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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Lange war darauf hingearbeitet worden: Am Mittwoch dieser Woche, dem 25. Mai, durfte die ukrainische Militärpilotin Nadija Sawtschenko in die Ukraine ausreisen.

    Sie war zwei Jahre in Russland festgehalten und im März zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nun wurde sie gegen die russischen Staatsbürger Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew ausgetauscht. Die beiden waren 2015 im Donbass aufgegriffen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, als Angehörige des russischen Militärgeheimdienst gegen die Ukrainische Armee gekämpft zu haben, was Moskau allerdings bestritt. Ein Kiewer Gericht hatte sie noch im April zu je 14 Jahren Haft verurteilt.

    Sawtschenko war während ihrer Gefangenschaft zur Ikone in ihrer Heimat aufgestiegen: In Abwesenheit wurde ihr etwa die Auszeichnung „Heldin der Ukraine“ verliehen. Im Fall Jerofejew/Alexandrow dagegen hatte Moskau vor allem betont, dass sie als Freiwillige in der Ukraine gekämpft, ihren Dienst in Russland zuvor quittiert hätten. Offiziell sind keine russischen Einheiten vor Ort.

    Entsprechend fiel der Empfang für die drei Freigelassenen in ihren Heimatländern jeweils sehr unterschiedlich aus: Sawtschenko wurde von Präsident Petro Poroschenko und weiteren hochrangigen Politikvertretern geradezu triumphal willkommen geheißen, Jerofejew und Alexandrow dagegen in Moskau lediglich von ihren Frauen begrüßt.

    International fand die Freilassung große Resonanz. Hochrangige Politiker, darunter der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, äußerten die Hoffnung, dass der Gefangenenaustausch sich auch auf die weitere Lösung des Konflikts positiv auswirke.

    Rossijskaja Gaseta: Auf Wunsch der Hinterbliebenen

    Der Kreml betonte, dass die Freilassung vor allem den Hinterbliebenen der – laut Anklage von Sawtschenko – getöteten Medienleuten zu verdanken sei. Die Witwe und die Schwester zweier Verstorbener hätten Putin bei einem Treffen um Begnadigung Sawtschenkos gebeten und so einen Gefangenenaustausch erst ermöglicht. Die Rossijskaja Gaseta, Amtsblatt der russischen Regierung, berichtet:

    [bilingbox]Wie der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow erklärte, „waren dem Treffen Schreiben der genannten Personen vom 22. und 23. März an das Staatsoberhaubt vorausgegangen, in denen sie, Marianna Dimitrijewna und Jekaterina Sergejewna, aus humanitären Erwägungen den Präsidenten darum bitten, Sawtschenko zu begnadigen.“ Das Staatsoberhaupt unterschrieb einen Ukas über die Begnadigung der ukrainischen Pilotin.~~~Как пояснил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков, „этой встрече предшествовали обращения на имя главы государства от упомянутых родственниц, которые были написаны еще 22 и 23 марта соответственно, в котором Марианна Дмитриевна и Екатерина Сергеевна исходя из соображений гуманности просят президента помиловать Савченко“. Глава государства подписал указ о помиловании украинской летчицы.[/bilingbox]

    Slon.ru: Verlegenes Schweigen

    Nun sind auch die beiden Gefangenen Jerofejew und Alexandrow wieder in ihrer Heimat – Russland wisse jedoch einfach nicht, wie es mit ihnen umgehen soll, kommentiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Portal Slon.ru:

    [bilingbox]Jewgeni Jerofejew und Alexander Alexandrow sind für Russland nicht einfach nur keine Helden, sondern es ist völlig unklar, wer sie überhaupt sind – im besten Fall Opfer des ukrainischen, repressiven Systems . […]

    Das verlegene Schweigen, mit dem Russland Nadeshda Sawtschenko zum Flugzeug begleitet und mit dem es zwei der eigenen Staatsbürger mit unklarem Status empfängt – das ist vielleicht die wichtigste psychologische Folge des Donbass-Krieges für Russland. Der hat Russland gelehrt, verlegen zu schweigen. Und begleitet von diesem Schweigen müssen wir nun immer weiterleben.~~~Евгений Ерофеев и Александр Александров для России не просто не герои, а вообще непонятно кто, в лучшем случае жертвы украинской репрессивной системы. […]

    Неловкое молчание, которым Россия провожает Надежду Савченко и встречает двух своих граждан с непонятным статусом, – это, может быть, главное психологическое последствие донецкой войны для России. Она приучила Россию неловко молчать, и под аккомпанемент этого молчания нам еще жить и жить.[/bilingbox]

    Spektr: Nadeshda, halte durch!

    Auch der Journalist und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko vergleicht die unterschiedliche Art und Weise, mit der Sawtschenko, Jerofejew und Alexandrow in ihren Heimatländern jeweils empfangen werden. Auf dem russischen Exil-Medienprojekt Spektr, das unter dem Dach einer lettischen Medien-NGO firmiert, warnt er Sawtschenko:

    [bilingbox]Meiner Meinung nach beginnt für die ukrainische Gesellschaft im Fall Sawtschenko jetzt tatsächlich eine der schwierigsten Zeiten: die Entheiligung. Denn ein lebender Mensch wird niemals dem von der Gesellschaft für ihn erdachten Bild entsprechen – und das ist für viele schmerzhaft und schwer. Für manche mag es gar wie Verrat wirken. Und nach Sawtschenkos Temperament zu urteilen – geradeheraus, harsch und nicht gewohnt, sich in Worten und Taten zurückzunehmen – wird sie diesen Vorgang nur beschleunigen.

    Also, Nadeshda, halte durch: Jetzt werden sie dich so richtig in die Mangel nehmen, wie noch nicht mal vorm Kadi in Donezk.~~~На мой взгляд, для украинского общества в вопросе Савченко теперь вообще начинается один из самых трудных периодов — деканонизация. Потому что живой человек никогда не будет соответствовать придуманному ему обществом образу, а это для многих очень болезненно и тяжело. А кем-то воспринимается даже как предательство. И, судя по характеру Надежды — прямому, резкому, не привыкшему сдерживать себя ни в словах, ни в поступках — она этот процесс только ускорит.

    Так что, Надежда, держись: как теперь тебя начнут «полоскать» — не полоскали даже на судилище в Донецке.[/bilingbox]

    TASS: Guter Anfang

    International wurde der Gefangenenaustausch immer wieder mit der Hoffnung auf weitere Fortschritte im Rahmen der Minsker Vereinbarungen verbunden. Ähnlich äußerte sich auch Pawel Krascheninnikow, Chef des Duma-Ausschusses für Gesetzgebung, den die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert:

    [bilingbox]„Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. […] Sowohl im Fall Sawtschenko als auch bei unseren Jungs wurden alle Verfahrensweisen eingehalten. Alles wurde im Einklang mit der Russischen Verfassung und den Rechtsnormen durchgeführt“, erklärte Krascheninnikow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS.

    Ihm zufolge sei das ein Ausdruck für die immer noch bestehende Möglichkeit eines Dialogs zwischen Russland und der Ukraine auf völkerrechtlichem Gebiet. „Es ist durchaus erfreulich, dass es auf juristischer Ebene Kontakt zwischen den Ländern gibt“, fügte Krascheninnikow hinzu.~~~„Мы своих не бросаем. […] А в случае и с Савченко, и с нашими ребятами все процедуры были соблюдены. Все было проведено в соответствии с Конституцией РФ и правовыми нормами“, – заявил Крашенинников ТАСС.

    По его словам, это говорит о сохраняющейся возможности диалога между Россией и Украиной в международно-правовой сфере. „Не так плохо, что есть контакт в правовой области“, – добавил Крашенинников.[/bilingbox]

    Vedomosti: Kein großer Schritt vorwärts

    Die Autoren der regierungsunabhängigen Tageszeitung Vedomosti dagegen warnen vor allzu großen Hoffnungen:

    [bilingbox]Die Rückkehr von Sawtschenko sowie Jerofejew und Alexandrowitsch zeigt wohl eher, dass Fortschritt prinzipiell möglich ist. Was die Erfüllung des Minsker Abkommens angeht, ist es ein Schritt vorwärts, aber kein großer. Zumal das Minsker Abkommen einen gleichzeitigen Austausch „aller gegen alle“ vorsieht. Andererseits ist nun auch möglich, dass sich etwas bewegt in den Fällen anderer Gefangener, die es auf beiden Seiten gibt. […] Hat der Kreml Sawtschenko ausgetauscht für eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug? Da wird sich in den nächsten Monaten nichts bewegen. Das ist erst für das Jahr 2017 realistisch, sofern es weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung gibt. Vorerst hat sich Russland vor allem damit hervorgetan, dass es Humanität gezeigt hat.~~~Возвращение Савченко и Ерофеева с Александровым скорее обозначает принципиальную возможность прогресса. Это шаг вперед в плане выполнения минских соглашений, но небольшой. Тем более что минские соглашения предусматривают обмен „всех на всех“ и одномоментно. С другой стороны, теперь возможны подвижки в делах других кандидатов на обмен, которые есть с обеих сторон. […] Обменял ли Кремль Савченко на ослабление санкций? Не в ближайшие месяцы. Реалистичный срок при условии прогресса в урегулировании – 2017 год. А пока главная награда для России – ощущение проявленного гуманизма.[/bilingbox]

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    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

  • Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Es war der Höhepunkt nach immer stärkerem Druck auf eines der wichtigsten investigativen Medien in Russland: Ende vergangener Woche, am Freitag, den 13. Mai, wurde die dreiköpfige Chefredaktion von RBC entlassen. Es habe keinen Konsens bei wichtigen Themen gegeben, hieß es in der offiziellen Begründung der Geschäftsführung.

    RBC stand für investigativen Journalismus wie kaum ein anderes Medium in Russland. Neben fundierter Wirtschaftsberichterstattung war die Redaktion berühmt geworden mit Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass.

    RBC hatte auch als eines der wenigen Medien in Russland mit den Recherchen der Panama Papers auf der Titelseite aufgemacht.

