. In der Politikwissenschaft spricht man vom Klientelismus, der darin besteht, dass sowohl diejenigen zur Wahl gehen, die faktisch dazu verpflichtet sind, als auch diejenigen, für die es sich materiell lohnt. Zum Gesamtpaket gehört neben dem Erscheinen zur Wahl auch, dass die Menschen dazu angehalten werden, für eine bestimmte Partei zu stimmen.

    Im Großen und Ganzen gibt es da keinen großen Unterschied zwischen einem ungebildeten nicaraguanischen Bauern, der vor ein paar Jahrzehnten von einem Gutsherren zu den Wahlen gejagt wurde, und dem gut ausgebildeten russischen Staatsangestellten, der um die Wahlen einfach nicht drum herumkommt, Sie verstehen, so ist halt das Leben.

    Ein durchaus beträchtlicher – und ständig wachsender – Teil unserer Mitbürger geht tatsächlich zu den Wahlen, weil er keine Wahl hat. Er muss es tun. Das schließt nicht aus, dass es vielen sogar gelingt, sich davon zu überzeugen, dass das auch so sein muss, Ordnung ist und bleibt Ordnung, dafür gibt es wenigstens ein Gehalt und das bedeutet Stabilität und so weiter. Entsprechende Argumente liefert der Fernseher in Massen.

    Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren, obwohl viele sich schämen würden, das zuzugeben. Psychologisch angenehmer ist es da, sich eine staatsbürgerliche Motivation zuzulegen.

    Jedoch erreicht dieser Mechanismus der Wählermobilisierung nicht jene ziemlich breiten Schichten des Wahlvolks, die sich immer noch die berühmte Autonomie gegenüber den Machthabern bewahrt. Denen gegenüber verfolgt die Regierung die Strategie, dass die Datscha ihre erste Option bleiben möge. Und wenn sie keine Datscha haben? Dann macht doch irgendetwas anderes Sinnloses, aber Angenehmes. Fangt von mir aus Pokémons, wenn ihr so cool und modern seid. Aber geht nicht zu den Wahlen. Das ist unnötig. Ja, unwichtig.

    Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren

    Die russischen Sofa-Oppositionellen haben sich die Finger wundgetippt, um zu zeigen, dass man durch die Teilnahme an diesen fiktiven Wahlen das System nur legitimiere und was das alles bedeute und welche folgenschweren Probleme das mit sich bringe. Das war vergebene Liebesmüh.

    Der Informationsraum, in dem der russische Durchschnittswähler lebt, ist nicht mit Sozialen Netzwerken oder Internetmedien für coole Auskenner bestückt, sondern mit einem Fernseher. Der setzt die Akzente. Die Machthaber haben aus der Wahlkampagne von 2011 gelernt und diesmal alles dafür getan, um dem Wähler einen ganz einfachen Gedanken nahezubringen: Die Wahlen sind unwichtig.

    Dass hierfür das Vorziehen der Wahl von Dezember auf September entscheidend war, muss man nicht groß erklären. Wobei das noch nicht alles ist. Der Wahlkampf war dermaßen leise, dass ihn viele Wähler gar nicht bemerkt haben. Hinter dieser scheinbaren Stille verbarg sich jedoch fieberhafte Arbeit, die darauf abzielte, die Wahlen aus der täglichen Berichterstattung der wichtigsten Internetmedien zu verdrängen. Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren? Und es hat sich auch niemand dafür interessiert. Weil Interesse nicht einfach so von selbst aufkommt, sondern durch die tägliche Berichterstattung der Medien gebildet wird.

    2011 hatten die Regierenden bei der Bevölkerung Interesse an den Wahlen geweckt. Und genau daran, an dieses von den Regierenden geweckte Interesse, knüpfte die Kampagne an, die Nawalny dann im Internet führte.

    Die politische Internetcommunity in Russland ist sehr klein, sowohl vom Umfang her als auch was die Zahl aktiver Nutzer angeht. Für sich genommen ist das Internet nicht fähig, das Verhalten der Massen zu beeinflussen. Der Fehler der Machthaber bestand 2011 also genau darin, ein Kommunikationsfenster zu öffnen zwischen diesem kleinen Weltlein und der Welt des Durchschnittswählers.

    Die Folge war, dass auf diese Art zwei virale Ideen in die Welt der Massen durchdrangen: „Partei der Gauner und Diebe“ und „Wähl eine andere Partei, egal welche!“ Das Ergebnis war eine nur logische Konsequenz.

    Diesen Fehler haben die russischen Machthaber nicht wiederholt. Regierungsfreundliche Kommentatoren sprechen oft vom Krim-Konsens als einem Faktor, der die Ergebnisse der September-Wahl mitbestimmt hat. Ich finde diese Überlegungen nicht überzeugend, da sich die breite gesellschaftliche Unterstützung für die Angliederung der Krim nicht zwingend in Stimmen für Einiges Russland niederschlagen musste. Da hätte man tatsächlich beinahe auch jede andere Partei wählen können.

    Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren?

    Eher würde ich in diesem Zusammenhang von einer Krim-Firewall sprechen. Mit der im Vorfeld der Wahlen festgelegten medialen Konzentration auf die Außenpolitik (und alle außenpolitischen Probleme Russlands ergeben sich ja selbstverständlich aus der Angliederung der Krim) ist es den Machthabern gelungen, das oppositionelle politische Internet wirksam vom dominierenden Informationsraum des Landes zu isolieren.

    In den Sozialen Netzwerken konnte man über Sinn und Zweck der Teilnahme an den Wahlen diskutieren, soviel man wollte, und sich über Korruption und die Ineffektivität der Regierung wütend echauffieren. Aber echtes Gewicht bekamen diese Themen nicht. Sie blieben ein winziges Segment, nicht nur im Massenbewusstsein, sondern sogar im Internet.

    Am Ende sind die Wähler, die etwas an dem uns nun vorliegenden Ergebnis hätten ändern können, zu Hause geblieben. Und die Wahlbeteiligung? Ja, sie ist, wie Putin anmerkte, im Normbereich, auch nach europäischen Maßstäben.

    Allerdings nur nach denen Osteuropas – das sollte man hier noch ergänzen. Denn dort sind die Parteien sehr schwach und nicht wirklich in der Lage, den Wähler zum Gang an die Urne zu bewegen, und auch der Staat hat keine Mittel, um sie zu mobilisieren.

    In Russland, seien wir ehrlich, sieht es mit den Parteien und ihrem Wählerbezug kaum anders aus, aber dafür funktioniert hier der Klientelismus immer besser.

    In vielen Regionen im Nordkaukasus, in der Wolgaregion und in Sibirien hat die Praxis gezeigt, dass es nichts nützt, den Gouverneuren immer wieder vorzubeten, dass Wahlfälschungen bestraft werden. Die reale Wahlbeteiligung wird kurzerhand ergänzt durch Wähler, die lediglich in den elektronischen Protokollen auftauchen. Aber Zahlen sind Zahlen.

    Es gibt eine ständig wiederkehrende Metapher in den Texten derer, die sich gegen eine Teilnahme an fiktiven Wahlen aussprechen: „Mit Betrügern setze ich mich nicht an einen Spieltisch.“ Sie beruht auf der Annahme, dass man sich dem Spiel mit Falschspielern entziehen kann. Aber das ist nicht immer so und was die Wahlen angeht, ganz sicher nicht. Du spielst immer mit. Und wenn du das Gefühl hast, dass du es nicht tust, dann nur deswegen, weil du die Regeln befolgst, die dir der Falschspieler aufzwingt, und keinen Deut von ihnen abweichst. Weil du, wenn er plötzlich deine Zehn mit einer Sieben übertrumpft, nicht reagierst. Gewinnen wirst du sowieso nicht: Er ist ja ein Falschspieler. Du könntest ihm zwar das Leben schwermachen – doch diesmal ging das leider nicht.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Infografik: Dumawahl 2016

    Infografik: Dumawahl 2016

    Triumph für Einiges Russland. Die Machtpartei holt ihr bestes Ergebnis seit der Gründung 2001. Mit rund 54 Prozent der Stimmen und 343 Sitzen in der Duma stellt sie jetzt sogar die verfassungsändernde Mehrheit. Die wichtigere Zahl dieses Wahltages aber lautet: 47,88. So viel Prozent nämlich beträgt die (offizielle) Wahlbeteiligung – ein historischer Tiefstand. Wie der Erfolg von Einiges Russland zustande kam und welche Fragen sich daran anschließen, erläutern wir anhand unserer Infografiken zu den Wahlergebnissen.

     

    Quelle: ZIK

    Haushoch überlegen – für die Partei Einiges Russland, die sich im Wahlkampf als „Partei Putins“ präsentierte, weist das Ergebnis rund 54 Prozent der Stimmen aus.  

    Die Systemopposition verlor dagegen einiges an Stimmen, an Sitzen jedoch überproportional viel mehr. Vor fünf Jahren sah die Stimmverteilung hier noch so aus: Kommunisten (KPRF) 19 Prozent (92 Sitze), Liberaldemokraten (LDPR): 12 Prozent (56 Sitze), Gerechtes Russland 13 Prozent (64 Sitze).

     

    Quelle: ZIK / RBC

    Insgesamt wurden bei der Wahl alle 450 Dumasitze neu besetzt. Die eine Hälfte davon über Kandidaten im lokalen Wahlkreis und die andere über die Parteiliste. Gerade die Stimmen für die Direktkandidaten haben zum Ergebnis von Einiges Russland beigetragen. 202 von 225 Direktmandaten gingen an die Machtpartei, über die Parteiliste kamen noch 141 Mandate dazu. Mit 343 Abgeordneten hat Einiges Russland 76 Prozent der Sitze in der Duma inne und stellt damit nun eine verfassungsändernde Mehrheit – es ist das beste Ergebnis für die Partei seit ihrer Gründung 2001.

     

    Quelle: ZIK / RBC

    47,88 Prozent Wahlbeteiligung ist aber wohl die wichtigere Kennzahl dieser Dumawahl. Sie liegt 12 Prozentpunkte unter der Wahlbeteiligung im Jahr 2011. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ist diesmal also nicht zur Wahl gegangen. In den großen Städten Moskau und Sankt Petersburg lag die Wahlbeteiligung überhaupt nur bei 35,2 bzw. 32,7 Prozent. Wie ist diese schweigende Mehrheit eingestellt? Bedeutet Schweigen Zustimmung oder Protest? Das ist die Frage, mit der sich das Land in den nächsten Monaten beschäftigen wird.

     

    Quelle: ZIK / RBC

    Woher kommen aber die markanten regionalen Unterschiede bei der Wahlbeteiligung? Für unabhängige Medien nähren die Zahlen Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen, denn Einiges Russland schnitt genau in solchen Regionen besonders gut ab, in denen es statistische Ausreißer nach oben bei der Wahlbeteiligung gab.

