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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #14: Wird Chabarowsk Putin gefährlich?

    Bystro #14: Wird Chabarowsk Putin gefährlich?

    Zehntausende gehen in Chabarowsk regelmäßig auf die Straße, nachdem am 9. Juli der örtliche Gouverneur Sergej Furgal verhaftet wurde. Es sind die größten Proteste, die die Region je gesehen hat. Was motiviert die Demonstranten? Wer ist Sergej Furgal? Und was bedeuten die Proteste für das System Putin? Ein Bystro von Jan Matti Dollbaum in sieben Fragen und Antworten. 

    1. Die Medien schreiben über Massenproteste in Chabarowsk. Was ist da gerade los?

    2. Und wer ist dieser Sergej Furgal? Ist er ein Oppositionspolitiker?

    3. Haben die Vorwürfe gegen Furgal, an kriminellen Handlungen beteiligt gewesen zu sein, auch etwas mit der Realität zu tun?

    4. Warum setzen sich die Bürger für diesen Menschen ein? Oder protestieren sie eher gegen Putin?

    5. Bei den Protesten in Chabarowsk gibt es nur einzelne Festnahmen. Wird Protest in Russland nicht meistens mit Repressionen beantwortet?

    6. Alexej Nawalny? Was hat Nawalny damit zu tun?

    7. Was heißt das alles für die Zukunft? Ist jetzt Putins Herrschaft in Gefahr?


    1. Die Medien schreiben über Massenproteste in Chabarowsk. Was ist da gerade los?

    Am 9. Juli 2020 verhaftete die Polizei Sergej Furgal, den Gouverneur der fernöstlichen Region Chabarowsk. Furgal war lange Zeit Unternehmer und soll nach Angaben der Polizei in den Jahren 2004 und 2005 an zwei Morden und einem weiteren Mordanschlag auf wirtschaftliche Konkurrenten beteiligt gewesen sein.

    Seit dem 11. Juli gehen Menschen in Chabarowsk und anderen Städten der Region gegen die Verhaftung auf die Straße. Sie sehen seine Verhaftung als politisch motiviert an: 2018 hat er bei den Regionalwahlen gegen den Vertreter der Regierungspartei gewonnen – dass sich der Kandidat der Regierungspartei Einiges Russland nicht durchsetzen konnte, das war nur in wenigen Regionen der Fall. 
    Medien zählen bei den großen Demonstrationen an den Wochenenden übereinstimmend 30.000 bis 50.000 Menschen. Damit sind diese Proteste die größten, die diese Region in Russlands Fernem Osten seit Jahrzehnten gesehen hat.


    2. Und wer ist dieser Sergej Furgal? Ist er ein Oppositionspolitiker?

    Eindeutiger Oppositionspolitiker ist er nicht. Er gehört der rechtspopulistischen Partei LDPR an, die zur sogenannten parlamentarischen „Systemopposition“ gezählt wird. Die LDPR erfüllt innerhalb des russischen politischen Systems eine wichtige Funktion: Sie sorgt dafür, dass Wahlen den Anschein von Wettbewerb erwecken und fängt oppositionelle Stimmen ein. Gegen das autoritäre politische System unternimmt sie jedoch nichts.

    Die Partei gilt vielmehr als ein verlässlicher Partner der Regierung gegen die wirkliche Opposition. Furgal selbst hat in seiner Zeit als Abgeordneter in der Staatsduma verschiedenen repressiven Gesetzen zugestimmt. Dazu passt, dass die LDPR sich schnell von den Protesten in Chabarowsk distanziert hat. Der an Stelle Furgals von Putin kommissarisch ernannte 39-jährige Michail Degtjarjow, der ebenso der LDPR angehört, erklärte, die Proteste würden von ausländischen Staatsbürgern organisiert, die dazu extra eingeflogen seien. 

    Und auch Parteichef Wladimir Shirinowski, der gute Beziehungen zu Putin unterhält, wird sicher nicht für einen Gouverneur aus dem Fernen Osten ein Zerwürfnis mit Putin in Kauf nehmen. Die Protestierenden in Chabarowsk werden daher ohne die Unterstützung der LDPR auskommen müssen.


    3. Und haben die Vorwürfe gegen Furgal, an kriminellen Handlungen beteiligt gewesen zu sein, auch etwas mit der Realität zu tun?

    Das ist schon möglich. Bereits während der Stichwahl 2018, als Furgal zum Gouverneur gewählt wurde, kursierten Medienberichte über seine kriminelle Vergangenheit. Damals hat das kaum jemand ernsthaft angezweifelt. Der Missbrauch der Justiz ist allerdings auch gängiges Mittel der Behörden, um unliebsame Gegner auszuschalten. Dabei geschieht es, dass Vorwürfe buchstäblich aus der Luft gegriffen werden. Es ist aber auch üblich, tatsächliche Verbrechen selektiv zu verfolgen, das heißt nur diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die beseitigt werden sollen. 
    Dass das Verfahren gegen Furgal politisch motiviert ist, ist wahrscheinlich. Ob es gänzlich fingiert ist oder ein Beispiel der selektiven Strafverfolgung darstellt, ist unklar. 


    4. Warum setzen sich die Bürger für diesen Menschen ein? Oder protestieren sie eher gegen Putin?

    Viele Bürger haben Furgal selbst gewählt und fühlen sich nun persönlich um ihre Stimme betrogen. Er hatte es im Jahr 2018 als Herausforderer des amtierenden Gouverneurs der Regierungspartei, Wjatscheslaw Schport, in die Stichwahl geschafft – und diese bei ungewöhnlich hoher Wahlbeteiligung mit 70 Prozent der Stimmen klar gewonnen. 
    Dass die Proteste nicht wegen eines abstrakten Problems entstanden sind, wie etwa wegen der Demokratiedefizite in Russland, ist ganz charakteristisch: Wie Protestforscherin Carine Clement schreibt, entstehen Proteste meist aus Umständen, die die Menschen direkt betreffen, die sie aufregen und empören. In der Situation mit Furgal ist genau das der Fall. 

