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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 21

    Presseschau № 21

    Während die russischen Medien den Internationalen Frauentag mit Reportagen über die besten Geschenke für Frauen und einem Grußwort des Präsidenten feiern, erschüttert den russischen Sport ein Dopingskandal um Tennisspielerin Scharapowa. Der Urteilsspruch im Prozess um Militärpilotin Sawtschenko wird vertagt, woraufhin diese ihren Hungerstreik ausweitet und auch aufs Trinken verzichtet. Und im Nordkaukasus erfolgen Anschläge auf Menschenrechtler und Journalisten.

    Internationaler Frauentag. In Russland begann diese Woche mit einem viertägigen langen Wochenende: Der am 8. März begangene Internationale Frauentag hat schließlich den Rang eines gesetzlichen Feiertags – und ein von den ohnehin langen offiziellen Neujahrsferien abgeknapster arbeitsfreier Tag war per Regierungserlass auf den Montag geschoben worden. Vom einstigen revolutionär-feministischen Ansatz des Frauentags ist bei den Russen nicht mehr viel übrig – es handelt sich vielmehr um einen Tag der ritualisierten Beschenkung und Beglückwünschung aller Frauen durch die Männerwelt (zwei Wochen vorher, am 23. Februar, dem „Tag der Vaterlandsverteidiger“ läuft es andersrum). Auch der (geschiedene) Präsident macht da keine Ausnahme und gratuliert der Damenwelt artig per Grußwort.

    Russlands Medien widmen sich zu diesem Datum einmal ausführlich „Frauenthemen“ – etwa mit einem Ratgeber, was Mann keineswegs zum 8. März verschenken sollte (Staubsauger, Unterwäsche, Schmuck), einer psychologischen Analyse, warum russische Frauen riesige Blumensträuße mögen oder einem analytischen Bericht, was unter „orthodoxer Mode“ zu verstehen ist – und warum diese in Russland immer beliebter wird.

    Prozess um Sawtschenko.  Doch zurück in die harte russische Nachrichtenrealität, wo unabhängig vom Feiertag gegenwärtig zwei Frauen im Mittelpunkt des Medieninteresses stehen: Nadeschda Sawtschenko und Maria Scharapowa.

    Immer dramatischer entwickelt sich der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Sawtschenko – deren „unverzügliche Freilassung“ inzwischen auch die Bundesregierung fordert. Moskau wies derartige Forderungen seitens der USA bereits als „Einflussnahme auf das Gericht“ zurück. Sawtschenko wird vorgeworfen, während der Kämpfe in der Ostukraine Artilleriefeuer korrigiert zu haben, was zum Tod zweier russischer TV-Journalisten führte. Sie selbst betrachtet sich als unschuldig, die russische Justiz für nicht zuständig und beteuert, nach Russland entführt worden zu sein. Eigentlich steht nur noch die Urteilsverkündung aus – und kaum jemand zweifelt daran, dass das Urteil in etwa der Forderung der Staatsanwaltschaft nach 23 Jahren Haft entsprechen wird.

    Doch als letzte Woche der Prozess vertagt wurde, bevor Sawtschenko ihr schon auf Facebook veröffentlichtes Schlusswort halten konnte, trat die kämpferische Angeklagte aus Protest gegen die Verzögerung in einen trockenen Hungerstreik und trank nichts mehr. Sechs Tage später, am Mittwoch dieser Woche, inzwischen nahm sie wieder Flüssigkeit zu sich, konnte sie ihr Schlusswort halten: Ausgezehrt stieg sie auf die Anklagebank und zeigte dem Gericht den Stinkefinger, berichtet die Novaja Gazeta. Den Text verlas dann ihr Dolmetscher: Man werde sie so oder so zurück in die Ukraine schicken, tot oder lebendig, heißt es darin. Denn Sawtschenko hungert schon seit zwei Monaten, in einer Woche will sie auch wieder auf das Trinken verzichten, doch die Urteilsverkündung ist erst für den 21. und 22. März anberaumt.

    Dopingskandal. Das Doping-Eingeständnis des russischen Tennis-Weltstars Scharapowa schockierte die russische Sportwelt – genauso wie die Tatsache, dass immer mehr Fälle der Anwendung des seit Jahresbeginn von der Welt-Anti-Doping-Agentur verbotenen Präparats Meldonium bekannt werden. Eine ganze Reihe russischer Eisschnellläufer wurde positiv getestet – und muss nun mit langen Sperren rechnen. Während Scharapowa ihren Fehltritt mit Unaufmerksamkeit beim Lesen der entsprechenden Verbote erklärte, sieht der russische Eisschnelllaufverband Saboteure und Intriganten am Werk: Konkurrenten aus dem eigenen Team müssen den Spitzensportlern das Mittel untergeschoben haben, erklärte Verbandschef Alexej Krawzow. Vorrätig hatten es wohl viele, denn laut Sportmediziner Kirill Raimujew nahmen „100 Prozent aller russischer Leistungssportler“ das Präparat ein.

    Meldonium in Form des Herzmedikaments Mildronat – erhältlich in jeder russischen Apotheke, 40 Kapseln für  250 bis 300 Rubel – gehörte in Russland in den letzten drei Jahrzehnten zur Sportler-Standardernährung und galt als absolut harmlos, schreibt auch die Sport-Webzeitung championat.ru und fleht Scharapowa geradezu an, jetzt nicht die reuige Sünderin zu spielen, sondern mit ihrer Finanz- und Medienmacht zum Wohle aller russischen Sportler für die Rehabilitierung des Mittels wie seiner Anwender zu kämpfen. „Das kann nur sie tun. Unsere Flaggenträgerin. Niemand anderes wird man mehr hören. Zu spät. Russe – das heißt Doping. … Mascha, rette uns!“

    Selbst der Wirtschaftspresse ist der Fall Titelstories wert. Schließlich war Scharapowa mit einem Jahreseinkommen von zuletzt 30 Mio. Dollar die bestbezahlte Sportlerin der Welt, berichtet rbc.ru. Zu drei Vierteln kam das Geld aus Werbeverträgen. Doch Nike, Porsche und TAG Heuer beendeten bereits die Zusammenarbeit mit Scharapowa, schreibt der Kommersant.

    Überfall auf Journalisten im Nordkaukasus. Zu den negativen Nachrichten muss der brutale Überfall auf eine Gruppe Journalisten und Menschenrechtler in Inguschetien gezählt werden. Ihr Kleinbus wurde am Mittwoch auf der Fahrt von Inguschetien nach Grosny auf freiem Feld von etwa 20 Maskierten in drei Autos angehalten. Die neun Insassen wurden zusammengeschlagen, teilweise ausgeraubt, als „Verräter“ beschimpft und der Bus der NGO Komitee zur Verhütung von Folter in Brand gesetzt. Vier Betroffene kamen ins Krankenhaus, darunter zwei Journalisten aus Norwegen und Schweden. Die Webseite Mediazona, deren Korrespondent ebenfalls zu den Opfern gehört, berichtete mit einem Newsticker über die Ereignisse – denn am gleichen Tag drangen auch unbekannte Täter in das Büro der NGO in Inguschetien ein. Die inguschetischen Behörden haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die tschetschenische Führung wies Vorwürfe zurück, die anti-oppositionellen Appelle von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten zu derartigen Gewaltauswüchsen führen.

    Ölpreis. Zu den wenigen positiven Nachrichten der Woche gehört jene, dass der Ölpreis wieder steigt. Brent kostet nun wieder über 40 Dollar, analog stieg der notorisch schwachbrüstige Rubelkurs auf den bisher höchsten Wert der Jahres. Doch die Krise ist nicht vorbei. Fundamental hat sich auf dem überfluteten Ölmarkt nichts geändert, der Preisanstieg ist eher spekulativer Natur: „Von einer Trendwende kann man noch nicht sprechen“, warnt Vedomosti in einem Kommentar.

    Tierische Liebe. Und um nochmals auf den Frauentag und zugleich einen Dauerhelden der russischen Medien zurückzukommen: Für Ziegenbock Timur, weltbekannt für seine furchtlose Zoo-Freundschaft mit dem sibirischen Tiger Amur, wurde am 8. März eine Brautschau organisiert. Doch er verschmähte alle sechs aus verschiedenen Regionen aufgebotenen Damen, darunter auch eine aus Moskau eingeflogene Ziege namens Merkel.  Freundlich begrüßte Timur nur seinen Tigerkumpel hinterm Zaun.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

     

     

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  • Presseschau № 20

    Presseschau № 20

    Aufruhr in den sozialen Netzwerken: Am Montag machen Bilder einer Frau die Runde, die mit dem abgeschnittenen Kopf eines Kindes in der Hand in Moskau festgenommen wird. Staatliche TV-Sender schweigen zu diesem Vorfall und müssen sich den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Bei einem Grubenunglück in Workuta sterben 36 Arbeiter. Sind mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen die Ursache? Außerdem: Michail Gorbatschow feiert seinen 85. Geburtstag, doch seine Arbeit für das Land bleibt weiterhin umstritten.

    Senden oder nicht? Syrien, eine Pegida-Demonstration in Dresden und die Flüchtlingskrise in Europa. Soweit die erste Viertelstunde in den russischen 20-Uhr-Nachrichten am Dienstag. Kein Wort dagegen über eines der meistdiskutierten Themen der vergangenen Woche: Der Mord der Blutigen Nanny, wie russische Boulevardmedien die Frau tauften, die vor einer Moskauer Metrostation mit dem Kopf eines ermordeten Kindes in der Hand verhaftet wurde. Am Dienstagabend wurden in einer spontanen Gedenkveranstaltung Blumen, Spielzeuge und Ballons vor der Metrostation für das Mädchen niedergelegt.