    Die Hinweise auf mögliche Wahlfälschungen sind insgesamt zahlreich – laut unabhängiger Wahlbeobachter bislang aber nicht so zahlreich wie bei der vergangenen Dumawahl.

    Vor diesem Hintergrund ist ein Wiederaufflammen der politischen Proteste von 2011/12 unwahrscheinlich. Die Opposition wird nun wohl vielmehr das Wahlsystem kritisieren. Bei niedriger Wahlbeteiligung spiele es nämlich noch mehr der Machtpartei in die Hände.

    Zwar entsteht damit nun kein Einparteiensystem, die Dominanz von Einiges Russland wird aber noch massiver: Über eine Opposition, die im Parlament die meisten Entscheidungen der Regierungspartei inzwischen ohnehin mitträgt und insofern zum „System Putin“ dazugehört.

    Ausgehend von dieser Dumawahl stellen sich also folgende Fragen: Wird die Systemopposition vor diesem Hintergrund Systemopposition bleiben oder eine neuerliche Wahlrechtsreform fordern? Und wie werden sich die oppositionellen Parteien Jabloko und PARNAS verhalten, die – wie bisher schon – außerhalb der Duma stehen? Werden sie angesichts ihrer schlechten Ergebnisse zu einer gemeinsamen Linie der demokratischen Opposition finden, oder werden sie nun von parteiinternen Querelen zerrissen?

    Mit der Dumawahl wurden in Russland die politischen Weichen neu gestellt – sowohl für das „System Putin“ als auch für die Opposition. Obwohl die Duma im politischen System Russlands eine untergeordnete Rolle spielt, werden diese Wahlen ein wichtiges Stimmungsbarometer für die politische Elite sein – auch angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage im Land. 

     


    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 19.09.2016


    Die Erstellung dieser Infografik wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Nach der Dumawahl am Sonntag sind – wie schon seit 2011 – vier Parteien im russischen Parlament vertreten: die Kremlpartei Einiges Russland, die Kommunistische Partei (KPRF), die nationalkonservative Liberaldemokratische Partei (LDPR) und die linke Partei Gerechtes Russland. Mit insgesamt 343 von 450 Mandaten erhält Einiges Russland die meisten Sitze im Parlament. Dieses Ergebnis galt als erwart- und vorhersehbar. Präsident Wladimir Putin ließ nach Bekanntgabe der Stimmanteile verlautbaren, die Menschen hätten gespürt, dass gesellschaftliche und politische Stabilität gebraucht würde.

    Nach der Wahl ist vor der Wahl? An der politischen Kräfteverteilung hat sich nichts Wesentliches geändert, mit dem Unterschied, dass Einiges Russland nun sogar eine Zweidrittelmehrheit innehat. Die Systemopposition teilt sich untereinander ihre Plätze lediglich etwas anders auf. In der Presse wurde daher vor allem diskutiert, welche Signalwirkung davon ausgeht – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Fälschungsvorwürfe laut wurden und die Wahlbeteiligung nach aktuellem Stand bei nur 47,81 Prozent lag.

    Komsomolskaja Prawda: Kein Anlass zur Euphorie

    Der Chefredakteur der regierungsnahen Komsomolskaja Prawda, Wladimir Sungorkin, geht auf die sinkende Wahlbeteiligung ein und führt sie darauf zurück, dass es kein Vertrauen in den Wahlmechanismus gebe.

    [bilingbox]Mich beunruhigt diese Euphorie von Einiges Russland. Ihr glaubt doch nicht etwa wirklich an das, was ihr sagt? […] Ihr sagt, das Volk habe für Einiges Russland gestimmt. Nun mal langsam. Ein gewisser Teil hat für Einiges Russland gestimmt. Kein großer. Das kann man leicht nachrechnen. Ungefähr 20 Millionen von 145 Millionen haben Einiges Russland gewählt. Über die Hälfte der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen. Wir verlegen uns auf Schamanismus: In Frankreich sind sie weggeblieben, in Deutschland sind sie weggeblieben. Hört mal, aber wir sind hier nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Meine Bewertung fällt so aus: Ein riesiger Teil der Bevölkerung ist nicht hingegangen, weil er keinerlei Vertrauen in die Wahlen hat. Er geht nicht hin, weil er nicht daran glaubt. Ich denke, es gibt keinen Grund zur Euphorie. ~~~Меня тревожит такая эйфория «Единой России». Неужели вы действительно верите в то, что вы говорите? […] Вы говорите, что народ проголосовал за «Единую Россию». Давайте как-то осторожнее. Некая часть народа проголосовала за «Единую Россию». Она небольшая. Это же в пределах арифметики. Примерно 20 миллионов из 145 миллионов населения России проголосовало за «Единую Россию». Больше половины избирателей не пришли. Мы начинаем шаманствовать: во Франции тоже не пришли, и в Германии не пришли. Слушайте, у нас далеко не Франция и не Германия. Мое оценочное суждение: огромная часть населения не пришла, потому что абсолютно не доверяет выборному механизму. Она не идет, потому что не верит. Я считаю, что поводов для эйфории нет.[/bilingbox]

    Slon: „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“

    Andrej Archangelski findet, es habe bei der Dumawahl lediglich eine „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“ bestanden. Auf dem unabhängigen Magazin Slon fragt er sich, wie sich das auf die Psyche der Wähler auswirkt.

    [bilingbox]Das Besondere an dem aktuellen Wahlkampf bestand darin, dass formal die Wahlmöglichkeiten zugenommen hatten (bei den vorigen Wahlen war die Einstiegshürde für die Parteien höher und es gab keine Einerwahlkreise). Doch sowohl bei den vergangenen als auch bei diesen Wahlen hat im Endeffekt das grundlegende Prinzip gesiegt, das wir als „Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten“ bezeichnen – wenn jedwede Verhaltensstrategie des Wählers das Ergebnis nicht grundlegend beeinflussen kann. Das versetzt jedes Mal insbesondere dem moralischen Zustand der Gesellschaft einen derben Schlag und erzeugt weiteren Unglauben und Apathie.~~~Специфика нынешней выборной кампании в том, что формально возможности выбора стали шире (на прошлых выборах был выше проходной барьер для партий и не было одномандатников). Но и на прошлых, и на этих выборах побеждает в итоге все тот же базовый принцип, который мы назовем «ситуацией плохого выбора», когда любая альтернативная стратегия поведения избирателя на выборах не может принципиально повлиять на конечный результат. Это всякий раз сильно бьет именно по моральному состоянию общества и порождает еще большее неверие и апатию.[/bilingbox]

    Izvestia: Wie es in einem demokratischen Land sein soll

    In der kremlnahen Zeitung Izvestia sieht der Politikwissenschaftler Alexej Martynow Russland dagegen im Kreis lupenreiner Demokratien angekommen. In denen das Volk naturgemäß der Souverän sei.

    [bilingbox]Trotz trüber Prognosen einiger unzufriedener Polittechnologen waren diese Wahlen geprägt von spannenden Kämpfen, dramatischen Situationen und scharfer Konkurrenz. Außerdem bemerkten alle Beobachter und Experten eine völlig neue Qualität des Wahlprozesses und des Wahlkampfs selbst. […] Insgesamt ist die Demokratie in Russland herangereift. Zu einer anerkannten Notwendigkeit. Wahrscheinlich ist bei den jetzigen Parlamentswahlen der Wähler zu einem der wichtigsten Teilnehmer geworden. So, wie sich das in einem demokratischen europäischen Land gehört.~~~Вопреки унылым прогнозам некоторых неудовлетворенных политтехнологов эти выборы оказались отмечены высоким накалом борьбы, драматичными ситуациями и острой конкуренцией. Кроме того, все наблюдатели и эксперты отмечают совершенно новое качество выборного процесса и самой предвыборной кампании. [….] В целом демократия в России повзрослела. Стала осознанной необходимостью. Наверное, одним из главных участников прошедших парламентских выборов стал избиратель. Как и должно быть в демократической европейской стране.[/bilingbox]

    Nesawissimaja Gaseta: Bodensatz bleibt haften

    Alexej Gorbatschow, Beobachter der Nesawissimaja Gaseta, hat beim Verfolgen der medialen Berichterstattung zwei völlig verschiedene Wahltage erlebt.

    [bilingbox]Wie zu erwarten, entfernten sich Regierungsvertreter und Opposition im Laufe des Wahltages immer weiter voneinander in ihrer Bewertung über den Verlauf der Abstimmung. Auch in den Medien wurden unterschiedliche Bilder gezeichnet. Während die staatlichen Sender Berichte über einen ruhigen, ja geradezu feierlichen Tag brachten, wimmelte es im Internet und in den sozialen Netzwerken von Meldungen über Verstöße. Insgesamt gab es nur geringfügig weniger Informationen über den massiven zusätzlichen Stimmeinwurf oder die berühmten Wähler-Karussels als im Jahr 2011. […]~~~Как и полагается, представители власти и оппозиции в течение дня существенно расходились в оценках хода голосования. Разные картинки предоставила и медиасфера. Если на госканалах звучали рапорты о спокойном и даже праздничном дне, то Интернет и соцсети были забиты сообщениями о нарушениях. Судя по всему, информации о пресловутых вбросах и «каруселях» окажется лишь немногим меньше, чем в 2011-м. […] В общем, уже можно сделать предварительный вывод о том, что идеальной кампании, конечно, не получилось. Указания Кремля о конкурентных, открытых и легитимных выборах, как и предполагалось, хроника 18 сентября сильно портит. И хотя большая часть сообщений о нарушениях или не подтвердится, или будет проигнорирована, а то и просто замолчена, но осадок, как говорится, все равно останется.[/bilingbox]

    Lilia Shevtsova (facebook): Fake-Vertretung

    Die renommierte Politikwissenschaftlerin Lilia Shevtsova schreibt auf ihrer facebook-Seite, die Verbindung zwischen Volk und Volksvertretung sei seit langem abgerissen. Der Graben vertiefe sich nach dieser Wahl.  