    Seit 2009 war RBC im Besitz des Oligarchen Michail Prochorow. Büros seiner Onexim Group waren bereits im April von Steuerermittlern durchsucht worden. Außerdem hatte es in den vergangenen Wochen auch Ermittlungen und Razzien gegen einzelne Vertreter des Unternehmens gegeben. Zur Medien-Holding gehören neben der Online-Ausgabe unter anderem noch eine Zeitung sowie ein TV-Sender.

    Die Auflösung der bisherigen Chefredaktion hat vor allem in der unabhängigen Presse große Bestürzung ausgelöst: Viele sehen Parallelen zu anderen, ehemals kritischen Medien, die durch Eigentümerwechsel oder politische Einflussnahme „auf Linie“ gebracht worden waren.

    Snob.ru: Was wäre wenn

    Auf RBC und ihren Herausgeber Michail Prochorow war schon länger Druck ausgeübt worden. Kolumnistin Xenija Sobtschak jedenfalls sagte auf Snob dem Medium schon Ende April ein düsteres Schicksal voraus, nach Durchsuchung von Prochorows Onexim Group:

    [bilingbox]Wir müssen uns endlich eingestehen, dass viele von uns eine idiotische und naive Hoffnung hatten: Was, wenn es Michail Dimitrijewitsch [Prochorow] doch auf irgendeine wundersame Weise gelungen ist, Absprachen zu treffen. Was, wenn es den Machthabern doch nützt, dass es im Land zumindest ein Portal gibt, das die Wirtschaft auf diese Art beleuchtet und solche Recherchen betreibt. Was, wenn man wegschaut, sie plötzlich in Ruhe lässt? Denn innerhalb des vergangenen Jahres wurde RBC tatsächlich zum besten Nachrichtenportal im Land, und das, was sie gemacht haben, war megacool.

    Aber nix von wegen „was, wenn“. So etwas gibt es nicht mehr.~~~Пора признаться себе, что у многих из нас была безумная и наивная надежда: вдруг Михаилу Дмитриевичу [Прохорову] удалось как-то особым образом договориться? Вдруг власти выгодно, чтобы в стране был хотя бы один такой портал, с таким освещением бизнеса и такими расследованиями? Вдруг пропустят, вдруг не тронут? Ведь за последний год РБК действительно стал лучшим новостным порталом в стране, и то, что они делали, было мегакруто.

    Но — никаких „вдруг“. Сейчас так уже не бывает.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Die totale Kontrolle

    Auch die kremlkritische Novaya Gazeta weist darauf hin, dass RBC keine Ausnahme sei und zieht Parallelen zum Sender NTW – ihn hatte 2001 ein ähnliches Schicksal ereilt. Und doch gebe es einen bedeutenden Unterschied:

    [bilingbox]Im Unterschied zum Jahr 2001 halten die Machthaber die Kontrolle nur über die Fernsehsender nicht mehr für ausreichend. Auch die Presse muss vollends loyal und kontrolliert sein. Im Grunde ist das ziemlich merkwürdig – 2001 gab es intensive Machtkämpfe zwischen mehreren starken Gruppen, aber derzeit ist die Ruhe der Kreml-Bewohner doch durch nichts bedroht: Die Bevölkerung insgesamt befürwortet die Arbeit von Partei und Regierung.

    Doch gleichzeitig breitet sich in den Medien das Kasernen-System immer weiter aus: Die Nachricht vom Austausch des RBC-Teams fiel zusammen mit der soundsovielten Verlautbarung des Medienministeriums, dass es bis 2020 in Russland ein eigenes, souveränes Internet geben wird, das völlig unabhängig von ausländischen Kanälen Informationen verbreitet.~~~B отличие от 2001 года, теперь власти считают контроль над телевидением мерой недостаточной. Пресса тоже должна быть полностью лояльной и подконтрольной. На самом деле это довольно странно: в 2001 году шла интенсивная борьба за власть между несколькими сильными группировками, а теперь спокойствию кремлевских обитателей вроде бы ничего не угрожает — народ в целом одобряет деятельность партии и правительства. Но при этом казарменная система в медиа распространяется все шире — новости о смене команды РБК пришли одновременно с очередными реляциями Минкомсвязи о том, что к 2020 году в России будет построен собственный, суверенный интернет, совершенно не зависящий от иностранных каналов распространения информации.[/bilingbox]

    Meduza: Das zerstörte Wunder

    Das Online-Portal Meduza, das im lettischen Exil sitzt, wurde 2014 von Galina Timtschenko gegründet – nachdem sie als Chefredakteurin bei Lenta.ru gekündigt und durch einen politisch loyalen Nachfolger ersetzt worden war. Viele ihrer Mitarbeiter gingen mit ihr. Die Meduza-Redaktion reagierte sogleich auf die Entlassungen bei RBC:

    [bilingbox]Freitag, der 13. Mai – ein wirklich mieser Tag für uns alle, für die Journalisten und für die Leser. Ein Tag, an dem vor unseren Augen ein Wunder zerstört wurde. Es gibt keinen einzigen Grund, der das rechtfertigen könnte. Hinter dieser Entscheidung stehen keinerlei sinnvolle Erwägungen des Besitzers wie auch keinerlei „staatliche Interessen“. Einzig Empfindlichkeiten und Rachsucht – die haben irgendwie komisch geschaut, die haben sich irgendwie komisch benommen, die haben irgendwie komisch geschrieben. Man hat euch doch gesagt, ihr sollt euch nicht einmischen – doch ihr mischt euch ein.

    Das, was da mit RBC geschehen ist, ist kein Kampf mit einem ideellen Gegner. Nein, das ist eine Schlägerei in einer Toreinfahrt.~~~Пятница, 13 мая — по-настоящему скверный день для всех нас, и для журналистов, и для читателей. Это день, когда на наших глазах было уничтожено чудо. Нет ни одной причины, которая могла бы это оправдать. Позади этого решения нет никаких взвешенных размышлений собственника, как нет и никаких «государственных интересов». Есть только обидчивость и мстительность — посмотрели не так, вели себя не так, написали не так. Вам же говорили не лезть, а вы лезете. То, что случилось с РБК, — это не борьба с идейным противником. Нет, это разборки в подворотне.[/bilingbox]

    Lenta.ru: Das Schweigen der Oligarchen

    Auf Lenta.ru weist eine freie Mitarbeiterin auf die Parallelen zwischen RBC, Lenta.ru, NTW und anderen (ehemals) kritischen Medien hin. Und thematisiert vor allem die Rolle der Oligarchen als Herausgeber:

    [bilingbox][…] die Oligarchen werden gar nicht mehr gefragt, Fragen aus der Öffentlichkeit fließen an ihnen vorbei wie Bäche an Baumwurzeln. Die Besitzer werden kaum erwähnt, wenn es wieder einmal in einem journalistischen Medium, das ihnen gehört, zu einem Umsturz kommt. Und nicht nur, weil „sowieso alles klar ist“, sondern auch, weil sie – als Besitzer der Medien – die Arbeitgeber der sogenannten „sprechenden Klasse“ sind. […]

    Zu den Geschehnissen befragen kann man die Machthaber, die Kollegen, den glatzköpfigen Teufel [Sprichwort – dek], nur nicht den Besitzer. Die Oligarchen sind im Grunde gegen Vorwürfe gefeit, sie können nicht einmal wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Über das Schicksal der sprechenden Klasse entscheidet die schweigsamste soziale Gruppe.~~~[…] с олигархов больше не спрашивают, общественные вопрошания обтекают их, как ручей корягу. Владельцы почти не упоминаются, когда в очередном СМИ, им принадлежащим, происходит переворот. И не только потому, что «и так все ясно», но также и потому, что они, владельцы СМИ, — работодатели так называемого «говорящего класса». […] Спрашивать о происходящем можно у власти, у коллег, у черта лысого — но никак не у владельца. Олигархи почти неприкосновенны для претензий. И практически непризываемы к ответу. Судьбы говорящего класса решает самая молчаливая социальная группа.[/bilingbox]

    Rossijskaja Gaseta: Politische Einflussnahme wäre absurd

    Die Rossijskaja Gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, verzichtet auf eigene Kommentare und zitiert stattdessen Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, der jede Einflussnahme von Seiten des Staates bestreitet:

    [bilingbox]Wir sehen keinen Anlass für eine Beunruhigung seitens internationaler Organisationen in dieser Sache. Behauptungen, dass irgendein Druck staatlicherseits bei den Umbesetzungen im Redaktionsteam der Holding eine Rolle gespielt habe, halten wir für vollkommen grundlos.

    Es ist eine private Holding, und so sollten die Entscheidungen des Eigentümers dieser Holding von ihren Vertretern erklärt werden und nicht von Vertretern des Staates. […] Wir können nur voller Gewissheit sagen, dass es absurd ist, hinter dieser Sache irgendeinen politischen Druck zu vermuten.~~~Мы не видим каких-либо оснований для того, чтобы какие-либо международные организации испытывали бы обеспокоенность в этой связи. Мы считаем абсолютно несостоятельными какие-либо утверждения о том, что какое-то давление со стороны властей имеет отношение к кадровым изменениям в редакции холдинга. Холдинг частный, и в данном случае решения владельца этого холдинга должны объясниться именно представителями этого холдинга, а не представителями власти. […] Можем только с уверенностью сказать об одном, что абсурдно увязывать это с каким-то политическим давлением.[/bilingbox]

    The New Times: Schlecht, einen guten Job zu machen

    Im regierungskritischen Wochenmagazin The New Times dagegen beklagt Kolumnist Juri Saprykin den zunehmenden Druck, unter dem Journalisten in Russland arbeiten – und vor allem die unausweichlichen Folgen, die dies habe:

    [bilingbox]Aber es gibt eine wichtige und unumkehrbare Veränderung: Allen innerhalb dieses Berufsstandes wird immer klarer, dass es schlecht ist, einen guten Job zu machen. Aus dem Nichts die einflussreichste Wirtschaftszeitung zu machen, die meistzitierten und -diskutierten Materialien zu bringen, den Umsatz zu steigern – sogar auf dem Höhepunkt der Krise, das alles ist zweitrangig.

