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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Am 18. September 2016 fanden die Wahlen zur siebten (Legislaturperiode der) Staatsduma statt. Die Wahlbeteiligung in Höhe von 47,88 Prozent lag auf dem historisch niedrigsten Niveau. Das kann zum einen damit erklärt werden, dass die Wahl vorverlegt wurde und der Wahlkampf somit in die Sommerferien fiel. Zum anderen führte die Regierungspartei Einiges Russland schon am 22. Mai Primaries durch, die vielen Menschen einen erneuten Wahlgang überflüssig erscheinen ließen. Schließlich genießt die Duma ohnehin wenig Vertrauen in der Gesellschaft – und die niedrige Wahlbeteiligung war dafür lediglich eine weitere Bestätigung.

    Der Wechsel des politischen Schwergewichts Wjatscheslaw Wolodin von der Präsidialverwaltung in die Duma kann vor diesem Hintergrund als ein Versuch gesehen werden, das Parlament aufzuwerten. Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden zeigt er sich bestrebt, der Duma mehr Unabhängigkeit von Regierung und Präsidialverwaltung zu verschaffen und das Vertrauen der Gesellschaft zurückzugewinnen.

     

    Figur 1: Vertrauenswerte, Quelle: Lewada-Zentrum

    Mandatsverteilung

    Wie von vielen erwartet, ging Einiges Russland als deutlicher Sieger aus der Dumawahl hervor. Obendrein bescherte der nach dem Grabenwahlsystem abgehaltene Urnengang der Machtpartei einen bisher unerreichten Erdrutschsieg. Sie bekam 54,19 Prozent der Stimmen nach der Listenwahl und 79,6 Prozent für Direktkandidaten in den Einerwahlkreisen1. Mit 343 von 450 Mandaten verfügt Einiges Russland (ER) wie schon in den Jahren 2007 bis 2011 nun auch in der siebten Legislaturperiode über eine verfassungsändernde Mehrheit. Im Vergleich zur vorherigen Amtszeit steigerte sie sich sogar um ganze 105 Sitze.

    Dementsprechend erlangten die Oppositionsparteien weniger Stimmen: die KPRF erhielt 42 Mandate (minus 50), die LDPR 39 (minus 17), Gerechtes Russland 23 (minus 41), Heimat, Bürgerplattform und ein Parteiloser jeweils ein Mandat. Die ONF – eine nationalpatriotische Dachorganisation, die Einiges Russland als Kaderreserve dient – brachte etwas über 80 Kandidaten ins Parlament, also weniger als ein Viertel der ER-Abgeordneten. In der vorherigen Legislaturperiode hatten sie mit ebenfalls rund 80 Aktivisten noch ein Drittel ausgemacht2

    Personelle Kontinuität

    Es gibt vergleichsweise wenig neue Gesichter in der neuen Duma: 222 Deputierte aus der jetzigen Duma waren schon in der sechsten Legislaturperiode im Parlament – so viele wie noch nie zuvor (in den vorangegangenen Amtszeiten waren dies jeweils 218, 217, 204, in der dritten Duma ab 1999 gar nur 162 Abgeordnete). Acht Urgesteine waren in allen Dumas seit 1994 vertreten. Die siebte ist somit die erfahrenste Unterkammer in der Geschichte des Parlaments. Allerdings erneuerte sich die Fraktion von Einiges Russland mit 60 Prozent oder 205 Abgeordneten durchschnittlich am stärksten, was dafür spricht, dass bei den Wahlen die Konkurrenz innerhalb der Machtpartei, und nicht zwischen den Parteien, bestimmend war. 

    Soziodemografisches Porträt

    Männlich, Anfang 50, studiert – so sieht der durchschnittliche Duma-Abgeordnete der siebten Legislaturperiode aus.

    Knapp 85 Prozent der 450 Abgeordneten sind männlich, im Vergleich zu den vorherigen Wahlperioden steigerte sich der Frauenanteil leicht. Das Durchschnittsalter beträgt 52 Jahre, damit ist die Duma etwas gealtert.

    80 Abgeordnete begannen ihre Berufskarriere als Arbeiter, 58 waren im Bildungsbereich tätig, 35 können den Silowiki zugerechnet werden. 33 Abgeordnete starteten ihre Laufbahn als Unternehmer: Deren Anteil sank im Vergleich zur vorherigen Amtsperiode um gut ein Drittel. Mit 26 Ingenieuren, 25 Ärzten, 24 Journalisten und 20 Sportlern (davon 12 Olympiasieger) steigerten vier Berufsgruppen ihre Präsenz in der Duma.

    443 Abgeordnete verfügen über einen Hochschulabschluss, in der dritten Duma ab 1999 waren dies nur 298. Mit 128 Deputierten überwiegen technische Ausbildungen deutlich, 107 verfügen über ein Diplom in den Wirtschaftswissenschaften, 95 in Jura, 70 in der Staatsverwaltung, 50 dürfen sich Pädagogen nennen, 35 Berufsmilitärs und 24 Ärzte schließen das Bildungsspektrum nach unten ab. 127 Abgeordnete tragen den Titel kandidat nauk (vergleichbar mit dem Doktortitel), 60 Volksvertreter habilitierten sich als doktor nauk.3

    Insgesamt 61 Abgeordnete sind Unternehmer. Basierend auf den offiziellen Einkommenserklärungen konnte RBC4errechnen, dass das Durchschnittseinkommen aller Parlamentarier im Jahr 2015 bei 16 Millionen Rubel [etwa 260.000 Euro – dek] lag. Ein Abgeordneter hatte laut der Untersuchung im Schnitt 11 Millionen Rubel [etwa 180.000 Euro – dek] auf dem Konto deponiert. Bemerkenswerterweise sind die Deputierten der siebten Legislaturperiode offiziell weniger vermögend als deren Vorgänger in der sechsten Amtszeit: Damals beliefen sich die Durchschnittswerte auf 30,3 Millionen Rubel [etwa 493.000 Euro – dek] Einkommen und 128,7 Millionen Rubel [etwa 2 Millionen Euro – dek] Ersparnisse.

    Die Unterschiede zwischen den Abgeordneten sind allerdings genauso enorm wie die zwischen deklariertem Einkommen und tatsächlichem Vermögen: Der Unternehmer und Milliardär Alexander Skorobogatko5 war mit 745 Millionen Rubel [etwa 12,1 Millionen Euro – dek] Jahreseinkommen lediglich auf Platz vier in der Duma-Rangliste. Mit einem geschätzten Vermögen von 2,3 Milliarden US-Dollar wird er von Forbes jedoch auf Platz 40 der reichsten Russen eingestuft. 

    Wolodins Legislative – „starke Abgeordnete, starke Duma“? 

    Wjatscheslaw Wolodin hatte noch in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Präsidialadministration für Einiges Russland Wahlkampf betrieben. Am 5. Oktober 2016 wurde er zum Vorsitzenden der neuen Duma gewählt. Damit löste er Sergej Naryschkin ab, der zum Direktor des Auslandsgeheimdienstes SWR ernannt wurde. Weitere wichtige Posten haben die zwei ersten stellvertretenden Duma-Vorsitzenden und die sechs einfachen stellvertretenden Vorsitzenden inne, bei denen – wie auch im Fall der 26 Ausschussvorsitzenden – die systemischen Oppositionsfraktionen mit einem Anteil von 50 Prozent „übervorteilt“ wurden. Dies soll ein besseres vorläufiges Zusammenspiel dieser Fraktionen bei der Gesetzgebung garantieren: Jeweils fünf Ausschüsse gingen an die KPRF und Gerechtes Russland, drei an die LDPR.

    Wolodin ist bekannt für seinen hierarchischen, bürokratisch-administrativen Führungsstil. Vieles spricht dafür, dass er diesen auch in der Duma beibehalten wird. So besetzte er vier von fünf Führungspositionen des Duma-Verwaltungsapparates6 neu, drei seiner ehemaligen Untergebenen wechselten im Oktober von der Staraja Ploschtschad in den Ochotny Rjad. Gleichzeitig schränkte Wolodin den Zugang für Präsidialverwaltungs-Mitarbeiter der Abteilung „Innenpolitik“ zum Dumagebäude ein. Insgesamt versucht er, seine Machtvertikale als Duma-Vorsitzender auszubauen, aber auch die Unabhängigkeit der Duma von Regierung und Präsidialverwaltung zu steigern.

    Zu diesem Zweck wurden einige formale Änderungen an der Geschäftsordnung der Duma7 vorgenommen: Weil in der Vergangenheit viele Abgeordnete durch häufige Abwesenheit auffielen, besteht bei den Plenarsitzungen nun Anwesenheitspflicht. Da einige Abgeordnete oftmals für ihre Kollegen votierten, sind nun Stimmübertragungen nicht mehr gestattet.


    Gleichzeitig zeigt sich Wolodin um Status und Professionalisierung bemüht: Abgeordneten sollen jetzt sieben anstatt fünf Mitarbeiter zugestanden werden, außerdem sollen Fraktionen zusätzliche Gelder für juristische Gesetzesentwurf-Expertisen erhalten. Einiges Russland führte darüber hinaus Expertenräte ein, die unter anderem allzu wirre Gesetzesentwürfe vor dem Einbringen sichten und filtern sollen, zudem wird die juristische Beratung aller Fraktionen im Duma-Apparat zentral koordiniert. 

    Ab 2017 soll die Staatsfinanzierung für Parteien von 110 auf 152 Rubel [etwa 2,50 Euro – dek] pro erhaltener Stimme angehoben werden, auch bekommen Abgeordnete wieder Zugang zu VIP-Sälen in Flughäfen und Migalki – Blaulichter – nicht unwichtige Statussymbole. Durch eine Änderung ihrer Geschäftsordnung soll die Regierung nun auch dazu verpflichtet werden, Vertreter mindestens im Rang eines Vizeministers in die Duma zu entsenden, wenn von der Regierung initiierte Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen debattiert werden. 

    Mehr Einfluss?

    Bisher zielen Wolodins „Reformen“ darauf ab, die Duma weniger abhängig von der Präsidialverwaltung zu machen und gleichzeitig der Regierung – neben dem Präsidenten der wichtigste Initiator von Gesetzen – Einfluss abzuringen. Dies kann dazu beitragen, dass die siebte Duma mehr Eigengewicht in Relation zu den anderen Staatsorganen erlangt und beispielsweise Wirtschaftsinteressen von Regionen stärker berücksichtigt werden.

    Sollte die Duma wieder vermehrt zu einem „Ort für Diskussionen“ werden, dann jedoch zentral von oben moderiert. Bei Kerninteressen des Regimes wie Sicherheits-, Verteidigungs-, Außen- und Rechtsschutzpolitik wird wohl weiterhin schnell und mit überwältigenden Mehrheiten eine einheitliche Front8 demonstriert. Es bleibt also fraglich, ob der eingeschlagene Kurs zu höheren Vertrauenswerten seitens der Gesellschaft beitragen wird.