    [bilingbox]Einen RISS. Genau den wird die Siebente Duma demonstrieren. Den Riss zwischen der neuen Realität des Landes, das immer tiefer in die Krise gleitet, und den Versuchen des Kreml, Stabilität zu wahren. Die verrostete parlamentarische Konstruktion entspricht schon seit langem nicht mehr den gesellschaftlichen Anforderungen. Sie könnte noch eine Zeit lang weiterrosten. Doch wird die Duma heute potenziell zu einem revolutionären Faktor – weil sie eine Fake-Vertretung darstellt. Die Gesellschaft wird in dieser Situation wachsender Unzufriedenheit dazu gezwungen sein, ihre Interessen auf der Straße zu formulieren – weil sie legaler Kanäle zur Durchsetzung ihrer Interessen beraubt ist. Und die Regierung weiß das sehr wohl. Warum sonst sollte sie schon im Vorwege ein repressives Verteidigungssystem geschaffen haben? […] Also haben wir es gerade mit dem letzten Atemzug der „parlamentarischen Stabilität” zu tun. Und er wird in die Geschichte eingehen als Beispiel für die Diskreditierung des Parlamentarismus.~~~РАЗРЫВ. Именно это будет демонстрировать седьмая Дума. Разрыв между новой реальностью страны, все глубже вползающей в кризис, и попытками Кремля сохранить стабильность. Заржавевшая «парламентская» конструкция давно уже не отвечает запросам общества. Она могла бы еще какое-то время ржаветь и дальше. Но сегодня Дума потенциально становится революционным фактором – в силу своей функции фейкового представительства. Общество в ситуации нарастающего недовольства и не имея легальных каналов защиты своих интересов, будет вынужденно выражать свои интересы через улицу. Впрочем, власть это понимает. Иначе зачем заранее создавать репрессивную систему обороны? […] Так, что мы имеем дело с последним вздохом «парламента стабильности». И он останется в истории, как пример дискредитации парламентаризма. [/bilingbox]

    Rossijskaja Gaseta: Die Gesellschaft akzeptiert das System

    Leonid Radsichowski, Kolumnist der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta, meint, dass das System die heutige Duma reproduziert habe und die Gesellschaft damit einverstanden sei:

    [bilingbox]Man kann durchaus sagen, dass die Duma die Hürde des Wahlkampfs überwunden hat und dabei nicht mit dem Fuß hängengeblieben ist: Das System hat sich selbst reproduziert, hat die heutige Duma reproduziert. […] Die Gesellschaft, die in Russland existiert (die Mehrheit), akzeptiert das Parteiensystem (und auch das politische System insgesamt), das wir haben. Genau wie auch die Gesellschaften in den anderen Ländern des Westens und Ostens mit ihrem politischen und ihrem Parteiensystem faktisch einverstanden sind. Die Systeme unterscheiden sich, die Gesellschaften unterscheiden sich, die Vorstellungen von Wettbewerb unterscheiden sich, das Zusammenspiel zwischen Verwaltungssystem, politischem System und Gesellschaft ist ein jeweils anderes, aber in jedem existierenden stabilen Staat gibt es ganz offensichtlich eine ENTSPRECHUNG zwischen der Gesellschaft und dem System. Und die heißt Gesellschaftsvertrag – entweder ist er schriftlich niedergelegt in Gesetzen oder er existiert als stillschweigende Übereinkunft.~~~Можно сказать, что Дума перепрыгнула через веревочку выборов, и ножкой не зацепив, Система воспроизвела себя, воспроизвела сегодняшнюю Думу. […] Общество, существующее в России (большинство), принимает ту партийную Систему (как и в целом политическую Систему), которая есть. Так же как общества в других странах Запада и Востока по факту устраивает их партийно-политическая Система. Системы – разные, общества – разные, представления о конкуренции – разные, соотношение "Административная Система – Политическая Система – Общество" – в каждом случае разное, но в каждом стабильно существующем государстве, есть, видимо, СООТВЕТСТВИЕ между Обществом и Системой. Вот такой Общественный Договор – или записанный в законах, или "по умолчанию".[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

     

     

     


    Diese Presseschau wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Sergej Petrow ist Russlands größter Autoimporteur und war zuletzt neun Jahre lang Abgeordneter der Staatsduma. Nun will er nicht noch einmal zur Wahl antreten. Als Politiker wollte er etwas verändern, politischen Wettbewerb anregen – hat jedoch das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Mittlerweile sieht er das Parlament als Institution im Niedergang begriffen.

    Noch sitzt der Milliardär für die Partei Gerechtes Russland in der Duma, die jetzt am Sonntag neu gewählt wird. Aus Teilen dieser Fraktion gab es in der Vergangenheit zeitweise aufmüpfige Töne – auch wenn das selten größere Wirkung hatte. Petrow selbst stimmte gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz und das Jarowaja-Paket, bei der Angliederung der Krim enthielt er sich als einer von ganz wenigen Abgeordneten der Stimme. Petrow ist der Meinung, dass die Bürger gute Politik viel stärker einfordern müssten. Erst eine starke Krise, eine Erschütterung, wenn nicht gar ein Zusammenbruch des Systems könne einer liberalen oppositionellen Kraft dabei wirksame Unterstützung bringen.

    Im Interview mit dem liberalen Wirtschaftsblatt Vedomosti gibt der Geschäftsmann eine vielbeachtete Innenansicht aus dem russischen Parlament.

    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant
    Sergej Petrow saß neun Jahre lang in der Duma – nun wird er nicht mehr antreten /Foto © Sergej Kisselew/Kommersant

    Vedomosti: Sie haben früher oft in Interviews gesagt, dass Sie auf die große Krise im Land warten und nicht an die Möglichkeit einer schrittweisen Entwicklung glauben. Wann wird das Ihrer Meinung nach passieren?

    Sergej Petrow: Manchmal weiß man zwar, was passieren wird, kann aber nicht voraussagen, wann.

    Genau das ist jetzt der Fall. Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der höchstwahrscheinlich keinen evolutionären Ausweg mehr bietet, der Point of no Return liegt hinter uns, und das System wird voraussichtlich mit einem Riesenkrach in sich zusammenstürzen, wie alle festgefahrenen Strukturen.  

    Sie glauben also nach wie vor, dass sich in Russland eine Ineffizienz anhäuft, die letztlich zum Zusammenbruch führt?

    Missverhältnisse werden stärker, der Niedergang der Institutionen schreitet voran. Unter normal funktionierenden Institutionen verstehe ich zum Beispiel eine Polizei, die vor allem dem Gesetz folgt, und nicht den Anweisungen des Innenministers. Bei uns verstehen viele Leute unter Begriffen wie Konkurrenz und Institutionen das, womit sie aufgewachsen sind, also etwas ziemlich Exotisches.

    Glauben Sie, dass Reformen unmöglich sind?

    Wenn Sie historische Parallelen finden, wo ein System reformiert werden konnte, das ein solches Niveau des Niedergangs erreicht hat, ändere ich gern meine Meinung. Ich bin zwar kein Historiker, aber ich glaube nicht, dass es solche Beispiele gibt. Obwohl uns klar ist, dass es uns ohne Reformen langfristig schlechter geht, nehmen wir lieber die Katastrophe morgen in Kauf als den sanften Ausstieg heute. Hätten wir in der UdSSR in den 1970er Jahren mit Reformen begonnen, wäre sie 1991 vielleicht nicht zusammengebrochen.

    Duma-Diagnose

    Können Sie eine Diagnose zur Situation im Parlament stellen? Warum ist ein Gesetz wie das Jarowaja-Paket möglich, wo doch für jeden denkenden Menschen offensichtlich ist, welchen Schaden es anrichtet?

    Jede Struktur verkommt allmählich, wenn sie keine wirkliche Verantwortung trägt –  wenn der Glaube vorherrscht, die endgültige Verabschiedung eines Gesetzes hänge nicht von einem selbst ab, wenn man als Abgeordneter nicht den eigenen Namen unter das Jarowaja-Paket setzen muss und es auch nachher nicht gleich wieder selbst revidieren muss.

    Wenn die Dinge so stehen, schämt sich niemand für seine Unprofessionalität. Und schreibt dann solche Gesetzesentwürfe: „Ich möchte, dass alle in Frieden leben und gut zueinander sind.“ Wie das zu geschehen hat, ist Sache der Regierung. Im Gesetzestext folgen nur Verweise auf Rechtsnormen.

    Ein solches Niveau der Gesetzgebung wäre in einem normalen Parlament unmöglich – unserem erlaubt es, gut 500 Gesetze pro Jahr zu beschließen, ohne für ihre Qualität Verantwortung zu übernehmen. Klar ist es leichter, auf technische, aber für Wirtschaft und Bevölkerung notwendige Gesetze zu verzichten und lieber solche zu verabschieden, hinter denen die Fraktionen stehen.

    Die Kollegen in den Ausschüssen sehen sich dann an, wie gut das Gesetz durchgeht und wer es eingebracht hat. Der Präsident? Dann bloß nicht diskutieren. Die Regierung? Da kann man schon mal was sagen. Hör mal, heißt es dann, das ist doch dein Vorschlag, du profitierst sicher davon, komm, gib uns auch was ab. Bei uns gibt es kein Anti-Lobbyismus-Gesetz. Die Kollegen können nicht glauben, dass ein Gesetz zum Wohl eines ganzen Wirtschaftszweigs beschlossen werden soll, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo das nie jemand so gemacht hat. Du sagst ihnen: Die Amerikaner haben uns in den 1940er Jahren mit dem Lend-Lease-Act geholfen, und dann auch in den 1990ern, und sie sagen darauf: Was war das denn bitte für eine Hilfe, ihre alten Vorräte haben sie uns angedreht. Eine solche Wahrnehmung ist natürlich ein Riesenproblem in der Kommunikation.

    Wenn die Abgeordneten in schönster Eintracht dem Jarowaja-Gesetz zustimmen oder dem Gesetz zur Adoption russischer Waisenkinder durch Ausländer? Folgen sie damit ihren eigenen Interessen, oder wird Druck auf sie ausgeübt, gibt es da Abhängigkeiten?

    Die Debatten im Parlament sind eine Methode, Konflikte in einer reifen Gesellschaft zu lösen, und wir haben uns dafür als zu schwach erwiesen. Bevor man in Rechte und Linke einteilt, muss man zuerst einmal eine ausreichende Menge an Menschen mit einer eigenen Meinung haben.

    Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll

    Sogar unter den Anhängern von Jedinaja Rossija haben einige gegen das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt, ohne auf den Fraktionszwang zu achten. Tatsache ist, dass solche Alleingänge zu keiner besonderen Entrüstung im Kreml führen, sie ärgern vielmehr die Kollegen [die Mehrheit, die dafür stimmt]: „Wollen die uns als Halunken hinstellen?“

    Als erstes müssen unsere Abgeordneten lernen, unabhängig zu sein. Das wird nur funktionieren, wenn die politischen Kräfte ausgewogen sind und die Unabhängigen sich auf jemanden stützen können. Bisher ist jeder einzeln unterwegs und denkt, jede Minderheit mit anderer Meinung sei die Opposition. 

    Sie waren einer von sieben, die gegen das Adoptionsverbot durch Ausländer gestimmt haben. Wie haben Ihre Kollegen reagiert?

    Die Kollegen haben geflüstert: „Was machst du denn da? Die werden dich und uns auffressen.“ Das ist diese Geschichte mit der doppelten Moral: Als Kind bringt dir deine Mutter bei, die Wahrheit zu sagen, aber spätestens in der zweiten Klasse weißt du, dass du in der Schule etwas anderes sagen musst als zu Hause in der Küche.

    Wovor haben die Abgeordneten Angst – ihren Sitz zu verlieren, ihre Privilegien?