    Das Wichtigste ist, dass du dich nicht mit hochrangigen Leuten anlegst. Am besten spannst du dir freiwillig Absperrbänder, begehrst nicht auf und provozierst keine Widerrede, man muss sich auch gar nicht besonders um die Qualität kümmern – dann bleibst du am Leben.~~~Но есть [одно…] важное изменение, которое невозможно развернуть назад: всем внутри этой профессии все больше становится очевидно, что работать хорошо — это плохо. Что сделать из ничего самую влиятельную деловую газету, придумывать самые цитируемые и обсуждаемые материалы, зарабатывать все больше денег, даже на пике кризиса — это все вторично; а главное — ни с кем высокопоставленным не ссориться. Лучше добровольно обложить себя флажками и барьерами, не рыпаться и не нарываться, можно даже не особо заботиться о качестве — и тогда будешь жив.[/bilingbox]

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    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

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    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Zum 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Russland Umstände und Folgen des Unfalls heftig diskutiert. Das Thema ist gerade in diesem Jahr zu einem regelrechten Politikum geworden: In der Debatte geht es nicht nur um die humanitären, ökologischen und technischen Aspekte, sondern auch um das Bild, das man sich in Russland heute von der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine macht.

    Einige Medien nehmen den Jahrestag zum Anlass, um der Ukraine alte wie neue Fehler zur Last zu legen, andere sehen bei der weiteren Bewältigung der Folgen auch den russischen Staat in der Pflicht.

    Auch zur Einschätzung der Opferzahlen und zu den Langzeitfolgen des Unglücks gehen die Meinungen weit auseinander.

    Einige der wichtigsten Stimmen haben wir hier mit Originalzitaten zusammengestellt.

    KOMMERSANT: OPFERZAHLEN SIND ÜBERTRIEBEN

    Im weitgehend unabhängigen Kommersant erklärt Leonid Bolschow, Leiter eines Instituts für nukleare Sicherheit der russischen Akademie der Wissenschaften: Alles nicht so schlimm.

    [bilingbox]In der wissenschaftlichen Literatur sind weltweit – und übrigens auch in der Sowjetunion – als direkte medizinische Folgen im ersten Jahr nach dem Unfall nur 134 bestätigte Fälle schwerer Strahlenkrankheit festgehalten. In den ersten 100 Tagen starben 28 Menschen. Alle anderen wurden geheilt und lebten und starben später entsprechend den landesweit durchschnittlichen medizinischen Kennziffern. Die Sterberate der Liquidatoren, zu denen auch ich gehöre, unterscheidet sich in nichts von Personen, die mit Tschernobyl nichts zu tun haben. Die Tausende und Millionen und Milliarden Opfer, über die einige Hitzköpfe sprachen, gibt es nicht.~~~Мировая наука, как, впрочем, и советская наука в первый же год после аварии, посчитала, что среди прямых медицинских последействий только 134 подтвержденных случая острой лучевой болезни. В первые 100 дней умерли 28 человек. Всех остальных вылечили, и дальше они жили и умирали в соответствии со средними по стране медицинскими показателями. А смертность среди ликвидаторов, к которым отношусь и я, ничем не отличается от смертности среди людей, не имевших никакого отношения к Чернобылю. Ни тысяч, ни миллионов, ни миллиардов жертв, о которых некоторые горячие головы говорили, нет.[/bilingbox]

    KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: ALLES MYTHEN

    Ähnlich äußert sich die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda: Opferzahlen würden aufgebläht – und heute blühe das Leben in der verlassenen Stadt Prypjat, vier Kilometer vom Reaktor von Tschernobyl entfernt.

    [bilingbox]Mit den Jahren wurde Folgendes klar: Die sowjetische Staatsführung hat unter dem Druck der Öffentlichkeit eine extrem hohe Opferzahl des Unfalls eingestanden. Den vorteilhaften Status des „Tschernobylers“ wollte dann später niemand wieder abgeben. […] Die fast vollständige Abwesenheit von Menschen hat den Wald um den Ort Prypjat in eine Oase für Tiere verwandelt. Die Zone um Tschernobyl gleicht einem Naturschutzgebiet, wo sich die Natur ganz urwüchsig zeigt: Schließlich stört der Mensch sie nicht. Hier ziehen Elche, Hirsche, Wölfe, Füchse und Bisons frei umher. Biologen untersuchen sie von Zeit zu Zeit – und finden weder Zweiköpfige noch Dreischwänzige. Also, auch alles Mythen.~~~С годами появилось понимание: руководство советской страны под давлением общественного мнения приняло решение об избыточном признании количества пострадавших от аварии людей. А потом уже не было желающих отказываться от выгодного статуса «чернобылец». […] Почти полное отсутствие людей превратило леса вокруг Припяти в животный оазис. Зона вокруг Чернобыля больше напоминает природный заповедник, где природа существует в первозданном виде: ведь ей не мешает человек. Здесь свободно бродят лоси, олени, волки, лисицы, зубры. Биологи их периодически изучают: ни одного двухголового или трехвостого. Выходит, опять выдумки.[/bilingbox]

    TAKIE DELA: BUDDELN IN RADIOAKTIVEN BEETEN

    Das spendenfinanzierte Magazin für Sozialreportagen Takie Dela dagegen behandelt die Folgen des Unfalls sehr kritisch. In der Reportage geht es vor allem um die Gebiete, die heute in Russland liegen.

    [bilingbox][…] Die Beamten, die damals in Moskau über die Radioaktivität im Gebiet Tula berichteten, gingen später im demokratischen Russland in die Politik und sagten: „Wir haben die Errichtung einer Tschernobyl-Zone durchgesetzt.“ Obwohl – oh weh – außer ein paar kleinen Geldzuwendungen für die Bewohner nichts dabei herumkam. Aber nicht einmal das war einfach. Die Einwohner von Uslowa hatten weniger als ein Jahr das Recht, umzusiedeln. Es konnte einfach niemand zulassen, dass eine ganze Stadt umzieht. Deshalb blieben die Alten hier leben, und die Kinder buddelten in radioaktiven Beeten. […]

    Außerdem haben die Politiker vor, die Anzahl der Orte auf der Tschernobyl-Zonen-Liste auf die Hälfte kürzen. Nach ihrer Auffassung wird das Gebiet dadurch attraktiver für Investoren und die Landwirtschaft.~~~[…] чиновники, заявлявшие в Москве о радиоактивным положении в Тульской области, в демократической России пошли в депутаты и говорили: «Мы пробили чернобыльскую зону!». Хотя кроме небольших денежных подачек для жителей, увы, ничего добиться не удалось. Но и это было непросто. У жителей Узловой меньше года был статус с правом на отселение. Просто никто не мог позволить, чтобы целый город переехал. Поэтому здесь так и доживали старики, а дети росли, копаясь в радиоактивных клумбах. […]

    Кроме того, власти России собираются в два раза сократить список населенных пунктов, входящих в чернобыльскую зону. По мнению чиновников, это должно сделать территорию более привлекательной для инвестиций и ведения сельского хозяйства.[/bilingbox]

    ERSTER KANAL: DIE FEHLER DER ANDEREN

    Der Erste Kanal, der mehrheitlich in Staatsbesitz ist, sieht die Versäumnisse dagegen vor allem auf ukrainischer Seite. Im Artikel auf der Webseite des Senders heißt es, nicht nur die Ingenieure sondern auch die politische Führung der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik seien für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Heute setzten sich die Verfehlungen fort: Der Sarkophag zur Abdeckung des Reaktors sei immer noch nicht fertiggestellt, die von internationalen Geldgebern bereitgestellten Mittel versickerten in Korruptionsnetzwerken. Außerdem, so berichtet der hier zitierte Abschnitt, zeige Kiew auch im heutigen technischen Betrieb Verantwortungslosigkeit – indem es mit den USA statt mit Russland kooperiere, ohne die Folgen abzuschätzen.

    [bilingbox]Indem sie alle Kontakte mit Russland abbrach – darunter auch in puncto Kernenergie – hat sich die Ukraine nach Ansicht von Experten selbst in eine gefährliche Falle manövriert. Die Regierung hat beschlossen, die ukrainischen Atomkraftwerke auf amerikanischen Kraftstoff umzurüsten. Die Gesetze der USA verbieten die Einfuhr von Atommüll. Daher bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als bei sich selbst Endlager zu bauen. Auf dem Baugelände wurden bereits feierlich [Informations-]Schilder aufgestellt – ungeachtet dessen, dass der amerikanische Kraftstoff noch nicht einmal die obligatorische Freigabe erhalten hat; er wird bisher nur experimentell eingesetzt. Außerdem sind ähnliche Experimente in Europa bereits gescheitert.~~~Разорвав все связи с Россией, в том числе по линии ядерной энергетики, Украина, по мнению экспертов, сама загнала себя в опасную ловушку. Правительство приняло решение перевести украинские АЭС на американское топливо. Законы США запрещают ввозить отходы в эту страну. Поэтому Украине ничего не остается, кроме как строить хранилище у себя. На месте строительства уже торжественно установили таблички, несмотря на то, что американское топливо еще даже не прошло обязательную сертификацию, его пока используют экспериментально. Причем в Европе подобные эксперименты закончились неудачно.[/bilingbox]

    IZVESTIA: VOM WESTEN INSTRUMENTALISIERT

    In der regierungsnahen Izvestia ist von einer wissenschaftlichen Konferenz am renommierten Kurtschatow-Institut zu lesen. Die Experten dort beklagten, so die Zeitung, dass westliche Medien den Unfall ausgeschlachtet und damit den Zerfall der Sowjetunion befördert hätten.