    1. Hinsichtlich der Wahlergebnisse wurden begründete und überzeugende Hinweise auf Fälschungen vorgebracht, wonach Einiges Russland gegenüber den anderen Parteien bevorteilt und die Wahlbeteiligung nach oben korrigiert wurde. Zudem fanden die Wahlen ebenfalls auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim statt, diese sechs Abgeordneten wurden darauf von den USA und Kanada mit Sanktionen belegt. Die Angaben in der Gnose beziehen sich auf die offiziellen Ergebnisse der Zentralen Wahlkommission. ↩︎
    2. vgl. Chaisty, Paul (2013): The Impact of Party Primaries and the All-Russian Popular Front on the Composition of United Russia’s Majority in the Sixth Duma, in: Russian Analytical Digest No. 127, S. 8-12 ↩︎
    3. Eine gute soziodemografische Übersicht bietet traditionell Kommersant, der seit 2000 biografische Angaben aller Abgeordneten sammelt und aufbereitet. ↩︎
    4. Über die Aussagekraft dieser Daten mag diskutiert werden, dennoch ist der Vergleich über Zeit und zwischen den Fraktionen durchaus von Interesse, siehe RBC: Issledovanie RBK: čem bogaty deputaty novoj Gosdumy ↩︎
    5. Alexander Skorobogatko, gab inzwischen sein Mandat auf: vermutlich weil die Zeit- und Arbeitsbelastung zu groß wurde, um gleichzeitig noch die eigenen Geschäfte managen zu können. ↩︎
    6. Gosudarstvennaja Duma: Rukovodstvo Apparata Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    7. Gosudarstvennaja Duma: Reglament Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    8. Intersection: Volodin’s Duma ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Die schleichende Wende

    Die schleichende Wende

    Der Krieg in Syrien war bestimmend für die außenpolitische Agenda Russlands. Die Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen wurden nicht müde, unentwegt große Erfolge zu verkünden. Währenddessen rutschte das Land im Innern immer weiter in die Rezession. Die Dumawahl brachte zugleich eine erdrückende Mehrheit für die Regierungspartei Einiges Russland. Was bleibt vom vergangenen Jahr für 2017?

    Die Politologin Ekaterina Schulmann sagt in ihrer Analyse für das liberale Webmagazin republic: Vor allem die Sorgen der Menschen bleiben. Wie aber sollen sie diese kanalisieren? Und was bedeutet das für den Kreml? Muss er sich fürchten?

    2016 brachte für die russische Gesellschaft vor allem einen Wandel der gesellschaftlichen Forderungen, der mit einer Verlagerung des Interesses auf innere sozioökonomische Probleme einherging. Allerdings lassen sich solche langwierigen Prozesse nicht an Kalenderdaten festmachen – dieser Wandel hat weder 2016 begonnen, noch wird er 2017 oder 2018 enden. Die Stimmungswende ist zweifellos auf die Krise und auf ein für uns neues Phänomen zurückzuführen: auf das Sinken der real verfügbaren Einkommen. Das ist in der Tat etwas Neues.

    Für gewöhnlich sagen wir, bei uns herrscht große Armut, oder dass soundsoviele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Aber für die Stimmung sind nicht die absoluten Zahlen entscheidend, wer wieviel bekommt, sondern die Änderungen bestehender Tendenzen. Denn erstens vergleichen die Menschen sich mit ihrem Nachbarn, mit ihrer jeweiligen Referenzgruppe und zweitens vergleichen sie ihre eigene Situation von gestern mit der von heute. Der Eindruck einer positiven Dynamik, an die man sich bereits gewöhnt hatte, wurde vom Eindruck einer negativen Dynamik abgelöst, wobei diese bereits seit zwei Jahren anhält, ohne dass eine Veränderung dieses Trends in Sicht wäre.

    Schulman diagnostiziert stille Verärgerung bei den Menschen – „Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.“ / Foto © Dimitri Duchanin
    Schulman diagnostiziert stille Verärgerung bei den Menschen – „Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.“ / Foto © Dimitri Duchanin

    Das hat zwei konträre Folgen: Entweder die Menschen empören sich über die existierende politische Ordnung und entwickeln ein Protestverhalten, oder niemand entwickelt ein Protestverhalten und die Menschen passen sich an, grob gesagt. Beides ist der Fall: Die Menschen passen sich tatsächlich an – und das ist eine vernünftige Taktik in so einer Situation. Aber die Forderungen der Gesellschaft verändern sich: Die Menschen interessieren sich mehr und mehr dafür, was sie selbst ganz unmittelbar betrifft.

    Sogar in den Umfragen zeigt sich: Es wächst die Zahl derer, die auf die recht schwammige Frage: „Denken Sie, dass im Land alles richtig läuft?“ (Das Lewada-Zentrum stellt die Frage regelmäßig in genau dieser Formulierung), antwortet: Nein, es läuft falsch, es läuft nicht so, wie es laufen sollte.

    In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Artikel von Sergei Guriew und Daniel Treisman aus dem vergangenen Jahr zu werfen, in dem sie erklären, wie moderne autoritäre und semi-autoritäre politische Führer ihre Legitimität aufrechterhalten. Darin stellen sie eine Theorie der ausreichenden Kompetenz auf. Was versteht man darunter?

    Es gibt revolutionäre Anführer wie Hugo Chávez oder Fidel Castro, deren Legitimation auf einer Revolution oder auf Charisma beruht. Für die Aufrechterhaltung ihrer Legitimität müssen sie ständig demonstrative Siege über Feinde erringen, über reale oder fiktive, oder auch Erfolge, reale oder fiktive. Um ihre charismatische und revolutionäre Legitimität zu bekräftigen, müssen sie von Sieg zu Sieg schreiten.

    Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert

    Bei neueren Formen eines Semi-Autoritarismus braucht es nach Guriew und Treisman für die Aufrechterhaltung der Legitimität keine demonstrativen Siege für die Bevölkerung. Es gilt lediglich, den Eindruck einer ausreichenden Kompetenz zu erwecken und zu erhalten. Die Bevölkerung muss glauben können, dass die Regierung mit ihren Aufgaben eher zurechtkommt, als dass sie das nicht tut. Daher werden Probleme nie verborgen, im Gegenteil: Sie werden akzentuiert. Deswegen heißt es: „Ja, wir haben eine Krise. Ja, es gibt Sanktionen. Wir sind umringt von Feinden. Die außenwirtschaftliche Konjunktur ist schlecht. Aber schaut nur, wir sind nicht verhungert, wir sind nicht zusammengebrochen, in Einzelteile zerfallen, wir kommen irgendwie zurecht.“

    Genau das ist besagte ausreichende Kompetenz. Solange sie in den Köpfen der Menschen vorhanden ist, besitzt die Regierung Legitimität, selbst bei schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen. Aus diesem Grund gebe es keine Proteste, nehmen Guriew und Treisman an. (Und zwar nicht nur wegen der repressiven Gesetzgebung und des staatlichen Zwangsapparats,  obwohl auch die wichtig sind: Denn den Preis für Protest zu erhöhen, ist ein effektives Mittel, um die Protestaktivität zu senken.) Proteste gebe es auch deshalb nicht, weil die Menschen denken: „Die Staatsführung funktioniert ja offenbar irgendwie. Und kommt sogar halbwegs gut zurecht.“

    Erst wenn ein spürbarer Teil der Bevölkerung der Meinung ist, die Staatslenker seien nicht die Lösung, sondern das Problem, beginne die Grundlage für diese Legitimität zu bröckeln – nicht allein aufgrund einer Verschlechterung der Lebensumstände. Wenn also das Gefühl überhand nimmt, dass sie nicht dabei helfen, die Krise zu bewältigen, sondern sie noch verschärfen.

    Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und apathisch-depressive Stimmung haben sich besonders deutlich während der Parlamentswahlen gezeigt. Für die Politmanager war davon anscheinend nichts zu erahnen, waren sie doch vornehmlich damit beschäftigt, die Wahlbeteiligung der Unzufriedenen zu senken, aus Angst, sie könnte zu hoch ausfallen. Wie sich herausstellte, hatten sie sich nicht davor zu fürchten: In den Städten und den zentralrussischen Gebieten sind die Menschen einfach nicht zur Wahl erschienen. Tatsächlich aber sind diese Stimmungen, die sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen niederschlugen, weniger harmlos, als man glauben könnte: Sie sind es, die allmählich das Fundament der Legitimität unterminieren – ganz besonders vor dem Hintergrund, dass man unbedingt einen Post-Krim-Konsens und die absolute Einigkeit von Volk und Regierung demonstrieren will. Erschwert wird diese Demonstration zunehmend durch den Umstand, dass die Bürger die gewünschte Zustimmung nur noch bei Meinungsumfragen ausdrücken, indem sie die von ihnen erwarteten Antworten geben. Letztendlich wurde das Wahlergebnis von Regionen bestimmt, die die nötigen Zahlen mit Methoden erzielten, für die sie die Wähler gar nicht brauchten.

    Das ist eine ziemlich gefährliche Situation, denn sie bringt Moskau, das föderale Zentrum, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Regionen und verändert die Zusammensetzung der Staatsduma, in der diese Regionen wesentlich mehr Mandate bekommen haben. Das wird 2018 der Knackpunkt sein, denn natürlich kann man unter diesen Umständen Präsidentschaftswahlen abhalten, aber es ist gefährlich. Ich vermute, sie werden sie trotzdem durchführen, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Und das wird ein Problem sein.

    Das zweite wichtige Thema bei dem Stimmungsumschwung ist das wachsende Interesse an sozioökonomischen Fragen. Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert. Nicht, weil sie sich nicht über Größe und Macht Russlands freuen würden, das tun sie durchaus, sondern weil andere Probleme für sie prioritär und wesentlich sind – nicht bloß wichtig, sondern aktuell drängend. Und gleichzeitig beobachten sie, wie die finanziellen Mittel konträr zu ihren Prioritäten eingesetzt werden.

    Das, was in letzter Zeit als Forderung nach Gerechtigkeit bezeichnet wird, umfasst auch eine gerechte Verteilung finanzieller Ressourcen. Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung über offensichtlich unangemessenes Handeln seitens der Staatsführung hervor: Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.

    Das erinnert stark an die Stimmungslage in den USA und Europa, die im vergangenen Jahr zu den, wie es hieß, unerwarteten Wahlergebnissen führte. Eliten und Bevölkerung reden aneinander vorbei. Es gibt keinen Punkt, an dem sie sich treffen und miteinander ins Gespräch kommen könnten, weil sie einander überhaupt nicht hören. Ist so etwas in Demokratien überhaupt möglich, so ist es umso charakteristischer für geschlossene politische Systeme, in denen sich der Regierungsapparat vorsätzlich von der Gesellschaft isoliert, sie als Bedrohung empfindet und keinerlei Kommunikation mit ihr anstrebt.

    Das Tragische ist, dass diese Stimmungen in offenen Systemen, wo die Feedback-Kanäle funktionieren, in friedliche, legale politische Aktivität münden können. In Form von Wahlen. Dort kann man sich dann zwar über die Ergebnisse entrüsten, aber es ist und bleibt ein friedlicher, politischer Prozess, der nach der Machtübernahme durch eine neue Partei oder eine neue Führungsfigur zu einer Kurskorrektur führt. Es ist eine friedliche und nicht einmal besonders kostenträchtige Form des Wandels. In Russland ist es komplizierter. Doch auch hier versucht die Regierungsmaschine zu hören, was in den Köpfen der Menschen vorgeht.

    Das geschieht auf unterschiedliche Art und Weise – durch geheime Umfragen, über den einen oder anderen Direkten Draht. Besonders bezeichnend war diesbezüglich die Aussage Peskows: „Der Direkte Draht zum Präsidenten ist die beste Meinungsumfrage.“ Darin offenbart sich zum einen der Wunsch nach zumindest irgendeiner Meinungsumfrage und zum anderen das Unwissen darüber, dass beim Direkten Draht nur ausgewählte Personen teilnehmen. Die Auswahl ist nicht repräsentativ und es ist keine Meinungsumfrage, sondern einfach nur eine Parade des Klagens. Aber sie hätten gern Meinungsumfragen, denen man glauben kann.