    Das Schweigen der staatlichen TV-Kanäle führte zu heftigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Zensurvorwürfe wurden laut, über den angeblichen Fall Lisa in Deutschland hätten die Medien ausführlichst berichtet. Oleg Kaschin sprach auf Slon gar vom „demonstrativsten Akt von Zensur der vergangenen Jahre“. Die Vorwürfe wies Präsidentensprecher Dimitri Peskow umgehend zurück. Die Sender selbst hätten entschieden, nicht über die Bluttat zu berichten, auch wenn der Kreml die Initiative unterstütze. Der bekannte TV-Journalist Wladimir Posner verteidigte die Entscheidung der Staatsmedien mit dem Argument, auch die amerikanischen TV-Stationen hätten nach 9/11 nicht alle Bilder gezeigt. Alexej Nawalny sprach auf seinem Blog ebenfalls von Zensur. Es gehe aber nicht darum, möglichst schockierende Bilder zu zeigen, sondern das Staatsfernsehen solle seiner Pflicht nachkommen und darüber berichten, was passiert.

    Durch das Verschweigen der Bluttat sollten Fremdenhass und rechtsextreme Übergriffe verhindert werden, da die mutmaßliche Täterin aus Usbekistan stammt. Die Strategie zeigte jedoch keinen Erfolg. Online und in den Boulevardmedien wurden Name und Herkunft der Nanny prompt publiziert, ihr Gesicht nicht unkenntlich gemacht, Videos von der Metrostation veröffentlicht. Auf eine Verlinkung möchten wir an dieser Stelle allerdings verzichten. Unzählige Kameras waren bei der Tatortbegehung sowie bei der ersten Anhörung vor Gericht anwesend. Der kremlnahe Sender LifeNews sendete die Bilder genauso wie TV Dozhd. Ob das Staatsfernsehen über das Verbrechen berichtet oder nicht, ist für die Komsomolskaja Prawda deshalb Nebensache. Wer etwas wissen will, informiert sich längst im Internet, das Fernsehen habe seine Vorherrschaft verloren.

    Grubenunglück in Workuta. Die Bluttat im Zentrum der Hauptstadt war jedoch nicht die einzige Tragödie, die sich in der vergangenen Woche in Russland ereignete. Bei mehreren Methanexplosionen in einer Kohlemine in der Republik Komi kamen 36 Arbeiter ums Leben, am 29. Februar wurden die Rettungsarbeiten eingestellt. Auch Tage später hat sich die Situation immer noch nicht gebessert, immer noch brennt es im Schacht und laut dem Katastrophenschutzministerium drohen neue Explosionen. Die Aufsichtsbehörde Rostechnadsor geht von einer natürlichen Unglücksursache aus. Ermittelt wird jedoch auch weiter. Schon in den Tagen vor der Explosion hätten die Arbeiter über eine zu hohe Methankonzentration im Schacht geklagt, schreibt die Novaja Gazeta. Um während einer Schicht mehr Kohle fördern zu können und damit mehr zu verdienen, hätten die Arbeiter möglicherweise selbst die Sensoren der Methandetektoren manipuliert. Immer wieder kommt es bei der Kohleförderung in Russland zu tödlichen Unfällen, die Sicherheitsvorkehrungen in der Branche gelten als mangelhaft. Alleine in den Schächten des Unternehmens Vorkutaugol, das auch den Unglücksschacht in Komi betreibt und zum Stahlriesen Severstal gehört, starben seit 1994 nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums 116 Menschen. Jede Million Tonnen Kohle, die während der vergangenen 15 Jahre gefördert wurde, kostete zwei Arbeitern das Leben, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.

    Jubiläum. Diese Woche gab es aber auch Grund zum Feiern. Michail Gorbatschow feierte am 2. März seinen 85. Geburtstag. Die Novaya Gazeta erinnerte aus diesem Anlass mit Zitaten und Auschnitten aus Reden und Interviews an Gorbatschows Regierungszeit (hier die wichtigsten Ereignisse). Andere Medien veröffentlichten Bildergalerien, TV Dozhd zeigte ein Interview. Auch in der New Times kam der Jubilar selbst zu Wort. Zudem wurden Politiker, Kulturschaffende und Studenten nach ihrer Meinung zu Gorbatschow gefragt. Das Verhältnis der Russen zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion bleibt gespalten: „Ich habe keine Meinung über ihn, weil ich kaum etwas weiß. Alles, was nach Stalin kam, ist für mich eine unverständliche Periode bis zur Wahl Putins“, antwortet eine Moskauer Studentin. Auch in Umfragen bleibt die Regierungszeit Gorbatschows eher in schlechter Erinnerung. 67 Prozent bewerten sie negativ, nur für zwölf Prozent überwiegen die positiven Errungenschaften der Perestroika, so eine aktuelle Lewada-Umfrage. In guter Erinnerung bleibt vor allem die Freiheit: 2015 gaben 35 Prozent an, die wichtigste Errungenschaft der Gorbatschow-Zeit sei die Reisefreiheit, 32 Prozent nannten die Redefreiheit.

    Nemzow-Mord. Mehr als 20.000 Menschen gedachten in Moskau am Wochenende des vor einem Jahr in Sichtweite des Kreml ermordeten Oppositionspolitikers. Laut der Behörde sind die Ermittlungen abgeschlossen, eine genaue Rekonstruktion zeigt aber, dass viele Fragen offen bleiben. Nun behauptete Wladimir Markin, Sprecher des Ermittlungskomitees, hinter dem Mord an Boris Nemzow könnten ausländische Anstifter stehen – wird diese Vermutung, die sich auf eine eigenwillige Interpretation eines Communiqués des State Departements stützte, noch weiter eine Rolle spielen? Was aber nächste Woche sicher wichtig wird: Der Prozess gegen die angeklagte ukrainische Pilotin Nadja Sawtschenko neigt sich dem Ende zu, die Staatsanwaltschaft fordert 23 Jahre Haft. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow wird trotz aller Rücktrittsankündigungen wohl erneut für das Amt des Präsidenten in der russischen Teilrepublik kandidieren – in Grosny fanden bereits Demonstrationen für seinen Verbleib im Amt statt. Und vor den Dumawahlen 2016 wird das Amt des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission neu besetzt. Wladimir Tschurow, seit den letzten Dumawahlen 2011 wegen Fälschungsvorwürfen von der Protestbewegung kritisiert, ist zurückgetreten.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Presseschau № 19

    Presseschau № 19

    Nach der Vereinbarung einer Waffenruhe in Syrien beschäftigen sich die russischen Medien mit den Chancen und Risiken dieser Einigung. Innenpolitisch sorgte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin mit seinem Bericht über Korruption in Tschetschenien und die Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow für Aufruhr. Außerdem: Die Russen feiern den Tag des Vaterlandsverteidigers mit der Präsentation allerlei neuen Kriegsgeräts.

    Russland und USA verkünden Einigung. Rechtzeitig zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar konnte Präsident Wladimir Putin eine gemeinsam mit den USA erzielte Einigung über eine Feuerpause in Syrien verkünden. Beide Ereignisse, der Feiertag wie die Einigung zu Syrien, fanden in den Medien ausführlich Platz. Der Kommersant sieht in Syrien einen großen diplomatischen Sieg für Moskau. Die USA seien nach den bereits fünf Monate andauernden Luftschlägen gezwungen, Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen. Der am 27. Februar in Kraft tretende Waffenstillstand ist allerdings nicht verbindlich. Die bewaffneten Gruppierungen müssen ihre Beteiligung entweder Moskau oder Washington melden. Der sogenannte Islamische Staat und andere Terrorgruppen, welche von der UNO als solche eingestuft wurden, sind explizit davon ausgenommen, schreibt die Zeitung weiter. Gegen diese werde die Militäraktion weitergeführt.

    Nach einem Telefonat mit Putin sicherte auch Syriens Präsident Bashar al-Assad die Bereitschaft seiner Regierung zur Unterstützung der Waffenruhe zu. Kremlnahe Medien sprechen von einer ehrlichen Chance, das Blutvergießen zu beenden. Auch die syrische Bevölkerung wolle Frieden, berichtet die Komsomolskaja Prawda in einer Reportage aus Latakia, wo sich eine russische Militärbasis befindet. Von Versöhnung oder Friedensverhandlungen ist allerdings nicht die Rede. Vielmehr sollen die bewaffneten Kämpfer nun an der Seite der offiziellen syrischen Armee weiter gegen den Islamischen Staat kämpfen, fordert einer der Gesprächspartner der Komsomolskaja Prawda.

    Die Absicht hinter dieser Deeskalationsstrategie scheint klar: Das Ziel der russischen Militäroperation in Syrien wurde erreicht, das Assad-Regime stabilisiert und das von ihm kontrollierte Gebiet vergrößert, analysiert das unabhängige Magazin Slon. Um die umkämpfte Stadt Aleppo einzunehmen, reichen die Kräfte des Regimes jedoch nicht. Lässt sich Russland stärker in den Konflikt hineinziehen, riskiert Moskau damit weitere Sanktionen, schreibt das Magazin weiter. An der Einhaltung der Waffenruhe, wird sich laut Vedomosti zeigen, wie groß der Einfluss Moskaus und Washingtons auf ihre jeweiligen Verbündeten in Syrien ist. Die Positionierung Moskaus neben Washington als zweiter Garant für die Waffenruhe bringt auch Risiken mit sich, so die Zeitung. Kremlkritische Medien wie Meduza bewerten die Chancen für eine stabile Waffenruhe negativ.