    Auch wenn die meisten Furgal nur gewählt haben dürften, um der Wlast eins auszuwischen, erarbeitete er sich in seiner kurzen Amtszeit eine ordentliche Reputation. In einer Umfrage zählten viele Protestierende Furgals Leistungen auf, etwa beim Ausbau des Gesundheitswesens und bei der Korruptionsbekämpfung im Bausektor. Zudem gilt er als „narodny gubernator“, als „Gouverneur des Volkes“, weil er sich in öffentlichkeitswirksamen Auftritten mit großen Baukonzernen anlegte und sich ohne Bodyguards bewegte.

    Die Proteste sind also sowohl für Furgal als auch gegen die nationalen Behörden, denen die Menschen Einmischung in ihre Region vorwerfen – und Bestrafung für ihr vermeintlich illoyales Wahlverhalten. Chabarowsk hat den Ruf, generell keine besonders Kreml-loyale Region zu sein. Es geht daher offensichtlich auch um einen Konflikt zwischen der Region und dem Zentrum: Moskau, geh weg heißt es oft in den Slogans. 


    5. Bei den Protesten in Chabarowsk gibt es nur einzelne Festnahmen. Wird Protest in Russland nicht meistens mit Repressionen beantwortet?

    Protest wird in Russland nicht grundsätzlich niedergeschlagen – die großen Proteste gegen die Rentenreform im Jahr 2018 zum Beispiel verliefen oft friedlich. Doch sobald politische Forderungen erhoben werden, wie es im vergangenen Jahr in Moskau der Fall war, ist die Polizei schnell mit Knüppeln, Bußgeldern und strafrechtlichen Verfahren bei der Hand.

    Die Polizei geht in Chabarowsk tatsächlich ungewöhnlich vorsichtig vor und das kann verschiedene Gründe haben. Es kann sein, dass viele der einfachen Polizeikräfte mit den Demonstranten sympathisieren, und ihre Vorgesetzten nicht riskieren wollen, dass öffentlich Befehle verweigert werden. Es kann auch sein, dass die Sicherheitsbehörden befürchten, die Proteste durch breite Repression nur zusätzlich anzufachen und stattdessen darauf hoffen, dass sie sich mit der Zeit verlaufen. Wenn nur noch der harte Kern auf der Straße ist, sind Repressionen durchaus wahrscheinlich.

    Ganz tatenlos bleiben die Sicherheitsbehörden aber auch im Moment nicht. Einzelne werden aufgrund angeblicher Verstöße bei der Polizei vorgeladen. Zudem attackierten Unbekannte die lokalen Koordinatoren der Organisation Offenes Russland von Michail Chodorkowski und die des Regionalbüros von Alexej Nawalny.


    6. Alexej Nawalny? Was hat Nawalny damit zu tun?

    Nawalny gilt seit einigen Jahren als einer der wenigen ernsthaften Oppositionspolitiker mit landesweiter Bedeutung. Seit seiner Präsidentschaftskampagne aus dem Jahr 2017 unterhält er in vielen Großstädten des Landes Kampagnenbüros. Auch dort war man Furgal gegenüber zunächst skeptisch, zitierte Medienberichte zu seiner kriminellen Vergangenheit und rang sich nur zu einer halbherzigen Wahlempfehlung durch. 
    An den Protesten beteiligen sich Nawalnys Leute in Chabarowsk natürlich trotzdem, und auch Nawalny selbst schickt solidarische Grüße aus Moskau. Er nutzt dabei die Gelegenheit, Protest für eigene politische Ziele zu nutzen und für seine Strategie des „klugen Wählens“ zu werben, mit der er erreichen will, dass möglichst wenig Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei in die lokalen und regionalen Parlamente einziehen. Furgals Wahlsieg gilt dabei als motivierendes Beispiel, dass diese Strategie aufgehen und der Regierungspartei Kopfzerbrechen bereiten kann.


    7. Was heißt das alles für die Zukunft? Ist jetzt Putins Herrschaft in Gefahr?

    Unerschütterlich geglaubte autoritäre Regime brechen oftmals dann zusammen, wenn Polizei und Armee der politischen Führung den Gehorsam verweigern. Dies kann durch die Demonstration großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung beschleunigt werden. Und diese Unzufriedenheit scheint in Russland derzeit größer zu sein, als sie lange war. Putins Beliebtheitswerte fallen. In anderen Regionen des Landes finden Solidaritätskundgebungen statt. Ende Juli 2020 zeigte eine LewadaUmfrage, dass fast die Hälfte der Befragten (45 Prozent) in ganz Russland die Proteste in Chabarowsk positiv sehen. Das sind deutlich mehr als die 32 Prozent zu Zeiten der Bolotnaja-Proteste von 2011/13, die im Kreml durchaus Nervosität auslösten.

    Doch trotz der Zurückhaltung der lokalen Polizei und der relativ breiten Unterstützung der Proteste muss sich Putin noch keine Sorgen machen. Zu ähnlichen Protesten in anderen Regionen fehlen noch die Anlässe. Und Moskau kann bei Bedarf immer die Nationalgarde oder andere Spezialtruppen nach Chabarowsk fliegen, um dort „aufzuräumen“. Von diesen Protesten geht also noch keine unmittelbare Bedrohung für das Regime aus. Aber sie zeigen doch, dass sich Widerstand schnell und unerwartet bilden kann und breite Solidarität erfährt. Ein gutes Zeichen für Putin ist das nicht.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Jan Matti Dollbaum
    Veröffentlicht am 04.08.2020

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  • Bystro #13: Rassismus in Russland – kein Thema?