    Wie stimmen sich in Russland Staatsführung und Gesellschaft miteinander ab? In Demokratien geschieht das nach den Wahlen: Die Menschen haben Wünsche, dementsprechend wählen sie etwas aus dem bestehenden Angebot. Diejenigen, die in der Folge Mandate erhalten, beginnen mit der Umsetzung der bestellten Politik.

    Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung hervor

    Bei uns ist es andersherum. Schon vor den Wahlen, deren Ergebnisse wie bestellt ausfallen müssen, versucht die Regierung, zu jenem neuen Kandidaten zu werden – und darauf zu reagieren, was die Menschen brauchen. Deswegen wird der politische Kurs vor den Wahlen korrigiert. Alle Fingerübungen der neuen Leitung in der Präsidialadministration, die gesamten Vorhaben der Staatsführung, die Ausarbeitung neuer Reformprogramme – all dies sind Versuche einer Kurskorrektur vor den Wahlen, die dann bitte die geforderten Ergebnisse bringen mögen. Das ist besser als nichts.

    So wird die Agenda 2017 (auch wenn man es nicht so formulieren wird) im Wesentlichen ein Versuch sein, sich selbst zu korrigieren und dabei im Kern zu bleiben, wie man ist. Es wird ein Versuch sein, auf die gesellschaftlichen Forderungen zu reagieren und zu verhindern, dass irgendeine politische Konkurrenz reagiert.  

    Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Wenn wir beispielsweise darüber sprechen, dass es gut wäre, unsere außenpolitische Aktivität zu drosseln, weil wir kein Geld haben und die Menschen darüber verärgert sind, müssen wir bedenken, dass Wille allein nicht genügt, um die Aktivität einzuschränken – man sollte die persönliche politische Macht Einzelner nicht überschätzen. Es gibt Interessengruppen, die auf den entsprechenden Budgets sitzen und daran interessiert sind, eine Politik des Krieges fortzuführen. Das sind einflussreiche Mitglieder unserer herrschenden Elite – Rüstungsindustrie, Verteidigungsministerium, Mitglieder des Sicherheitsrates. Es wird wohl kaum genügen zu sagen: „Das war’s, Jungs. Sorry. Wir packen ein.“ Die müssten das irgendwie kompensieren. Sich einen Ausweg aus dieser Situation ausdenken – das wird das Jahr 2017 ausfüllen.

    Ein weiteres wichtiges Thema der kommenden zwei Jahre wird das Bildungs- und Gesundheitswesen sein mit allem, was dazu gehört. Hier zeichnet sich eine sehr gefährliche, radikale Kluft zwischen der Agenda der Regierung und der Gesellschaft ab. Denn für die Menschen wird dieser Bereich immer wichtiger. Zum einen, weil die Bevölkerung älter wird. Zum anderen, weil sich in den letzten Jahren ein Kinderkult entwickelt hat und die Menschen ihre Elternrolle als eine soziale und zum Teil sogar politische Rolle begreifen. Gleichzeitig entledigt sich der Staat im Bildungs- und Gesundheitswesen massenhaft seiner Verpflichtungen. Eine unglücklichere Kombination ist kaum denkbar. Mit der Diskrepanz dieser zwei Agenden wird man etwas machen müssen, denn sie verärgert die Menschen sehr. Sie können nicht nachvollziehen, warum der Staat sich so verhält. Der Staat hingegen erklärt nichts, er macht noch nicht einmal irgendwelche Versprechungen.

    Einerseits scheint es, als würde sich die Situation der 1990er Jahre auf einem anderen Level wiederholen. Andererseits verfügte der Staat in den 1990ern nicht über diese Bereiche, er hatte sie nicht unter Kontrolle. Damals sagte er: „Ich gebe euch kein Geld, verdient es euch, wie ihr wollt.“ Heute heißt es: „Ich gebe euch kein Geld, aber ich sperre euch ein.“ Die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen unterstehen einer strengen Kontrolle durch Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft, die bei jeder Gelegenheit auftauchen. Gleichzeitig bekommen die Einrichtungen kein Geld. Das ist eine unmögliche Lage.

    Für das System ist es sehr schwer, sich selbst zu reformieren, doch es wird gezwungen sein, dies zu tun, weil die Mittel knapper werden. Auf die Forderungen der Gesellschaft muss es wohl oder übel reagieren. Das System könnte autonom sein, wenn es eigene Einnahmequellen hätte wie noch in den Nullerjahren. Aber die hat es nicht mehr. Wenn man sein Geld von den Bürgern und nicht durch Erdölförderung bekommt, kommt man nicht umhin, sich mit den Bürgern gut arrangieren zu müssen. Das System hat das noch nicht so recht begriffen, um nicht zu sagen gar nicht. Es ist nicht gewohnt, in diesem Modus zu agieren und weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Die nächsten zwei Jahre wird es versuchen, das zu lernen.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.

    In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ - Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant
    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ – Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant

    Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?

    Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.

    Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.

    Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.

    Der Physiker Sergej Schpilkin hat zur Analyse der Wahlen die Gaußsche Kurve herangezogen, die die Normalverteilung von Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Seinen Angaben zufolge waren 45 Prozent des Gesamtergebnisses von Einiges Russland gefälscht …

    Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.

    Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.

    Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.

    Was war denn die größte Enttäuschung?

    Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.

    Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.

    Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).

    Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?

    Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.

    „Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“

    Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?

    Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.

    So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.

    Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?

    Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.

    Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.

    Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

    Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.

    Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?

    Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.

    Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.

    Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?

    Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …

    Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.

    „Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“

    So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.

    Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?

    Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.

    Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?

    Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?

    Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.

    Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.

    Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.

    Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.

    Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?

    Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?

    Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.

    Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?

    Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.

    Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?

    Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?

    Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.

    Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.

    „In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“

    In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?

    In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.

    Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.

    Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?

    Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.

    Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.

    Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.

    Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?

    Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.

    Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.

    Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.


     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Ella Pamfilowa

    Seit mehr als 25 Jahren kämpft Ella Pamfilowa (geb. 1953) für soziale Belange und Menschenrechte. Dabei sitzt sie oft zwischen den Stühlen: Einerseits gilt sie als lautstarke Kritikerin der politischen Ordnung im Land und engagiert sich für die Zivilgesellschaft. Andererseits arbeitet sie immer wieder im Dienst des Staates: Als Ministerin, Abgeordnete der Staatsduma, Vorsitzende der Menschenrechtskommission1 und Menschenrechtsbeauftragte. Seit März 2016 ist sie Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Russlands – einer Behörde, die im Zuge der Dumawahl 2011 zum Inbegriff für Wahlfälschungen wurde. Mit dem Amtsantritt verschärfte sich Pamfilowas Interessenkonflikt, und nach offensichtlichen Manipulationen bei der Dumawahl 2016 wurden Rücktrittsforderungen seitens der liberalen Opposition laut.

    Die gelernte Ingenieurin aus Usbekistan wurde bereits im Zuge der Perestroika 1989 Abgeordnete des Kongresses der Volksdeputierten. Im November 1991 übernahm sie in der Regierung von Jegor Gaidar im Alter von 38 Jahren das Amt der Ministerin für Sozialfürsorge. Im Dezember 1992 entschloss sie sich aus Protest gegen Gaidars Abwahl als Premierminister, ihr Amt niederzulegen. Präsident Boris Jelzin verweigerte jedoch seine Zustimmung. Er bestand persönlich darauf, dass Pamfilowa aufgrund ihrer Kompetenz auch der neuen Regierung unter Viktor Tschernomyrdin angehören sollte. Erst im März 1994 schied sie auf eigenen Wunsch und aus Opposition gegen die Regierungspolitik aus dem Amt.  

    Währenddessen arbeitete Pamfilowa bereits seit November 1993 als Abgeordnete der Staatsduma für die liberale Fraktion Die Wahl Russlands, die von Gaidar ins Parlament geführt worden war. Ab Mai 1994 fungierte sie zudem als Vorsitzende des Rates für Sozialpolitik beim Präsidenten.2 

    Neben ihrer Tätigkeit als Abgeordnete gründete Pamfilowa 1996 die Bewegung Für ein gesundes Russland.3 Die Nichtregierungsorganisation unterstützt unabhängige Forschung in den Bereichen Demographie, Gesundheit und Ökologie. Heute ist sie mit Büros in ganz Russland vertreten.

    Nachdem sie den Wiedereinzug ins Parlament im Dezember 1999 verpasst hatte, trat Pamfilowa vier Monate später als erste Frau in der Geschichte Russlands bei den Präsidentschaftswahlen an. Die Wahlen gewann Wladimir Putin mit knapper Mehrheit. Pamfilowa erhielt 1,01 Prozent der Stimmen. Danach widmete sie sich hauptsächlich der Menschenrechtsarbeit und gründete 2001 die Bewegung Für bürgerliche Würde.

    Vermittlerin und unbequeme Stimme

    Der neue Präsident wollte auf die kompetente Sozialpolitikerin jedoch nicht verzichten. 2002 berief er sie als Vorsitzende der neu gegründeten Menschenrechtskommission. In acht Jahren Kommissionsleitung erwarb sie sich großes Ansehen, sowohl bei Vertretern von NGOs, als auch beim Kreml. In einem Interview mit Anna Politkowskaja aus dem Jahr 2004 beschrieb sie sich als Vermittlerin zwischen Zivilgesellschaft und Obrigkeit.4

    Ella Pamfilowa versucht den schwierigen Balanceakt zwischen Staat und Zivilgesellschaft / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant
    Ella Pamfilowa versucht den schwierigen Balanceakt zwischen Staat und Zivilgesellschaft / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    2010 überwarf sie sich jedoch endgültig mit Wladislaw Surkow in der Präsidialverwaltung.5 Bereits zuvor hatte sie im offenen Konflikt mit der von Surkow initiierten kremltreuen Jugendbewegung Naschi gestanden. Im Jugendlager Seliger diffamierten sie Naschi-Aktivisten schließlich als Volksfeind. Gleichzeitig blieben sowohl ihre Proteste gegen das zunehmend härtere Vorgehen der Sicherheitskräfte, als auch ihre Bemühungen zur Verhinderung der Novellierung des FSB-Gesetzes erfolglos. Enttäuscht zog sich Pamfilowa aus dem Menschenrechtsrat zurück. Als jedoch im Januar 2014 ein Nachfolger für Wladimir Lukin als Menschenrechtsbeauftragter gesucht wurde, tauchte auch ihr Name wieder unter den möglichen Kandidaten auf. Mit großer Unterstützung russischer Menschenrechtsorganisationen trat sie im März 2014 ihr neues Amt an. In dieser Funktion setzte sie sich im Zusammenhang mit dem Agentengesetz unter anderem für verschiedene NGOs ein, darunter für die Wahlbeobachter von Golos und die Menschenrechtsorganisation Memorial. Dazu brachte sie ein Gesetz auf den Weg, das im März 2015 in Kraft trat und seitdem die Annullierung des Agentenstatus ermöglicht.6 Mehrere Male machte sie durch öffentliche Kritik am russischen Justizsystem auf Missstände aufmerksam.7

    Demokratisches Feigenblatt?