    Gefahr für die nationale Sicherheit. Ramsan Kadyrow, tschetschenischer Republikchef, ist aus den russischen Medien kaum mehr wegzudenken: Zum einen wegen der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzows, die sich am 27. Februar zum ersten Mal jährt und deren Spuren nach Tschetschenien führen – die Novaya Gazeta und TV Dozhd berichteten ausführlich über den Stand der Ermittlungen. Zum anderen veröffentlichte Ilja Jaschin, Vizepräsident der Oppositionspartei PARNAS, am Dienstag einen Bericht über die Korruption in der russischen Teilrepublik und über Kadyrows Privatarmee. Slon und The New Times haben die wichtigsten Punkte daraus zusammengefasst. Der Bericht schließt mit 20 Fragen, die Jaschin gerne vom tschetschenischen Machthaber beantwortet haben möchte. Hier die englische Übersetzung. Kadyrow reagierte auf Instagram: Es sei ein „Theater“, das Geschriebene „Geschwätz“, so der Republikchef, der sich damit brüstete, den Bericht noch vor der offiziellen Präsentation in Moskau veröffentlicht zu haben. In einem Radiointerview unterstellte Kadyrow Jaschin, bei seinem Besuch in Grosny mit niemandem gesprochen und bloß Klatsch aus dem Internet gesammelt zu haben. Erneut bedrohte er Jaschin als Volksfeind, die seien überhaupt die größte Gefahr für die nationale Sicherheit. Konsequenzen drohen Kadyrow dafür wohl kaum. Im Gegenteil: 31 Prozent der Russen respektieren den tschetschenischen Machthaber laut einer neuen Umfrage des staatlichen WZIOMInstituts. 2007 waren es gerade einmal elf Prozent. Kadyrow sei für alle Seiten nützlich, deshalb führe er sich so auf, sagt Alexej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Center im Moskovski Komsomolets. Um das Problem Tschetschenien zu lösen, müsste Russland ein anderer Staat werden, konstatiert Malaschenko.

    Tag des Vaterlandsverteidigers. Am Dienstag, den 23. Februar feierte Russland seine Armee. Anlässlich des inoffiziellen Männertags (offiziell arbeitsfrei) übte sich das Verteidigungsministerium im zeitgemäßen Rebranding, während das Staatsfernsehen neues Kriegsgerät zeigte und die friedensstiftenden Aspekte der russischen Armee hervorhob: „Wie haben sich unsere Armee und unsere Fähigkeit, die Welt zum Positiven zu verändern, verbessert“, leitete die Moderatorin den Beitrag in den Abendnachrichten ein. Kritischere Stimmen, wie die des Journalisten Oleg Kaschin beklagen dagegen den Militarismus der russischen Gesellschaft, der anlässlich dieses Feiertags durchaus auch seltsame Blüten treibt. Was der Wehrdienst für eine Familie bedeuten kann, schildert auf Radio Svoboda eine Journalistin anhand der Erfahrungen ihres jüngeren Bruders in der sowjetischen Armee. Es wäre zynisch, würde sie ihm, wie in Russland üblich, zum Tag des Vaterlandsverteidigers gratulieren, vor allem seit der Annexion der Krim. Positiv sei einzig, dass ihn seine Zeit in der Armee zum überzeugten Pazifisten gemacht habe.

    Was in der nächsten Woche wichtig wird. Wir beobachten, ob der Waffenstillstand in Syrien eingehalten wird. Am Samstag findet in Moskau ein Gedenkmarsch für Boris Nemzow statt. Zudem muss die russische Regierung bei der Budgetplanung nachbessern. Laut Finanzminister Anton Siluanow fehlen sogar die Mittel für den Anti-Krisenplan.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org









     

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    Presseschau № 18

    Als „Jahrtausendereignis“ gefeiert wurde dieser Tage das Treffen von Patriarch Kirill und Papst Franziskus auf Kuba. In Aleppo werden derweil die Bombardements fortgesetzt und die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Russland und Europa gehen weiter. Außerdem: Innenpolitisch beginnt allmählich der Wahlkampf zu den Dumawahlen im September. Pünktlich zu dieser Gelegenheit zeigt Alexej Nawalny Putin wegen Korruption an.

    Franziskus und Kirill. Diese Woche begann für die russischen Medien mit einem wahrhaftigen Jahrtausendereignis: Erstmals in der Geschichte der Christenheit, und fast tausend Jahre nach der Spaltung in West- und Ostkirche trafen sich die Oberhäupter der katholischen und der Russisch-Orthodoxen Kirche persönlich – und kündigten gemeinsame Schritte gegen die Christenverfolgung im Nahen Osten und für die Bewahrung des Friedens in der Welt und in der Ukraine im Besonderen an. Das Treffen von Kirill und Franziskus auf Kuba wurde in der russischen Presse entsprechend mit verbalen Superlativen belegt: „Ein Ereignis von zivilisatorischem Ausmaß“ betitelte TASS eine ausführliche Zusammenfassung von Reaktionen auf die Kirchenführer-Begegnung in Havanna. Warum das Treffen gerade jetzt klappte, sah die Zeitschrift Ogonjok so: Einerseits gibt es die – vom Patriarchat in Abrede gestellte – Version, Russland wolle so wenigstens im religiösen Feld aus der Isolierung gegenüber dem Westen ausbrechen. Andererseits wolle Kirill sein Gewicht auf einer in diesem Jahr anstehenden Synode aller orthodoxen Kirchen auf Kreta steigern – denn auch dieses Event wird schon über 50 Jahre vorbereitet.

    Russland in Syrien. Russland ist Kriegspartei in Syrien, deshalb vergeht kein Tag ohne dieses Stichwort. Zuletzt hagelte es aus dem westlichen Ausland Vorwürfe, russische Bombenangriffe auf Aleppo seien schuld an einer neuen Flüchtlingswelle – und auch ganz konkret an der Zerstörung eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen. Letzteren Vorwurf dementierte der Kreml wie üblich routiniert, berief sich dabei aber auf die nicht minder fragwürdige Behauptung des syrischen Botschafters in Moskau, das Hospital sei von den Amerikanern angegriffen worden – eine Version, die auch schon eine Woche vorher hinsichtlich Aleppos seitens des russischen Militärs verbreitet wurde.

    Interessanter als die endlosen gegenseitigen propagandistischen Schuldzuweisungen ist es, wenn in der Presse über die Perspektiven des Konflikts nachgedacht wird: In einem Kommentar des Kommersant werden interessante Vergleiche zwischen den beiden „Hybridkriegen  des 21. Jahrhunderts“ in Syrien und der Ostukraine gezogen. Die These lautet, dass die Schlacht um Aleppo für die Entwicklung des Konflikts unter günstigen Umständen die gleiche Bedeutung haben könnte, wie die verbissenen Kämpfe um den Bahnknotenpunkt Debalzewo vor einem Jahr. Beides geschah vor dem Hintergrund von Friedensverhandlungen, damals in Minsk, jetzt in Genf. „Debalzewo zeigte, dass das Potential der großräumigen militärischen Auseinandersetzung erschöpft ist“, schreibt Sergej Strokan. Damit könnte, so der Kommentator, der Weg für ein Analog des Minsker Abkommens für Syrien frei werden, „sofern nach der absehbaren Zerschlagung der gegen Damaskus kämpfenden Gruppierungen oder der Androhung ihrer Zerschlagung Riad und Ankara die neuen Realitäten auf dem Schlachtfeld anerkennen“ und nicht etwa mit dem Einsatz von Bodentruppen die Initiative wieder an sich reißen.

    Möglicherweise passiert aber genau das schon jetzt: Am Donnerstag berichteten russische Medien intensiv darüber, dass hunderte gut bewaffnete Kämpfer aus der Türkei nach Syrien eingedrungen seien, um vor allem gegen die vorrückenden Kurden zu kämpfen. In gewisser Weise ist das aus russischer Sicht verständlich, so Arkadi Ostrowski, der Moskauer Büroleiter des Economist in einem Gespräch mit Echo Moskwy: „Die Türkei benimmt sich dort genauso wie Russland im Donbass. Für die Türkei ist Syrien nahes Ausland – es gehörte bis in die 1920er Jahre zum Osmanischen Reich. Das ist deren Ukraine.“

    Apropos Debalzewo: Genau ein Jahr nach der Kesselschlacht hat fontanka.ru Debalzewo besucht, um in Bild und Text den Wiederaufbau zu dokumentieren. Fazit: Es geht voran, aber zäh. Das Eisenbahnerstädtchen gehört heute zwar zur Donezker Volksrepublik, doch die Eisenbahner sind bei der ukrainischen Bahn angestellt – und bekommen ihren Lohn in Griwna auf der anderen Seite der Frontlinie. Dorthin rollen unentwegt auch Züge mit Kohle aus den Donbass-Gruben, heißt es in dem Bericht.

    Nawalny, Putin und der Wahlkampf. Zurück nach Russland, wo die Dumawahlen im September ihre Schatten vorauswerfen und die Parteien zwingen, ihre Strategien zu überdenken. Denn wieder einmal wurde das Wahlsystem geändert: Wie bereits bis 2003 wird wieder eine Hälfte der Parlamentssitze als Direktmandate vergeben. Das wird der Kreml-Partei Einiges Russland selbst bei einem sehr bescheidenen Ergebnis (2003 waren es beispielsweise 37,5 Prozent) ohne jede Schummelei beim Auszählen erlauben, in der Duma mit Hilfe der formell unabhängigen Wahlkreisabgeordneten eine solide Mehrheit zusammenzubekommen. Die Zeitung Vedomosti sieht sich dabei von dem Umstand alarmiert, dass die vier jetzt im Parlament vertretenen Parteien sich darauf geeinigt haben, sich in 40 der 225 Wahlkreise keine Konkurrenz zu machen. Damit wird die Systemopposition endgültig gekauft, so Vedomosti.