    In den neun Jahren, die ich im Parlament verbracht habe, habe ich gesehen, wie sich binnen kürzester Zeit sogar Leute, die ihre Meinung äußern konnten, daran gewöhnten, dass es einfacher ist, das zu tun, worum man gebeten wird. Ihr genetisches Gedächtnis sagte ihnen, dass man sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn jemand Entscheidungen trifft und, wie Gaidar schreibt1, zu uneingeschränkter Gewalt bereit ist. Das ist eben jenes historische Gedächtnis: dass ganze Dörfer niedergebrannt wurden, weil ihr euch aufgelehnt habt – und niemand konnte euch schützen. Politische Gegengewichte wurden in Russland nicht geduldet, dafür gibt es Tausende Beispiele.

    Meinen Sie, dass bei den Abgeordneten sogar im Falle absolut ehrlicher Parlamentswahlen mit der Zeit ein moralischer Niedergang einsetzt – aufgrund der durch die Vorgeschichte bedingten Mentalität?

    Die Mentalität kann sich ändern. In Russland ist eine soziale Schicht entstanden – Umfragen zufolge ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung – die ein westliches, differenzierteres Verständnis des Parlamentarismus fordert, eines, in dem Minderheiten geschützt werden. Derzeit gilt ja bei uns das einfachste Muster: Wir sind die Mehrheit, wir entscheiden. Ihr seid gegen die Mehrheit? Dann seid ihr gegen die Heimat!  

    Die Abgeordneten sehen für sich keinerlei Vorteil darin, unabhängig zu sein. Nicht mit Unabhängigkeit machen sie sich bei den Wählern beliebt, sondern damit, dass sie zum Beispiel für ihren Wahlkreis ein Stück mehr Territorium ergattern, aus einem anderen Wahlkreis – das ist eine Leistung. Der Sinn des Satzes „Widerspruch ist die höchste Form des Patriotismus“ ist für die Gesellschaft vorläufig nicht greifbar.

    ABSCHIED VOM PARLAMENT

    Wann haben Sie beschlossen, die Duma zu verlassen?

    Bereits im Herbst 2015. Für einen Unternehmer bringt der Abgeordnetenstatus sehr viele Einschränkungen mit sich: Man darf keine Konten im Ausland haben, keinen ausländischen Pass, man darf nicht Mitglied eines Verwaltungsrats sein. Man darf dies nicht, man darf jenes nicht. Das ist alles sehr belastend für eine Geschäftsleitung, für ein Unternehmen. Gleichzeitig konnte ich das, was ich in der Duma wollte, nicht erreichen: den politischen Wettbewerb anzuregen, wenigstens die Unabhängigkeit der Gerichte zu garantieren, für den Aufbau von Institutionen zu sorgen. Es gibt sehr viel Gegenwind.

    Gibt es denn etwas, das Sie erreicht haben?

    Ich sehe es so, dass sich die Situation kontinuierlich verschlechtert hat und ein einzelner Abgeordneter nicht viel ausrichten konnte. Das Einzige, was ich tun konnte, war: den anderen ein Beispiel für Unabhängigkeit sein. Aber die sagten: „Er hat irgendwelche Beziehungen zur Präsidialadministration, deswegen kann er sich das erlauben.“ Die Mehrheit nimmt die Botschaft, die sie aussenden, also sowieso nicht wahr, aber vielleicht folgt ja in der Zukunft jemand ihrem Beispiel.

    Aber das muss man alles vor dem Hintergrund der Ausgangssituation betrachten. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit in der Duma ist alles viel schlechter geworden, wir haben nichts erreicht. Aber seit 1991 haben wir viel erreicht: Wir leben nicht mehr im Sozialismus und höchstwahrscheinlich führt kein Weg mehr zurück in die Planwirtschaft. Mittlerweile sind 14 Prozent der Bevölkerung oppositionell eingestellt – das sind nicht mehr die paar hundert Dissidenten, die wir in den 1970er Jahren hatten, die Hälfte davon in der Klappse und die andere Hälfte im Gefängnis. Dieser Zuwachs ist ein großartiges Ergebnis. Also von wo aus wollen wir die Situation betrachten?

    Sie hatten doch einen Plan, mit dem Sie in der Duma begonnen haben. Konnten Sie den umsetzen?

    Ich wollte, dass eine Fraktion entsteht, egal welche, die eine Konkurrenz zur Mehrheit bildet. Politische Konkurrenz ist das Wichtigste, denn dann muss im Parlament verhandelt werden. Meinetwegen auch mit den Kommunisten. Es ist schwer, ein Gleichgewicht zu erreichen, solange die Gesellschaft nicht sukzessive in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Wir haben nach 1991 zu viel erreicht, sind über das eigentliche Niveau unserer politischen Bildung hinausgeschossen. Und nun rutschen wir Stück für Stück wieder ab und auf die nächste Krise zu. Die, wie ich hoffe, der Opposition als konkurrierender politischer Kraft eine Unterstützung von 30 bis 35 Prozent verschaffen wird.

    WAS DIE WÄHLER TUN KÖNNEN

    Michail Prochorow bekam bei den Präsidentschaftswahlen sieben Prozent. In absoluten Zahlen sind das sehr viele Menschen. Warum hat ihm das nicht geholfen? Ihn nicht geschützt?

    Sieben Prozent sind viel zu wenig für ein Kräftegleichgewicht. Selbst 49 Prozent würden nicht reichen, wenn die Opposition nicht weiß, wie sie die Energie der Proteste in Taten überführen soll, die eine Veränderung der politischen Landschaft bewirken. Es gibt in Russland keine Spaltung zwischen Konservativen und Labourpartei, oder Menschen, die höhere Steuern oder Sozialleistungen wollen. Bei uns ist alles in den Händen von denen, die noch den byzantinischen Stil verkörpern und überhaupt nicht verstehen, wozu eine Opposition gut sein soll. Sie hindert doch nur daran, die Amerikaner bei irgendetwas zu übertrumpfen oder jemandem ein Stück Land zu entreißen. Stellt unnötige Fragen. Die Idee des Fair Play ist uns Russen völlig fremd.

    Hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner

    Es ist sehr schlecht, dass man uns in den letzten zehn Jahren des politischen Lernzyklus beraubt hat, bei dem die Wähler zwar Fehler machen, einen Populisten oder Kommunisten wählen, dabei aber trotzdem vor allem eine ehrliche Stimmauszählung fordern. Bei dem sich die Opposition zusammentut und sagt: Bevor wir darüber reden, wer hier was möchte, nehmt erstmal die Filter aus dem System, die unfairen medialen Möglichkeiten und überhaupt die Möglichkeit, einfach so irgendetwas „abzuschaffen“. Wie [Alexander] Korshakow seinerzeit vorschlug: Lasst uns die Wahlen abschaffen! Woraufhin es hieß: Aber das Verfassungsgericht wird das anfechten. Und er wiederum sagte: Dann schaffen wir das Verfassungsgericht ab …

    Was sollen die von Ihnen genannten 14 Prozent Protestwähler tun, um ihre Position kundzutun?

    Ich würde ihnen natürlich raten, wählen zu gehen, wenn sie eine Entwicklung wollen. Wir alle sind berufstätige Menschen und wollen kein Chaos auf den Straßen, davon hat keiner etwas.

    Ich würde zu allen genehmigten Demonstrationen gehen, denn das war das Einzige, worauf die Regierung reagiert hat. Ich würde ihnen raten, selbst als Beobachter zu den Wahlen zu gehen, anstatt zu Hause zu sitzen und davon auszugehen, dass ein anderer alles für sie überprüft. Sie sollten sich vor Augen halten, dass jeder bis zum nächsten Wahlgang ein Dutzend Freunde und Bekannte rekrutieren kann.

    Glauben Sie denn, dass die Wirtschaftskrise den Liberalen mehr Anhänger bringen wird?
    Menschen, die plötzlich ohne Arbeit oder mit einem verringerten Lohn dastehen, stellen mehr Fragen. Solange alles gut ist, sind alle der Meinung, dass wir den Präsidenten und das Establishment grundlos [mit unserer Kritik – Anm. d. Red. Vedomosti] belästigen. Unter den Wählern gibt es natürlich auch die 30 Prozent, die nichts dagegen hätten, gleich morgen Kiew einzunehmen. Aber 45 Prozent sind ein Sumpf, der brodeln würde, sobald die Probleme größer werden. Dann würden sie höchstwahrscheinlich hinhören, was die Liberalen zu sagen haben. Wenn wir bis dahin allerdings keine Partei oder faire Auszählungen haben und als Konkurrenz Kriminelle und Nationalisten losgelassen werden, sind die gesellschaftlichen Spannungen nicht zu lösen. 

    Die Duma spielt ganz offensichtlich keine eigenständige politische Rolle, sondern setzt die Entscheidungen von Administration und Regierung technisch um. Gleichzeitig sehen wir, wie hinter den Kulissen Menschen aus Putins Umfeld zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie kommt das?

    Weil davon so wenig an die Öffentlichkeit dringt, tendieren wir dazu, deren Rolle manchmal überzubewerten … Aber hypothetisch sind erst einmal alle Menschen, die an der Macht sind, aus Putins Umfeld. Der Radius ist mal größer mal kleiner.

    Zudem wirkt sich die außenpolitische Situation auf die Lage im Inneren aus, genauso wie tausend andere Dinge. Glauben Sie mir, den Einfluss einer einzigen Gruppe gibt es nicht. Es findet vielmehr eine Art Maklergeschäft statt, bei dem die führenden Kräfte schauen und entscheiden – dem Stärksten muss man helfen und Entscheidungen zugunsten einer einflussreichen Gruppe treffen. Manchmal  bringen irgendwelche Gruppen auch Initiativen ein, ohne das Zentrum in Kenntnis gesetzt zu haben – einfach, um die Reaktionen zu sehen: Der eine bekommt eins auf den Deckel, der andere steht plötzlich in der Gunst. Und sie bekommen die Mehrheit, weil die Gesellschaft keine anderen Forderungen stellt. Das Szenario, dass in einer dieser Gruppen unser Lee Kuan Yew heranwächst, ist sogar in der Fantasy-Welt zu gewagt.

    PROGNOSE

    Was denken Sie über die Losung „Faire Wahlen“ und Ella Pamfilowa in der Zentralen Wahlkommission? Ist das alles nur zum Schein oder steckt dahinter tatsächlich der Wunsch, fair zu spielen?

    Das ist Stühlerücken auf der Titanic. Aber immerhin besser als Wahlbetrug.

    Glauben Sie, dass die Präsidialadministration bereit ist, ein saubereres Verfahren zuzulassen?

    Es sind ja nicht die Leute aus der Präsidialadministration, die die Wahlen fälschen. Das macht irgendeine Person vor Ort. Die regionalen Regierungen kennen sich damit aus.

    Was haben sie dann zu befürchten? Sogar wenn man saubere Wahlen zuließe, bestünde doch keine Gefahr für sie, weil das politische Feld geschützt ist.