    Im März 2016 wurde sie von Präsident Putin überraschend zur Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission (ZIK) berufen. Sie beerbte damit Wladimir Tschurow, der spätestens seit 2011 zum Sinnbild für Wahlbetrug geworden war. Ihre Ernennung wurde allgemein als Signal verstanden, die diskreditierte ZIK wieder aufzuwerten und die Dumawahl 2016 unter fairen Bedingungen durchführen zu wollen. Wie bereits ihr früheres politisches Engagement brachte ihr dies Kritik seitens liberaler Oppositioneller ein: Pamfilowas tadelloser Ruf werde lediglich zur Legitimation eines an sich undemokratischen Systems benutzt. Die Berufung ändere nichts an den Ungerechtigkeiten im Zulassungsverfahren zur Wahl, so die Argumentation.8

    Vor den Wahlen hatte sie angekündigt zurückzutreten, sollte es ihr nicht gelingen, eine faire Abstimmung zu gewährleisten.9 Unter ihrem Vorsitz mussten schließlich drei Vorsitzende regionaler Wahlkommissionen ihre Posten räumen. Außerdem annullierte die ZIK im Nachgang der Wahl einige regionale Resultate aufgrund nachgewiesener Fälschungen.10 Eine ernsthafte Untersuchung, unter anderem der vielbeachteten Fälschungsindizien des Physikers Sergej Schpilkin, blieb unterdessen aus. Pamfilowa erklärte die Wahlergebnisse für legitim. Angesichts der massiv eingesetzten Administrativen Ressource, des offensichtlichen Drucks auf Oppositionspolitiker im Vorfeld der Wahlen und zahlreicher ungeklärter Fragen zum Wahlablauf11 sieht sie sich jedoch mit Rücktrittsforderungen konfrontiert.

    Pamfilowa wird wohl auch in Zukunft den schwierigen Balanceakt zwischen Staat und Zivilgesellschaft suchen. Ob es ihr allerdings gelingt, unter den russischen Bürgern wieder Vertrauen in die Legitimität von Wahlen und den politischen Prozess insgesamt zu schaffen, bleibt fraglich. Angesichts der geringen Wahlbeteiligung bei der Dumawahl sehen die Perspektiven dafür eher düster aus. Dabei kündigt sich die nächste Herausforderung bereits an: Im März 2018 finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt.


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Wahlfälschungen in Russland

    Wahlfälschungen in Russland

    In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.

    Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.

    Einwurf, Karussell und Bächlein

    Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1

    Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.

    Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges Russland durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2

    Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?

    Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die Straße.

    Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere Noten). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten Administrativen Ressource.

    Verzerrungen des politischen Wettbewerbs

    Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.

    Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4

    Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition Jelzinsunter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur Machtpartei ausgebaut – und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.

    Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des Oligarchen Boris Beresowski), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5

    Ein hybrides System

    Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella Pamfilowa zur Chefin der Zentralen Wahlkommission.

    Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91 keineswegs erreicht, und eine demokratische Verfassung bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur Oppositionsparteien.7


    1. Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau ↩︎
    2. Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections ↩︎
    3. Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden ↩︎
    4. White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70 ↩︎
    5. White, S. (2014): S. 68 ↩︎
    6. Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? ↩︎
    7. Schedler, A. (2002): The menu of manipulation. Journal of democracy, 13(2), 36-50, hier. S. 47 ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Drei Russlands

    Drei Russlands

    Die neu gewählte Duma hat am Mittwoch erstmals getagt. Vor mehr als zwei Wochen gewählt, galten die Ergebnisse auch als Signal an die politische Elite und den Kreml: Wie ticken die Menschen im Land?

    Wie aber sind die Stimmenanteile genau zu lesen? Es gab Fälschungsvorwürfe, Beschwerden über massive Vorteilsnahme durch Behörden und eine niedrige Wahlbeteiligung. Wie werden die Menschen in ihrem Parlament nun also tatsächlich repräsentiert? Der Politologe Kirill Rogow hat sich das gefragt und bei slon.ru eine Rechnung aufgestellt, die Russlands Wahlvolk und das manipulative Spiel um seine Gunst durchexerziert – mit überraschenden Schlussfolgerungen.

    Die Tatsache, dass kein einziger oppositioneller Kandidat und nicht eine neue Partei ins Parlament einzog, war das Hauptthema der Kommentare zum Ausgang der Dumawahl. Die Wahlen erscheinen wie eine mustergültige Niederlage der Opposition und wie ein Triumph der Wolodinschen Strategie, die im Grunde darin bestand, zunächst einige Vertreter der Opposition zu den Wahlen zuzulassen, sie dann aber nicht gewinnen zu lassen und ihnen auch keinen Anlass zu liefern, gegen die Niederlage zu protestieren. Die heftige Diskussion über diesen Erfolg verdeckt aber einige wichtige und für den Kreml weitaus weniger angenehme Ergebnisse des Urnengangs.

    Supermehrheit: Wozu brauchen autoritäre Regime Wahlen und Betrug

    Die jüngsten Wahlen wurden vom Kreml als ausnehmend wichtige Revanche für den Misserfolg von 2011 betrachtet. Schließlich werden in autoritär regierten Ländern Wahlen nicht abgehalten, um die Präferenzen der Wähler zu ermitteln, sondern um eine beeindruckende Unterstützung für das Regime zu demonstrieren – für die regierende Partei oder den Leader. Aufgabe des Leaders oder der herrschenden Partei ist es wiederum, nicht einfach nur über die Gegner zu siegen, wie das bei Wahlen mit echtem Wettbewerb der Fall wäre, sondern die eigene erdrückende Überlegenheit zu demonstrieren, also die Unterstützung einer Supermehrheit vorzuweisen.

    Das Bild einer solchen erdrückenden Überlegenheit wird dann für die Unzufriedenen und die Eliten ein wichtiges Signal, dass das Regime stark ist, dass Versuche, seine Macht in Frage zu stellen, sinnlos sind und Investitionen in die Opposition zwecklos. Für den Durchschnittswähler sind die Ergebnisse ein nicht minder wichtiges Signal, was denn die (in der Regel scheinbare) Mehrheit denkt. Dieses Signal bringt den Durchschnittswähler dazu, seine eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen zu korrigieren und sie in Richtung dessen zu verschieben, was er als „allgemein übliche Meinung“ auffasst. So stellt sich ein autoritäres Gleichgewicht ein.

    Ein Grundpfeiler für die Stabilität autoritärer Regime ist die maßlose Übertreibung ihres Rückhalts in der Bevölkerung. Es ist ein zentrales Element des Autoritarismus, in das denn auch riesige Mittel und Anstrengungen investiert werden. Es mag paradox erscheinen, doch bevorzugt ein autoritäres Regime bei der Wahl zwischen einer gefälschten Supermehrheit und einer realen Mehrheit stets das Erstere, und eine solche Strategie ist vollauf rational.

    Bei den Wahlen 2011 sind am Bild einer bedingungslosen Dominanz der Machtpartei Zweifel aufgekommen, und das führte umgehend zu einer Verfestigung der Agenda einer neuen Opposition, die die Protestbewegung des Winters 2011/12 hervorbrachte. Bei den jüngsten Wahlen musste der Kreml um alles in der Welt seine erdrückende Überlegenheit demonstrieren, um diese unangenehme Episode hinter sich zu lassen. Inwieweit und auf welche Weise ist das gelungen?

    Mathematik der Archaisierung

    Desorganisierung und Demoralisierung der Opposition einerseits sowie Demobilisierung der Wähler andererseits – das waren zwei Schlüsselelemente der Kremlstrategie bei diesen Wahlen. Während die Pragmatik des ersten Ziels auf der Hand liegt, wirft das zweite Fragen auf. Wenn die Unterstützung für das Regime derart groß ist, wie es uns die Umfragewerte weisgemacht haben, warum dann solch große Anstrengungen, um die Wähler von der Urne fernzuhalten?

    Bei genauerem Hinsehen liegt der Demobilisierungsstrategie eine klare, mathematisch prüfbare Logik zugrunde, auf die sich die Regierung stützen kann. Wie bereits bei der  Wahl  2011 zu konstatieren war, ist Russlands Wählerschaft ein Konglomerat aus verschiedenen politischen Kulturen.

    In Russland 3 sind die Wahlergebnisse stets konformistisch / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    In Russland 3 sind die Wahlergebnisse stets konformistisch / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Einen Pol bildet hier das, was Dimitri Oreschkin, Leiter des Projektes Wahlkommission des Volkes, das „symbolische Tschetschenien“ nannte. Das sind die südlichen Regionen und die autonomen Republiken, in denen die Wahlergebnisse stets konformistisch sind: mit 70 bis 97 Prozent Unterstützung für die Staatsmacht bei hoher Wahlbeteiligung. Das sind traditionalistische Enklaven, in denen die Gesellschaft Wahlen nicht als Instrument politischer Partizipation auffasst, sondern wo Regierungen sie als Ritual zur Loyalitätsbekundung arrangieren. Ein Bereich, der tatsächlich ganz traditionalistisch verfasst ist. Die Stimmzettel müssen nicht einmal gezählt werden, weil niemand die verkündeten Zahlen anfechten würde. Zu diesem Bereich zählen insgesamt die Republiken im Kaukasus, die autonomen Republiken und einige russische Oblaste. Nennen wir sie Russland 3.

    Am anderen Pol liegt Russland 1, der europäische Teil des Landes, die großen Städte, die [prosperierenden entlegenen – dek] Regionen und Gegenden mit einem großen urbanen Bevölkerungsanteil. Hier spielen die Wählerpräferenzen eine Rolle, und sie zu verfälschen ist nur begrenzt möglich, weil es Wahlbeobachter gibt, wenigstens irgendeine Art Opposition, einige unabhängige Medien und ein gewisses Selbstwertgefühl bei den Wählern, die der Ansicht sind, dass das Regime sie wenigstens anhören sollte.

    Zwischen Russland 3 und Russland 1 liegt ein Bereich, der die Elemente der traditionalistischen und pluralistischen politischen Kultur in sich vereint: Das ist Russland 2, in dessen breiter Peripherie viele Merkmale einer traditionellen Gesellschaft erhalten sind, während der fortschrittliche Kern anstrebt, die Standards von Russland 1 zu erreichen, wobei er jedoch zahlenmäßig sehr schwach ist.

    Die drei Russlands haben jeweils typische, sehr unterschiedliche Wahlergebnisse. Wenn wir die Regionen nach den Ergebnissen von Einiges Russland anordnen, dann definieren wir Russland 3 vereinfacht als jene Gebiete, in der Einiges Russland über 65 Prozent der Stimmen erhielt, und Russland 1 als die Gebiete, wo die Partei 45 Prozent oder weniger erhielt. Gerade an dieser Marke bewegt sich die Wahlbeteiligung stabil um einen Mittelwert von 39 Prozent. In Russland 2 ist die Wahlbeteiligung sehr viel breiter gestreut mit durchschnittlich 49 Prozent, während sie in Russland 3 im Schnitt bei 73 Prozent liegt. Diese Angaben sind selbstverständlich stark vereinfacht.

    So ergibt sich: In Russland 3 gibt es 16 Millionen Wahlberechtigte (das sind 14,5 Prozent aller Wahlberechtigten), von denen nach offiziellen Angaben 12 Millionen zur Wahl gegangen sind und von denen laut offiziellem Ergebnis 9,4 Millionen der Machtpartei ihre Stimme gaben (das wiederum entspricht einem Drittel aller Stimmen, die Einiges Russland bekommen hat).

    Auf dem Gebiet von Russland 1 leben 51,7 Millionen Wahlberechtigte (47 Prozent); zur Wahl gingen hier 19,7 Millionen Wähler. 7,7 Millionen von ihnen gaben Einiges Russland ihre Stimme (in Russland 1 erhielt die Partei demnach im Schnitt 39 Prozent, in Russland 3 waren es 78 Prozent).