    Bystro #13: Rassismus in Russland – kein Thema?

    Black Lives Matter? Die russischen Debatten drehen sich eher um die Ausschreitungen in den USA als über Rassismus. Dabei ist rassistische Diskriminierung auch in Russland allgegenwärtig. Wo liegen die Wurzeln von Rassismus in Russland? Wie äußert er sich, wer ist davon betroffen? Und was tut die Politik dagegen? Ein Bystro von Julia Glathe in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. Der Historiker Ivan Kurilla konstatiert, dass sich russische Debatten derzeit eher um die Ausschreitungen in den USA drehen würden als um Themen wie Rassismus und Polizeigewalt. Stellen Sie das gleiche fest?

      Tatsächlich stehen in der russischen Öffentlichkeit die Ausschreitungen im Vordergrund und nicht die Frage, welche Ursachen die Wut vieler Menschen in den USA hat. Das hat auch damit zu tun, dass die staatsnahen Medien in Russland Protest generell spätestens seit dem Euromaidan als Gefahr für die Stabilität des Landes darstellen: Laut Propaganda gehen zu Protesten gewaltbereite Chaoten, die  nur eigene Interessen verfolgen und sich gegen das Gemeinwohl stellen. 

      Dieses Denkschema wird nun auch auf die USA übertragen. So entsteht auch die Botschaft: Seht her, was in den Ländern passiert, in denen der Staat nicht die absolute Kontrolle behält. 

      Ähnlich haben die staatsnahen Medien 2015/16 auch die sogenannte „europäische Flüchtlingskrise“ reflektiert: Sie lenkten den Fokus ebenfalls auf Protest, Unruhe und Gewalt und haben damit suggeriert,  dass die demokratisch verfassten Staaten der EU die Kontrolle verlieren. Diesem Bild stellen sie nicht selten Russland entgegen: Ein stabiles Musterland, in dem alles unter Kontrolle sei.

    2. 2. Warum ist Rassismus in Russland kein Thema?

      Rassismus wird in Russland vorwiegend unter dem Begriff „Nationalitätenhass“ oder als „interethnischer Konflikt“ verhandelt. Da die  nationale staatliche Identität unmittelbar auf der Idee von Multiethnizität aufbaut, ist Rassismus grundsätzlich ein heikles Thema: Rassistische und xenophobe Tendenzen gelten damit als staatsgefährdend, was es schwierig macht, institutionellen Rassismus zu thematisieren. Laut offizieller Lesart kann Russland nicht rassistisch sein, denn im Gegensatz zu Europa ist ethnische Pluralität organischer Bestandteil russischer Staatlichkeit. Wenn also in Russland über Rassismus gesprochen wird, dann geht es meistens um Andere: die USA oder Westeuropa. Auch rechtsextreme Subkulturen wie Skinheads oder Hooligans sind manchmal Thema in den Staatsmedien; eine öffentliche Diskussion über den tiefgreifenden strukturellen Rassismus findet demgegenüber kaum statt.

    3. 3. Wo liegen die Wurzeln von Rassismus in Russland?

      Russland war im Gegensatz zu Europa keine klassische Kolonialmacht, die Menschen in  Übersee unterworfen und ausgebeutet hat. Eine Geschichte der Sklaverei, wie in den USA, gibt es in Russland nicht. Die Sowjetunion schrieb sich auf die Fahne, anti-rassistisch zu sein und präsentierte sich mit ihrem Internationalismus und Anti-Imperialismus als Gegenmodell zum europäischen Nationalismus.

      Nichtsdestotrotz ist die Geschichte Russlands durch die Eroberung großer Landesteile geprägt, woraus der multiethnische Staat hervorging. Einige russische Wissenschaftler wie Alexander Etkind vertreten vor diesem Hintergrund die Theorie der „inneren Kolonisation“:  Die Zaren und später die sowjetische Regierung betrachteten demnach die eigene multiethnische Bevölkerung als die, die kolonisiert werden muss. 

      Dabei ging es den Machthabern allerdings nicht so sehr um ökonomische, sondern vielmehr um kulturelle Aspekte. So war beispielsweise die sowjetische Modernisierung Zentralasiens auch von einer Ideologie der „Zivilisierung“ begleitet, die das Ländliche, Nomadische und Religiöse als rückständig abwertete und unterdrückte. Solche Überlegenheitsgefühle und Zuschreibungen bestehen bis heute fort und prägen in Russland den Umgang mit sogenannten Gastarbajtery aus Zentralasien, die Teile der russischen Gesellschaft als rückständig und kulturell fremd ansehen. 

    4. 4. Gegen wen richtet sich heute hauptsächlich Rassismus in Russland? 

      Insbesondere Migrant:innen aus den postsowjetischen Nachbarländern sind die Leidtragenden. Dies macht sich insbesondere auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, wo sogenannte Gastarbajtery aus Zentralasien unter höchst prekären, unterbezahlten und gefährlichen Bedingungen ausgebeutet werden. Ermöglicht werden diese rassistischen Arbeitsmarktstrukturen durch die starke ökonomische Ungleichheit zwischen Russland und Emigrationsländern wie Tadschikistan und Kirgistan. Diese befinden sich aufgrund der Rücküberweisungen ihrer in Russland arbeitenden Staatsbüger:innen in starker Abhängigkeit von Russland. So betrug der Anteil der Rücküberweisungen am Bruttoinlandsprodukt von Tadschikistan in der ersten Hälfte der 2000er Jahre zeitweise bis zu 50 Prozent. 