    [bilingbox]Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Konferenz bemerkten mehrfach, dass der Unfall in Tschernobyl einer der Gründe war, die zum Zerfall der UdSSR führten. Denn die Partner aus anderen Ländern hätten über die Tragödie ausschließlich ihrem Interesse entsprechend berichtet. Man kann die jüngste Tragödie im japanischen Fukushima in eine Reihe mit Tschernobyl stellen, die weltweite Berichterstattung zu ihr war allerdings viel zurückhaltender.~~~Участники научной конференции также неоднократно отмечали, что авария в Чернобыле стала одной из причин, способствовавших распаду СССР, поскольку зарубежные партнеры освещали эту трагедию исходя исключительно из своих интересов. Вместе с тем недавнюю трагедию на японской «Фукусиме» можно поставить в один ряд с Чернобылем, однако активность ее освещения в мировых СМИ была в разы меньше.[/bilingbox]

    VEDOMOSTI: DIE INFORMATIONS-KATASTROPHE

    Auch die regierungsunabhängigen Vedomosti behandeln die Rolle der Medien – allerdings der sowjetischen.

    [bilingbox]Die Ereignisse von Tschernobyl lösten eine Informations-Katastrophe in der sowjetischen Politik aus. Um ihre Folgen zu mindern, wurde daraufhin die Zensur gelockert, was der Presse erlaubte, offen über Probleme zu sprechen, die zuvor hinter einem dichten Vorhang militärischer, staatlicher und behördlicher Geheimnisse verborgen waren.~~~События в Чернобыле вызвали информационную катастрофу в советской политике, ликвидация последствий которой привела к смягчению цензуры и позволила прессе открыто говорить о проблемах, находившихся прежде под плотной завесой военной, государственной и ведомственной тайны.[/bilingbox]

    BIRD IN FLIGHT: GEHEIMNIS GELÜFTET

    Dass die Medien auf Anweisung des KBG zentrale Informationen zu dem Unglück zurückhielten, davon zeugen die kürzlich in der Ukraine freigegebenen Geheimdokumente, die Bird in Flight veröffentlicht hat, das in der Ukraine auf Russisch erscheint. Der KGB befahl demnach ausdrücklich die Geheimhaltung wichtiger Informationen zu Hintergründen und unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe:

    [bilingbox]1. Informationen, die die tatsächlichen Gründe des Unfalls im Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl offenlegen.

    3. Informationen über die Menge und Zusammensetzung des Gemischs, das während des Unfalls austrat.

    11. Informationen über die radioaktive Verschmutzung der Umwelt und von Lebens- und Futtermitteln, die die höchstens zulässigen Konzentrationen überschreiten.

    16. Informationen über Ergebnisse neuer Methoden und Mittel zur Behandlung von Strahlenschäden.~~~1. Сведения, раскрывающие истинные причины аварии на блоке Nr. 4 ЧАЭС.

    3. Сведения о величинах и составе смеси, выброшенной во время аварии.

    11. Сведения о радиоактивном загрязнении природных сред, пищевых продуктов и кормов, превышающим предельно допустимые концентрации.

    16. Сведения о резултатах лечения новыми методами или средствами лучевой болезни.[/bilingbox]

    Jan Matti Dollbaum, Leonid A. Klimov

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    „Es ist Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“: Mit der Veröffentlichung eines derart markig betitelten Artikels sorgt Alexander Bastrykin, Chef des mächtigen, direkt Präsident Wladimir Putin unterstellten Ermittlungskomitees, dieser Tage für Aufregung in den russischen Medien.

    Bastrykin schreibt im Wochenmagazin Kommersant Vlast, gegen Russland sei ein hybrider Krieg im Gange, geführt von den USA und ihren Verbündeten. Dies hätte unter anderem zur Folge, dass der Islamische Staat gestärkt würde. Diesem hybriden Krieg müsse Moskau eine eigene Staatsideologie entgegensetzen und über eine strengere Internetzensur nach dem Vorbild Chinas und eine Verschärfung von Gesetzen, etwa im Hinblick auf Migranten, nachdenken.

    dekoder hat den Text ins Deutsche übersetzt. In der heutigen Presseschau bringt dekoder eine beispielhafte Auswahl der Reaktionen aus der russischen Medienlandschaft.

    SLON: Die „Kräfte-Perestroika

    Die Politologin Ekaterina Schulmann schreibt im unabhängigen Internetmagazin Slon, dass Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung fast interessanter seien als der Inhalt des „Manifests”. Zwar klinge der politische Teil von Bastrykins Text geradezu unheimlich und die Idee eines reaktionären Isolationismus, wie sie der Chefermittler hier entwerfe, könne getrost mit Nordkorea verglichen werden, so Schulmann. Der Zeitpunkt und die Veröffentlichung in der Presse deuteten jedoch darauf hin, dass es Bastrykin weniger um eine Programmschrift geht. Vielmehr wolle er sich vor allem im Ringen um Kompetenzen und Ressourcen innerhalb der Sicherheitsstrukturen, der sogenannten Silowiki, positionieren:

    „Ein mächtiger neuer Spieler hat jetzt das Kampffeld betreten – die Nationalgarde. Dadurch ändern sich Befugnisse und Zusammensetzung des Innenministeriums. Diese Ereignisse kann man als Kräfte-Perestroika bezeichnen. Man muss daran teilnehmen und dabei mit denjenigem ideologischen Fähnchen wedeln, das – nach Meinung des Autors – derzeit am besten vor Personal- und Budgetkürzungen sowie vor dem Verlust des eigenen Postens schützt. Ein Chef, der sich nicht um sich und sein Amt sorgen muss, würde sich kaum mit derart weitreichenden Aussagen an die Presse wenden. Die Silowiki sind unruhig.“

    MOSKOVSKIJ KOMSOMOLETS: WAS BASTRYKIN VERGESSEN HAT

    Das Massenblatt Moskovskij Komsomolets erinnert den studierten Juristen Bastrykin daran, dass er mit einigen Aspekten seines „Manifests“ gegen die russische Verfassung verstoße. Der Autor des Kommentars befürchtet allerdings, dass Bastrykin ihm bei einem persönlichen Treffen wohl unmissverständlich darlegen würde, dass er als Jurist im Recht sei, während der Autor als Amateur Unrecht habe. Zum Schluss hält er allerdings fest, dass dies Bastrykins persönliche Meinung sei. Garant der Verfassung in Russland sei schlussendlich immer noch Präsident Wladimir Putin.

    „Alexander Iwanowitsch [dek – Bastrykin] könnte folgende Verfassungsklausel interessieren: ‚In der Russischen Föderation wird die ideologische Vielfalt anerkannt. Es darf keine Staats- oder anderweitig verpflichtende Ideologie geben.‘
    Ich würde dem Vorsitzenden des Ermittlungskomitees außerdem empfehlen, sich erneut mit Artikel 29 Absatz 5 unseres Grundgesetzes vertraut zu machen: ‚Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Zensur ist verboten.‘ Offensichtlich hat Alexander Iwanowitsch diesen Punkt  auch vergessen.“

    RBK DAILY: WIDER DIE VERFASSUNG

    Die Wirtschaftszeitung RBK Daily hat unterschiedliche Medienvertreter um Reaktionen zu Bastrykins Vorschlägen gebeten, da dessen Zensur-Pläne nach chinesischem Vorbild die Arbeit der Branche empfindlich einschränken würden.
    So wolle Bastrykin in Russland etwa Online-Medien verbieten, welche ganz oder teilweise in ausländischem Besitz seien. Im vergangenen Jahr habe Moskau die Medien zudem bereits härter an die Kandare genommen, wie die Zeitung festhält. Am 1. Februar 2016 ist ein Gesetz in Kraft getreten, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medienunternehmen zu besitzen. Dies hatte bereits im Vorfeld zu großen Umwälzungen in der Branche geführt. Zudem gebe es technische und gesetzliche Hindernisse für Bastrykins Pläne:

    „Aus Bastrykins Text gehe nicht hervor, ob ein ‚Verbot‘ zum Beispiel bedeuten würde, dass man technisch gesehen keine .com-Domains mehr besuchen kann, sagt der Chefredakteur von Echo Moskvy, Alexej Wenediktow (die amerikanische EM-Holding hält eine Minderheitsbeteiligung an diesem Radiosender). Die Aussage des Vorsitzenden des Ermittlungskomitees zum ‚Maß an Zensur‘ wirke alles andere als verfassungsmäßig, sagt Wenediktow: Zensur sei in Russland durch das Grundgesetz verboten.“

    FORBES: SCHLAGSEITE GEN CHINA

    Andrej Soldatow, Publizist und Internetexperte, weist in der russischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes darauf hin, dass Bastrykin in Sachen Internetzensur in Russland nicht wirklich auf dem neuesten Stand sei. Schließlich erwähne er in seinen Vorschlägen auch solche, die schon längst umgesetzt seien. Internetfilter in Schulen und Bibliotheken existierten etwa schon lange, auch könnten Internetseiten in Russland bereits ohne Gerichtsentscheid blockiert werden. Bastrykin wolle nun gesetzliche Bestimmungen nach dem Vorbild Chinas kopieren. Die entsprechenden Behörden der beiden Länder tauschten sich aber bereits aus, wie Soldatow schreibt.

    „Der Grund für diese Schlagseite gen China könnte auch darin liegen, dass der russische Ansatz von Internetzensur immer wenig überzeugend wirkt. Man hatte versucht, die Online-Unternehmen einzuschüchtern, und nicht die Nutzer. Das war von 2012 bis 2014 durchaus erfolgreich, doch im Herbst 2015 hatte sich dieser Ansatz erschöpft. (…)

    Laut dem russischen Gesetz hätten internationale Unternehmen zum September 2015 ihre Server auf russisches Territorium verlegen sollen. Die Internet-Dienste, die der Anlass für all das waren – Google, Twitter und Facebook – ließen sich jedoch durchaus Zeit. (…)

    Seit vergangenem Herbst ist in Russland die Nutzerzahl von TOR [dek – Netzwerk zur Anonymisierung der Internetverbindung, über das auch Blockierungen umgangen werden können] explosiv angestiegen, bedingt durch die Blockierung von Rutracker [dek – bekannte Filesharing-Site]. Russland ist mit etwa 220.000 Nutzern pro Tag sofort auf den weltweit zweiten Platz der Zahl von TOR-Nutzern vorgerückt.“

    IZVESTIJA: PUTIN KANNTE TEXT NICHT

    Präsident Wladimir Putin habe Bastrykins Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen, zitiert die kremlnahe Izvestija Putins Sprecher Dimitri Peskow. Eine stärkere Regulierung des Internets sei jedoch im Sinne des Kremls.