    Somit führt die Strategie der Demobilisierung der Wähler dazu, dass Russland 1 weniger, dafür aber Russland 3 stärker repräsentiert ist – also die Gebiete mit behördlich organisiertem Stimmverhalten. In Russland 3 hat Einiges Russland 1,7 Millionen Stimmen mehr erhalten als in Russland 1, obwohl es hier rund 69 Prozent weniger Wahlberechtigte gab als in Russland 1.

    Dieses Bild stellt uns nicht nur vor die Frage nach den Besonderheiten der jüngsten Wahlen und den Folgen der Strategie, das Wählen unpopulär zu machen. Eine Strategie, über die in den letzten Wochen ziemlich viel diskutiert wurde. Sondern es stellt sich auch die viel weitreichendere Frage nach dem politischen Aufbau Russlands und seinem Wahlvolk. Dadurch, dass die Wahlergebnisse (und auch die Wahlbeteiligung) auf dem Gebiet von Russland 3 und zum Teil auch von Russland 2 behördlich organisiert sind, ergibt sich im Gesamtbild von Wählerpräferenzen eine erhebliche Verschiebung zugunsten einer paternalistischen politischen Kultur. Russland 3 ist somit in den Repräsentationsorganen systematisch überhöht vertreten.

    Die Partei der Macht ist an ihre Grenzen gestoßen

    Bereinigt man die Wahlergebnisse nach der Methode von Sergej Schpilkin um die Abstimmungsanomalien, dann ähneln sie insgesamt durchaus denjenigen von 2011. Nach Schpilkin betrugen die reale Wahlbeteiligung 2016 rund 37 Prozent und das Ergebnis für Einiges Russland 40 Prozent. Stichproben mit Hilfe von Kontrollgruppen in rund 1000 Wahllokalen durch die Wahlkommission des Volkes ergeben ein ähnliches Bild, nämlich eine Wahlbeteiligung im Bereich von 34 bis 41 Prozent und ein Stimmenanteil für Einiges Russland im Bereich von 35 bis 38 Prozent in einigen durchschnittlichen und fortschrittlichen Regionen Russlands (ohne Russland 3, das bei der Stichprobe nicht repräsentiert war).

    In Russland 1 –  zum Beispiel dem urbanen Russland  – war die Wahlbeteiligung diesmal niedriger als im Jahr 2011 / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    In Russland 1 – zum Beispiel dem urbanen Russland – war die Wahlbeteiligung diesmal niedriger als im Jahr 2011 / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    2016 war die behördliche Mobilisierung von Wählerstimmen noch stärker als 2011: Das Russland 3 der Provinz hat Einiges Russland jetzt mehr Stimmen geliefert, während die Wahlbeteiligung im urbanen Russland 1 diesmal niedriger war. Eine stärkere Mobilisierung realer Wähler hätte 2016 wahrscheinlich für ein schlechteres Ergebnis für Einiges Russland in Russland 1 und dementsprechend auch in Russland insgesamt gesorgt.

    Bemerkenswert ist, dass Einiges Russland 2004 37 Prozent der Stimmen errang und nach Schätzung der realen Ergebnisse 2011 ebenfalls zwischen 35 und 39 Prozent lag (diese Werte ergeben sich über verschiedene Auswertungsmethoden). Demnach führte die Post-Krim-Mobilisierung, von der in den letzten zwei Jahren so viel gesprochen wurde, zu keiner wesentlichen Verschiebung der Wählerpräferenzen. Das etwas höhere offizielle Wahlergebnis wäre demnach die Folge einer stärkeren behördlichen Mobilisierung in Russland 3 und einer geringeren realen Wähleraktivität in Russland 1; letztere ist angesichts der Methoden im Wahlkampf vollauf erklärlich.

    Russland in der Post-post-Krim-Phase

    Lässt sich also feststellen, dass eine Unterstützung für die Partei der Macht im Bereich von 36 bis 39 Prozent dem realen Bild der Wählerpräferenzen in Russland entspricht? Das nun auch wieder nicht. Neben dem verzerrenden Effekt durch behördlich gelenkte Wählerstimmen, „Karussells“ und Mehrfacheinwurf zusätzlicher Stimmzettel, sind auch die autoritären Zerreffekte der Wahlkämpfe zu berücksichtigen. Zu nennen wäre da die Qualität der zur Wahl zugelassenen oder eben nicht zugelassenen Parteien wie auch die Verzerrung der Medienberichterstattung, der begrenzte Zugang der Opposition zu den Medien und die ungleichen Voraussetzungen im Wahlkampf.

    Der Haupterfolg des Kreml liegt in der Demobilisierung der liberalen Wählerschaft und der Demoralisierung der neuen Opposition, die 2011 so deutlich zu Tage getreten war. Die Spaltung der Anhänger Kassjanows und Nawalnys, die die PARNAS in ein völlig wirkungsloses Projekt nach Art der Bogdanowschen Bürgerplattformen verwandelt hat, sowie das Vorgehen von Jawlinski, der seine Unfähigkeit und seinen Unwillen, mit auch nur irgendjemandem übereinzukommen, zu seinem wichtigsten politischen Kapital gemacht hat, haben die Agenda der neuen Opposition zunichte und jedwede Koordination unmöglich gemacht.

    Verhindert wurde auch eine Wiederholung der Strategie der Partizipation, die Nawalny bei vergangenen Wahlen so erfolgreich verfolgt hatte. Da die Nawalny-Fraktion Jawlinski völlig zurecht als Spoiler für ihre Agenda betrachtete, rief auch sie diesmal dazu auf, nicht zur Wahl zu gehen (da man dort wohl oder übel hätte Jabloko wählen müssen). Dadurch wurde sowohl die Gleichgültigkeit gegenüber den Wahlergebnissen verstärkt, als auch die Kontrolle über selbige. Im gleichen Zuge konnte mit dieser Strategie des Kreml auch noch eine Demobilisierung der Wahlbeobachterbewegung erreicht werden.

    Gleichwohl bleibt es eine Tatsache – so erstaunlich das klingen mag – dass sich der Anteil liberaler Wählerstimmen in den beiden Hauptstädten im Russland der Post-Krim-Phase nicht grundsätzlich verändert hat.

    Neben diesem Erfolg lässt sich in der elektoralen Landschaft Russlands allerdings auch ein weiteres Muster ausmachen. Während der aufwendige Wahlkampf Jawlinskis in Russland insgesamt mit einem Fiasko endete, erhielten die liberalen Parteien (Jabloko, PARNAS und die Partei des Wachstums) in Moskau und St. Petersburg zusammen 15 bis 20 Prozent. Das mag verwundern, entspricht aber durchaus den liberalen Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen von 2012. Die Liberalen hatten seinerzeit ebenfalls keinen eigenen Kandidaten, sodass als dessen Surrogat der Milliardär Michail Prochorow angetreten war, der dann in St. Petersburg 15 und in Moskau 20 Prozent erzielte.

    In Russland 2 mischen sich traditionalistisch und pluralistisch orientierte Wählerschaften / Foto © Pixabay
    In Russland 2 mischen sich traditionalistisch und pluralistisch orientierte Wählerschaften / Foto © Pixabay

    Hier handelt es sich nicht einfach nur um eine liberale Wählerschaft, sondern um die stark motivierte liberale Wählerschaft, die ihrer Agenda die Stimme gibt, ungeachtet der offensichtlichen politischen Schwäche des Hauptakteurs für diese Agenda. Allerdings ist diese Wählergruppe bei den jüngsten Wahlen im Kaliningrader, Moskauer und Swerdlowsker Gebiet, wo Prochorow 2012 ebenfalls über zehn Prozent geholt hatte, nun schwächer gewesen. Eine Erklärung hierfür steht noch aus.

    Insgesamt allerdings erscheint der Wähler in Russland vollkommen ausgelaugt durch die politischen Inszenierungen und Trugbilder des Kreml. Die Debatten der Parteikandidaten ähnelten einem Wettkampf provinzieller Antitalente, und zwar in der Disziplin „Wer ist am unattraktivsten für den Wähler?“. Jawlinski hat es irgendwie geschafft, niemandem zu gefallen und das kümmerlichste Ergebnis seiner ganzen Karriere einzufahren. Hinter all dem wird aber auch das völlige Fehlen einer irgendwie gearteten und für Wähler relevanten Agenda des Kreml deutlich. Zu beobachten ist auch eine nicht von Wolodin bewerkstelligte, sondern eben tatsächliche Demobilisierung der Wähler. Ausgeblieben ist eine Verschiebung der Wählerpräferenzen ins Konservative, wie sie noch vor Jahresfrist als unumstößliche Realität angenommen wurde. Der Zustand der Gesellschaft ähnelt wohl einem Kater nach einer durchzechten Nacht: Der Hype der Party ist vorbei, doch wieder scharf zu fokussieren gelingt noch nicht so recht. Wie dem auch sei: Offenbar haben wir es bereits mit einem Post-post-Krim-Russland zu tun.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Infografik: Dumawahl 2016

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    Ist was faul an der Kurve?

    Sieg der Stille

  • LDPR

    LDPR

    Ob Jelzin oder Putin, ob Wirtschaftskrise oder Boom – im politischen Russland gibt es seit dem Zerfall der Sowjetunion zwei Kräfte, die dazugehören wie der Weihrauch zur Messe: die Kommunistische Partei und die Liberal-Demokratische Partei Russlands, die LDPR. Ihr Name leitet dabei in die Irre: Von Liberalismus ist seit den frühen 1990er Jahren kaum noch etwas in ihrem Programm zu finden – stattdessen steht sie für Nationalismus, ja offen rechtsradikale Positionen, und für einen starken, zentralisierten Staat. Auch das Etikett demokratisch ist angesichts ihrer extremen Führerfixierung zumindest zweifelhaft: Wladimir Shirinowski ist Gründer, Vorsitzender, Chefideologe und Gesicht der Partei.