      Rassismus äußert sich aber auch gegenüber russischen Staatsbürger:innen, wie zum Beispiel Menschen aus dem Nordkaukasus. Die Wurzeln dafür liegen unter anderem in den Tschetschenienkriegen, in denen russische Truppen die Separationsbewegung des muslimisch geprägten Gebiets niedergeschlagen haben. Als Teil der Kriegsstrategie setzten die Separatisten auch auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Vor diesem Hintergrund galt der Zweite Tschetschenienkrieg offiziell als „Anti-Terror-Operation“ und war begleitet von einer massiven Medienkampagne gegen die tschetschenische Minderheit. 

      Darüber hinaus richtet sich Rassismus auch gegen die rund 40.000 in Russland lebenden Afro-Russ:innen. Ihre Geschichte ist unter anderem mit dem sowjetischen Internationalismus und der Unterstützung anti-kolonialer Bewegungen verbunden.

    5. 5. 2007/08 waren russlandweit dutzende Städte von fremdenfeindlichen Übergriffen erfasst. Warum hört man nichts mehr darüber? 

      Bereits in den 1990er Jahren hat sich in dem politischen Vakuum der Transformation in Russland eine gewalttätige rechtsextreme Szene herausgebildet. Sie schaffte es mehrfach, Menschen zu anti-migrantischen Protesten zu mobilisieren. Diese gingen nicht selten in fremdenfeindliche Pogrome über, wie zum Beispiel 2013 im Moskauer Randbezirk Birjuljowo. Mitte der 2000er Jahre wurde Russland zudem durch eine regelrechte rechtsextreme Terrorwelle mit dutzenden Todesopfern erschüttert. Nach dem Höhepunkt des Terrors in den Jahren 2007/08 gelang es den russischen Behörden, die Stärke der Szene zu brechen: Viele führende Mitglieder der Rechtsradikalen wurden verhaftet, einige haben Suizid begangen oder verließen das Land. Zudem haben die russischen Behörden eine Reihe von rechtsextremen Organisationen und Publikationen verboten. Spätestens mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 ist es der politischen Führung Russlands zudem gelungen, die nationalistische Bewegung weitgehend zu spalten und zu kanalisieren.

    6. 6. Ist Rassismus auch ein Problem innerhalb der Polizei in Russland? 

      Rassismus äußert sich bei der russischen Polizei insbesondere in einem allgegenwärtigen Racial Profiling. Vor allem an Metrostationen finden permanent Kontrollen von Menschen statt, die in Russland abwertend als „tschjornyje“ (wörtlich: Schwarze) bezeichnet werden. Das betrifft sowohl russische Staatsbürger:innen als auch Migrant:innen. 

      Insbesondere für Menschen ohne russische Staatsbürgerschaft ist dies nicht selten ein Spießrutenlauf, da es in Russland äußerst schwierig ist, einen legalen Aufenthaltstitel zu erhalten. Hinzu kommt, dass die Polizei auch korrekte Dokumente häufig als fehlerhaft bezichtigt, um Bestechungsgelder zu erpressen. Durch diese Praxis werden viele Migrant:innen an den (Stadt-)Rand der Gesellschaft gedrängt, da sie sich nicht mehr trauen, die Metro zu nehmen.

    7. 7. Sind in Russland Proteste wie die US-amerikanische Black Lives Matter Bewegung denkbar? 

      Rassismus und Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft betrifft in Russland so viele Menschen, dass grundsätzlich ein großes Widerstandspotential besteht. Allerdings scheint es bislang kaum ein übergreifendes politisches Bewusstsein bezüglich der eigenen Lage zu geben. Diaspora-Organisationen verfolgen eher ökonomische Interessen oder kulturelle Anliegen. Hinzu kommt, dass das autoritäre politische System Proteste systematisch einschränkt. Dies gilt um so mehr für die Millionen Migrant:innen, die keinen regulären oder dauerhaften Aufenthaltstitel haben.

      Widerstand gegen rassistische Strukturen ist daher für mich am ehesten in Form erneuter Separationsbestrebungen denkbar, wie zu Beginn der 1990er Jahre. Die russische Führung ist sich dieser potentiellen Gefahr aber offensichtlich bewusst: Die territoriale Integrität und Vermeidung ethnischer Konflikte gelten im Kreml als ein Fundament für den Stabilitätserhalt des politischen Systems.
       

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  • Bystro #12: Was plant Putin?

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    Am Mittwoch, 15. Januar 2020, überschlagen sich die Ereignisse: Putin regt eine Reihe von Verfassungsänderungen an (über die die Bürger in einem Referendum abstimmen sollen), dann tritt die Regierung zurück und auch Premier Medwedew, für den ein Nachfolger präsentiert wird. Was geht da vor im Kreml? Ein Bystro von Jens Siegert in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Putin hat am Mittwoch Verfassungsänderungen vorgeschlagen, die dem Premier und dem Parlament mehr Macht geben würden. Am gleichen Tag trat die Regierung zurück und auch Medwedew als Premier. Was hat das alles zu bedeuten?

      Putin hat zwei große Probleme: seine sinkende Popularität und die Frage, was nach seiner jetzigen Amtszeit 2024 geschieht. Die beiden Probleme sind eng verbunden. Nach allem, was wir wissen (können), will Putin 2024 als Präsident aufhören. Er sitzt aber in der Falle aller autoritären Herrscher, nicht einfach so aufhören zu können. Sein Wohlstand, seine Gesundheit und vor allem seine Sicherheit hängen davon ab, dass er an der Macht ist. Deshalb gehen eigentlich alle Beobachter/innen davon aus, dass das Ende von Putin als Präsident nicht das Ende von Putin an der Macht sein wird. Die angekündigten Verfassungsänderungen sind (fast) alle kleine Schritte zur Vorbereitung dieses Übergangs. Durch sie wird die bisherige (fast) All-Macht des russischen Präsidenten beschnitten und anderen staatlichen Institutionen übertragen.