    „Peskow lehnte es ab, den Inhalt des Materials zu kommentieren und ließ verlauten, er sei nicht Bastrykins Pressesekretär. Die Frage, ob die Position des Leiters des Ermittlungskomitees ein Posten innerhalb der russischen Regierung sei, beantwortete er nicht.

    Der Pressesekretär des Präsidenten merkte noch an, dass der russische Staatschef ‚mehrmals über das Internet als Gebiet des freien Informationsaustauschs gesprochen hat, wobei dieser freie Informationsaustausch in einer bestimmten Weise reglementiert werden muss‘.“

    Beatrice Bösiger aus Moskau

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    In Russland wird der Tag der Raumfahrt gefeiert. Derweil verteidigt Putin den Cellisten Sergej Roldugin, der als einer der Hintermänner der russischen Offshore-Verwicklungen gilt. Ein Film unterstellt dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus den USA gesteuerte Umsturzabsichten und das enteignete Eigentümerkonsortium von Yukos lässt internationales Vermögen des russischen Staates beschlagnahmen.

    Tag der Raumfahrt. Die russische Öffentlichkeit liebt Jahrestage, am meisten runde. Am Dienstag war nicht nur, wie an jedem 12. April, der Tag der Raumfahrt, sondern auch noch der 55. Jahrestag des ersten Raumflugs in der Geschichte der Menschheit – und der war schließlich eine russische Errungenschaft. Die Raumfahrtbehörde Roskosmos nahm es zum Anlass, unter dem Motto Podnimi golowu! (dt. Kopf hoch!) eine patriotisch-optimistische Flashmob-Kampagne zu starten – auch auf Youtube. Das charmante Breitband-Lächeln des sowjetischen Superhelden Juri Gagarin prangte am Dienstag als Festtags-Logo von den Titelseiten vieler Zeitungen. Bei dem Kommersant-Tochterblatt Ogonjok zierte der Kosmonaut sogar die Titelseite, allerdings nicht mit Helm, sondern als Schelm mit einem fransigen Damen-Strohhut. Der Kosmos sei für Russland schließlich symbolisches Kapital und ein Markenprodukt, schrieb Vedomosti in einem Kommentar – „einzig zum Erhalt der Marke reichen die Mittel und die Qualifikation nicht aus“, weshalb man „alte Symbol-Vorräte ausnutzen“ müsse. In der harten Realität sei für die russische Raumfahrt Anfang des Jahres eine Mittelkürzung um 30 Prozent für das nächste Jahrzehnt beschlossen worden – und das demnächst startbereite neue Kosmodrom Wostotschny mache vor allem durch Skandale und Hungerstreiks der Bauarbeiter Schlagzeilen.

    Panama Papers. Zu anderen irdischen Problemen: Und die laufen in Russland – wie momentan in vielen anderen Staaten – unter dem Etikett Panama Papers. Als mutmaßlicher Strohmann und eine Putin besonders nahestehende Schlüsselfigur der russischen Offshore-Verwicklungen wurde darin der Cellist Sergej Roldugin enthüllt. Zwei Milliarden Dollar sollen über Briefkastenfirmen unter seinem Namen geflossen sein. Putin persönlich nahm ihn auf einem Petersburger Medienforum in Schutz: Roldugin sei einfach ein Musiker, der auch im Business aktiv sei und sein sauer verdientes Geld in den Ankauf von sündteuren Musikinstrumenten zur Talentförderung stecke. Russlands staatlicher Hauptpropaganda-Kanal, die Sendung Westi nedeli von und mit Dimitri Kisseljow, brachte daraufhin ein langes Sujet über den Musiker und präsentierte ihn und dessen piccobello restauriertes Petersburger Haus der Musik als jenen Kulturhort, in den der emsige Roldugin seine Reichtümer gesteckt habe. Das alte Adelspalais beeindruckt in der Tat – doch konterte die lokale Webzeitung fontanka.ru schon tags darauf mit eigenen Recherchen: Die Sanierung des Gebäudes sei für umgerechnet circa 50 Millionen Euro seinerzeit von der Stadt Sankt Petersburg bezahlt worden. Und kein einziges der im Film präsentierten mehrere Millionen Dollar teuren antiquarischen Instrumente stünde in der Bilanz von Roldugins Haus der Musik – das im Übrigen zu 80 Prozent vom Kulturministerium finanziert werde.

    Enthüllungen über Nawalny. Von Kisseljow am Sonntag bereits als Preview präsentiert, strahlte Rossija 1 am Mittwoch einen langen Film mit Enthüllungen über den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus. Die Kernaussage: Nawalny arbeite seit Jahren im Auftrag und auf Rechnung des Putin-Intimfeinds Bill Browder, der einst in Russland zu den größten Finanzinvestoren gehörte – und betreibe letztlich einen Umsturz in Russland. Mit allerlei angeblich erbeuteter oder abgehörter Kommunikation unterstellt der Film, dass auch der Haft-Tod des Browder-Anwalts Sergej Magnitzki von den beiden Putin-Gegnern initiiert wurde – und zwar über geheimnisvolle britische Agenten im russischen Strafvollzugssystem. Auch Nawalnys Enthüllung über das Geschäftsimperium der Söhne von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika sei auf Geheiß westlicher Geheimdienste erfolgt, heißt es in dem Material.

    Nawalny kündigte eine Klage gegen den Fernsehsender wegen Rufmords an. Das einzig Wahre darin über ihn sei, dass er Nawalny heiße, erklärte er. Und in seinem Blog veröffentlichte er eine Selbstanzeige beim FSB, in dem er um eine offizielle Untersuchung der publik gemachten Vorwürfe samt Beschlagnahme des angeblichen Belastungsmaterials bittet. Originellerweise fand er damit sogar Beifall bei Chef-Propagandist Kisseljow. Über die Qualität des Belastungsmaterials lästerte die Novaya Gazeta: Das Englisch der vermeintlichen britischen Agenten sei auf dem Niveau von Google-Übersetzungen beziehungsweise Russlands Sportminister Mutko (gegenüber dem Günther Oettinger geradezu Oxford-English spricht).

    Auseinandersetzung um Yukos. Ein weiterer ewiger Schauplatz von Battaglien zwischen dem Kreml und seinen Widersachern ist und bleibt Yukos: Das enteignete Eigentümerkonsortium GMT versucht international, seine Forderungen über 50 Milliarden Dollar vom russischen Staat einzutreiben – und hat in Frankreich Zahlungen in Höhe von 700 Millionen Dollar an die russische Raumfahrtbranche beschlagnahmen lassen – ein unschönes Geschenk zum Tag der Kosmonautik. Die russischen Ermittler versuchen derweil, in der schon satte 20 Jahre zurückliegenden Privatisierung von Yukos Kriminelles zu finden – was ermöglichen könnte, diese Forderungen international anzufechten. Der Ex-Eigner im Exil, Michail Chodorkowski, rückte davon unabhängig dieser Tage wieder auf die Forbes-Liste der 200 reichsten Russen: Das Magazin taxierte sein Vermögen auf 500 Millionen Dollar (Platz 170) – zu Beginn seiner zehnjährigen Haft hatte er das Rating noch angeführt.

    Direkter Draht mit Wladimir Putin. Ab Donnerstagmittag wird die russische Medienlandschaft aber erst einmal durch die Inhalte des Direkten Drahts mit Wladimir Putin geflutet: Der Präsident antwortet auf Bürgerfragen aus dem ganzen Land – erstmals auch aus dem sozialen Netzwerk VKontakte. Was auf dem Bildschirm nach einem relativ spontanen Dialog aussieht, ist ein gut eintrainiertes Spektakel: Wie rbc.ru berichtete, ist das Saalpublikum bereits seit Dienstag in einem staatlichen Vorort-Sanatorium kaserniert, wo die Frager ausgewählt werden und ihr korrektes Verhalten einstudiert wird.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg

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    Presseschau № 25

    Staatliche Medien haben die Panama Papers zunächst kaum thematisiert, einzelne Journalisten der unabhängigen Presse waren dagegen an den Recherchen beteiligt: Sie schreiben nicht nur über Putin-Freund Roldugin, sondern vor allem auch über Oligarchen und hohe Staatsbeamte, die in die undurchsichtigen Finanzgeschäfte verwickelt sind. Passend dazu berichten russische Medien über den gerade erst verabschiedeten Anti-Korruptionsplan und die neu gegründete Nationalgarde.

    Putin und Panama. Was man mit zwei Miliarden Dollar alles machen könnte: Das sind ein Drittel des russischen Gesundheitsbudgets für 2016, oder 1,5 mal soviel Geld wie in Russland für den Straßenbau bis 2020 vorgesehen ist. Man könnte aber auch einen ganzen Monat lang die Rente von zehn Millionen Pensionären bezahlen, wie Current Time zeigt, ein TV-Programm, das von Radio Free Europe und Voice of America co-produziert wird. Zwei Milliarden Dollar beträgt aber auch der Umsatz des Offshore-Netzwerks des russischen Cellisten und guten Freunds des russischen Präsidenten, Sergej Roldugin, wie die Panama Papers, Recherchen des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus (ICIJ) zutage förderten. In Russland war die kremlkritische Novaya Gazeta an der Aufarbeitung des nach eigenen Angaben größten Datenlecks der Geschichte beteiligt. Hier geben die Journalisten Einblick in ihre Arbeit.