    Shirinowski bezeichnete die LDPR als „älteste Oppositionspartei Russlands“. Und tatsächlich: alt ist sie, zumindest verglichen mit den meisten anderen politischen Kräften. Ihre Wurzeln hat die LDPR in der Perestroika, als das politische Leben in Russland aufblühte: Zahlreiche Organisationen der demokratischen Opposition gründeten sich, fusionierten und zerstritten sich wieder. Der Staat duldete sie, beließ sie aber in der marginalisierten Halböffentlichkeit. Anders die 1989 gegründete Liberal-Demokratische Partei der Sowjetunion (LDPSU): Von Beginn an medial präsent, registrierte sie der Staat 1991 großzügig trotz formaler Fehler, was einige Beobachter persönlichen Verbindungen Shirinowskis zum KGB zuschreiben.1

    erste Wahlerfolge

    Im Jahr 1991 schwenkte die LDPR (damals noch LDPSU) auf einen offen nationalistischen Kurs ein, da Jelzin und seine Reformer mit der gängigen demokratisch-marktliberalen Ideologie nur schwer anzugreifen waren.2 So etablierte sich Shirinowski mit Forderungen nach territorialer Expansion, der Wiedereinführung der imperialen Flagge und einem zentralisierten, ethnisch russischen Staat als Vertreter derjenigen, die sowohl vom Kommunismus als auch von dessen Niedergang enttäuscht waren. Diese Position brachte der LDPR zunächst erhebliche Wahlerfolge ein: Im Jahr 1993 wurde sie unerwartet mit 23 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im Parlament und sorgte damit für Panik im demokratischen Lager. Ein Großteil des Erfolgs war dabei Shirinowskis Auftreten geschuldet, der sich als dynamischer Gegensatz zu langweiligen Parteifunktionären inszenierte.3

    Bedeutung im Parteiensystem

    Wenngleich die Wahlergebnisse im Laufe der 1990er zurückgingen und nun zwischen 6 (1999) und 13 Prozent (2016) liegen, ist die LDPR aus dem Parteienspektrum nicht wegzudenken. Dabei nimmt sie eine eigentümliche Position im politischen Machtgefüge ein. Da ist, erstens, ihre Ideologie: Konstanten sind der rechtsradikale Nationalismus und die Forderung nach einer imperialistischen Außenpolitik. Davon abgesehen ist sie programmatisch allerdings flexibel. In einer Umfrage von 2006 waren die Befragten denn auch uneins darüber, ob die LDPR eher marktliberal (35 Prozent) oder für mehr Regulierung sei (28 Prozent), eher für individuelle Freiheit (39 Prozent) oder soziale Gleichheit (24 Prozent) einstehe, und ob sie eher der politischen Führung oder der Opposition angehöre (30 versus 34 Prozent).4 Zweitens also steht die LDPR im Ruf, eine zuverlässige Stütze von Putins Machtarrangement zu sein. Man muss nicht über personelle und finanzielle Verbindungen zwischen Kreml und Parteiführung spekulieren, um diese These zu bestätigen. Denn zwar äußert die LDPR programmatische Kritik am Kurs der Regierungspartei, stimmt aber oft genug für deren Gesetzesprojekte.5 Außerdem spart sie Putin persönlich von ihrer Kritik weitgehend aus und unterstützt damit sein Image als überparteiliche Führungsfigur der nationalen Einheit.

    Satellit des Kreml?

    Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman bezeichnet die LDPR daher treffend als „Satelliten“ des Kreml: Die Partei ziehe unzufriedene Wähler an und halte sie so davon ab, umstürzlerische Kräfte zu unterstützen. Auch ihre radikale Propaganda gegen Kommunisten wie Liberale ist der Regierung durchaus dienlich.6 Wenngleich die Partei also im politischen System ihre Nische gefunden hat, ist ihre Zukunft ungewiss. Erstens zeigt die Stagnation ihrer Wahlergebnisse, dass es ihr nicht gelingt, ihre Wählerschaft zu verbreitern7 – wobei ihr im Falle einer andauernden ökonomischen Krise das Image als Protestpartei womöglich helfen könnte. Zweitens jedoch ist sie strukturell und inhaltlich derart auf Shirinowski fixiert, dass sie ohne den mittlerweile 70-Jährigen nicht vorstellbar ist. Zwar hat er bereits seinen Sohn Igor Lebedew als Fraktionschef installiert, doch der verfügt nicht über einen Bruchteil von Shirinowskis Charisma. Ob das früher oder später zu erwartende Abtreten Shirinowskis von der politischen Bühne die Gestalt des russischen Parteiensystems nachhaltig verändern wird, muss die Zukunft zeigen.


    1. Luchterhandt, Galina (1994): Die Entfesselung der Marionette: Wladimir Schirinowski und seine LDPR, S. 122, in: Eichwede, Wolfgang (Hrsg.): Der Schirinowski-Effekt: wohin treibt Russland?, S. 117-142 ↩︎
    2. Golosov, Grigorij (2004): Political parties in the regions of Russia: Democracy unclaimed, Boulder, S. 24 ↩︎
    3. Eatwell, Roger (2002): The rebirth of right-wing charisma? The cases of Jean-Marie Le Pen and Vladimir Zhirinovsky, S. 9, in: Totalitarian Movements & Political Religions, 3(3), S. 1-23 ↩︎
    4. Wciom.ru: Političeskie Partii: «Idejnyj Portret» ↩︎
    5. Für eine Zusammenfassung der Forderungen in der Finanzkrise 2008/9 siehe March, Luke (2012): The Russian Duma ‘opposition’: no drama out of crisis?, in: East European Politics, 28(3), S. 241-255 ↩︎
    6. Gelman, Wladimir (2008): Party Politics in Russia: From Competition to Hierarchy, S. 924, in: Europe-Asia Studies, 60(6), S. 913-930 ↩︎
    7. Golosov, Grigorii V. (2014): Co-optation in the process of dominant party system building: the case of Russia, in: East European Politics, 30(2), S. 271-285 ↩︎

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    Wladimir Shirinowski

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Jedinaja Rossija

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Perestroika

  • Sprawedliwaja Rossija

    Sprawedliwaja Rossija

    Auf den ersten Blick scheint die Partei Gerechtes Russland ein höchst seltsames Konstrukt zu sein. Aus mehreren Klein- und Kleinstparteien unter der Aufsicht des Kreml-Strategen Wladislaw Surkow zusammengezimmert, ist sie seit 2007 als Oppositionspartei im russischen Parlament vertreten. Doch kann eine Partei mit so offensichtlichen Verbindungen zur Staatsmacht überhaupt eine oppositionelle Position vertreten? Nun, sie kann – und kann doch wieder nicht. Zu Beginn war sie durchaus ein Sammelbecken für Aktivisten, die den privilegierten Status des Gerechten Russlands zu nutzen suchten, um echte Veränderungen zu erwirken. Parteiausschlüsse allzu oppositioneller Abgeordneter jedoch zeigen den eingeschränkten Handlungsspielraum, der mit der Ukraine-Krise noch einmal enger wurde. Die Geschichte des Gerechten Russlands ist eine Geschichte der Krise politischer Opposition in Russland.

    Schon seit den 1990ern hatte es im Kreml Pläne gegeben, eine regimetreue Mitte-Links-Partei ins Leben zu rufen. Diese ideologische Position bot gute Wahlaussichten, schließlich hatte sich die sowjetnostalgische Kommunistische Partei (KPRF) nie ernsthaft in Richtung Sozialdemokratie bewegt, zudem setzte die Regierungspartei Einiges Russland wirtschaftlich eher auf neoliberale Politik. Beides öffnete Raum links der Mitte. Im Jahr 2003 entstand daher mit Unterstützung des Kreml die linksnationale Gruppierung Rodina (dt. „Heimat“). Unter der Führung von Dimitri Rogosin entzog sie sich jedoch der Kontrolle von oben und entwickelte sich in den Regionen schnell zu einer echten Konkurrenz für Einiges Russland.

    Die Gründung als zweites Standbein

    Die Verantwortlichen zogen die Reißleine, entließen die Führungsriege und verschmolzen den Rest des Rodina-Blocks mit der Partei der Pensionäre und der winzigen, esoterischen Partei des Lebens.1 Der Kreml-Stratege Wladislaw Surkow bezeichnete die Neugründung 2006 als „zweites Standbein“ der Macht. Dieses „zweite Bein“ erhielt den Namen Gerechtes Russland.

    Vorsitzender wurde Putins Freund Sergej Mironow – was die Absicht unterstreicht, mit der Partei eine Wahlalternative für Putin-treue Sozialdemokraten zu schaffen. Gerechtes Russland trat denn zunächst auch mit offizieller Starthilfe Putins an, der die Neugründung im Februar 2007 auf einer Pressekonferenz begrüßte. Als jedoch klar wurde, dass die Partei nicht in der Lage war, den Kommunisten das Wasser abzugraben und stattdessen die Regierungspartei Einiges Russland Wählerstimmen kostete, nahm man wieder Abstand von der Doppelstrategie. Das „zweite Standbein“ wurde zum Anhängsel.2

    Programmatische Entwicklung

    Unterdessen entwickelte die Partei ein echtes sozialdemokratisches Programm, das einen starken Sozialstaat mit politischer Liberalisierung verbinden wollte. Während der Wirtschaftskrise 2009 forderte sie weniger Geld für marode Banken und stattdessen höhere Sozialleistungen. Sie ging sogar so weit, als Ursache der Krise die „politische Monopolisierung“ zu beklagen.3 Wenngleich sie sich mit direkter Kritik an Putin zurückhielt, erarbeitete sich Gerechtes Russland so ein ernstzunehmendes Profil. Dazu passt, dass der Partei immer wieder auch Aktivisten aus linksgerichteten Oppositionsprojekten beitraten, so zum Beispiel der ehemalige KPRF-Anhänger Ilja Ponomarjow. Als im Jahr 2011 im Land die Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation und politischer Ohnmacht zunahm, versuchte Gerechtes Russland daraus Kapital zu schlagen und verschärfte die Kritik an der Regierung. Das zahlte sich aus: Bei der Parlamentswahl 2011 konnte sie durch Proteststimmen ihren Mandatsanteil um etwa die Hälfte auf insgesamt 64 Sitze steigern.

    Ein Drahtseilakt mit Schieflage

    Die Wahlen brachten das Dilemma der Partei ans Licht. Einerseits versuchte man, die Rolle als echte Alternative weiterhin auszufüllen. Mehrere Abgeordnete protestierten lautstark, und selbst Parteichef Mironow erklärte, es habe Fälschungen gegeben. Gleichzeitig wollte er das gute Ergebnis der Partei nicht durch einen Parlamentsboykott oder Neuwahlen gefährden.4 Und so begab sich Gerechtes Russland auf einen Drahtseilakt: Zwar beteiligte es sich an der Protestbewegung 2011/12 und zeigte auch im Parlament zuweilen oppositionelles Stimmverhalten – stellte sich zum Beispiel als einzige Fraktion gegen das NGO-„Agentengesetz“. Doch ging die Partei dabei nie zu weit: Im Frühjahr 2013 schloss Gerechtes Russsland die Abgeordneten Gennadi und Dimitri Gudkow – zwei der aktivsten Unterstützer der Proteste – aus der Partei aus. Ilja Ponomarjow gab daraufhin seinen Austritt bekannt, blieb aber zunächst im Parlament.

    Die Angliederung der Krim, die große Teile der russischen Gesellschaft um die Staatsführung zusammenrücken ließ, ging sodann auch an Gerechtes Russland nicht vorbei. Ponomarjow stimmte im März 2014 als einziger Abgeordneter der gesamten Duma gegen den „Anschluss“ der Krim – woraufhin Mironow ihn öffentlich aufforderte, sein Mandat niederzulegen.5 Im Frühjahr 2016 wurde mit Olga Shakowa eine weitere Abgeordnete entlassen – sie hatte von dem Unternehmer und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski Fördergelder für ihren Wahlkampf erhalten.6 Sie erklärte daraufhin, ihr Ausschluss sei ein weiteres Zeichen dafür, dass die Partei sich davor fürchte, mit der „wirklichen Opposition“ zusammenzuarbeiten.

    Unabhängig davon, ob man Chodorkowski für „wirkliche Opposition“ hält, trifft ihre Diagnose wohl zu. Gerechtes Russland hat seine widerspenstigsten Abgeordneten verloren und ist auf die „patriotische“ Linie des Kreml eingeschwenkt. Vor allem vor dem Hintergrund der Dumawahl 2016, bei der sie von 13,2 auf 6,2 Prozent abgerutscht ist, stellt sich aber immer stärker die Frage, ob der Partei die Balance zwischen Opposition und einem überlebensnotwendigen Maß an Loyalität gelingen wird.