    Was die „echte“ Opposition angeht, so wird diese zunehmend zur One-Man-Show von Alexej Nawalny: Auf seinem Lieblingsfeld, der Korruptionsenthüllung, hat er jetzt Wladimir Putin persönlich ins Visier genommen – und gegen ihn frechweg Anzeige erstattet. Putin habe verfügt, dass aus einem Staatsfond dem Ölkonzern Sibur 1,75 Mrd. Dollar für ein Raffinerieprojekt zur Verfügung gestellt werden. Doch einer der Sibur-Großaktionäre ist Kirill Schalamow, der Ehemann von Jekaterina Tichonowa – und das ist Putins Tochter. Putin hätte sich aufgrund des Gesetzes über die Korruptionsverhütung in dieser Frage für befangen erklären müssen – und nichts mehr als diesen Umstand möchte sich Nawalny vom Gericht bestätigen lassen. Medien, die über Putins Töchter oder seine Ex-Frau berichten, leben im Übrigen gefährlich in Russland, stellt snob.ru fest: Kaum schreibt man etwas über die heilige Familie, gibt es einen Anpfiff von der Medienaufsichtsbehörde – formell wegen irgendwelcher anderer Verfehlungen.

    Patriarch und Pinguine. Zum Schluss noch mal zurück zum Patriarchen: Der besuchte nach seinem Treffen mit dem Papst nicht nur Südamerika – sondern einen ganzen weiteren Erdteil: Überraschend legte er nämlich einen Schlenker in die Antarktis ein. Denn in der russischen Polarstation Bellinghausen gibt es die einzige ständig mit einem Priester besetzte Kirche des Kontinents – den das Kirchenoberhaupt sogleich als Ideal der Menschheit pries: „Keine Waffen, keine Kriege, keine Grenzen, keine feindselige Konkurrenz, sondern Kooperation wie in einer Familie.“ Sprachs und stieg in bester Putin-Action-Manier mit Schwimmweste in ein Schlauchboot, um eine Pinguin-Kolonie zu besuchen.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org


     

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    Presseschau № 17

    Wer ist schuld an der syrischen Flüchtlingskrise? Außenminister Sergej Lawrow sieht Angela Merkel in der Pflicht und bestreitet einen Zusammenhang mit russischen Bombardements. Völlig andere Themen beschäftigen die Moskauer in dieser Woche: In einer Nacht- und Nebelaktion wurden fast 100 Verkaufsbuden abgerissen, die bisher das Stadtbild prägten. Und auch Ramsan Kadyrow macht weiter Schlagzeilen.

    Wer ist Schuld an der Flüchtlingskrise? Die Lage im syrischen Aleppo verschlimmert sich täglich, bereits Zehntausende sind laut internationalen Hilfswerken auf der Flucht. Für den Anstieg der Flüchtlingsströme hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara die russischen Luftangriffe verantwortlich gemacht. Moskau weist allerdings jegliche Mitschuld an der Katastrophe zurück. Im Gegenteil: Er sei erstaunt über die bedingungslose Unterstützung, welche Merkel der Türkei in der Syrienfrage zukommen lasse, meinte der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit dem Moskovski Komsomolets. Laut Lawrow seien die Menschen schon lange vor dem Beginn der russischen Luftschläge Anfang September 2015 aus Syrien geflohen. Auch der Kreml sieht keinen Zusammenhang. Für tote Zivilisten durch russische Bombardements gäbe es bislang „keine Beweise, die Vertrauen verdienen würden“, sagte Dimitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Merkel möge in Zukunft vorsichtiger in ihrer Wortwahl sein, so Peskow weiter.

    Regierungsnahe Medien nahmen Merkels Aussage zum Anlass, die deutsche Flüchtlingspolitik zu kritisieren. Die blinde Unterstützung der amerikanischen Nahostpolitik habe Chaos, Terror und einen unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom nach Europa gebracht, behauptet die Komsomolskaja Prawda. Merkel sei zynisch, kommentiert das Massenblatt. Das Wüten des Islamischen Staates in Syrien mache das russische Eingreifen notwendig. Für westliche Politiker seien Trauer und Mitgefühl eine Ware, auf die man zurückgreifen könne, wenn es gerade opportun sei, kommt die Zeitung zum Schluss.

    Es gibt aber auch kritische Stimmen: Der Kampf um Aleppo könnte zu einer weiteren Eskalation zwischen Moskau, dem Westen, der Türkei und den arabischen Ländern führen, schreibt etwa Vedomosti. Russland bringe mit seinen Bombardements zusehends seinen Platz am Verhandlungstisch in Gefahr. Laut Slon profitiert Russland immer weniger von dem Militäreinsatz, je länger dieser andauert, denn die Sanktionen sind immer noch in Kraft, und angesichts der Wirtschaftskrise im eigenen Land verpufft auch der Propagandaeffekt aus dem Kampf gegen den Terrorismus. Neueste Zahlen zeichnen kein positives Bild: Die finanziellen Reserven der Russen schrumpfen zusehends. Laut Rosstat überstiegen die Ausgaben der Bürger 2015 zum ersten Mal seit 1998 ihre Einnahmen.

    Die Nacht der langen Schaufeln. Mit Unverständnis wurde so auch in vielen Berichten auf die „Nacht der langen Schaufeln“ reagiert, wie einige Medien die Nacht- und Nebelaktion tauften, in der die Moskauer Stadtregierung 97 Verkaufspavillons abreißen ließ. Es handle sich um eine Vernichtung von Arbeitsplätzen während der Wirtschaftskrise, schreibt Slon. Die Bagger fuhren Montagnacht vor mehreren zentralen Metrostationen auf und rissen Kioske ab, deren Genehmigungsstatus zumindest unklar war. Vorher-Nachher-Bilder gibt es hier zu sehen.

    Aus dem Stadtbild Moskaus sind die kleinen Häuschen nicht wegzudenken. Kaum etwas, was es dort nicht zu kaufen gibt. Das Sortiment reicht von Fastfood über Blumen bis zu neuen Handys. Der Abbruch sei eine Frage der Ästhetik, die Hauptstadt werde damit in Ordnung gebracht, finden Befürworter. Laut Bürgermeister Sergej Sobjanin wurden die Pavillons illegal erbaut, stünden zum Teil auf Gas- und Elektrizitätsleitungen und entsprächen nicht den Sicherheitsvorschriften. Der offizielle Entscheid zum Abriss datiert von Anfang Dezember, alle geltenden Vorschriften seien eingehalten worden, betont die Rossijskaja Gazeta. Als Entschädigung hat die Stadtregierung den Bau neuer Pavillons auf eigene Kosten versprochen, welche dann in einer Auktion neu vergeben werden sollen.

    Keine Frage der Ästhetik sondern eine Frage des Rechts ist die kontrovers diskutierte Aktion dagegen für Vedomosti. Die Kioskbetreiber hätten über rechtsgültige Dokumente verfügt. Gegen den Abbruch gab es noch offene Klagen, berichtet TV Dozhd. Ohne Gerichtsentscheid widerspricht der Abriss gar der russischen Verfassung, schreibt der Kommersant. Für Slon hat Sobjanin mit der Aktion gezeigt, dass das Recht auf Eigentum in Russland nicht existiere. Auf den Punkt brachte der Zeichner Sergej Jolkin die Kritik vieler Moskauer: Auf die wiederholten Beteuerungen Putins und Medwedews zur Unterstützung der Kleinunternehmer folgt – der Bagger. 

    Die Stadtregierung beruft sich jedoch auf ein neues Gesetz, das ihr gestattet, illegal errichtete Gebäude auch ohne Gerichtsentscheid abreißen zu lassen. Die Betreiber sollten sich nicht hinter Papieren verstecken, welche sie auf illegalem Weg erhalten hätten, so Sobjanin auf seiner offiziellen VKontakteSeite.

    Bereits seit mehr als 20 Jahren versucht die Stadt, die Zahl der kleinen Pavillons rigoros zu begrenzen. Die Verkaufspavillons, die in den 1990er Jahren zur Förderung des Kleinunternehmertums von der Stadt zugelassen wurden, haben sich seit damals zu einem lukrativen Geschäft entwickelt.

    Tortenwurf mit Folgen. Michail Kassjanow, Vorsitzender der Oppositionspartei PARNAS wurde in einem Moskauer Restaurant mit einer Torte beworfen. Der Parteichef bringt die Tätlichkeit mit seiner politischen Arbeit und den Drohungen des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow gegen die Opposition in Verbindung. Als vom Ausland gekaufte Volksfeinde bezeichnete Kadyrow die Oppositionellen. Zuletzt hatte er auf seinem Instagram-Account gar ein Video von Kassjanow veröffentlicht, über welchem ein Fadenkreuz montiert war. Instagram hat das Video später entfernt. Vor dem Restaurant in der Moskauer Innenstadt wurden nach dem Anschlag drei Mitarbeiter des tschetschenischen Innenministeriums verhaftet. Der Kreml sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Tortenwurf und den Aussagen Kadyrows und seiner Entourage. Kadyrow selbst hat sich von dem Angriff nicht distanziert. Tags darauf veröffentlichte er ein Foto des russischen Tenors Nikolaj Baskow, ebenfalls mit einer Torte im Gesicht. Nach dem Tortenwurf renne der Sänger von einer internationalen Instanz zur anderen und verlange eine Wiederholung des Banketts, lautet die Bildunterschrift.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Presseschau № 13: der Ölpreis

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  • Presseschau № 16

    Presseschau № 16

    Ramsan Kadyrow beschäftigt weiter die russische Öffentlichkeit: Er nimmt Oppositionspolitiker im wahrsten Sinne des Wortes ins Fadenkreuz und Putin lobt ihn für sein „effiziente Amtsführung“. Außenminister Lawrow liefert sich einen Schlagabtausch mit Frank-Walter Steinmeier, während die Kreml-Presse den Besuch von Bayerns Ministerpräsident Seehofer bei Putin feiert. Unterdessen bricht ein russischer Trickfilm um ein kleines Mädchen und einen Bären alle Rekorde. Unsere Presseschau in dieser Woche.