    Interessant sind die laut Experten suspekten Transaktionen der Firmen von Cellist Roldugin, vor allem wegen dessen enger Freundschaft mit dem russischen Präsidenten. Der Musiker und der zukünftige Präsident lernten sich bereits in den  70er Jahren im damaligen Leningrad kennen. Trotz ihrer unterschiedlichen Karrieren hat ihre Freundschaft offensichtlich gehalten, wie ein Interview zeigt, das Roldugin 2014 der Zeitung Vechernaja Kazan gab. Ein Faktor, welcher die Journalisten des Konsortiums vermuten lässt, dass Roldugin die Gelder für jemand anderen, möglicherweise sogar für Putin selbst verwaltete, auch wenn der Name des Präsidenten selbst nirgendwo in den Panama Papers auftaucht.

    Roldugin ist allerdings nicht der einzige prominente Russe in den Panama Papers. Tatjana Nawka, die Frau von Putins Sprecher Dimitri Peskow, der Sohn von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sowie Maxim Lixutow, Vizebürgermeister von Moskau figurieren laut der Novaya Gazeta ebenso in den Dokumenten, wie mehrere Oligarchen, Gouverneure und Parlamentarier. Illegal sind Offshore-Konstruktionen in Russland nicht. Brisanz erhalten die Papiere aber dadurch, dass Beamte weder Auslandstransaktionen durchführen noch Bankkonten im Ausland besitzen dürfen, wie die Wirtschaftszeitung RBC Daily schreibt. 2015 ist zudem ein Gesetz über die „Deoffshorisierung“ in Kraft getreten, laut dem Unternehmen und Privatpersonen die zuständigen Behörden über allfällige Offshore-Vermögen informieren müssen. Dumaabgeordneten ist Geschäftstätigkeit generell verboten, so RBC Daily weiter.

    Die langsame Reaktion der russischen Staatsmedien auf die Panama Papers hat das unabhängige Internetmagazin Slon hier gesammelt. Falls überhaupt, wurde eher über den Offshore-Trust des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko berichtet und im Bezug auf die Firmen gegen russische Staatsbürger meist die offizielle Kreml-Position wiedergegeben: Es handle sich dabei um eine Auftragsarbeit, dahinter stecke die CIA. Die Recherche sei ausschließlich darauf abgezielt gewesen, Russland und vor allem Wladimir Putin zu schaden. In den Papieren stehe nichts neues, so Putins Sprecher, er hätte sich von dem Journalistenkonsortium qualifiziertere Arbeit erwartet. Bereits vergangene Woche hatte Peskow vor einem Informationskrieg gegen Russland gewarnt, mit dem das Land destabilisiert werden soll.

    Nun interessiert sich aber trotzdem die russische Staatsanwaltschaft für die Offshore-Firmen, wie der Kommersant berichtet. Der parteilose Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow hat von den staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und Rossija Segodnja Auskunft darüber verlangt, warum die Panama Papers derart kurz abgehandelt wurden, so die Zeitung weiter. Er diskutiere die Redaktionspolitik nicht mit Parlamentsabgeordneten, entgegnete darauf Dimitri Kisseljow, umstrittener Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja. Von der Zeitung befragte Soziologen bezweifeln, dass die Enthüllungen das Verhältnis der Russen zu ihren Politikern ändern werde. Dass in Russland Korruption existiere, sei hinlänglich bekannt.

    Die Gleichgültigkeit der russischen Öffentlichkeit sei heute die zuverlässigste Verbündete des Kremls, kommentiert der Publizist Oleg Kaschin die Panama Papers. Das gelte auch im Falle des Mordes an Boris Nemzow oder den Krieg in der Ukraine. In naher Zukunft sei das Vermeiden von ähnlichen Enthüllungen eine der dringendsten Aufgaben der russischen Regierung. Möglicherweise kann die russische Medienöffentlichkeit schon bald asymmetrische Entlarvungen über Barack Obama erwarten, so Kaschin weiter. Auch wenn die Enthüllungen laut der Politologin Ekaterina Schulmann nicht auf ein russisches Publikum abziele, da hier kaum ernsthafte Reaktionen folgen würden, gelte es die umfassende Recherche des Konsortiums anzuerkennen. Man müsse schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man die Veröffentlichung als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen“, so die Politologin weiter.

    Korruption lässt Kosten steigen. Zufall oder nicht, wenige Tage vor den Offshore-Enthüllungen, hat Russland den neuen Anti-Korruptionsplan 2016/17 verabschiedet. Wichtigster Punkt: Staatsbedienstete, Leiter gesellschaftlicher Organisationen, aber auch Journalisten sollen ihre Jahreseinkommen offenlegen, damit Interessenskonflikte vermieden werden können. Der renommierte TV-Journalist Wladimir Posner spricht sich dagegen aus, damit würden die Rechte der Journalisten verletzt. Die neugegründete unabhängige Journalistengewerkschaft bedankt sich auf ihrer Facebookseite beim Kreml für die Empfehlungen, habe aber nicht vor, diesen zu folgen.

    Durch Korruption steigen allerdings auch die Lebenshaltungskosten in Russland. Eine Wohnung koste deswegen zehn bis 15 Prozent mehr als ihr tatsächlicher Wert, schreibt die Associated Press. Damit schließt sich auch wieder der Kreis zu den Panama Papers: Laut Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsfonds hat etwa die Stadt Moskau einen Vertrag mit dem Unternehmen Transmashholding über die Lieferung neuer Metro-Waggons für die kommenden 30 Jahre abgeschlossen. Ehemaliger Teilhaber von Transmashholding ist der Moskauer Vizebürgermeister Maxim Lixutow. Dessen Name taucht ebenfalls in den Dokumenten auf.

    Neue Sicherheitsstruktur. Russland hat seit dieser Woche eine Nationalgarde, einen entsprechenden Erlass unterzeichnete Putin am Dienstagabend. Geführt wird diese von Viktor Solotow, während langer Jahre Leiter der persönlichen Leibwache des Präsidenten, zuletzt Chef der Truppen des Innenministeriums. Die mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattete Behörde soll eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die vorher von anderen Strukturen des Innenministeriums, etwa der OMON, übernommen wurden: etwa die Sicherung der öffentlichen Ordnung, die Bewachung strategisch wichtiger Objekte und Terrorbekämpfung. Vieles ist laut dem in Lettland beheimateten Oppositionsmedium Meduza im Bezug auf die Behörde aber noch unklar, etwa wie die Kompetenzen unter den Sicherheitsstrukturen aufgeteilt werden. Offizielle Angaben über die Stärke der Nationalgarde sind laut Vedomosti bislang nicht bekannt. Laut dem Kreml hänge diese Neugründung jedoch nicht mit möglichen Unruhen zusammen, welche vor den Parlamentswahlen im September ausbrechen könnten. Spekuliert wird in den russischen Medien trotzdem: Putin fürchte sich vor den Leuten in seiner Umgebung, er brauche jemanden wie Solotow zum Schutz, der ihm bedingungslos ergeben sei, meint etwa Jewgenija Albaz, Chefredakteurin des unabhängigen Wochenmagazins The New Times auf dem Radiosender Echo Moskau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 24

    Neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission ist seit Anfang der Woche die Menschenrechtlerin Ella Pamfilowa – eine Besetzung, die mit Blick auf die Parlamentswahlen im September für Gesprächsstoff sorgte. Thematisiert wurde in den Medien außerdem die Rückeroberung der Stadt Palmyra sowie die westliche Berichterstattung über Russland und den russischen Präsidenten.

    Transparentere Wahlen. Ein halbes Jahr ist es noch bis zu den nächsten Dumawahlen im September und die Politiker beginnen, sich dafür in Stellung zu bringen. Parteien werden gegründet, parteiinterne Listen vorbereitet, Kandidaten präsentiert. Anfang der Woche wurde nun der Vorsitz der Zentralen Wahlkommission (ZIK) neu gewählt. Das Gremium, das Referenden, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereitet und durchführt, wird neu von Ella Pamfilowa präsidiert. Die Menschen müssten Vertrauen in die Wahlen zurückgewinnen und glauben, mit ihrer Stimme einen Unterschied bewirken zu können; an der Arbeit der Komission müsste Grundlegendes geändert werden, sagte die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten nach ihrer ersten Sitzung als Kommissionsvorsitzende. Die 62-Jährige ist eine der bekanntesten Frauen in der russischen Politik, die auch in Oppositionskreisen Respekt genießt. In den 90er Jahren war sie kurzzeitig Sozialministerin und kandidierte 2000 als erste Frau für das Präsidentenamt.  

    Wladimir Tschurow, der Vorgänger von Pamfilowa an der Spitze der ZIK, war eine äußerst kontroverse Figur. Die Entlassung des „Zauberers“ gehörte zu den wichtigsten Forderungen der Protestbewegung nach den letzten Parlamentswahlen 2011, die von massiven Fälschungsvorwürfen begleitet wurden. Immer wieder war Тschurows Gesicht auf Plakaten der Demonstranten zu sehen.

    Trotzdem wird Pamfilowas Wahl nicht als Zugeständnis an die Opposition interpretiert. Globale Veränderungen bei der Führung der ZIK seien unter ihr nicht zu erwarten, schreibt die kremlkritische Novaya Gazeta. Zwar organisiere das Gremium die Wahlen, doch durchgeführt würden sie eigentlich vor Ort in den Regionen und hier würden die lokalen Machthaber alles daran setzen, dass die Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland gewinnen würden. Fair oder nicht – das sei egal, einzig das Resultat zählt, heißt es in der Zeitung weiter.

    Der Kreml habe es gar nicht mehr nötig, Wahlresultate an der Urne zu frisieren, schreibt Andrej Pertsew, Journalist beim Kommersant in einem Kommentar für Carnegie. Einschüchterungstaktiken und strenge Registrierungsregeln für Kandidaten würden dazu führen, dass das „passende“ Resultat bereits lange vor dem tatsächlichen Urnengang feststeht. Einen möglichen Vorgeschmack lieferten bereits die Regionalwahlen vom vergangenen Herbst. Einzig in Kostroma wurde der Opposition die Registrierung gestattet, trotzdem sahen sich die Kandidaten dort einer heftigen Diffamierungskampagne ausgesetzt.