    2. 2. Welche Verfassungsänderungen genau sind geplant?

      Zuallererst soll das Parlament mehr Rechte bekommen. Das Unterhaus, die Staatsduma, soll künftig bei der (Aus-)Wahl des Ministerpräsidenten und der Minister mitbestimmen. Bisher durfte sie nur den Vorschlag des Präsidenten bestätigen und wenn sie es nicht getan hätte (was  allerdings nicht vorgekommen ist), hätte der Präsident sie auflösen und Neuwahlen ansetzen können. Das Oberhaus, der Föderationsrat, soll Mitspracherechte bei der Auswahl der Leiter der sogenannten „Macht-Behörden“ („silowyje wedomstwa“) bekommen. 
      Die vielleicht wichtigste Änderung betrifft den sogenannten Staatsrat. Das ist bisher ein rein konsultatives, vom Präsidenten aufgrund eines Erlasses eingesetztes Organ, das vor allem aus Regionalgouverneuren besteht. Dieses Gremium soll nun Verfassungsrang bekommen.  Außerdem soll durch eine Reihe von Änderungen „ausländischer Einfluss“ eingeschränkt werden: Etwa dürfen zukünftige Präsidenten, Gouverneure, Richter oder Minister weder eine ausländische Staatsbürgerschaft noch eine ausländische Aufenthaltsgenehmigung besitzen oder besessen haben. Der Präsident (oder, unwahrscheinlich, die Präsidentin) muss darüber hinaus die letzten 25 Jahre (derzeit 10 Jahre) in Russland gelebt haben.

    3. 3. Welche Szenarien sind nach 2024 also denkbar?

      Klarheit, welches der schon seit langem zirkulierenden Szenarien Putin für die Zeit nach 2024 wählt, gibt es nach wie vor nicht. Auch mit den angekündigten Verfassungsänderungen und dem Rücktritt der Regierung Medwedew hält sich Putin alle Optionen offen. Nur den (sicher möglichen) Verbleib als Präsident über 2024 hinaus, schließt er anscheinend aus: nicht zuletzt hat Putin eine Verfassungsänderung angesprochen, die die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränken soll
      Die Aufwertung des Staatsrates zu einem Verfassungsorgan macht die sogenannte „kasachische Variante“ ab 2024 vielleicht etwas wahrscheinlicher: Der kasachische Präsident Nasarbajew war voriges Jahr zurückgetreten, hält aber als Chef des Staatssicherheitsrats und „Führer der Nation“ alle Machtfäden weiter in der Hand. 
      In einem anderen Szenario könnte Putin das Oberhaupt eines bis dahin gebildeten russisch-belarussischen Unionsstaates werden, den es formal bereits seit Mitte der 1990er Jahre gibt. 
      Auch eine Rochade wie mit Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 Präsident war, während Putin Premierminister wurde, ist zwar unwahrscheinlicher, aber nicht ganz ausgeschlossen. 

    4. 4. Was ist die neue Rolle Medwedews, was könnte eigentlich hinter seinem Rücktritt stecken? Und warum wird Mischustin sein Nachfolger?

      Dazu gibt es zwei mögliche Erklärungen. Beide haben etwas damit zu tun, dass es auch nach Putin einen russischen Präsidenten mit sehr viel Macht geben wird, – nach den Verfassungsänderungen jedoch auch weniger als Putin heute besitzt. Das muss, aus Putins Sicht, also jemand sein, dem er vertrauen kann und – da Vertrauen sicher nicht die bevorzugte Politikmethode Putins ist – den er glaubt kontrollieren zu können. Das dürfte auf beide, auf Medwedew wie auf Mischustin, zutreffen. 
      Medwedew hat das bereits gezeigt, als er 2012 zugunsten von Putin wieder ins zweite Glied zurücktrat und seither als Sündenbock namens Ministerpräsident alle Versäumnisse von Putins Politik auf sich nahm. Von Mischustin steht ein solcher Beweis noch aus. Aber sein gesamter Werdegang weist ihn bisher als loyalen (und effektiven) Bürokraten ohne eigene politische Ambitionen aus.

    5. 5. Könnte der nächste russische Präsident also Mischustin heißen?

      Der Rücktritt Medwedews könnte bedeuten, dass er den Platz für Mischustin als möglichen Putin-Nachfolger im Präsidentenamt freimachen musste. Es könnte aber auch bedeuten, dass Medwedew aus der Schusslinie genommen wurde, um wieder als Präsident aufgebaut zu werden. Letzteres scheint aber weit unwahrscheinlicher. Eine dritte Möglichkeit ist, dass es keiner der beiden wird. Medwedew musste deswegen gehen, weil die Unbeliebtheit seiner Regierung Putin mit nach unten zu ziehen drohte. Und Mischustin wurde gewählt, weil er so unpolitisch ist, dass er als Platzhalter für den „eigentlichen“ Nachfolger dienen kann.

     

     

     

     


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

     

     

     

     

    Text: Jens Siegert
    Stand: 16.01.2020

     

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  • Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Anfang Oktober hat Donald Trump den Abzug aller US-Truppen aus Nordsyrien angeordnet. Während das Repräsentantenhaus die Entscheidung in einer Resolution verurteilt hat, ist die Türkei in Syrien eingedrungen und hat eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet.
    Vor dem Hintergrund massiver internationaler Kritik an dem Einsatz einigten sich die Türkei und die USA am 17. Oktober auf eine fünftägige Waffenruhe. Diese beinhaltet auch einen Abzug der bisherigen US-verbündeten Kurden.