    Im Augenblick schon. Aber wenn man saubere Wahlen zulässt, dann kann schnell eine Gefahr entstehen. Diese Leute lösen immerzu taktische Aufgaben und sind lausige Strategen. Sie arbeiten daran, das Land möglichst lange in einem durch sie lenkbaren Zustand zu halten, weil sie davon ausgehen, dass niemand besser regiert als sie. Ich kann sie verstehen, sie folgen ihrer eigenen Logik, aber mir passt diese Logik nicht. Deswegen muss man einfach schauen, wie viele Anhänger sie haben, wie viele wir, und das Verhältnis langsam zu unseren Gunsten verändern. Unsere 14 Prozent sind in der Regel selbstgenügsame Leute, die Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Ihr Einfluss wird sich jetzt vergrößern, weil die Wirtschaft langsam zum Erliegen kommt.

    Das heißt also, Sie halten die Selbstorganisation für eine Aufgabe der Wählerschaft und nicht der Politiker?

    Diese Aufgabe wird niemals von Politikern übernommen. Mir sagt folgende Aussage am ehesten zu: Je weniger Bedeutung wir der Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Geschichte beimessen, desto näher kommen wir der Wahrheit. Politiker orientieren sich an den Forderungen der Wähler.

    Wer wird also in die Duma kommen? Menschen, die in noch größeren Abhängigkeiten stehen? Kann es noch schlimmer werden?

    Das kann es immer. Solange eine Gesellschaft ihre Minderheit und deren Standpunkt nicht schützt, wird sich das Parlament mit großer Wahrscheinlichkeit verschlechtern. Es braucht eine starke ökonomische oder irgendeine andere Erschütterung. Etwas muss passieren, damit die Menschen beginnen sich zu fragen: Wir verlassen uns doch immer auf die Regierung, warum ziehen wir dann immer den Kürzeren?


    1.Jegor Gaidar in Der Untergang eines Imperiums, 2006: „Die Überzeugung der Staatsmacht und der Gesellschaft davon, dass der Staat fähig ist, in uneingeschränktem Ausmaß Gewalt anzuwenden, um die Äußerung von Unzufriedenheit zu unterbinden, war absolut.“ – Anm. Vedomosti


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Am 18. September wählen die russischen Staatsbürger ihr Parlament – die Staatsduma. Obwohl die Volkskammer nur eine geringe Rolle in der politischen Landschaft Russlands spielt, ist diese Wahl von enormer Bedeutung. Sie wird ein Stimmungsbarometer abgeben und somit mittelbare Folgen für die wohl meistbeachtete Statistik Russlands haben: die Zustimmungswerte des Präsidenten.

    Was sagen uns diese Zahlen? Ist Putin wirklich dermaßen beliebt? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit den politischen Ereignissen? Diskutieren Sie mit uns auf facebook!

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Wie beliebt ist Putin? Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungswerten seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada, das kurz vor der Dumawahl 2016 zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, ermittelt sie in regelmäßigen Abständen.

    Wir versahen diese Grafik mit wichtigen Ereignissen, die das Auf und Ab der Werte erklären können. Sie können in bestimmte Zeiträume hineinzoomen, um ein genaueres Bild zu bekommen. Beachten Sie dabei aber den Leitspruch, der in jedem Statistik-Lehrbuch zu finden ist: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast.“

    Denn zum einen: Was heißt „Zustimmung“? Drückt dieses Wort tatsächlich Beliebtheit aus oder einfach nur den Umstand, dass die Befragten nichts Schlechtes über Putin sagen können? Solche Begriffe sind dehnbar und verzerren somit das Ergebnis. Hinzu kommt die Tendenz, bei Umfragen eine Meinung kundzutun, die eher auf soziale Zustimmung träfe als die wirkliche Meinung. Soziale Erwünschtheit nennt man dieses Phänomen. Es dürfte zwar in allen Ländern eine wichtige Rolle spielen, in autokratischen Systemen aber umso mehr, wo die Bürger einem gewissen Anpassungsdruck ausgeliefert sind.

    Lassen wir aber mal die eigentlichen Zustimmungswerte außer Acht und betrachten nur die Kurve. Da zeigt sich, dass es die höchsten Zuwachsraten nach Konflikten gibt: wie der Antiterror-Operation im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002, der Verhaftung Chodorkowskis im Oktober 2003, dem Georgienkrieg im August 2008 und der Krim-Angliederung im März 2014. In die umgekehrte Richtung, nämlich nach unten, ging es nach solchen Ereignissen wie dem Untergang der Kursk im August 2000, der Orangen Revolution Ende 2004, den Sozialprotesten 2005 und den Bolotnaja-Protesten 2011/12. 

    Alles nur Zufall? Manche Soziologen sehen durchaus Zusammenhänge. Einen möglichen eröffnet Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums: In Zeiten von Konflikten laufe die Propaganda-Maschinerie auf vollen Touren. Sie wende sich an sowjetische und imperiale Vorstellungen, aktiviere Feindbilder und suggeriere Gefahr. Dies mobilisiere die Gesellschaft und solidarisiere sie hinter dem Präsidenten, so Gudkow.

    Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.


    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 12.09.2016

     


    Die Erstellung dieser Infografik wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Sofa oder Wahlurne?

    Sofa oder Wahlurne?

    Wählen oder Nicht-Wählen, das ist die Frage, die sich angesichts der bevorstehenden Dumawahl den oppositionell eingestellten Bürgern stellt: Hauptargument gegen den Gang an die Wahlurne ist, dass Wahlen in einem autokratischen System nichts weiter seien als eine Farce, eine Imitation von Demokratie, und das Ergebnis sowieso schon feststehe. Wer wählen geht, erkläre sich damit einverstanden – und solle deswegen besser zuhause auf dem Sofa bleiben.

    Die Opponenten dieser sogenannten „Sofapartei“ jedoch appellieren, dass jedes Nicht-Handeln apolitisch sei und es durchaus gute Gründe für den Wahlgang gebe. Schließlich gehe es auch darum, die „demokratischen Muskeln zu trainieren“ und Weichen für die nächsten Wahlen zu stellen.

    Sofa oder Wahlurne? Slon.ru bat sieben renommierte Politik-Experten um ihren Ratschlag.

    Wählt, auf wen die Flasche zeigt

    In einem britischen Kinderbuch mit dem Titel Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum pflegt die Hauptperson und der Antiheld, also jener Mr. Gum, einen sehr unhygienischen Lebenswandel. Daraufhin siedeln sich in seinem Haus Insekten an, aber keine gewöhnlichen, sondern, wie der Autor schreibt, riesenhafte: mit Gesichtern, Namen und Dienstposten. So ein Gefühl bekomme ich bei dem Angebot an Parteien und Kandidaten. Wählt bitte, wen ihr lustiger findet, oder auf wen die Flasche zeigt, es spielt keine Rolle.

    Foto © cogita.ru
    Foto © cogita.ru
    Grigori Golossow (geb. 1963) ist Politikwissenschaftler. Der Experte für Parteiensysteme forschte an renommierten internationalen Universitäten. Seit 2011 lehrt er an der Europäischen Universität Sankt Petersburg am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft.

     

     

     

     

     


    Die wären nur froh, wenn ihr nicht hingeht

    Unter einer Vielzahl an Äußerungen zu den bevorstehenden Wahlen findet sich oft folgende: „Sie wollen, dass wir wählen gehen, also gehen wir nicht – und wer hingeht, der kooperiert mit ihnen und ist also ein Kollaborateur.“ Darauf basieren alle Ideen von Boykott und Delegitimierung des Regimes.

    Doch  im ersten Teil des Satzes ist ein Fehler: Sie wollen ja eigentlich überhaupt keine Wahlen. Und haben alle Wahlen abgeschafft, die man abschaffen kann, und den Rest reglementiert. Die Wahlen generell abschaffen können sie aber nicht, das wäre ein zu radikaler Schritt  – vorerst jedenfalls.    

    Insofern sind Wahlen für sie ein unangenehmes Prozedere, zu dem sie leider verpflichtet sind, obwohl sie, hätten sie die Freiheit, sie am liebsten abschaffen würden. In dieser Lage – man muss Wahlen durchführen, die man fürchtet – wäre es am besten, wenn die Leute gar nicht hingingen. Deswegen muss der Satz, mit dem ich diesen Text begonnen habe, anders lauten: „Sie haben Angst vor den Wahlen, können sie aber nicht abschaffen. Deswegen wären sie nur froh, wenn ihr nicht hingeht.“

    Foto © polit.ru
    Foto © polit.ru

    Ivan Kurilla (geb. 1967) ist Historiker und Amerikanist. Der Experte für Geschichtspolitik lehrt seit 2015 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und leitet das Partnerprogramm der Universität.

     

     

     

     

     


    An der Türe rütteln!

    Bei diesen Wahlen spricht man nicht mehr von „Wählergruppen“ – die gibt es im herkömmlichen Sinne nicht – weder regierungstreue, noch liberale, noch linke. Die Wählergruppen der Zukunft schlummern innerhalb der Gruppe X – das sind die, die unschlüssig sind oder nicht einmal die Leute aus dem eigenen Lager wählen wollen. Je nach Quelle sind das 15 bis 30 Prozent.

    Die Abgeordneten der 7. Staatsduma werden in den kommenden zwei bis drei Jahren im Zentrum der Umbrüche stehen. Und dann werden wir alle wollen, dass es eine gute Duma ist. Umso wichtiger, dass auf dem Ochotny Rjad noch andere sein werden als die vier Kopfnicker-Parteien.

    Wen werden oppositionell gestimmte Bürger wählen? PARNAS, die Partei des Wachstums, Rodina oder Jabloko – egal. Aus der neuen Palette wird sich jeder was aussuchen. Wir wählen am 18. September nur für den Sand im Getriebe des Druckers. Sollten ein oder zwei neue Fraktionen in die Duma einziehen, knirscht es im Drucker, und dann kriegen sie ihn vielleicht nicht wieder in Gang.     

    Zur Wahl gehen in dem Wissen, dass man auf euch – genau auf euch – dort nicht wartet! Da haben wir ihn, den Einzelprotest, den man sich gefahrlos erlauben kann. Doch dieser seltene Einzelprotest birgt die Chance, ein schnelles Ergebnis zu bringen. Ohne den Versuch, die Wahlen zu politisieren, werden wir nie erfahren, wie weit die Gesellschaft politisiert ist. Einen Versuch ist es wert. Denn man kriegt die Tür nicht auf, wenn man nicht zumindest einmal dran gerüttelt hat.

    Foto © CC BY-SA 3.0
    Foto © CC BY-SA 3.0

    Gleb Pawlowski (geb. 1951) war Mitbegründer und Direktor der Stiftung für effektive Politik – eines Thinktanks, der sich 2011 auflöste. Für viele Beobachter galt Pawlowski als „Chef-Polittechnologe“ des Kreml, im Zuge der Schließung der Stiftung wandte sich Pawlowski weitgehend von Putin ab und gilt seitdem als ein Kritiker seines Regimes.