    Rettung von Kulturgütern. Begleitet von Peinigem Pomp hat Moskau vor zwei Wochen den Teilabzug seiner Streitkräfte aus Syrien verkündet. Russische Kampfjets fliegen allerdings nach wie vor Einsätze im Kriegsgebiet und unterstützten die Truppen von Präsident Bashar al-Assad bei der Rückeroberung der Stadt Palmyra. Kriegsberichterstatter des Staatsfernsehens versicherten, der militärische Erfolg des syrischen Regimes wäre ohne die russische Luftwaffe nicht möglich gewesen. Terroristen des Islamischen Staates hätten sich in den antiken Theatern und Tempeln verschanzt, da sie genau gewusst hätten, dass weder die russische noch die syrische Armee die wertvollen Kulturgüter zerstören würden, berichtete der Reporter weiter.

    Nur wenige Stunden nach der „strategisch wichtigen Befreiung Palmyras“ zeigten die Medien Bilder der antiken Denkmäler, welche auch auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO stehen, und versuchten den Grad der Zerstörung durch den IS abzuschätzen. Russische Experten beeilten sich, Hilfe beim Wiederaufbau und der Entminierung der Stadt zuzusichern. Für den Westen dagegen sei Palmyra uninteressant, so Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums. Ein entsprechender russischer Vorstoß im UNO-Sicherheitsrat sei blockiert worden. Ausschließlich geopolitische Interessen stünden hinter dem Handeln westlicher Länder. Weder an der Befreiung Syriens von Terroristen noch an einer Zusammenarbeit beim Friedensprozess und dem Schutz kultureller Werte seien diese interessiert, sagte Sacharowa weiter.

    Vom Militäreinsatz in Syrien profitiert jedoch nicht zuletzt auch die russische Waffenindustrie. Vor allem die Nachfrage nach dem Boden-Luft-Raketen-System S-400 sei stark gestiegen. Wie die Internetzeitung gazeta.ru berichtet, seien deswegen beim Hersteller Almaz-Antey die freien Tage gestrichen worden. Aufträge im Wert von 56 Milliarden Dollar stehen in den Büchern der russischen Waffenschmieden, das ist Rekord seit 1992, sagte Präsident Wladimir Putin unlängst. Laut Kommersant war Indien 2015 der größte Kunde und gilt neben China als größter Zukunftsmarkt für Rüstungsexporte aus Russland.

    Freund und Feind. Immer wieder kursierten in den letzten Tagen Gerüchte, westliche Medien planten ein Kompromat, eine Kampagne gegen Präsident Putin, um ihm zu schaden. Allzu unverblümt hätten ausländische Journalisten bei Pressekonferenzen nach der Familie des Präsidenten und Freunden aus Putins Jugend gefragt, was Putins Sprecher Dmitri Peskow als Indiz hierfür wertete. Wer allerdings intime Details erwartet hat, wurde bis jetzt enttäuscht. Für russische Experten hat dies jedoch System. Mehrere anti-russischen Kampagnen seien in den vergangenen Monaten in ausländischen Medien lanciert worden, heisst es im Vorwort zum „Antirussischen-Vektor“ des Instituts für Strategische Forschung (RISS) in Moskau. Mit persönlichen Attacken werde beispielloser Druck auf den russischen Präsidenten ausgeübt. All dies deute darauf hin, dass der Informationskrieg gegen Russland eine neue Qualität erreicht habe, heißt es in dem Text weiter.

    Die Studie des Thinktanks, welcher unter anderem für die Präsidialabteilung arbeitet, reiht Länder, Publikationen und Journalisten nach der Intensität ihrer negativen Berichterstattung über Russland. Auffallend: In den deutschen Medien wurde 2015 die Berichterstattung milder. Im Jahr zuvor belegte Deutschland noch den ersten Platz, 2015 hinter Tschechien und Polen den dritten. Positive Tendenzen dominieren dagegen in Syrien und Kuba. Nach welchen Kriterien der „Agressivitätsindex“ erstellt wurde, bleibt allerdings unklar.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Am Dienstag ging nach mehrmonatiger Verhandlung der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko mit einem Schuldspruch zuende. Und die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse in Brüssel werden auch in Russland diskutiert.

    Hartes Urteil. Nach zwei Tagen, an denen Richter Leonid Stepanenko mit monotoner Stimme das Urteil verlas, verurteilte er am Dienstag die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Das Gericht sah es nach einem umstrittenen und international kritisierten Verfahren als erwiesen an, dass Sawtschenko verantwortlich für die Ermordung zweier russischer Journalisten im Juni 2014 in der Ostukraine sei. Sie habe deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben und im Anschluss daran illegal die Grenze nach Russland überquert. Dafür muss sie noch zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (etwa 400 Euro) zahlen. Der Kommersant fasst die wichtigsten Fakten des Verfahrens noch einmal zusammen.

    Die 34-jährige Offizierin, Berufssoldatin der ukrainischen Armee und Parlamentsabgeordnete, die als erste Frau die Ausbildung zur Kampfpilotin absolvierte und während des Krieges in der Ostukraine in den Reihen des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar kämpfte, bezeichnete sich selbst bis zum Schluss als unschuldig. Sie erkenne die Hoheit des Gerichts nicht an, werde deshalb das Urteil auch nicht anfechten, so die Pilotin. Wiederholt nutzte Sawtschenko den Gerichtssaal für ihre politischen Botschaften, zeigte dem Gericht ihren Mittelfinger, sagte Moskau einen Maidan voraus und bezeichnete Putin als Diktator und Russland als totalitäres Regime. Unmittelbar vor der eigentlichen Verkündung des Strafmaßes stimmte sie ein ukrainisches Revolutionslied an, ihre Unterstützer entrollten im Gerichtssaal eine ukrainische Flagge, der Ausruf „Ruhm der Ukraine!“ war zu hören.

    Die lange Haftstrafe überrascht nicht. Seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme wird Sawtschenko in den staatsnahen Medien als kaltblütige Tötungsmaschine und „Mörderin“ bezeichnet. Der Korrespondent des kremlnahen Boulevardblattes Komsomolskaja Prawda berichtet über die Geschmacklosigkeit, mit welcher sich anwesende ukrainische Journalisten über ihre ermordeten Kollegen geäußert hätten. Die Verteidigung Sawtschenkos kritisierte jedoch fehlende Beweise und Ungereimtheiten während des Verfahrens. Die Auswertung ihres Mobiltelefons etwa habe klar ergeben, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs, bei dem die beiden Journalisten ums Leben kamen, bereits von prorussischen Separatisten festgehalten wurde. Ein Kämpfer aus Luhansk mit dem Pseudonym Ilim, berichtete vor Kurzem dem in Lettland beheimateten Exilmedium Medusa, er habe Sawtschenko gefangengenommen und sie persönlich Igor Plotnizky, Chef der selbsternannten Volksrepublik Luhansk, übergeben. Vor Gericht wurde er jedoch nicht als Zeuge geladen.

    Die Anwälte Sawtschenkos gehen nun davon aus, dass die Verurteilte nach dem Ende des Prozesses im Rahmen eines Gefangenenaustausches an die Ukraine übergeben werden könnte. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Wladimir Putin habe ihm einen solchen Austausch bereits in Aussicht gestellt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow stellte ein solches Versprechen allerdings in Abrede. Er wisse nichts von einer Absprache zwischen den beiden Präsidenten, so Peskow. Spekuliert wird nun, wie hoch Moskau den Preis für eine Rückkehr Sawtschenkos ansetzt. Kiew fordert einen bedingungslosen Gefangenenaustausch „alle gegen alle“: neben Sawtschenko gehöre dazu unter anderem auch der zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilte Regisseur Oleg Senzow. Die Ukraine ist dazu bereit, Moskau Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew zu übergeben, die 2015 im Donbass verhaftet wurden. Laut der Ukraine gehören die beiden dem Militärgeheimdienst GRU an, Moskau hat das allerdings nie bestätigt. Eine zweite Theorie wäre laut der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, die ein Interview mit einem Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes veröffentlichte, dass die Pilotin nur ausgetauscht wird, wenn Russland dafür einen Landweg von Rostow auf die Krim erhält.

    Anschlag in Brüssel. Die tragischen Ereignisse in Brüssel vom Dienstag sorgten auch in Russland für Schlagzeilen. Viele Medien richteten während des ganzen Tages einen Liveticker ein, in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen war das „barbarische Verbrechen“ die Hauptnachricht. Die Rede war allerdings nicht von Prävention, Integration oder religiöser Toleranz, sondern vielmehr von Aufrüstung, Grenzschließungen und Polizisten in Hightech-Uniformen. Erneut wurde auch Merkels Willkommenskultur kritisiert. Die Bundeskanzlerin verliere die Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik, rechte Kräfte wie Pegida seien auf dem Vormarsch. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei hätte nun der türkische Präsident Erdogan die Entscheidungsgewalt darüber, wer nach Europa gelangt und wer nicht, berichtet der Korrespondent des staatlichen Fernsehens weiter.

    Es gab nicht nur  Trauer und Beileidsbekundungen, etwa von Kreml-Chef Putin, sondern russische Politiker versuchten auch, die Tragödie für eigene Zwecke zu nutzen. Die EU müsse nun einsehen, dass ihre Migrationspolitik ein Fehler war, lautete vielfach der Tenor. Die russischen Geheimdienste hätten Belgien vor einem Anschlag gewarnt, hieß es gar auf dem kremlnahen Sender LifeNews. Präsident Putin habe auf der UNO-Vollversammlung für eine internationale Anti-Terrorallianz geworben, der Westen hätte sich dieser aber nicht anschließen wollen, heißt es aus den Reihen russischer Parlamentarier. Das unabhängige kremlkritische Internetfernsehen TV Dozhd hat hier einige Aussagen gesammelt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem Westen doppelte Standards vor. Mit Verweis auf Syrien meinte sie, man könne nicht zwischen guten und bösen Terroristen unterscheiden. In der Staatsduma sprach sich Wladimir Shirinowski, Parteichef der LDPR, gegen eine Schweigeminute für die Opfer aus. Darauf wies Parlamentssprecher Sergej Naryschkin ihn mit den Worten zurecht, der Westen würde liebend gerne über Humanismus und moralische Werte reden. Für Russland seien das aber nicht nur Worte, deshalb die Gedenkaktion im Parlament, sagte Naryschkin weiter.