    Kadyrows Kampagne. In den russischen Medien ist Tschetscheniens Herrscher gegenwärtig omnipräsent: Ramsan Kadyrow und sein Feldzug gegen die führenden Köpfe der russischen Opposition. Mitte Januar hatte er sie pauschal als „Volksfeinde“ bezeichnet – und einen Aufschrei unter Menschenrechtlern provoziert. Nun schießt sich der starke Mann aus Grosny auf konkrete Figuren ein – im bildhaften Sinne: Auf Instagram postete er ein Video, das den Chef der Partei Parnas, Michail Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigte. Der Text dazu: „Kassjanow ist nach Straßburg gefahren, Geld abholen für die russische Opposition.“ Instagram löschte das Video, Kassjanow hat aber dennoch Anzeige erstattet, da er dies als Morddrohung und Aufruf zum Extremismus versteht. Schließlich wurde vor knapp einem Jahr auch sein Mitstreiter Boris Nemzow ermordet – und zwar, der jüngst fertiggestellten Anklage zufolge, von einem tschetschenischen Killerkommando. Den Auftraggeber habe man allerdings nicht ermitteln können, heißt es jedenfalls von amtlicher Seite.

    Dass allerdings jemals gegen Kadyrow ermittelt wird, ist mehr als unwahrscheinlich: Wladimir Putin lobte ihn vor kurzem ausdrücklich für seine „effiziente Amtsführung“. Dies nahm RBK zum Anlass für einen kritischen, aber ausführlichen statistischen Überblick in Form der 20 wichtigsten Fakten über Tschetschenien – von der höchsten Geburten- bis zur niedrigsten Kriminalitätsrate Russlands. Hintergrund von Kadyrows Hetzkampagne ist, so Vedomosti, dass sich dieser im Herbst erstmals in Tschetschenien zur Wahl stellen muss. Seine Amtszeit läuft aber offiziell schon im März aus, zu diesem Zeitpunkt müsste er also von Putin als Verweser seines eigenen Amtes eingesetzt werden. Deshalb will er sich als treuester Gefolgsmann des Präsidenten profilieren. Kadyrows Informationsminister versuchte im Nachhinein, die Kassjanow-Episode als Witz abzutun: Die Oppositionellen seien im Fadenkreuz eines Periskops abgebildet gewesen, behauptete er.

    Lisa und Lawrow. Im Fall von „Lisa aus Berlin“ beruhigen sich die Gemüter langsam wieder, sowohl in Deutschland wie auch in Russland. Was nun wirklich mit Lisa während ihres 30stündigen Verschwindens passiert ist, interessiert zunehmend weniger –  vor allem jene Medien, die auf russischer Seite die Empörung angefeuert hatten. Vesti, die Nachrichtensendung des  Staatssenders Rossija, übernimmt beispielsweise weiterhin nur die Darstellung von Lisas Mutter (anhand eines Interviews mit Spiegel TV). Unabhängige Medien wie Meduza bemühen sich hingegen, die Sache aufzuarbeiten – und schreiben über die Probleme des Mädchens  mit den Eltern und in der Schule wie auch über ihre Bekanntschaften mit volljährigen Männern. Gazeta.ru geht der Frage nach, inwieweit der Skandal den Ruf des russischen Außenministeriums beschädigt hat. Den Höhepunkt bildete in der vergangenen Woche ein Schlagabtausch zwischen den Außenministern beider Länder: Lawrow warf den deutschen Behörden vor, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen, Steinmeier tadelte Russland daraufhin wegen einer Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Propaganda. Lawrow erwiderte wiederum pikiert, dass es sich schließlich auch der Westen ständig erlaube, mutmaßliche Verletzungen von Menschenrechten einzelner Personen in Russland an die große Glocke zu hängen.
    Die Novaja Gazeta bringt dazu ein Interview mit dem ehemaligen Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster. Der überzeugte Putin-Kritiker bezeichnet den „Fall Lisa“ als vom russischen Geheimdienst aufgegriffene Gelegenheit für eine Propaganda-Show. Das Ziel sei, in Russland wie auch unter den Russischsprachigen in Deutschland Stimmung gegen die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu machen. Laut Reitschuster gibt es Hinweise auf einen russischen Plan, „Merkel zu stürzen“, denn sie sei „der Hauptgegner Moskaus“. Derartige Vorwürfe nötigten wiederum Putins Pressesprecher Dimitri Peskow zu einem Dementi: Russland schütze lediglich die Interessen seiner Staatsbürger, irgendwelche geheimen Intrigen dürfe man darin nicht suchen, erklärte er.

    Seehofer in Moskau. Mit fast den gleichen Worten wies Peskow dann auch den ebenfalls in Deutschland laut gewordenen Vorwurf zurück, es gebe angesichts des Seehofer-Besuchs in Moskau so etwas wie eine Anti-Merkel-Verschwörung auf der Achse Moskau-München. Im vom Kreml veröffentlichten Teil des Gesprächs zwischen Putin und Seehofer ist dann auch nur brav von Beziehungspflege und Wirtschaftsförderung die Rede. Das kremltreue Nachrichten-Magazin Vesti betont in seinem Bericht aber dennoch, Bayern schaffe Beziehungen zu Moskau „unter Umgehung Berlins“ – und betont, dass der Freistaat die Russland-Sanktionen der EU für „absurdes Theater“ halte.

    Mascha und der Bär. Lächerlich und vergeblich müssen all diese angestrengten Bemühungen um Meinungsmache und öffentliche Präsenz erscheinen, wenn man sie mit dem Medienerfolg von Russlands populärstem Exportprodukt vergleicht. Es heißt, nein – nicht Erdgas und auch nicht Kalaschnikow, sondern „Mascha und der Bär“. Nie gehört oder gesehen? Dann wird es höchste Zeit – eine 2012 veröffentlichte Folge unter dem  Titel „Mascha plus Kascha“ dieser Trickfilmreihe hat jetzt bei Youtube die Schallmauer von 1 Milliarde Views (!) geknackt – was bisher nur 20 Webvideos überhaupt gelang. Das war sogar dem seriösen Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Kommentar wert: Schließlich verdient das hochprofessionelle Moskauer Trickfilmstudio Animaccord mit seinem Mascha-Klamauk (es gibt ihn hier auch auf Englisch) allein auf Youtube jeden Monat 1,5 Mio. Dollar.

     

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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  • Presseschau № 15

    Presseschau № 15

    Gleich mehrere Themen erregten die Gemüter in dieser Woche: Die angebliche Vergewaltigung des 13-jährigen Mädchens in Berlin schlägt hohe Wellen. Außenminister Lawrow meldet sich zu Wort und wirft den deutschen Behörden eine Vertuschung des Falls vor. Aus dem Londoner Bericht zur Ermordung Alexander Litwinenkos geht hervor, Putin habe dessen Vergiftung wahrscheinlich genehmigt. Auch Ramsan Kadyrow und seine Drohungen sind noch immer Thema. Derweil bilden sich lange Warteschlangen vor der Tretjakow-Galerie.

    Europa und seine Migranten.  Auch diese Woche ist die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens in Berlin durch Flüchtlinge in den russischen Medien immer noch Thema. Einer der staatlichen Nachrichtensender, Rossija 24, führt nun die „Affäre Lisa in Berlin“ gar als Themenrubrik auf seiner Homepage. Auslöser war eine Reportage des Ersten Kanals, in welcher angebliche russischstämmige Auswanderer in ziemlich rabiatem Tonfall Selbstjustiz gegenüber Flüchtlingen andeuteten. Auch die russische Regierung hat den Fall kommentiert: Außenminister Lawrow forderte in einer Pressekonferenz Deutschland, dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich zu kehren. Und dies, obwohl kein Journalist eine Frage zu dem Thema gestellt hatte.

    In ihren Berichten beriefen sich einige staatliche Medien auf den bisher kaum in Erscheinung getretenen Internationalen Konvent der Russlanddeutschen, zu finden unter der Internetseite www.genosse.su, welcher am Wochenende zu einer Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin gegen Gewalt von Migranten aufrief. Auch Meduza berichtet von den Kundgebungen. Andere wiederum kritisieren abermals die Arbeit der deutschen Medien. Im Massenblatt Komsomolskaja Prawda darf dies der deutsche „politische Experte und Analyst“ Hans Weber, einer der führenden Köpfe der neuen Frankfurter PEGIDA-Gruppe, welcher deutsche Medien allesamt aus Washington gesteuert sieht. Die Korrespondentin und ihr Gesprächspartner sind sich einig: Europa begeht durch den Zuzug der Migranten kollektiven Selbstmord, Rettung könne einzig aus Russland kommen, das versuche, der amerikanischen Dominanz eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen. 

    Andere russische Medien betonen allerdings die Fragwürdigkeit des Berichts. The Insider berichtet über die Anklage wegen möglicher Volksverhetzung gegen einen Korrespondenten im Ersten Kanal durch einen deutschen Anwalt. TV Dozhd besucht Russlanddeutsche in Berlin, welche stolz ihr Stück Heimat in der Fremde präsentieren. Inklusive russischer Lebensmittel, die deutschen seien ja voller Chemie, wie einer der Protagonisten erzählt.

    Radioaktive Spur erreicht Moskau.  Skandal, Lüge und eine Provokation: Mit harten Worten reagierte Moskau  auf den britischen Untersuchungsbericht zum Tode Alexander Litwinenkos. Als größter Aufreger erwies sich die vom Vorsitzenden der Kommission, Richter Robert Owen, erhobene Behauptung, Präsident Wladimir Putin sowie der damalige FSB-Chef Nikolaj Patruschew hätten die 2006 in einer Londoner Hotelbar erfolgte Vergiftung des ehemaligen Geheimagenten „wahrscheinlich genehmigt“ (auf Seite 246 des Reports). Mögliche Hintergründe, warum der nach seiner Flucht aus London 2000 zum Putin-Kritiker gewordene Litwinenko durch radioaktives Polonium vergiftet wurde, liefert The Insider. Wer die damaligen Ereignisse nicht mehr präsent hat, findet hier einen detaillierten Bericht über Litwinenkos letzte Tage in London und sein Zusammentreffen mit den Mordverdächtigen Dimitri Kowtun und Andrej Lugowoi.