    Wird Syrien nun zum Spielball der neuen Garantiemächte? Wie ändert sich dadurch die Machtverteilung in der sogenannten Astaninskaja Troika? Wo liegen die gemeinsamen Interessen der einzelnen Länder, wo die Konfliktpunkte? Ein Bystro von Felix Riefer in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. „Millions of lives will be saved!“, twitterte Donald Trump nach der Vereinbarung der Waffenruhe am 17. Oktober. Was bedeutet die Waffenruhe für die weitere Entwicklung in Nordsyrien?

      Wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach der Vereinbarung bekanntgab, werde die Offensive nicht gestoppt, sondern nur unterbrochen: Enden werde sie nur dann, wenn die Kurdenmiliz YPG innerhalb von 120 Stunden ihre Truppen abziehe und Stellungen in einer 20 Meilen Zone (etwa 30 Kilometer) ab der türkischen Grenze zerstöre.
      Die YPG soll bereits zähneknirschend mit dem Abzug angefangen haben: Denn mit der Vereinbarung haben die USA faktisch dem Wunsch des türkischen Präsidenten entsprochen, der eine 20 Meilen Pufferzone an der Grenze zur Türkei schaffen wollte. Wer die sogenannte Schutzzone kontrollieren wird ist noch unklar. Die YPG hat angekündigt, eine türkische Präsenz an der Grenze nicht dulden zu wollen. Damit ist diese Waffenruhe weiterhin fragil.
      Den Kurden bleibt nun im Grunde nichts anderes übrig, als sich mit der Assad-Regierung zu verbünden. Das Assad-Regime würde am liebsten die YPG in ihre Streitkräfte eingliedern und die Region unter seine Kontrolle bringen.

    2. 2. Welche Rolle haben die einzelnen Länder Russland, Iran und Türkei in dem Konflikt, zumal nachdem die USA sich nun zurückziehen?

      Auf den ersten Blick scheint der US-Abzug nicht besonders gravierend zu sein, schließlich handelt es sich bei den US-Truppen in Syrien lediglich um zuletzt rund 1150 Personen. Doch durch den Rückzug der USA als Gestaltungsmacht in der Region steigen Russland, Türkei und Iran (neben Israel und Saudi-Arabien und, abgeschwächt, die Kurden) tatsächlich zu sogenannten Garantiemächten im Nahen Osten auf.
      Während sich die USA als Ordnungsmacht zurückziehen und die EU noch nicht bereit ist, als solche aufzutreten, übernimmt Russland in der Troika eine Art Führungsrolle. Damit festigt der Kreml seine geopolitische Stellung im Nahen Osten. Insgesamt geht es Russland im Grunde weniger um die Machtsicherung Assads als darum, Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder als einen unumgänglichen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren.
      Unter der Vermittlung der Vereinten Nationen einigten sich die Regierung in Damaskus und die syrische Opposition im September auf ein Verfassungskomitee. Wegen der Zusammensetzung dieses Formats kann Russland nun eine wesentliche Rolle bei der Erarbeitung der neuen Verfassung spielen und auch damit seine Position als Power Broker festigen.

    3. 3. Das ist also das Ziel Russlands. Aber wo treffen sich die Interessen aller drei Länder, und worin unterscheiden sie sich?

      Die Troika steht in Syrien in einem äußerst komplexen Spannungsfeld aus politischen, ethnischen und religiösen Konflikten. Der Rückzug der US-Amerikaner trifft ganz besonders die Kurden, die sowohl gegen den IS als auch gegen die Türkei kämpfen. Türkische Truppen haben inzwischen den von der Kurdenmiliz YPG kontrollierten Landstreifen entlang der Grenze zu Nord- und Ostsyrien angegriffen. Die Türkei selbst wurde lange Zeit beschuldigt, die Dschihadisten zu dulden, unterstützte aber auch einige syrische Rebellengruppen. Erst nach dem IS-Anschlag in der türkischen Stadt Suruç im Juli 2015 änderte die Türkei ihre Politik und griff direkt in den Syrienkrieg ein. Zuletzt eroberten türkische Truppen die Region Afrin.
      Insgesamt wirkt die Syrien-Strategie der Türkei eher inkonsistent, gegenwärtig geht es Erdoğan vor allem darum, einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zu verhindern und die kurdische YPG zu bekämpfen. Insofern ist die ausgehandelte Waffenruhe mit dem geplanten Rückzug der Kurden ganz in seinem Sinne. Ob und wie lange der Waffenstillstand hält, das ist zum gegebenen Zeitpunkt noch unklar.

    4. 4. Wie steht Russland zu den Kurden?