    Terrorexport. Die Gefahr von Anschlägen bleibt aber auch in Russland bestehen, kämpfen doch laut dem FSB 2900 Russen in den Reihen des Islamischen Staates. Eine aktuelle Studie der International Crisis Group (ICG) kommt zu dem Schluss, dass von Seiten der russischen Politik gezielt versucht worden ist, die eigenen Terroristen zu „exportieren“. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 wurde der Druck auf den islamistischen Untergrund in Russland verstärkt, viele Extremisten seien darauf nach Syrien oder in den Irak gereist, kommentiert Vedomosti. Russisch sei zur drittwichtigsten Fremdsprache im IS geworden, erzählt Jekaterina Sokirijanskaja von der ICG im Interview mit der kremlkritischen Novaya Gazeta. Kämpfer aus Russland würden innerhalb der Terrormiliz hohe Positionen bekleiden. Von ihnen könnte nach ihrer Rückkehr Gefahr ausgehen, oder sie aktivieren ihre Anhänger, so die Expertin weiter.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org





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    Der Teilabzug russischer Truppen aus Syrien ist in dieser Woche das beherrschende Thema. Das staatliche Fernsehen feiert die zurückkehrenden Soldaten wie Helden und liberale Medien stellen die Frage nach dem Nutzen der Militäroperation. Außerdem: Der Jahrestag des Referendums ist Anlass für Rückblick und Ausblick auf die Krim-Politik und im Nordkaukasus gibt es einen erneuten Anschlag auf die Menschenrechtsorganisation Komitee zur Verhütung von Folter.

    Die Rückkehr. „Sie wurden empfangen wie Helden“, berichtet der Reporter des russischen Staatsfernsehens in den Dienstagsnachrichten enthusiastisch von der Rückkehr der ersten russischen Kampfpiloten aus Syrien. Medial perfekt inszeniert wurden den Piloten zur Begrüßung einer alten Tradition entsprechend Brot und Salz gereicht, jubelnde Menschen schwenkten russische Fähnchen, warfen einen der Piloten in die Luft. Eine „wichtige und nötige Aufgabe“ hätten die Jungs in Syrien erfüllt, zu Recht könnten sie nun sagen „Wir sind daheim“, ging der emotionale Bericht weiter. Am Montagabend hatte Wladimir Putin, beginnend mit dem 15. März 2016, einen Teilabzug der russischen Truppen in Syrien angeordnet. Laut des russischen Präsidenten wurden die wichtigsten Ziele der Militäroperation weitgehend erreicht.

    Syrien dominiert die Schlagzeilen: Der Westen sei durch den Teilabzug überrascht worden, Putin habe Obama erneut überlistet, Russland verlasse Syrien gestärkt und als Sieger, hieß es. Die TV-Nachrichten zeigten Bilder sprachloser Kommentatoren und Pressesprecher der US-Regierung, welche nach Worten suchten. Überraschend kam das Vorgehen Russlands allerdings nicht. Der russische Teilabzug sei nicht ohne vorherige Absprache zwischen Putin und Obama erfolgt, schreibt der Kommersant. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember habe Putin bereits darauf hingewiesen, dass eine ständige Truppenpräsenz in Syrien nicht notwendig sei, heißt es weiter.

    Die meisten Medien ziehen eine positive erste Bilanz der fünfeinhalb Monate dauernden Operation, deren Kosten die Wirtschaftszeitung RBK auf rund 38 Milliarden Rubel (circa 487 Millionen Euro) schätzt. Laut Kommersant wurde das Regime von Bashar al-Assad stabilisiert und die Möglichkeit für politische Gespräche geschaffen. Mehr als 2000 russische Syrien-Kämpfer wurden laut offiziellen Angaben getötet und große Teile der Erdölinfrastruktur, über dessen Verkauf sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) finanziert, zerstört, hebt das kremlnahe Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda hervor. Zudem habe Russland sein oberstes Ziel, die internationale Isolation aufzubrechen, in der sich das Land seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass befindet, zum großen Teil erreicht, findet der Militärexperte Alexander Golts: Putin und Obama telefonierten zu Syrien miteinander, die Streitkräfte kooperierten vor Ort. Golts warnt aber auch, dass Putin mit seinen unangekündigten Truppenentsendungen und -abzügen Russland stark schaden könnte. Eine diplomatische Gewinnmitnahme aus Syrien in die Ostukraine gelang Putin bislang nicht. So merkt etwa Vedomosti an, dass die Sanktionen des Westens noch immer in Kraft sind und die Erfüllung der Minsker Vereinbarung noch aussteht.

    Kritischer fällt die Bilanz der Militärintervention naturgemäß bei den unabhängigen, kremlkritischen Medien aus. Das in Lettland beheimatete russische Exilmedium Medusa betont, dass Präsident Assad immer noch im Amt ist und durch Russland gar an den Verhandlungstisch zurückgebombt wurde.

    Die russischen Bomben seien wohl auch weniger präzise gewesen als vom Verteidigungs-ministerium behauptet. Immer wieder gab es Berichte über zivile Opfer. Zudem wird ein Teil Syriens immer noch vom IS kontrolliert. Dazu kommen die diplomatischen Spannungen mit der Türkei, welche seit dem Abschuss des russischen Kampfjets SU-24 am 24. November 2015 für Unruhe sorgen. Zu Ende ist Russlands Syrieneinsatz nicht. Ein Militärkontingent verbleibt in der Levante. Der Marine-Stützpunkt in Tartus und der Militärflughafen bei Latakia sind nach wie vor in Betrieb, das S-400 Raketenabwehrsystem bleibt in Syrien stationiert. Die russische Luftwaffe fliegt zudem nach wie vor Einsätze gegen extremistische Gruppierungen wie den IS. Für das unabhängige, kremlkritische Internetmagazin Slon sind zudem im Bezug auf die 2000 russischen Terroristen, welche angeblich getötet worden seien, noch Fragen offen. Angaben zu deren Herkunft und Identität konnten bislang nicht unabhängig überprüft werden.

    The Show must go on. Mit großer Sorge stellt sich die kremlkritische Novaya Gazeta die Frage, wie es politisch nun weitergeht. Russland sei jetzt einfach nur noch ein Land, nicht mehr Welthauptstadt des Sportes, Verteidiger der Russischen Welt oder wichtigster Kämpfer gegen den internationalen Terrorismus. Gilt nun „The Show must go on“, oder sind die Menschen dazu bereit, den Ausnahmezustand aufzugeben? Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen warte letzten Endes ein neuer Wettbewerb zur Suche nach äußeren oder inneren Feinden auf die Gesellschaft, schreibt die Novaya Gazeta weiter.

    Jahrestag des Krim-Referendums. Zuvor zelebriert Moskau jedoch die Ereignisse der vergangenen Jahre noch einmal ausführlich. Am 16. März jährte sich zum zweiten Mal die international nicht anerkannte Annexion der Krim. Beim handstreichartig aus Moskau orchestrierten Referendum sprachen sich 97 Prozent für einen Beitritt zur Russischen Föderation aus. Die „Rückkehr der Krim in den Heimathafen“ wird mit Konzerten, Demonstrationen und aufwendig produzierten TV-Dokumentationen begangen.

    Es gibt jedoch auch kritischere Töne, etwa auf dem unabhängigen TV-Sender Doschd, wo mit einem Beitrag an die Nacht vor dem Referendum vor zwei Jahren erinnert wird. Zu sehen sind maskierte Uniformierte, die „höflichen Menschen“, welche ein Hotel in Simferopol durchsuchen, Journalisten an der Arbeit hindern, Kameras und Speichermedien konfiszieren. Bewohner der Krim berichten bei Medusa von plötzlichen Anfeindungen als „Faschist“ ihrer pro-ukrainischen Gesinnung wegen und außerdem vom Alltag auf der isolierten Halbinsel und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die trotz zahlreicher Versprechungen aus Moskau nicht gelöst wurden.

    Bis 2020 will Moskau 708 Milliarden Rubel (circa neun Milliarden Euro) auf der Krim investieren, trotzdem bleibt die Inflation hoch, und wegen der Sanktionen fließen kaum ausländische Investitionen auf die Halbinsel. Eine radikale Maßnahme zur wirtschaftlichen Belebung der Krim hat nun Jewgeni Tunik, Direktor des Instituts zur Analyse der politischen Infrastruktur Premierminister Dimitri Medwedew vorgeschlagen. Tunik will die russische Hauptstadt aus Moskau nach Sewastopol verlegen. Nicht des besseren Klimas oder des Strandzugangs wegen, sondern weil dadurch die internationale Anerkennung der Krim als Teil Russlands beschleunigt und durch den Aufbau einer neuen Infrastruktur sämtliche wirtschaftlichen Probleme auf einen Schlag beseitigt würden.

    Erneut Überfall im Nordkaukasus. In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny wurde Igor Kaljapin, Chef der NGO Komitee zur Verhütung von Folter am Mittwochabend in einem Hotel mit Eiern beworfen und grüner Farbe übergossen. Medienberichten zufolge hat sich Kaljapin nun dazu entschlossen, die russische Teilrepublik zu verlassen. Wie berichtet, wurde in der vergangenen Woche in der Nachbarrepublik Inguschetien eine Gruppe von Journalisten und Menschenrechtlern überfallen, zu denen ebenfalls Mitglieder des Komitees zur Verhütung von Folter gehörten. Die tschetschenischen Behörden wiesen Vorwürfe zurück, die antioppositionellen Hetztiraden von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten Gewaltausbrüche begünstigen.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org











     

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