     

     

     

     


    Für die stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen

    Fehlt eine maßgebliche, geeinte Opposition, dann ist ein Umschwung bei den Wahlen unmöglich. Selbst wenn die Regierungspartei deutlich an Popularität einbüßt, gibt es einfach keinen Ersatz – ein Alternativvorschlag steht nicht auf dem Stimmzettel.

    Man kann aber ein Parlament anstreben, das weniger monopolisiert ist und untereinander konkurriert – also eines, in dem die Mitglieder ständig miteinander verhandeln müssen, genau wie die Exekutive es mit ihnen allen tun muss. Niemand hat dann ein Mehrheitspaket an Stimmen (und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne mit den anderen zu kooperieren).

    Ein solches Szenario ist zwar auch bei einer inneren Spaltung der Regierungspartei denkbar. Effektiver aber wäre es , wenn mehrere unterschiedliche Fraktionen und Gruppen in die Duma einzögen, egal welche ideologische Ausrichtung sie haben. Deswegen sollten Protestwähler ihre Stimme vielleicht einfach irgendeiner Partei geben, die nicht im Parlament sitzt. Denn die im Parlament brauchen ihre Stimme ja nicht.  

    Dann beginnt ein recht spitzfindiges Spiel: Wenn die von den oppositionellen Wählern gewählten Parteien es nicht ins Parlament schaffen, dann kommen ihre Stimmen dem Sieger zu Gute – also einer Partei, die durchgekommen ist. Daher hoffen womöglich viele, jene zu unterstützen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen.

    Foto © Niece/livejournal.com
    Foto © Niece/livejournal.com
    Ekaterina Schulmann (geb. 1978) ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti, Grani.ru und Colta und gilt als Expertin für das Herrschaftssystem Russlands.

     

     

     

     

     


    Schaut genau hin!

    Das Problem der aktuellen Wahlen für den oppositionellen Wähler ist: So gut wie jedes Votum konserviert das bestehende System. Möglichkeiten des Protestwählens fehlen praktisch völlig. Es gibt keine Option „gegen alle“ zu sein, die Abstimmung mit den Füßen mehrt die Stimmen für die regierende Partei. Die Unterstützung der systemischen Opposition, die sich dem Kreml immer weiter annähert, führt zu keiner Veränderung der Kräfteverhältnisse.

    Für den oppositionellen Wähler bleibt nur eine für ihn relativ wirksame Taktik: Beobachtung statt Teilnahme. Das Sammeln von Informationen über Verstöße, die Verbreitung dieser Daten über zugängliche, legale Wege, die Analyse, wie das System mit all seinen Nuancen funktioniert und genaue Kenntnis über das Wahlrecht – das alles ist eine Art Ressource, die sich positiv auf das oppositionelle Umfeld und seinen Reifungsprozess auswirkt.  

    Geht ins Wahllokal, seht euch an, wie alles funktioniert, schaut, welche Wahlbeobachter anwesend sind, notiert die persönlichen Angaben jener, die die Exit-Polls durchführen und vergleicht danach deren Daten mit den offiziellen Ergebnissen aus eurem Wahlbezirk. Den Stimmzettel kann man nach eigenem Gutdünken verwenden.

    Foto © obsfr.ru
    Foto © obsfr.ru

    Tatjana Stanowaja (geb. 1978) ist Leiterin der Analyse-Abteilung im Zentrum für Politische Technologien. Ihre Analysen werden oft von wissenschaftlichen und unabhängigen Massenmedien veröffentlicht

     

     

     

     

     

     


    Wählen als Widerstand

    Ich glaube, bei den bevorstehenden Wahlen wird den Leuten, die dem Land Wohlergehen und Fortschritt wünschen, im Großen und Ganzen dasselbe geboten wie vor vier Jahren. Das, was man uns anbietet, sind keine Wahlen, sondern ein sorgfältig inszenierter Betrug. Diesmal ist der Fake so einstudiert, dass er auch ohne Wahlbeteiligung auskommt. Er hat jetzt die Stufe der Selbstgenügsamkeit erreicht. Er ruft die Passivität der Bürger hervor, ja, er fördert sie sogar.

    Und deswegen wäre es meiner Ansicht nach für diejenigen, die sich diesem Betrug widersetzen wollen, am sinnvollsten, einfach wählen zu gehen. Aber nicht mit der Vorstellung, jemanden zu wählen oder für jemanden zu stimmen. Es gibt keine Wahlen. Es gibt eine rechtswidrige Aneignung von Wahlverfahren und es gibt Widerstand dagegen. Das Ausmaß des geleisteten Widerstands wird sich auf den weiteren Kurvenverlauf der Ereignisse auswirken.

    © V. Shaposhnikov/Kommersant
    © V. Shaposhnikov/Kommersant

    Kirill Rogow (geb. 1966) ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 Chefredakteur des Online-Mediums Polit.ru. Zwischen 2005 und 2007 war Rogow stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Kommersant. Er schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti und Novaya Gazeta.

     

     

     

     


    Es gibt weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren

    Bei diesen Wahlen gibt es für den oppositionellen Wähler keine gute Strategie – ihr werdet nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren, auch wenn ihr gar nicht hingeht.

    Diese Wahlen finden vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Niedergangs und einer tiefen Krise der liberalen Bewegung statt. Das Wahlergebnis – das Scheitern der alten liberalen Parteien – wird die Frage nach einer völlig neuen Etappe der Gesellschaft als ganzer aufwerfen. Der Kreml wird über die Einerwahlkreise eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der neuen Duma bilden.

    Als nächstes stellt sich die Frage der Präsidentenwahl 2018. Und hier wird dann das gebraucht, was vor der Dumawahl nicht zustande gekommen ist: eine neue demokratische Koalition, die eine Strategie des Widerstands anzubieten hat gegen das heraufziehende Regime lebenslänglicher Macht.  

    Foto © CC BY-SA3.0
    Foto © CC BY-SA3.0
    Alexander Morosow (geb. 1959) ist Journalist und war bis 2015 Chefredakteur des Russischen Journals – eines Onlinemediums, das seit 1997 existiert. Zwischen 2008 und 2013 schrieb Morosow regelmäßig für die unabhängigen Medien Slon, Colta, Vedomosti und Grani.ru.

     

     

     


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

  • Das Labyrinth der Pandora

    Das Labyrinth der Pandora

    Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?

    Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.

    MAUS IM LABYRINTH

    Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.

    Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!

    Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:

    Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.

    Herrschaft der Technokraten

    Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.

    Politik der „Projekte“

    Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.

    Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.

    2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte  in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.

    Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind

    Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.  

    Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.

    Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.

    Gefangene einer monströsen Illusion

    Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.

    Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.

    Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.

    Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen

    Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.

    All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.

    Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.

    Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.

    Revolution ohne Banner

    Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.

    Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.

    Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.

    Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen

    Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.

    Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.

    Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.

    Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
    Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.

    Büchse der Pandora

    Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.



    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

    Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

    Die Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (russisch: Zentralnaja Isbiratelnaja Komissija Rossiskoi Federazii, kurz: ZIK) sollte eigentlich ein ziemlich unauffälliges Verwaltungsorgan sein, das sich mit der Organisation und Durchführung der Wahlen in Russland befasst. Nachdem Präsident Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Wladimir Tschurow für die Genauigkeit seiner Prognosen als „Zauberer“ bezeichnet hatte, wurde die ZIK im Jahr 2011 jedoch schlagartig berühmt. Für die Opposition repräsentierte sie im Zuge der damaligen Dumawahl ein System organisierter Wahlfälschung. Tschurow wurde zum Gesicht der ZIK und galt als jemand, der die vorab bestellten Ergebnisse „herbeizaubert“. Obgleich organisierte Wahlfälschungen der ZIK selbst nicht nachgewiesen wurden, kann die Kommission  insofern zur Verantwortung gezogen werden, weil sie kein ernsthaftes Ermittlungsverfahren zur Untersuchung von Wahlfälschungsvorwürfen einleitete.

    Im März 2016 jedoch zeichnete sich plötzlich eine Weichenstellung ab: Überraschend wechselte die bisherige Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa an die Spitze der ZIK. Sie führte im Vorfeld der Dumawahl 2016 einzelne Reformen durch, die mehr politische Konkurrenz ermöglichen könnten.

    Das organisatorische Prinzip der ZIK ist simpel: von den fünfzehn Mitgliedern werden jeweils fünf von den beiden Parlamentskammern und dem Präsidenten benannt, dann wählen diese unter sich einen Vorsitzenden für fünf Jahre. Laut Statut bereitet die ZIK Wahlen auf  Bundesebene vor, sie leitet und koordiniert die Arbeit der regionalen Wahlkommissionen, führt in Zusammenarbeit mit ihnen Wahlen durch und kontrolliert diese gemäß Verfassung auf Unregelmäßigkeiten1.

    Anders als oft suggeriert, hat die Kommission selbst keinen Einfluss auf die Wahlergebnisse, sie kann weder fälschen noch Fälschungen vorbeugen. Was sie aber tun kann, ist ein Verfahren gegen gemeldete Unregelmäßigkeiten einzuleiten, an dessen Ende auch die Annullierung der Wahlergebnisse stehen kann. Eigentlich.

    Politisierte Bürokratie

    Die Wahlkommission wurde in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert: Die oppositionellen Kräfte verwiesen auf die Politisierung des Verwaltungsorgans, das Wahlprozesse gestalte und sie auf angestrebte Ergebnisse zuschneide. Sogar die Kommunistische Partei der Russischen Föderation nannte sie bereits 2004 „Ministerium für Wahlen“.2 Die Kritik kulminierte dann aber vor dem Hintergrund der Dumawahl 2011 und der Präsidentschaftswahl 2012. Sie konzentrierte sich vor allem auf das Gesicht der ZIK: ihren Vorsitzenden Wladimir Tschurow. Tschurow, der als ein Vertrauter von Wladimir Putin gilt und die Wahlkommission zwischen 2007 und 2016 leitete, wurde zum Inbegriff der Wahlfälschung.

    Der Zauberer von ZIK

    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Präsident Dimitri Medwedew den ZIK-Vorsitzenden Tschurow für seine Prognose zur Dumawahl 2011, nachdem dieser bemerkt hatte, dass sie näher am Endergebnis lag, als die Prognosen von zehn Meinungsforschungsinstituten.3 Aus dem Zusammenhang gerissen wurde das Lob zum Spott, denn geblieben ist nur der „Zauberer“, der die gewünschten Wahlergebnisse „herbeizaubert“.