    1. Zur Geschichte der Partei siehe ausführlicher: Luke March (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition. In: Slavic Review 68(3), S. 504-527 sowie Vladimir Gel’man (2008): Party politics in Russia: from competition to hierarchy. In: Europe-Asia Studies 60(6), S. 913-930 ↩︎
    2. Gleichwohl zeigen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl, bei denen 30% der Anhänger des Gerechten Russlands anstatt für den eigenen Kandidaten für Putin stimmten, dass die Strategie durchaus aufgegangen ist. Siehe Colton, T. J., & Hale, H. E. (2014): Putin’s Uneasy Return and Hybrid Regime Stability: The 2012 Russian Election Studies Survey. In: Problems of Post-Communism, 61(2), S. 3-22 ↩︎
    3. Luke March (2012): The Russian Duma ‘opposition’: no drama out of crisis? In: East European Politics, 28(3), 241-255, hier S. 248 ↩︎
    4. Siehe Spravedlivo.ru: Sergej Mironov v efire radio „Finam FM“. ↩︎
    5. Siehe Facebook-Post von Sergej Mironow.Ein Interview mit Sergej Mironow, in dem er die Angliederung der Krim für unumkehrbar erklärt, gibt es hier zu sehen. ↩︎
    6. Siehe Slon.ru: Esery „vspomnili“ ob isključenii iz partii poprosivšego den’gi u Chodorkovskogo kandidata. ↩︎

    Weitere Themen

    Staatsduma

    Präsidialadministration

    Jedinaja Rossija

    LDPR

    KPRF

    Wladislaw Surkow

  • Jedinaja Rossija

    Jedinaja Rossija

    Vieles hat sich gewandelt im Russland der 2000er Jahre. Eine der wichtigsten Veränderungen war dabei zweifellos die kontrollierte Umgestaltung des Parteiensystems. Von einem chaotisch fluktuierenden Pool kurzlebiger politischer Kräfte wandelte es sich zu einem stabilen Gerüst aus drei bis vier Parteien, unangefochten angeführt von der Partei der Macht, der Regierungspartei Einiges Russland. Von ihren Kritikern als „Partei der Gauner und Diebe“ diffamiert, sorgt sie seit 2003 zuverlässig für Regierungsmehrheiten im Parlament und leistet gute Dienste bei der Integration der regionalen Eliten. Bei der Dumawahl 2016 sicherte sie sich eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Trotz ihrer Dominanz im politischen System unterscheidet sich ihre Rolle stark von derjenigen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: Einiges Russland ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument der politischen Führung.

    Entstehung aus einem politischen Vakuum

    Die Erosion der Kommunistischen Partei und der Zerfall des Staates zu Beginn der 1990er eröffneten ein politisches Vakuum, von dem sich die Parteienlandschaft in Russland lange nicht erholte. Die Bedeutung von Parteien im extrem personalisierten politischen Geschehen war marginal, zumal Jelzin es vorzog, als überparteilicher Staatsmann zu gelten, und seine Mitstreiter nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach persönlicher Loyalität auszuwählen.1

    Auch die Entstehung von Einiges Russland ist nicht die Geschichte der Repräsentation von Bürgerinteressen, sondern die eines institutionell ausgefochtenen Elitenkonflikts im Vorfeld der Wahlen von 1999. Jelzin geriet durch Vaterland-Ganz Russland, eine Gruppe regionaler Politiker um den Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, unter Druck. Jelzins Team gründete mit Einheit eine Gegenpartei und lancierte einen neuen Ministerpräsidenten. Nach den Bombenanschlägen auf Wohnblocks in Moskau, die das Land in einen kollektiven Schock versetzten, ordnete der Neue einen entschlossenen Militärschlag der russischen Armee gegen tschetschenische Separatisten an. Dies brachte ihm enorme Popularität ein. Staatliche Medien diskreditierten außerdem die Herausforderer um Lushkow und Jewgeni Primakow. Beides zusammen zeigte Wirkung: Einheit schlug Vaterland-Ganz Russland deutlich an der Wahlurne (23 Prozent versus 13 Prozent), und der Stern des Ministerpräsidenten stieg unaufhaltsam. Sein Name, natürlich: Wladimir Putin.

    Partei der Macht

    Obwohl Einheit anfangs nur als zeitlich limitiertes Gegenprojekt konzipiert war, baute der Kreml die Partei nach und nach zu einer stabilen politischen Kraft aus. Im Jahr 2001 fusionierte die Partei mit Vaterland-Ganz Russland und versammelte nach und nach die meisten einflussreichen Politiker unter ihrem neuen Label Einiges Russland. Sie erfüllt dabei alle Merkmale einer Partei der Macht nach dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman2.

    Erstens wird sie von der Staatsführung kontrolliert, um die Gesetzgebung zu bestimmen: Stand Jelzin noch in stetem Kampf mit der Duma, konnten Putin und später Medwedew sich mit Einiges Russland auf eine treue Regierungspartei im Parlament verlassen.

    Zweitens präsentierte sie sich weitgehend ideologiefrei und setzte stattdessen auf Stabilität. Damit bediente sie zum einen die Sehnsucht vieler Russen nach Ordnung Ende der 1990er Jahre und erschwert zum anderen einen glaubwürdigen Zusammenschluss der Opposition rechts und links von ihr. Drittens kann sie aufgrund ihrer privilegierten Position als Ziehkind des Kreml auf enorme Ressourcen zurückgreifen: Finanzierung, Sendezeit, die Unterstützung durch beliebte Politiker und Personen des öffentlichen Lebens. Im Gegenzug liefert sie zuverlässig Mehrheiten und sorgt für einen Interessenausgleich zwischen rivalisierenden Eliten, indem sie einen relativ breiten Zugang zu Staatseinnahmen, Aufstiegschancen und auch zu Schmiergeldzahlungen ermöglicht.3

    Wählerschaft

    Obgleich nicht aus einer eigenen gesellschaftlichen Strömung heraus entstanden, hat die Partei  über die Zeit doch so etwas wie eine Stammwählerschaft entwickelt. Diese setzt sich aus mehreren Segmenten der Bevölkerung zusammen. Ihre marktfreundliche Politik zu Beginn der 2000er brachte ihr die Unterstützung jüngerer, pragmatischer Wählergruppen ein. Der programmatische Schwenk zur Stabilisierung des Staates und zu höheren Sozialausgaben Mitte der 2000er Jahre sicherte ihr sodann auch die Unterstützung von Rentnern, Bewohnern ländlicher Regionen und Staatsangestellten, die zurzeit das Hauptklientel der Partei ausmachen.4 Gleichwohl führen Experten den Erfolg der Partei vor allem auf die Unterstützung durch regionale Politiker, den ökonomischen Aufschwung der 2000er Jahre und vor allem auf Putins persönliche Beliebtheit zurück.5

    Dabei ist Putin stets das Kunststück gelungen, sich in ausreichender Distanz zur Partei zu halten. Er selbst war nie Parteimitglied – obwohl er ihr von 2008 bis 2012 vorstand. Die politische Führung hat aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt: Eine Partei der Macht hat viele Vorteile, sie darf aber nicht zur „Partei an der Macht“ werden, um die Vormachtstellung des Präsidenten und des Zirkels seiner engen Vertrauten nicht zu gefährden.6

    Umgekehrt profitiert der Präsident in schwierigen Zeiten von seiner Überparteilichkeit – wie 2011 geschehen, als sich der Unmut frustrierter Wähler vor allem gegen die dominante Partei richtete: Im Frühjahr prägte Alexej Nawalny für Einiges Russland in Anspielung auf die verbreitete Korruption im Verwaltungsapparat den Begriff „Partei der Gauner und Diebe“. Der Slogan fand sich auf zahllosen Bannern und Reden während der Proteste von 2011/12 wieder7, und noch im Jahr 2013 stimmten etwa 40 Prozent der Befragten diesem Label zumindest teilweise zu.8 Trotz signifikanter Verluste der Partei bei den Parlamentswahlen von 2011 überstand Putin selbst diese Krise leidlich unbeschadet, während sich die Umfragewerte von Einiges Russland erst mit  Ausbruch der Ukraine-Krise Anfang 2014 wieder erholten.

    Die Geschichte von Einiges Russland ist eng mit Putins politischer Karriere verknüpft, Partei und Präsident existieren in einer Zweckgemeinschaft. Dabei ist jedoch immer klar, wer die zentralen Entscheidungen trifft. Sollte sich das Projekt Einiges Russland einmal als überholt erweisen, so wird der Kreml wohl nicht zögern, es durch eine effektivere Plattform zu ersetzen.9

     

    Grafik 1: Umfragewerte der größten russischen Parteien ab 2003

     


     

    1. Rose, Richard (2001): How floating parties frustrate democratic accountability – a supply-side view of Russia’s elections, in: Brown, Archi (Hrsg.): Contemporary Russian politics – a reader, Oxford, S. 215-223, hier S. 216 ↩︎
    2. Gelman, Wladimir (2006): From ‘feckless pluralism’ to ‘dominant power politics’? The transformation of Russia’s party system, in: Democratization, 13(4), S. 545-561 ↩︎
    3. Siehe Reuter, Ora John (2011): United Russia and the 2011 elections, Russian Analytical Digest Nr. 102, S. 3 ↩︎
    4. Reuter 2011, S. 4 ↩︎
    5. ebd. ↩︎
    6. Sakwa, Richard (2012): Party and power: between representation and mobilisation in contemporary Russia, in: East European Politics, 28:3, S. 310-327, hier S. 318f. ↩︎
    7. Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Berlin ↩︎
    8. Siehe die Umfrage des Lewada-Zentrums: Sčitajut li rossijane „Edinuju Rossiju“ partiej žulikov i vorov? ↩︎
    9. Erste Anzeichen dazu gab es im Jahr 2011, als Putin die Gründung einer neuen politischen Gruppierung, der All-Russischen Volksfront, verkündete. Siehe Reuter (2011) und Graeme, Gill (2015): The Stabilization of Authoritarian Rule in Russia? In: Journal of Elections, Public Opinion and Parties, 25(1), S. 62-77, hier S. 75 ↩︎

    Weitere Themen

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Dimitri Medwedew

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    KPRF

    Der direkte Draht mit Wladimir Putin

    Präsidentenrating

    Alexej Nawalny

  • Ist was faul an der Kurve?

    Ist was faul an der Kurve?

    „Wir glauben Gauß!“ – so und ähnlich lauteten Aufschriften auf Schildern, die während der Massenproteste nach der Dumawahl 2011 zu sehen waren. In abgewandelter Form taucht das Stichwort nun nach dieser Dumawahl wieder auf, nicht auf der Straße, aber in der Berichterstattung unabhängiger russischer Medien – und in den Sozialen Netzwerken.  

    Gemeint ist die Gaußsche Glockenkurve, die in der Statistik eine Normalverteilung anzeigt. Der Physiker Sergej Schpilkin machte diese Kurve unter Kritikern der Dumawahl besonders populär. Bereits 2011 und jetzt wieder nutzte er sie zur Analyse der Wahlbeteiligung und der abgegebenen Stimmen. In den erstellten Histogrammen fällt auf, dass die Machtpartei Einiges Russland in Wahlbezirken, in denen die Wahlbeteiligung auf 100 Prozent zugeht, auffällig viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Schpilkins Analyse wirft Fragen auf. Weisen seine berechneten Kurven auf Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe hin? Wie kommt regional eine unterschiedliche Wahlbeteiligung mit teils hohen Stimmenzuwächsen für Einiges Russland zustande? Für den Physiker selbst deutet das auf Manipulationen hin, Kritiker sehen einen klaren Beweis für Fälschungen.