    Kremlkritische Medien berichteten ausführlich über den Report. The New Times veröffentlichte ein langes Interview mit der Witwe, Maria Litwinenko. Die Reaktion der staatlichen Medien ließ dagegen auf sich warten. Wie ein Blick in die regierungseigene Rossiskaja Gazeta einen Tag nach Veröffentlichung des Berichts zeigt, waren andere Themen, etwa der Rubelkurs, wichtiger als der Fall Litwinenko. Trotzdem ließ die Rossisjaka Gazeta kein gutes Haar den dem Report; London würde die Brücken zu Moskau abbrechen, heißt es. TV-Sender sehen London und Moskau nun gar am Rande eines neuen Kalten Krieges. Auch Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja (dt. Russland Heute), berichtete in seiner sonntäglichen Nachrichtensendung erst nach Terroranschlägen, Syrien, Wirtschaftskrise und Flüchtlingen über die Ergebnisse von Richter Owen. Fazit des Beitrags (ab Minute 41): Litwinenko habe sich bei einer Geheimoperation durch unsachgemäße Handhabung des Poloniums wahrscheinlich selbst vergiftet. Rascher als die Medien reagierte allerdings die Politik. Bereits kurz nach der Veröffentlichung nannte das Außenministerium die Untersuchung eine politisch motivierte Farce. Für die in dem Bericht erhobenen schweren Anschuldigungen gegenüber der russischen Staatsspitze gäbe es keine Beweise, es grenze an Verleumdung und das „Spektakel“ werde die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien weiter belasten, sagte Außenminister Sergej Lawrow während einer Pressekonferenz. Mit seiner Strategie versuche Moskau das Narrativ an sich zu ziehen, schreibt The New Times. Es gehe allerdings nicht nur um die mediale Deutungshoheit, schreibt das Magazin weiter. Konkrete Folgen seien nötig. Es dürfe nicht vergessen werden, dass sich die russische Regierung in der Litwinenko-Affäre eines politischen Gegners entledigt habe und das auch noch außerhalb der russischen Staatsgrenzen.

    Schakale und Volksfeinde. Innenpolitisch richtet sich der Blick immer noch nach Tschetschenien. Am Freitag riefen die Behörden zu einer straff durchorganisierten Kundgebung gegen die liberale Opposition und für den Patrioten Ramsan Kadyrow auf. Bei dem Aufmarsch wiederholte die Entourage des Republikchefs dessen hetzerische Drohungen: „Wir kennen unsere Feinde und die Verräter dieses Landes. Ihre Namen stehen auf einer Liste“, sagte der russische Parlamentsabgeordnete Adam Delimchanow. Hier noch zusätzliche Informationen über den Cousin und engen Vertrauten des Republikoberhaupts. Der Kreml nimmt dies kritiklos hin und erteilt gar noch Rückendeckung. Putin hob dieser Tage die Effizienz Kadyrows als Republikchef hervor, dessen Drohungen hat er nicht kommentiert. Bereits seit Ende 2014 hat die tschetschenische Regierung ihre Hetzkampagne gegen Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner verstärkt. Laut The New Times will Kadyrow Putin damit Stärke und auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Kreml demonstrieren. 60 Prozent der Russen halten die Aussagen des Republikchefs allerdings für unzulässig, lauten die Ergebnisse einer neuen Lewada-Umfrage. Letztes Jahr stand Kadyrow höher in der Gunst der Russen, was laut Lewada auf seine Position im Ukraine-Konflikt zurückzuführen war. Tschetschenen kämpften auch auf Seite der Separatisten im Donbass. Das sei nun vergessen.

    Eisige Warteschlange. Viel zu reden gab dieser Tage auch eine eingetretene Türe in Moskau. Dahinter stand jedoch kein politischer Vandalismus, vielmehr wurde die Tür von Leuten aufgebrochen, welche sich bei eisigen Temperaturen für den Besuch einer Ausstellung des Malers Walentin Serow anstellten. Das Personal der Tretjakow-Galerie wurde förmlich überrannt, die Schlange reichte mehrere hundert Meter bis zum Eingang des Parks. Das RuNet reagierte spöttisch und verglich die Schlange mit der aktuellen Tagespolitik: „Roskomnadsor hat den Zugang zur Schlange blockiert“, twitterte ein Nutzer in Anspielung auf die staatliche Zensurpolitik im Internet, ein anderer: „Peskow hat die Existenz einer Warteschlange bestritten“. Ein Verweis auf Putins Sprecher Dimitri Peskow und dessen Gabe, auch Offensichtliches erst einmal zu negieren.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

  • Presseschau № 14

    Presseschau № 14

    Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist mit seinen Äußerungen zur russischen Opposition derzeit in aller Munde. Oppositionelle wehren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, während in Tschetschenien „Pro-Kadyrow“-Flashmobs organisiert werden. Außerdem wird in den Medien kontrovers über die Ereignisse in Köln diskutiert und Deutschland eine düstere Zukunft prognostiziert, während Kulturminister Wladimir Medinski sich gegen Zensurvorwürfe wehrt.

    Kadyrow.  Russland im Januar 2016: Der Krieg in Syrien und die Terrorgefahr durch den Islamischen Staat haben in den Medien der Sorge um den Verfall des Rubels  und einem neuen Skandal um Ramsan Kadyrow Platz gemacht. Der tschetschenische Republikchef attestierte der russischen Opposition in der kremlnahen Zeitung Izvestia unlängst eine „massive Psychose“. Er könnte ihnen bei der Bewältigung ihrer medizinischen Probleme helfen. Im tschetschenischen Dorf Braguny existiere eine exzellente psychiatrische Klinik, heißt es weiter in dem Text, welcher unter Kadyrows Namen veröffentlicht wurde (hier die englische Übersetzung). Oppositionelle seien „Schakale“. Man müsse sich ihnen gegenüber verhalten, wie gegenüber Volksfeinden und Verrätern, so Kadyrow zuvor während einer Pressekonferenz in Grozny.

    Die Provokation aus Grozny wäre wohl ungehört verhallt, wenn nicht Konstantin Sentschenko, Abgeordneter im Stadtparlament der sibirischen Stadt Krasnojarsk, am 14. Januar auf seiner Facebook-Seite Kadyrow seinerseits als Schande für Russland bezeichnet hätte, nur um sich knappe 24 Stunden später für seine Aussage zu entschuldigen. Die Geschichte ist verworren, wirft allerdings ein Schlaglicht auf das Regime von Angst und Unterdrückung, welches der seit 2007 amtierende Kadyrow und seine Getreuen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in den vergangenen Jahren errichtet haben. Und so schrieb dann auch der Abgeordnete Sentschenko, dass ihn ein längeres Gespräch mit einer in ganz Russland bekannten Person von Kadyrows Autorität überzeugt habe. Auf der Instagram-Seite des tschetschenischen Machthabers tauchte daraufhin ein Video auf, in welchem sich Sentschenko für sein Unrecht entschuldigte. Kadyrow kommentierte mit: „Ich nehme an)))))“.

    Ihre Fortsetzung fand die Affäre im Internet, wo sich Oppositionelle den Drohungen aus Grozny entgegenstemmten. Während die Journalisten Xenija Sobtschak und Pawel Lobkow in ihrer Sendung auf dem kremlkritischen Sender TV Dozhd ironische Entschuldigungen an Kadyrow richteten, drohte Magomed Daudow, tschetschenischer Parlamentschef und loyaler Wegbegleiter Kadyrows, auf seiner Instagramseite der Opposition mit Tarzan, dem Hund des Republikchefs und dessen „juckenden Zähnen“. Als Antwort darauf veröffentlichten Vertreter der Opposition wiederum Bilder ihrer Haustiere: der Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow etwa ein Bild seines riesigen tibetanischen Mastiffs. In Grozny wurden derweil Demonstrationen zur Unterstützung von Kadyrow organisiert und tschetschenische Medien berichteten von Pro-Kadyrow-Flashmobs. Hier noch eine ausführliche Chronologie der Ereignisse.

    Mit politischen Konsequenzen werden Kadyrow und seine Entourage wohl auch nach dieser Provokation nicht zu rechnen haben. Nach längerem Schweigen aus dem Kreml erteilte Putins Sprecher Dimitri Peskow Kadyrow gar noch Rückendeckung. Dessen Äußerungen würden sich auf die „nicht-systemische Opposition“ beziehen, welche außerhalb der legitimen politischen Arena agiert. Vertreter der außerparlamentarischen Opposition dürften Peskows Worte nicht sonderlich beruhigen. Die Moscow Times weist darauf hin, dass mit dem Begriff „systemische Opposition“  üblicherweise diejenigen Parteien bezeichnet werden, welche im Parlament sitzen und als loyal zum Kreml gelten. Kadyrow selbst will nach Ansicht der russischen Medien rechtzeitig zum Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow, deren Spuren nach Grozny führen, Stärke zeigen, so unter anderem die Novaya Gazeta. Die Moskauer sind in ihrer Meinung über den tschetschenischen Machthaber gespalten, wie Straßeninterviews von TV Dozhd und Radio Svoboda zeigen. Während die einen in ihm jemanden sehen, welcher Demokratie und Verfassung missachtet und eine dunkle Persönlichkeit hat, halten ihn andere für einen prima Politiker, welcher nach den blutigen Kriegen Frieden und Stabilität nach Tschetschenien gebracht habe. Die Russen dürften jedoch nicht den Fehler machen und Kadyrow mit allen Tschetschenen gleichsetzen, schreibt Oleg Kaschin.