    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew 2011 den damaligen Leiter der Wahlkommission Wladimir Tschurow / Bild über rosbalt.ru
    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew 2011 den damaligen Leiter der Wahlkommission Wladimir Tschurow / Bild über rosbalt.ru

    So wurde Tschurow zu einer Zielscheibe der anschließenden Proteste, bei denen eine Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe gefordert wurde. Tschurows politische Nähe zu Wladimir Putin, die er einstmals mit „Putin hat immer Recht“ bekundet hatte4, befeuerte den Hohn. Genauso wie auch eine  Infografik des TV-Senders Rossija 24, die sich auf die Daten der ZIK berief, als sie die Wahlbeteiligung in der Rostow-Region auf 146 Prozent bezifferte. Tschurow meinte, wer auch immer die Infografik vorbereitet habe, sei  „aus Übersee“ gut entlohnt worden.5 Gemeint waren wohl die USA.

    Nur ein Sündenbock?

    Tschurow bot der Opposition also eine ideale Angriffsfläche, die sprachliche Neuprägung Tschurowschina wurde alsbald zum Synonym für Wahlfälschungen – und die ZIK selbst zum Inbegriff für die Erosion der politischen Konkurrenz.

    Organisierte Wahlfälschungen wurden der ZIK selbst nicht nachgewiesen, sie erfolgten indes vor allem auf der Ebene der Wahlbezirke und -kreise – und hier hauptsächlich in Form sogenannter Karusselle oder Kreuzfahrten. Allerdings ist die ZIK solchen Hinweisen nur halbherzig nachgegangen, eine ernsthafte Untersuchung der Vorwürfe fand nicht statt. Tschurow, der selbst offenbar keine Wahlen fälschte, konnte also nur deshalb als „oberster Wahlfälscher des Landes“6 bezeichnet werden, weil er vordergründig ein System repräsentierte, das politische Konkurrenz zu verhindern suchte.  

    Eine Wahlbeteiligung von sagenhaften 146 Prozent – Rossija 24 zeigt Zahlen der ZIK / Bild über You Tube
    Eine Wahlbeteiligung von sagenhaften 146 Prozent – Rossija 24 zeigt Zahlen der ZIK / Bild über You Tube

    Nur ein Feigenblatt?

    Eine Reformbestrebung konnte man die einzelnen zaghaften Versuche seit 2012, etwas mehr politische Konkurrenz zuzulassen, noch nicht nennen. Diese hat sich erst durch den überraschenden Abgang Tschurows abgezeichnet – fünfeinhalb Monate vor der Dumawahl 2016.

    Zur neuen Vorsitzenden wurde auf Vorschlag des Präsidenten Ella Pamfilowa gewählt. Die bisherige Menschenrechtsbeauftragte gilt als lautstarke Kritikerin der politischen Ordnung Russlands. In den ersten Monaten ihrer Tätigkeit hat Pamfilowa drei – mutmaßlich in Fälschungen verwickelte – Vorsitzende untergeordneter Wahlkommissionen zum Rücktritt bewegt.7 Sie brachte die Chuzpe auf, einflussreiche Gouverneure zu kritisieren und riet allen Oberhäuptern der Föderationssubjekte, auf den Einsatz der Administrativen Ressource zu verzichten.8 Pamfilowa arbeitet eng mit Golos zusammen – einer NGO, die Wahlbeobachtungen durchführt und als ausländischer Agent Diffamierungskampagnen seitens staatsnaher Medien ausgesetzt ist.9 

    Trotz aller Reformbestrebungen ist es im Vorfeld der Dumawahl 2016 noch allzu verfrüht, von echter politischer Konkurrenz zu sprechen. Als Zauberkiste des Kreml allerdings kann die ZIK schon nicht mehr herhalten.



    1. zikrf.ru: Organizacionnye osnovy dejatel’nosti Central’noj izbiratel’noj komissii Rossijskoj Federacii ↩︎
    2. rosbalt.ru: Zakon ‘O Referendume’ podtverždaet prevraščenie CIK v ministerstvo vyborov, sčitajut v KPRF ↩︎
    3. kremlin.ru: Vstreča s Predsedatelem Central’noj izbiratel’noj komissii Vladimirom Čurovym ↩︎
    4. Kommersant: „Razve Putin možet byt’ ne prav?“ ↩︎
    5. Ria Novosti: „Čurov: istorija s javkoj v 146% na vyborach byla provokatsiej iz-za okeana“ ↩︎
    6. Die Zeit: Porträt: Wahlleiter Wladimir Tschurow ↩︎
    7. rbc.ru: CIK predložil glave novgorodskogo regional’nogo izbirkoma ujti v otstavku ↩︎
    8. rbc.ru: CIK protiv gubernatora und Vedomosti: Centrizbirkom vernul „Jabloko“ na novgorodskie vybory ↩︎
    9. NTV: Kto i začem finansiruet „Golos“: rassledovanie NTV ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Präsidialadministration

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    Dimitri Peskow

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    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

  • PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    Die Republikanische Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit, kurz RPR-PARNAS, ist eine liberal-demokratische Partei aus dem oppositionellen Spektrum. Sie ist 2012 aus der Fusion zweier Oppositionsparteien entstanden, konnte bisher jedoch kaum politische Wirkung entfalten. Der Ko-Vorsitzende der Partei Boris Nemzow wurde im Februar 2015  in der Nähe des Kreml erschossen. PARNAS wird seitdem alleine von Michail Kassjanow geleitet.

    Nach dem Machtantritt Putins veränderte dieser die politische Parteienlandschaft grundlegend. Der Kreml führte sukzessive ein System ein, das als gelenkte Demokratie bezeichnet wird und in dem oppositionelle Parteien zunehmend marginalisiert wurden.1 Zwar gibt es weiterhin eine politische Opposition, wie zum Beispiel die Kommunistische Partei (KPRF – Kommunistitscheskaja Partija Rossiskoi Federazii) oder Gerechtes Russland (SR – Sprawedliwaja Rossija), diese wird im allgemeinen jedoch als systemische Opposition bezeichnet, da sie weitgehend unter Kontrolle der Exekutive steht und von dieser gelenkt wird – daher auch die Bezeichnung gelenkte Demokratie.2 Eine wirklich unabhängige parlamentarische Opposition gibt es hingegen nicht.  

    2010 unternahm die zersplitterte außerparlamentarische Opposition den Versuch, ihre Kräfte zu bündeln. Politiker wie Ilja Jaschin, Boris Nemzow, Michail Kassjanow und Wladimir Ryshkow schlossen sich zur Partei der Volksfreiheit – Für ein Russland ohne Willkür und Korruption, kurz PARNAS (Partija narodnoi Swobody – Sa Rossiju bes Proiswola i Korrupzii), zusammen. Dies sollte der Opposition größere Chancen bei den Parlamentswahlen 2011 und den Präsidentschaftswahlen 2012 ermöglichen. Aus formalen Gründen wurde die Partei jedoch nicht zugelassen. Die offizielle Begründung lautete, die zur Parteigründung benötigte Liste mit Unterschriften sei gefälscht gewesen, was laut PARNAS aber nicht der Fall war. Die Partei warf im Gegenzug den Behörden vor, die nichtsystemische, außerparlamentarisch organisierte Opposition vorsätzlich nicht zur Wahl zuzulassen, um der unabhängigen Opposition keine politischen Einflussmöglichkeiten zu gewähren.  

    Im Juni 2012 fusionierte PARNAS in einem neuen Anlauf mit der nach einem zwischenzeitlichen Verbot, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kassiert wurde, wieder zugelassenen Republikanischen Partei Russlands (RPR – Respublikanskaja Partija Rossii) zur RPR-PARNAS. Die Partei konnte seither bei einigen Regionalwahlen, wie zum Beispiel in Barnaul (ein Sitz) und der Oblast Saratow (zwei Sitze) erstmals in regionale Parlamente einziehen. Allerdings wird RPR-PARNAS,  die seit dem Mord an deren Ko-Vorsitzenden Boris Nemzow allein von Michail Kassjanow geleitet wird, regelmäßig durch die Anwendung der sogenannten Administrativen Ressource in ihrer politischen Tätigkeit behindert.

    So wurde dem Wahlbündnis aus Alexej Nawalnys Fortschrittspartei, der Partei Demokratische Wahl und RPR-PARNAS die Teilnahme an den Regionalwahlen im September 2015 in zwei der vier Regionen, in denen die Partei antreten wollte, verweigert. Sie trat schließlich nur in der Region Kostroma an, wo der Wahlkampf durch Administrative Ressource behindert wurde3 und RPR-PARNAS nicht zuletzt deshalb mit unter drei Prozent klar an der Fünfprozentklausel scheiterte.

    Anfang Juli 2016 präsentierte die Parteiführung eine Wahlliste für die Dumawahl 2016. Mit dem Slogan „das System neu starten“ bekam PARNAS bei den Wahlen am 19.09. nur 0,7 Prozent der Stimmen und ist in der Duma der 7. Legislaturperiode nicht vertreten.


    1. Mommsen, Margareta (2007): Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung, in: Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute: Rezentralisierung des Staates unter Putin, Heidelberg, S. 235-252 ↩︎
    2. Kynew, Alexander (2011): Die Besonderheiten des russischen Parteiensystems und die Grenzen des gelenkten Parteienwesens, in: Russland-Analysen 2011 (227), S. 3-7 ↩︎
    3. Golos: Final ‚Golos‘ Statement on Citizen Observation of Elections held on Single Voting Day, September 13, 2015 ↩︎

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    Bolotnaja-Platz

    Meeting am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz

    Meeting am 5. Dezember auf dem Tschistoprudny bulwar

    Boris Nemzow

    Marietta Tschudakowa

    Alexej Nawalny

  • „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Yevgenia Markovna Albats gilt als eine der Grandes Dames des russischen Journalismus. Wohl auch deswegen ist die Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times regelmäßig beim Radiosender Echo Moskwy in der Sendung Ossoboje Mnenije (dt. „Besondere Meinung“)  zu Gast.

    Bei diesem interaktiven Format bekommen die Zuhörer Gelegenheit, eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Video-Livestream aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht.

    Im Gespräch mit Moderatorin Tatjana Felgengauer, der stellvertretenden Chefredakteurin von Echo Moskwy, spricht Albats über die bevorstehende Dumawahl und darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wählen zu gehen.

    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus –  im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS
    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus – im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS

    Tatjana Felgengauer: Willkommen zu unserer Sendung Besondere Meinung. Mein Name ist Tatjana Felgengauer, und ich freue mich, die Chefredakteurin der Wochenzeitung The New Times im Studio zu begrüßen: Guten Tag, Yevgenia Markovna.

    Yevgenia Albats: Hallo allerseits.

    Die WGTRK sendet die ersten Wahlkampfdebatten, sechs Parteien, darunter PARNAS, Jabloko und die neue Partei des Wachstums, nehmen teil. Interessiert das überhaupt irgendjemanden?

    Nun ja, ich werde das gucken, aber ich bin ja ein klassischer Politikjunkie. Ich finde Politik spannend. Sogar in der Form, in der sie derzeit gemacht wird, interessiert sie mich immer noch.

    Irgendwelche Erwartungen, Vorlieben?