      Russland ist das Schicksal der Kurden in Nordsyrien nicht so wichtig. Zwar ist zu erwarten, dass der Propagandaapparat des Kreml das wiederholte Im-Stich-Lassen der Kurden von Washington auskosten wird, zentral ist für den Kreml jedoch vielmehr der Schulterschluss mit dem Regime von Baschar al-Assad ohne dabei die Türkei zu verstimmen.
      Russische Streitkräfte ermöglichten Assad bereits, strategisch wichtige Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Hinweise, dass alleine im syrischen Militärgefängnis Saydnaya bis zu 13.000 Menschen grausam getötet wurden, tut das Außenministerium Russlands dabei als haltlos ab. Seinen Part bei der türkischen Offensive auf die Kurden in Nordsyrien sieht Moskau in der Vorbeugung von Zusammenstößen von Assad-Streitkräften und türkischem Militär. Schließlich unterstützt die syrische Armee die Kurden in Nordsyrien und möchte, dass die von den Kurden kontrollierten Gebiete wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus kommen.
      Auch der Iran unterstützt das Assad-Regime. Dabei fordert Präsident Rohani von der Türkei, die besetzte Afrin-Region an Syrien zurückzugeben. Der Iran versteht sich als Regionalmacht und als schiitische Schutzmacht für den Alawiten Assad. Über die Schiiten in der Region möchte Teheran sich den Zugang zur Hisbollah im Libanon und letztlich zum Mittelmeer sichern. Dabei spielt Irans traditionelle Rivalität zu Saudi-Arabien und Israel eine zentrale Rolle. Nach dem türkischen Angriffskrieg auf Nordsyrien waren Aufrufe zur Mäßigung in Richtung Ankara sowohl aus Teheran wie aus Moskau zu vernehmen.

    5. 5. Ein weiterer Streitpunkt der Troika ist der Umgang mit der Region Idlib. Worin genau besteht der Konflikt?

      Das Gebiet um die Stadt Idlib ist die letzte Region in Syrien, die noch mehrheitlich von den Gegnern des Assad-Regimes kontrolliert wird. Etwa drei Millionen Menschen sind derzeit in Idlib, davon sind etwa die Hälfte Vertriebene. Allerdings sollen sich dort auch bis zu 70.000 Dschihadisten aufhalten. Ein Teil davon, die Nationale Befreiungsfront, wird von der Türkei unterstützt.
      Ende letzten Jahres einigte sich die Troika bereits darauf, dass entlang der Frontlinie eine demilitarisierte Pufferzone eingerichtet wird und das Gebiet weiterhin unter Rebellenkontrolle bleibt. Die Türkei wird voraussichtlich versuchen, diese Einigung in der einen oder anderen Form zu verteidigen, unter anderem deshalb, weil eine Offensive auf Idlib wahrscheinlich einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zufolge hätte.
      Der zweite Teil der Dschihadistenallianz, Hajat Tahrir al-Scham (HTS), wollte sich bereits kurz nach Verkündung des Deals nicht daran halten. Schließlich ist ihr Ziel weiterhin der Sturz von Assad. Inzwischen soll HTS, das zum Teil aus Al-Qaida-Terroristen besteht, die Region dominieren. Seit April führt das Assad-Regime mit Luftunterstützung durch Moskau eine Offensive auf Idlib. So kann Moskau auch gegen die in Idlib kämpfenden Dschihadisten aus dem Nordkaukasus vorgehen.

    6. 6. Kann dieser Interessenkonflikt Russland und die Türkei wieder entzweien, wie nach dem Flugzeugabschuss im November 2015?

      Die Türkei ist nur in einem sehr überschaubaren Bereich ein Partner Russlands. Dabei gibt es Kooperationen im Energiebereich und dem Tourismus. Durch den Kauf von russischen S-400 Raketen jüngst auch im Militärbereich. Damit will sich das NATO-Mitglied unabhängiger von seinen westlichen Verbündeten machen. Zwar ist die Türkei geschwächt durch die derzeitige Währungs- und Schuldenkrise, doch auch in Russland sowie im Iran gibt es derzeit ernste wirtschaftliche Probleme. Keines der Troika-Länder kann sich also das kostspielige „Great Game“ im Nahen Osten oder gar auf der Weltbühne dauerhaft leisten.

    7. 7. Militärexperten sind sich bei einer Frage nicht einig: Möchte Russland die Türkei aus der NATO lösen oder drin behalten, als Spaltpilz?

      Russland stufte in seinem Sicherheitspolitischen Konzept vom Dezember 2015 die USA und ihre Verbündeten als Bedrohung für seine Sicherheit ein. Da ist es plausibel anzunehmen, dass der Kreml das Maximalziel Zerfall des Bündnisses nur allzu gerne befeuern würde. Solange das nicht möglich ist, wird man sich mit abgestuften Szenarien wie der Rolle eines Spaltpilzes durchaus zufriedengeben. Doch wird die NATO die Türkei nicht zuletzt aufgrund ihrer geopolitischen Brückenkopffunktion nicht so schnell aufgegeben. Die Türkei selbst lässt sich natürlich auch nicht willkürlich von Moskau instrumentalisieren, handelt allerdings immer selbstbewusster und auch auf eigene Weise destruktiv. Die Türkei ist seit 1952 Nato-Mitglied. Allerdings hat das Land unter Erdoğan schrittweise eine autoritäre Wende vollzogen und sich dabei auch Russland angenähert. Ähnlich der Angst des Kreml vor sogenannten farbigen Revolutionen, sieht Erdoğan die Protestwelle im Jahr 2013 gegen seine autoritäre Herrschaft als vom Westen gesteuert an. Somit ist ein türkischer Austritt aus der Allianz nicht mehr undenkbar. Die schrittweise Entmachtung der Kemalisten und Atlantiker in Militär und Justiz sind weitere Indizien für diese Annahme.

       


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

     

     

     

     

    Text: Felix Riefer
    Stand: 18.10.2019

     

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  • Bystro #11: Moskauer Protest – neue Bolotnaja-Bewegung?

    Bystro #11: Moskauer Protest – neue Bolotnaja-Bewegung?

    Drei Tage nachdem der Dauerprotest in Moskau eskaliert ist, hat das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren eingeleitet: Den Organisatoren der Proteste vom 27. Juli drohen bis zu 15 Jahre Haft, Teilnehmern bis zu acht Jahre. 