    Flüchtlingskrise in der EU. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind auch diese Woche nach wie vor Thema in Russland. Zur besten Sendezeit am Wochenende zeigte der Erste Kanal diese Woche nun eine Reportage über Lisa. Das minderjährige Mädchen sei in Berlin von Migranten aus dem Nahen Osten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Polizei mache nichts und stelle sich schützend vor die Täter, so die angeblichen Verwandten des Mädchens vor den Kameras des Staatsfernsehens. Die Geschichte schlug in sozialen Netzwerken derart hohe Wellen, dass sich sogar die Berliner Polizei dazu äußerte: Das Mädchen sei zwar kurzzeitig als vermisst gemeldet worden, eine Entführung oder eine Vergewaltigung habe aber nicht stattgefunden. Ein Verfahren wurde kurz darauf eingestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt der TV-Beitrag äußerst zweifelhaft, wie auch TV Dozhd berichtete. Für seine Propagandazwecke nimmt es das russische Staatsfernsehen mit der Wahrheit jedoch nicht immer allzu genau. Das zeigt auch das Beispiel, welches der russische Journalist  Alexej Kowaljow auf seinem Blog schildert.

    Diese Kritik hindert den russischen Boulevard jedoch nicht daran, Deutschland eine düstere Zukunft zu prognostizieren. In ihrem Bericht aus Nürnberg schildert die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda die ihrer Meinung nach absurde Willkommenskultur, wenn in Geschäften Flüchtlinge dazu aufgefordert werden, gleich noch ihre Familie mitzubringen. Man wisse ja, wie groß Flüchtlingsfamilien normalerweise seien. Ändere sich nichts, bleibe Deutschland nur die Wahl zwischen Faschismus und Islamismus, lautet das Fazit des Artikels. Rossija 24, einer der staatlichen Nachrichtensender, hat auf seiner Homepage gar eine eigene Themenrubrik eingerichtet. Unter dem Titel Angriffe in Deutschland berichtet der Sender über angeblich durch Flüchtlinge verübte Verbrechen. Laut dem Sender befinde sich Europa am Rande eines Bürgerkrieges.

    Zensur. Zum Abschluss der heutigen Presseschau noch ein Nachtrag zu vergangener Woche. Die Bücherverbrennungen in der Republik Komi, der Bücher zum Opfer fielen, welche mit Unterstützung des Fonds George Soros herausgegeben worden waren, sorgten für heftige Kritik. Grund für die Aktion war, dass der Fonds 2015 auf die Liste der in Russland unerwünschten Оrganisationen gelandet war. Das Kulturministerium nannte die Verbrennung zwar unzulässig, sieht aber keinen Grund zum Kurswechsel. In einem Interview mit der Nesavisimaja Gazeta stellte Kulturminister Wladimir Medinski dieser Tage klar, es gäbe keine Zensur in Russland. Niemand beschäftige sich in seinem Ministerium damit.

    PS. Aktuell widmen sich fast alle Medien den Ergebnissen des britischen Untersuchungsberichts über die Ermordung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko 2006, hier der Bericht der BBC. In dem Bericht wird die These bekräftigt, dass der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi und der Geschäftsmann Dimitri Kowtun den Mord ausgeführt haben, außerdem geht der Bericht von einer Billigung durch den damaligen Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB Nikolaj Patruschew und Präsident Wladimir Putin aus. In einer ersten Reaktion nannte das Außenministerium in Moskau die Untersuchungen politisch motiviert. Doch da die Artikel erst im Erscheinen begriffen sind, davon mehr in der nächsten Presseschau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Presseschau № 13: der Ölpreis

    Presseschau № 13: der Ölpreis

    Diese Woche: Der Ölpreis erreicht ein Rekordtief und animiert die Wirtschaftspresse zu immer düstereren Prognosen. Der sinkende Rubelkurs lässt die Bevölkerung unter weiter steigenden Preisen ächzen. Und ein Verkehrspolizist im Südural wird bei einem Schneesturm zum Volkshelden.

    Ölpreis. Zum Jahresanfang bekam Russland den Horror in Form einer einfachen Zahl: 30. So wenige Dollar bringt gegenwärtig ein Barrel Rohöl ein – und die russische Sorte Urals noch weniger: Als es am Dienstag nur noch 27,4 Dollar waren, betitelte das wirtschaftsliberale Leitmedium Vedomosti Russlands Wirtschaftslage bereits mit „Zwischen Stress und Schock“. Schließlich liegt der Ölpreis inzwischen nochmals 20 Prozent niedriger als vor einem Monat – und somit deutlich unter jenen Werten, die vor kurzem nur in Stresstests von Ökonomen vorkamen. Inzwischen unterbieten sich Börsianer und Großbanken mit pessimistischen Prognosen, wie tief der Preis fürs Schwarze Gold noch sinken könnte: 25 Dollar, 20 Dollar, 10 Dollar…? Parallel schwindet der Wert des Rubels weiter – mit einem Dollarkurs von 77 Rubel und dem Euro knapp unter 84 Rubel wurden Kurse erreicht, die es bisher nur einmal gab: Am 16. Dezember 2014, jenem Tag, als am russischen Finanzmarkt vorübergehend totale Panik ausbrach.

    Der Preis des Dollars könnte 2016 durchaus auf 90 bis 100 Rubel steigen, so das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg in seiner Ölschock-Analyse. Das ist allenfalls für Russland-Fans, die eine Reise dorthin planen, eine gute Nachricht: Von der Kaufkraft her ist der Rubel jetzt schon 69 Prozent unterbewertet, so jedenfalls die jüngste Ausgabe des berühmt-berüchtigten BicMac-Index von  The Economist. Oder, wie es RBC.ru anschaulich formuliert: Zum Preis einer Doppelstock-Bulette in den USA gibt es in Russland drei Stück.

    Nicht nur Russlands wirtschaftliches Wohlergehen, auch der Staatshaushalt ist von den Öleinnahmen abhängig. Das Budget für 2016 ist aber auf einen Durchschnittswert von 50 Dollar je Barrel ausgelegt. Als erste Konsequenz hat die Regierung für alle Ressorts eine 10-prozentige Haushaltskürzung verkündet. Wenn diese und weitere Sparmaßnahmen nicht greifen, befürchtet selbst Finanzminister Anton Siluanow eine heftige Abwertung des Rubels „wie in der Krise 1998“. Doch radikales Sparen ohne grundlegende Reformen hält das ans üppige Ölgeld gewöhnte System nicht aus. „Das ist, als wenn man einem übergewichtigen Menschen ein Bein abschneidet, anstatt ihn auf Diät zu setzen“, warnt Vedomosti.

    Inflation. Diät halten müssen zwangsweise bereits viele russische Bürger: Die Inflation war im letzten Jahr mit 15,5 Prozent doppelt so hoch wie im Vorjahr. Berücksichtigt man nur die Lebensmittelpreise, betrug die Teuerung nach amtlichen Daten sogar 20,8 Prozent. Ein kinderreicher Preis-Scout der Novaja Gazeta beteuert hingegen, dass seine Kassenbons zum Jahresende um 50 Prozent höher lagen als im Jahr zuvor – „und parallel zur Inflation gibt es Lohnkürzungen in allen Branchen“. Anders als in der Krise 2008 wachse jetzt die Armut im Lande, auch wenn der Staat verspreche, die Sozialleistungen zu garantieren, kritisiert Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – dem viele russische Medien um den Jahreswechsel eine anstehende Rückkehr in ein Regierungsamt nachsagten. Vorerst dementiert er das.     

    Angesichts der dramatischen Entwicklung hat Russlands Staatsmacht aber schon ihre Kommunikationsstrategie geändert – und schwört nun ihr Volk auf schwere Zeiten ein. Noch in einem Anfang der Woche veröffentlichten großen Interview mit dem deutschen Blatt Bild hatte Wladimir Putin die heilsame Wirkung des Wegbrechens der Öleinnahmen betont und Optimismus verbreitet. Inzwischen hat er seine Regierung darauf eingeschworen, angesichts der abstürzenden Rohstoffmärkte und Börsen „auf jede beliebige Entwicklung vorbereitet“ zu sein. Das klingt nach erhöhter Alarmstufe. Auf der Webseite des Kreml ist das Gespräch der Springer-Leute mit dem Präsidenten übrigens nicht nur ausführlicher dokumentiert (eine deutsche Übersetzung gibt es bei russland.ru), sondern partiell auch mit weichgespülten Journalistenfragen garniert, stellte gazeta.ru bei einem Vergleich der Texte fest.

    Schneesturm. Was hilft am besten durch harte Zeiten? Aufopferung und Nächstenliebe. Prompt rührt ein Beispiel dafür die russischen Medien momentan ganz besonders: Anfang Januar tobte über dem Südural ein Schneesturm. Auf der Straße von Orenburg nach Orsk wurden 50 Autos von den Schneemassen verschluckt. Die Rettungsaktion verlief zäh und dauerte sträflich lange. Ein Mensch erfror, deshalb läuft ein Ermittlungsverfahren.  Doch unter den Helfern vor Ort war auch der Verkehrspolizist Danila Maksudow. Einem elend frierenden Mädchen gab er seine Jacke, einem jungen Mann überließ er seine Handschuhe – und ging wieder in den Sturm hinaus, Leute retten. Nun liegt er mit Erfrierungen an den Händen im Krankenhaus. Patriarch Kirill lobte den 25-Jährigen Helden als Vorbild – und forderte auf, für dessen Genesung zu beten.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Diese Woche stehen in Russland die Räder noch weitgehend still. Nach den Neujahrsfeierlichkeiten  gönnt sich das Land traditionell eine Auszeit. Gedruckte Zeitungen erscheinen erst nächste Woche wieder, online beschränken sich viele Medien auf Rezept-Tipps und Ratschläge, wie man Streit mit der Familie und Freunden während der Feiertage vermeidet.
    Die Pause im Nachrichtenstrom bietet eine gute Gelegenheit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, welches vor lauter Ukraine,  Syrien, Sanktionen und Gegensanktionen in der ausländischen Wahrnehmung oft zu kurz kommt: dasjenige der Rechtsprechung. Dass diese in Russland oft ihren eigenen, für den Außenstehenden wenig transparenten Regeln folgt, ist bekannt. Schuldsprüche sind in mehr als 90 Prozent aller Prozesse an der Tagesordnung. Die offensichtlich politisch motivierten Urteile gegen die Brüder Alexej und Oleg Nawalny sind ja auch im Westen ausführlich diskutiert worden.