    Nein, gar nicht. Ich erwarte mir nichts. Dass die Partei Jabloko in ihrem Programm von der Annexion der Krim schreibt, macht mich neugierig. Eigentlich ist das die einzige politische Partei, die damit in die Wahlen geht. Das ist etwas Besonderes. Dass nämlich dieser Standpunkt, den eine bestimmte Anzahl der Einwohner Russlands vertritt, immerhin von einer Partei formuliert wird.

    Und abgesehen von Ihnen, was denken Sie, wie weit kann das überhaupt den Wähler interessieren?

    Ich glaube, dass das den Wähler durchaus interessieren kann, in geringem Ausmaß. Es wird ja eigentlich alles dafür getan, dass man möglichst wenig darüber spricht.

    Für mich ist ganz offensichtlich, dass sich die staatlichen Sender, die staatlichen Medien um eine Senkung der Wahlbeteiligung bemühen.

    Die Regierung will die Wahlbeteiligung möglichst niedrig halten, das ist nämlich gerade für ihre Partei sehr günstig, wenn man so sagen will.

    Na, und weiter werden wir schon sehen. Wozu jetzt herumrаten?

    Wir sehen aber, wie die Zentrale Wahlkommission (ZIK) unter ihrer neuen Leiterin Ella Pamfilowa agiert: In einer der Regionen hat sie sich für Jabloko eingesetzt. Macht das ein bisschen Hoffnung?

    Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Regierung aus den Ereignissen vom Herbst/Winter 2011 ein paar Lehren gezogen hat. Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Leute im Sommer entweder auf der Datscha sind oder irgendwo im Urlaub, weit weg von Moskau, dann bleiben vom ganzen Wahlkampf im September keine vier Wochen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Wahlen davor Anfang Dezember.

    In diesem Sinne tut die Regierung alles dafür, dass sich die Leute bloß nicht aufregen. Deswegen Pamfilowa. Hauptsache, nicht Tschurow, nicht wahr?

    Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt

    Sie ist kein Tschurow, ohne Frage. Und Ella ist eine, die in der Politik nicht neu ist, und sie nimmt ihren eigenen Ruf ernst. Daher setzt sie natürlich alles daran, dass es möglichst wenig Skandale gibt.   

    Wie weit sie es dann schafft, mit den territorialen Wahlkommissionen (TIK) zurechtzukommen … Wir wissen ja, wie das läuft, nicht? Die Leute wählen, dann wird das alles in den TIK zusammengeführt, und dort fangen sie an, mit den Zahlen zu tricksen. Aber ich glaube, die ganz exotischen Dinge wird die Regierung zu vermeiden versuchen. Vor allem in den Großstädten, wo es die meisten Protestwähler gibt, wird die Regierung alles tun, um große Skandale zu verhindern.

    Dass die sogenannte Liste Chodorkowski zugelassen wurde, 18 von 19 Personen, praktisch alle – war das auch, damit es möglichst ruhig bleibt?

    Die Losung einer namhaften amerikanischen Revolution war „no taxation without representation“. Die Leute wollen wenigstens von irgendwem repräsentiert werden. Wohl wissend, dass in den Städten ein erheblicher Prozentsatz von Protestwählern lebt (Demokraten, Liberale), lässt die Regierung deswegen jene, die bis zu einem gewissen Grad die Ansichten dieser Leute vertreten, immerhin kandidieren. Ich glaube, genau deswegen wurden die registriert, die für Offenes Russland antreten.

    Bemerkenswert ist der Fall von Mascha Baronowa, die Unterschriften sammeln musste, bei denen eine Fehlerquote von nur 2,5 Prozent festgestellt wurde. Das ist wirklich wenig. Aber wir wissen ja noch, wie das bei den letzten Regionalwahlen in Kostroma war, als Ilja Jaschin aufgestellt wurde, nicht? Die Aufgabenstellung war ja klar. Es ging ganz einfach darum, zu zeigen: Bitteschön, sie sind angetreten, und geschafft haben sie mickrige zwei Prozent.  

    Ist die Aufgabe jetzt eine andere?

    Ich glaube, es ist ungefähr dieselbe. Vergessen Sie außerdem nicht, dass in Zentralrussland, in Moskau, eben ein Kandidat von PARNAS, der Historiker Andrej Subow, gegen Maria Baronowa antritt, die für Michail Chodorkowski kandidiert.

    Die Demokraten haben immer noch eine komplett feudale Vorstellung von Politik     

    Wir haben sie übrigens bei uns in der Redaktion, bei den Debatten, schon gefragt, ob sie sich nicht zusammentun wollen. Und ich war absolut verblüfft, dass, obwohl es auch so schon keine Plattform zum Ankurbeln einer Kampagne und dergleichen gibt, einer der Kandidaten (ich sage nicht, wer) abgelehnt hat: „Nein, sicher nicht“.

    Ja, was soll denn das?! Das zeigt doch, dass die Demokraten immer noch komplett feudale Vorstellungen von Politik haben.     

    Genau, merkwürdigerweise lernt die Regierung dazu, denkt sich irgendwelche neuen Tricks aus. Während das demokratische Lager immer dasselbe macht, immer wieder dasselbe. So wie immer alle gestritten haben, so streiten sie auch weiterhin, unverändert.

    Nun, wahrscheinlich ist das eine Frage der politischen Kultur. Wahrscheinlich hängt das auch noch mit dieser starken Zerrissenheit der demokratischen Kräfte zusammen. Mit dem gegenseitigen Misstrauen. Wobei, sehen Sie mal, Dimitri Gudkow führt genau dieselbe Kampagne wie 2013 Alexej Nawalny. Er versucht, Leute zu treffen und mit ihnen zu reden.

    Ich nehme an, Dimitri hat von ihm gelernt und weiß, dass man auf jeden Fall, worum auch immer es geht, vor allem das Vertrauen der Wähler gewinnen muss. Das versucht er zu tun. Schauen wir mal, wie sich die übrigen Kandidaten des demokratischen Lagers verhalten werden. 

    Also, „no taxation without representation“, das ist ganz wichtig. Dieses Problem mit der Vertretung gab es ja schon in den Staatsdumas der Zarenzeit. Und einer der Gründe, warum die Revolution von 1917 stattfand, hing genau damit zusammen, dass die Staatsduma als Repräsentationsform die größte Klasse des Landes, die Bauern, und die zweitgrößte, die Arbeiterklasse, sehr schlecht vertrat. 

    Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist

    Und deswegen stellte die Duma dieser Legislaturperiode, die Gott sei Dank jetzt zu Ende ging, eine kolossale Bedrohung für die Stabilität und die Staatsmacht dar, weil sie überhaupt niemanden repräsentierte außer, was weiß ich, die Präsidialverwaltung oder den Sicherheitssausschuss, wie ihn Jarowaja mit all diesen bescheuerten Gesetzen und dergleichen vertritt.

    Das ist wichtig! Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist. Das liegt daran, dass bei uns in der Sowjetzeit die Politik hyperinstitutionalisiert war: Alles floss in einer gelenkten Bahn, die KPdSU hieß. KPdSU – das war eine Staatsform, aber es war auch eine Bahn, innerhalb derer verschiedene Interessengruppen erlaubt waren. Und außerhalb dieser Bahn gab es nichts. Deswegen hatten die Dissidenten eigentlich keinerlei Einfluss im Land.   

    Nun, damit antworten Sie schon auf die Frage unseres Hörers Ilja, der wissen möchte: „Was meinen Sie, falls die Opposition den Einzug in die Duma schafft, kann sie dann etwas ausrichten? Und warum sind Straßendemos als Form der Meinungsäußerung endgültig in Vergessenheit geraten?“ 

    Also erstens, ja, kann sie. Ich erinnere Sie nochmal daran, dass zum Beispiel Dimitri Gudkow der einzige Abgeordnete der Duma war, der immer wieder gegen diese Neandertaler-Gesetze protestierte, die von der Duma beschlossen wurden. Er war allein. Gudkow hat uns gezeigt, was einer allein alles erreichen kann. Insofern hat das tatsächlich Gewicht. Denken Sie nur an den berühmten Italienischen Streik, den die zwei Gudkows und Ilja Ponomarjow angеzettelt hatten.

    Den Menschen ist klar: auf die Straße heißt ins Gefängnis

    Die Erfahrung des Widerstands ist eine sehr wichtige Erfahrung. Und gerade in unserem Land, das viele Jahrhunderte hindurch unter strengen Regimen lebte (egal, ob im absolutistischen Zarenreich oder unter dem totalitären Sowjetregime), ist es sehr wichtig, sich dieses Erlebnis des Widerstands zu erarbeiten, bis der Widerstand zur Institution wird, zu einer Lebensregel, nicht? Bis es absolut normal wird, sich unredlichen Gesetzen, unredlicher Macht, unredlichen Entscheidungen und dergleichen zu widersetzen.

    Was die Straßendemos betrifft, sehen wir doch der Realität ins Auge. Die Regierung hat seit den Ereignissen vom Mai 2012 wirklich alles daran gesetzt, dass den Menschen klar ist: Auf die Straße heißt ins Gefängnis. Deswegen wurde ja auch Dadin inhaftiert, für seine Ein-Mann-Demos. Zweifellos ist die repressive Komponente des Regimes äußerst bedenklich angewachsen. Die Regierung verfügt über die repressivste Einrichtung der Sowjetunion, den KGB. Ältere Leute wie ich, wir wissen einfach ganz genau, was das ist. Und der Nachwuchs hat während der Bolotnaja-Prozesse eine gründliche Lektion erteilt bekommen.

    Man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen

    Soll man wählen gehen?        

    Wissen Sie, meine Meinung ist, man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Man soll nach den eigenen Regeln spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen.

    In unserem Fall, auch wenn die Parteien oder Kandidaten, die Ihre Interessen vertreten, nicht auf dem Stimmzettel stehen, sollte die Regel in Kraft treten „Für jede beliebige Partei außer …“. Dieses Motto, das von Alexej Nawalny stammt, und das Verfahren, das 2011 erfunden wurde, das hat recht gut funktioniert. Allerdings finde ich, also zumindest in Zentralrussland gibt es gewisse Auswahlmöglichkeiten, nicht? Und vor allem muss einem klar sein, dass sich die Regierung, dass sich Einiges Russland, eine niedrige Wahlbeteiligung wünscht. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen.

    Die Regierung wünscht sich eine niedrige Wahlbeteiligung. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen

    Wissen Sie, die Hauptsache ist … Also, die Griechen haben ja nicht zufällig jene, die außerhalb der Gesellschaft standen, idiotos genannt, nicht wahr? Idioten. Um aber von der Regierung etwas fordern zu können, muss man leider trotz allem mit ihr in Verhandlungen treten, sonst bleibt einem nur der Revolver. Wahlen sind so etwas wie Verhandlungen, sind gewaltfreie Gespräche mit dieser Regierung, die bei mir keinerlei positive Emotionen hervorruft. Und deswegen glaube ich, ja, man soll wählen gehen.  

    Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats.

    Danke.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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