    Die Ergebnisse der Dumawahl vom 18. September wurden unterdessen von der Zentralen Wahlkommission (ZIK) offiziell für gültig erklärt. ZIK-Vorsitzende Ella Pamfilowa sagte, das Komitee gehe aber noch ausstehenden Hinweisen zu möglichen Verstößen bei der Wahl nach. Die unabhängigen Wahlbeobachter der Bewegung Golos haben zahlreiche Verstöße – sowohl aus dem Wahlkampf als auch vom Tag der Stimmabgabe – registriert und fassen sie für die Regionen in Berichten zusammen.

    Was hat der Physiker Schpilkin, der derweil vielfach zitiert wird, genau ausgerechnet? Wie ist er vorgegangen? Im Interview mit der Novaya Gazeta erklärt Schpilkin seine Methode und wie seinen Berechnungen zufolge ein bereinigtes Wahlergebnis aussehen müsste.

    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“
    Der Physiker Sergej Schpilkin analysiert das Verhältnis von Wahlbeteiligung und abgegebenen Stimmen / Foto © Orgkomitet Premija „Proswetitel“

    Anna Baidakowa: Inwiefern deuten Schwankungen in der Wahlbeteiligung auf mögliche Fälschungen hin?

    Sergej Schpilkin: Die russische Gesellschaft ist äußerst homogen: Sie hält sich in einem einheitlichen, vom Fernsehen geschaffenen Informationsraum auf und zeigt nur geringfügige Unterschiede, was Herkunft und Bildung angeht. Es gibt kaum eine Aufteilung in Gesellschaftsschichten, die sich politisch unterschiedlich verhalten würden.

    Eine Ausnahme bildet die sogenannte Moskauer Bildungsschicht – das ist ein recht überschaubarer Bevölkerungsanteil, der in Moskau, St. Petersburg und ein paar anderen Städten existiert und dort unterschiedlich groß ist. Ansonsten unterscheiden sich nicht einmal die ärmsten Stadtbezirke stark genug von den mittelreichen, als dass sich der Unterschied im Wahlverhalten niederschlagen würde – Ghettos gibt es hier nicht.

    Man kann nur einige wenige Wahlbezirke ausmachen, wo die Menschen ganz anders wählen. Zum Beispiel im Hauptgebäude der MGU oder im Wohnkomplex Grand Park an der Metro Poleshajewskaja, wo Prochorow [bei der Präsidentschaftswahl – dek] 2012 die meisten Stimmen bekam. Aus diesen Gründen schwankt auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig. Sogar zwischen städtischen und ländlichen Gebieten einer Region gibt es kaum Unterschiede.

    Was passiert nun, wenn wir die Wahlen fälschen, das Ergebnis zugunsten eines bestimmten Kandidaten verschieben wollen? Ich könnte einfach seine Stimmenzahl erhöhen – zum Beispiel hole ich Menschen ran und sage ihnen, sie sollen ihn wählen. Allerdings lässt sich nur schwer überprüfen, was sie dann tatsächlich tun. Ich kann auch einfach von der Wahlkommission verlangen, die Zahlen zu fälschen: Einem Kandidaten die Stimmen wegnehmen und sie einem anderen zurechnen, doch das geschieht selten.

    Das allereinfachste ist, einen Stapel Stimmzettel in die Urne zu werfen, so steigt auch die Wahlbeteiligung: Je mehr Stimmzettel eingeworfen werden, desto höher wird sie. In diesen Wahlbezirk sehen wir dann eine hohe Stimmenzahl für einen Kandidaten und nur ein paar Stimmen für die Opposition. Ohne solch ein Auffüllen von Wahlzetteln ist das Stimmverhältnis in allen Wahlbezirken mehr oder weniger ähnlich, wenn wir aber zusätzliche Stimmzettel einwerfen, steigen die Zahlen von einer Partei. Im gegebenen Fall von Einiges Russland.

    Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen aus?

    Ich schlüssele alle Wahlbezirke nach Wahlbeteiligung auf, sehe mir an, wie viele Stimmen pro Intervall [pro Prozentpunkt Wahlbeteiligung – dek] für jeden Kandidaten abgegeben wurden und erstelle dann Histogramme.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Nimmt man alle Wahlbezirke zusammen, wurden insgesamt die meisten Stimmen in denjenigen abgegeben, in denen die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 36 Prozent lag, sprich,  immer so zwischen 25 und 40 Prozent. Wahrscheinlich war in diesen Wahlbezirken alles in Ordnung. Und alles, was über diese Grenzen hinausschießt, sieht exakt so aus, als hätte jemand einfach Stimmen für Einiges Russland hinzugefügt. Denn wenn Menschen abstimmen, ergeben sich eigentlich zufällige Zahlen, die Verteilungskurve verläuft fließend.

    Verschiebe ich nun die Zahlen in einzelnen Wahlbezirken, bekomme ich statt einer fließenden Verteilung eine sägezahnförmige Figur – 2011 wurde das Phänomen als Tschurow-Bart bezeichnet. Verdächtig sind vor allem Bezirke mit einer Wahlbeteiligung von 50, 60 oder 75 Prozent. Solch schöne Zahlen ergeben sich so gut wie nie zufällig.

    Wenn die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk bei 95 Prozent liegt, ist das höchstwahrscheinlich eine Fälschung. So etwas kommt in Großstädten nicht vor. Die Fälschungen finden auf dem Weg von der Stimmabgabe bis zum Eintrag in das GAS-Wahlen-System statt.

    In welchen Regionen gab es denn die meisten Auffälligkeiten bei der Wahlbeteiligung?

    In Tatarstan, Baschkortostan, in den Republiken des Nordkaukasus, mit Ausnahme von Adygeja, in der von allen geliebten Oblast Saratow, in Belgorod und Brjansk. Dort gab es die meisten Bezirke mit einer auffällig hohen Wahlbeteiligung und hohen Ergebnissen für Einiges Russland.

     


    Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Im Nordwesten und nördlich von Moskau passiert das in der Regel selten. In Sibirien stehen die Dinge nur in Jakutien, Kemerowo und Tjumen schlecht, teilweise auch in Omsk. Besonders auffällig war diesmal die Oblast Woronesh: Dort gab es eine riesige Anzahl von Wahlbezirken mit einer Beteiligung von 80 bis 100 Prozent.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind

    Auf der Krim und in Sewastopol wurde meines Erachtens fair ausgezählt. Dort war die Wahlbeteiligung hoch, doch die Verteilung folgt durchaus einem städtischen Muster und ähnelt sehr der von Moskau.

    Können Sprünge in den Zahlen nicht auch natürlich sein? Es sind einfach mehr Leute gekommen, um zu wählen?

    Dann würde sich die gesamte Grafik verschieben – so wie im Fall von der Oblast Kirow oder der Oblast Kursk – aber nicht einzelne Teile. Sie würde einfach insgesamt höher liegen.

    Ähnelt die Situation der von 2011?

    Auf der Website der Zentralen Wahlkommission gibt es Daten zu allen Wahlen seit 1999. Und je weiter wir zurückgehen, desto mehr ähnelt die Stimmverteilung einer glockenförmigen Kurve, die man auch die Gauß-Kurve nennt – also einer Normalverteilung.

    Von Anfang 1999 bis 2005 wich die Wahlbeteiligung in allen Moskauer Bezirken nie um mehr als 5 Prozent vom Durchschnittswert der Stadt ab.  

    2008 musste die Moskauer Regierung wohl unbedingt ihre Loyalität mit Dimitri Medwedew demonstrieren – da klaffte die Wahlbeteiligung weit auseinander, sogar in  benachbarten Bezirken. Das wiederholte sich 2009 bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament, als es in dem Bezirk, wo Mitrochin selbst gewählt hat, keine einzige Stimme für Jabloko gab. Dann folgte der Skandal bei den Dumawahlen 2011: Als Einiges Russland beispielsweise im Moskauer Bezirk Ramenki in ein und demselben Wohnkomplex in der einen Hälfte 28 Prozent bekam und in der anderen 58 Prozent. Es kam zum Skandal, zu Protesten und so weiter und so fort, also hat man 2012 die Fälschungsmaschine in Moskau drastisch gedrosselt. Die Wahlbeteiligung lag wieder bei Normalwerten. Normalwerte gab es auch bei der Bürgermeisterwahl 2013.

     


    Für die Stadt Moskau hat Schpilkin in diesem Jahr keine extremen Unregelmäßigkeiten festgestellt. / Quelle der Daten: ZIK / Sergej Schpilkin, grafische Umsetzung: dekoder (Falls die Grafiken nicht laden, bitte hier aktualisieren)

    Ich habe im Vorfeld vermutet, dass diese Wahlen entweder dem Szenario von 2003 (den fairsten Wahlen, zu denen uns Daten vorliegen) oder dem Szenario der Wahlen von 2011 (den unfairsten) folgen würden.

    Von den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wurde die schlechteste gewählt. Beziehungsweise wurde sie gar nicht gewählt – die Maschine ist längst in Gang und läuft von selbst. Um sie zu stoppen, müsste man ihr lange auf die Finger hauen.

    Insgesamt ähnelt diese Wahl stark den Wahlen von 2011, nur dass die Wahlbeteiligung niedriger und die Ergebnisse für Einiges Russland höher sind. Und im Gegensatz zu 2011 fehlen diesmal auf der Gewinnerliste neue Gesichter – seinerzeit war Gerechtes Russland auf der Bildfläche erschienen.

    Besonders niedrig war die Wahlbeteiligung in Moskau und in Sankt Petersburg (35,2 und 32,7 Prozent). Wie wichtig ist das?

    Vor zehn Jahren lag die Wahlbeteiligung in Moskau bei 56 Prozent. Das heißt, dass die Stimme eines Moskauers diesmal doppelt so viel zählte und sogar eine kleine Zahl von Anhängern der Demokraten hätte ihren Kandidaten in die Duma bringen können. Momentan beträgt der Anteil von Staatsangestellten und Rentnern zehn Prozent – was ausreicht, um einen beliebigen Kandidaten ins Amt zu bringen. Bei so einer Wahlbeteiligung entscheiden sie alles. Bekanntlich fehlten Nawalny für die zweite Runde 35.000 Stimmen. Wären mehr Menschen gekommen, hätte es eine zweite Runde gegeben. Es könnte also sein, dass die Großstädte gewisse Chancen ungenutzt gelassen haben.

    Wie würden Ihren Berechnungen zufolge die tatsächlichen Wahlergebnisse aussehen?

    Für Einiges Russland wurden 28 Millionen Stimmen abgegeben, davon wurden nach meinen Berechnungen 12 Millionen künstlich aufgestockt. Das bedeutet, dass 45 Prozent der Stimmen für Einiges Russland gefälscht sind, was einem Anteil von etwa 11 Prozent aller Wahlberechtigten entspricht. Das bedeutet, dass wir statt der offiziellen Wahlbeteiligung von 47,8 Prozent eine Beteiligung von 36,5 Prozent haben. Statt der 54 Prozent für Einiges Russland ergeben sich 40 Prozent. Aus politischer Sicht ist das ein ziemlich wichtiges Ergebnis: 15 Prozent aller Wahlberechtigten haben demnach die Partei unterstützt. Mit diesen realen 15 Prozent (und – wenn man mit den aufgestockten Stimmen rechnet – mit den offiziell ausgewiesenen 27 Prozent) werden sie nun irgendwie leben müssen.


    „Wir glauben Gauß!“ – Für Demonstranten im Jahr 2011 war es ein starkes Argument, auf die Straße zu gehen: die gezackte Statistik, die der Physiker Schpilkin aus den Daten gewann. Sie deutete auf Unregelmäßigkeiten bei den Wahlergebnissen hin / Foto © politonline.ru


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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