    Auch das vergangene Jahr war nicht arm an kontroversen Gerichtsurteilen. Medial den ganzen Sommer über breitgetreten wurde der Fall Jewgenija Wasiljewa. Er bot einigen Sprengstoff: Die hochgestellte Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums hatte durch manipulierte Verkäufe staatlicher Immobilien Gelder in Millionenhöhe veruntreut. 2012 wurde der Skandal aufgedeckt und kostete nicht nur sie selbst, sondern auch Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, mit dem sie gerüchteweise mehr als nur eine Geschäftsbeziehung verband, den Job. Bereits die Untersuchungshaft verbrachte Wasiljewa recht kommod in ihrem Moskauer Luxusappartement unter Hausarrest, betätigte sich kreativ und veröffentlichte sogar einen Song über die Pantoffeln des Herrn Verteidigungsministers. Offensichtlich war der Arrest aber nur Formsache, denn tatsächlich wurde sie regelmäßig auf Shoppingausflügen angetroffen. Im Mai 2015 erging dann unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit das Urteil, Wasiljewa wurde zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Ob sie überhaupt je einen Tag hinter Gittern verbrachte, ist allerdings unklar, denn auch weiterhin wurde sie in Freiheit gesehen, angeblich in einer Moskauer Bankfiliale. Gerüchteweise ließ sie sich im Straflager durch ein Double vertreten. Bereits im August wurde ihr dann die restliche Gefängnisstrafe auf Bewährung erlassen – ihrer positiven Charaktereigenschaften wegen, so das Gericht.

    Die Öffentlichkeit reagierte mit Unverständnis. Vor drei Jahren berichteten Medien noch von 1500 Stück Schmuck, welche Ermittler in Wasiljewas 13-Zimmer-Wohnung beschlagnahmt hatten. Von einer Durchsetzung der staatlich propagierten Antikorruptionskampagne konnte offenbar nicht die Rede sein. Privilegien und Beziehungen erlaubten es der Beamtin, sich ihrer Strafe zu entziehen. Übrigens: Ex-Verteidigungsminister Serdjukow ging gar völlig straffrei aus. Sogar mit seiner Karriere geht es nun wieder steil nach oben. Im Oktober 2015 wurde er auf einen Direktionsposten bei der Staatskorporation Rostechnologii berufen.

    Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt das System jedoch in anderen, oft minderschweren Fällen. Etwa bei Oleg Senzow. Der ukrainische Filmregisseur und sein Mitangeklagter Oleksandr Koltschenko wurden in einem harten Urteil Ende August zu 20, respektive zehn Jahren Haft verurteilt. Die beiden wurden beschuldigt, 2014 auf der frisch durch Moskau annektierten Krim Terroranschläge auf Infrastrukturobjekte geplant und ausgeführt zu haben. Senzow, welcher international bereits mit seinem Film Gaamer in Erscheinung trat, streitet die Vorwürfe ab. Er habe als Aktivist der pro-ukrainischen Automaidan-Bewegung nur ukrainische Truppen mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgen wollen, als diese im Februar 2014 durch die plötzlich auftauchenden Grünen Männchen am Verlassen ihrer Stützpunkte gehindert wurden. Beobachter kritisierten den Prozess als politisch motiviert. Koltschenko gibt an, einzig an einem Brandanschlag auf das Büro der Kremlpartei Einiges Russland in Simferopol teilgenommen zu haben. Vor Gericht widerrief einer der Zeugen der Anklage sein Geständnis, es sei unter Folter zustandegekommen. „Ein Gericht von Besatzern kann per Definition nie gerecht sein“, gab sich Senzow bei seinen letzten Worten im Gerichtssaal kämpferisch. 

    Die beiden Ukrainer sind nur ein Beispiel für die selektive Anwendung der Rechtsprechung 2015. Zunehmend machten russische Gerichte im vergangenen Jahr von repressiven Gesetzen Gebrauch, schreibt Vedomosti. Unabhängigen Informationszentren wie OVD-Info zufolge sei die Zahl politisch motivierter Strafverfolgungen von 184 im Jahr 2014 auf 230 in diesem Jahr gestiegen, so Vedomosti weiter. Das bislang letzte umstrittene Urteil erging Anfang Dezember: Der Aktivist Ildar Dadin wurde wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Demonstrationen zu drei Jahren Straflager verurteilt. Zum ersten Mal kam dabei ein Artikel zur Anwendung, der wiederholte Verletzungen des Demonstrationsrechts unter Strafe stellt. Wie bereits berichtet, sind noch weitere Personen aufgrund dieses Artikels angeklagt, etwa Wladimir Ionow. Der 75-jährige Aktivist entzog sich jedoch der russischen Justiz und floh kurz vor der Verkündung seines Urteils ins ukrainische Charkiw.

    In Russland wird das Strafgesetzbuch immer stärker zum einzigen Instrument des Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, fasst die Novaya Gazeta die Entwicklung der vergangenen Monate zusammen. Die hier geschilderten Fälle bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Zu den prominentesten Häftlingen, welche derzeit noch auf ihre Urteile warten, gehört etwa die ukrainische Militärpilotin Nadja Sawtschenko. Ihr wird vorgeworfen, während des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine Informationen an Artillerieeinheiten weitergegeben zu haben, die dann zum Tode zweier russischer Journalisten führten. Zudem wird sie beschuldigt, illegal die russische Grenze überquert zu haben. Dem hält Sawtschenko entgegen, dass sie durch prorussische Separatisten im Juli 2014 gefangen genommen und gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden sei. Zuletzt wurde ihre Untersuchungshaft bis zum 16. April 2016 verlängert, im Falle eines Schuldspruches drohen ihr bis zu 25 Jahre Haft.

    Ebenfalls noch in Untersuchungshaft befindet sich Pjotr Pawlenski, welcher im November die Eingangstür der FSB-Zentrale an der Lubjanka in Brand gesteckt hatte. Der Performancekünstler hatte bei seiner Anhörung explizit auch für sich eine Anklage wegen Terrorismus gefordert und auf Senzow und Koltschenko und die Taten verwiesen, die ihnen zu Last gelegt werden.

    Die Eigenheiten des russischen Rechtssystems zeigen sich auch an dem nach wie vor nicht aufgeklärten Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Die Bilder aus der Mordnacht und vom Gedenkmarsch, auf dem eine Woche später Zehntausende des Oppositionspolitikers, ehemaligen Vizeministerpräsidenten und Abgeordneten des Regionalparlaments von Jaroslawl gedachten, gehören zu den eindrücklichsten und verstörendsten des gesamten Jahres.

    Bereits kurz nach der Bluttat am 27. Februar wurden fünf Verdächtige den Medien vorgeführt, Ende Dezember Anklage erhoben. Die Spuren des Mordes führen in Kreise tschetschenischer Sicherheitskräfte. Laut dem Ermittlungskomitee hat der Fahrer des ranghohen tschetschenischen Polizeioffiziers Ruslan Geremejew, Ruslan Muchudinow, das Verbrechen organisiert und in Auftrag gegeben. Geremejew selbst zu befragen, schafften die Behörden nicht, auch mögliche Verstrickungen von Republikchef Ramsan Kadyrow wurden nicht untersucht. Die Anklage geht davon aus, der Mord sei aus Rache erfolgt, wegen der öffentlichen Unterstützung Nemzows für das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, schreibt der Kommersant. Die politische Tätigkeit des Kremlkritikers scheidet laut den Ermittlern als Motiv aus. Muchudinow ist zurzeit international zur Fahndung ausgeschrieben.

    Die offizielle Version trifft bei politischen Weggefährten und Angehörigen des ermordeten Kremlkritikers auf Unverständnis und Empörung. Wadim Prochorow, der Anwalt der Hinterbliebenen, kritisiert in einem Interview mit der New Times, dass die Behörden den Vorgesetzen Muchudinows aus ihren Untersuchungen aussparten, sämtliche Angeklagten hätten nicht aus eigener Initiative gehandelt. Ein persönliches Motiv hätten auch die anderen Beschuldigten nicht, nur ihre Hintermänner. Er sei überzeugt, dass die Auftraggeber durch den Mord Russland von einer angeblichen Fünften Kolonne säubern wollten,  so der Anwalt weiter. Von einem politischen Motiv geht auch Tochter Shanna Nemzowa, welche Russland nach dem Mord verlassen hat, aus. Die Journalistin, welche nun für die Deutsche Welle arbeitet, macht sich erst für die Zeit nach Putin Hoffnung auf eine restlose Aufklärung des Verbrechens.

    Beobachtern zufolge sollen die harten und oft selektiv anmuntenden Gerichtsurteile des vergangenen Jahres in erster Linie potentielle Kritiker davon abhalten, öffentlich ihren Unmut zu äußern, sind im September 2016 doch Dumawahlen geplant. Politische Proteste seien für den Einzelnen vor dem Hintergrund einer sozialen Krise gefährlich, kommentiert Vedomosti. Dies stimmt wenig hoffnungsvoll für den Start ins neue Jahr.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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