    Viele in Russland fühlen sich an den Bolotnaja-Prozess erinnert: Nach dem Marsch der Millionen am 6. Mai 2012 wurden damals mehr als 30 mutmaßliche Teilnehmer wegen „Teilnahme an Massenunruhen“ und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ angeklagt. Die meisten von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt; viele Beobachter schätzen diesen Prozess als politisch-motiviert ein.

    Worin unterscheiden sich die aktuellen Proteste von der Bolotnaja-Bewegung? Warum setzen die Behörden nun wieder auf Gewalt? Und wie geht es jetzt weiter? Ein Bystro von Mischa Gabowitsch in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. Warum gingen so viele Menschen auf die Straße? Sind die Regionalwahlen denn so wichtig?

      Mehrere Kandidaten wurden von den Wahlen ausgeschlossen. Nach Angaben der Wahlkommission waren viele der Unterschriften, die sie für die Registrierung brauchen, gefälscht oder wiesen Formfehler auf. Das ist aber nachweislich falsch: Viele Menschen hatten tatsächlich unterschrieben und sehen ihre Namen nun in den Listen angeblich fiktiver Unterstützer

      Das Vorgehen der Wahlleiter wird also nicht nur als Verachtung demokratischer Spielregeln empfunden, sondern auch als persönlicher Affront gegenüber den Unterzeichnern. 

      Mit den besonders stringenten Auflagen, die bei der Zulassung zu diesen Wahlen galten, haben die Behörden die Kandidaten zudem faktisch zu einem frühen Wahlkampfstart gezwungen – und damit ungewollt die Unterstützer enger an sie gebunden.


    2. 2. Warum gingen Polizei und Nationalgarde so hart gegen die Demonstranten vor?

      In Russland müssen Versammlungen angemeldet, de facto aber von den Behörden genehmigt werden. In diesem Fall war der Protest vor dem Rathaus nicht genehmigt. Offensichtlich wollten Präsidial- und Stadtverwaltung ein Zeichen setzen, dass sie eine Verletzung der von ihnen erlassenen Spielregeln nicht dulden werden, selbst wenn Journalisten, Touristen und Passanten darunter leiden sollten. 

      Sicherlich dient der massive Gewalteinsatz auch der Einschüchterung von Protestierenden. Zudem diskreditiert man so die Kandidaten: Sie werden als Anführer des Protests dargestellt, die naive Bürger als Kanonenfutter missbrauchen.


    3. 3. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen einzelnen lokalen sozialen Protesten und dem politischen Protest, wie er sich jetzt in Moskau ausdrückt? Haben die Menschen die Nase voll, und haben die sozialen Fragen den politischen Protest gewissermaßen „vorbereitet“?

      Die Schnittmengen sind weiterhin überschaubar: Nur eine Minderheit unter denen, die in Moskau für faire Wahlen auf die Straße gehen, protestiert auch gegen Umweltverschmutzung, verdichtende Bebauung, steigende Wohnnebenkosten oder häusliche Gewalt

      Dennoch hat sich der politische Protest konkretisiert: Vielen geht es nicht um eine Reform des Gesamtsystems, sondern beispielsweise um eine ihnen persönlich bekannte Kandidatin, die sich seit Jahren für die Lösung banaler Alltagsprobleme in konkreten Stadtvierteln einsetzt. Eigentlich ist es ein sehr bescheidenes Anliegen – ähnlich vielen der Proteste gegen rechtswidrige Müllablagerung oder dubiose Lizenzvergaben für gesundheitsgefährdenden Kupfer- oder Nickelbergbau.


    4. 4. Der Einheitliche Wahltag ist im September. Meinen Sie, dass der Protest bis dahin anhält? Und wird die Staatsmacht nachgeben?

      Proteste aus allgemeinem Frust verpuffen oft recht schnell. In diesem Fall wissen aber die meisten Protestierenden sehr genau, worum es ihnen geht – das könnte ihnen den Atem geben, um trotz Repressalien noch bis zu den Wahlen durchzuhalten. Aus demselben Grund ist aber spätestens schon bald nach den Wahlen Schluss, zumindest mit diesem Thema. 

      Dass die Behörden komplett nachgeben und alle abgewiesenen Kandidaten registrieren, ist schwer vorstellbar. Im Fall des Journalisten Iwan Golunow gab es neben einer Protestbewegung einen Konflikt innerhalb des Machtapparats, der dem Inhaftierten letztlich zugutekam. Im aktuellen Fall ist davon nichts zu erkennen. Wahrscheinlicher ist eine Variante des vielfach erprobten „Teile und herrsche“-Szenarios: Einige Anwärter werden zugelassen, ein paar Demonstrationen erlaubt – um die Bewegung als ganze zu spalten.


    5. 5. Die Wahlen finden im September ja nicht nur in Moskau statt. Warum wird vor allem in Moskau protestiert und nicht auch anderswo?

      Es handelt sich ja nicht nur um Kommunal-, sondern auch um Parlaments- und zum Teil um Gouverneurswahlen. Parlamentsabgeordnete sind weiter weg von emotional besetzten Alltagsproblemen. Anders ist das vor allem in den Stadtstaaten Moskau und Sankt Petersburg, deren städtische Abgeordnete auch vom Kreml an einer kürzeren Leine gehalten werden. 

      Zudem sind vor allem in Moskau nach der Protestwelle 2011–13 Oppositionelle ganz bewusst in die Kommunalpolitik gegangen, um das System von unten zu verändern. Dabei haben sie ihre Tätigkeit besonders aktiv dokumentiert. Auch in Petersburg protestieren Menschen wegen abgewiesener Kandidaten, wenngleich viel weniger als in Moskau. 

      In Russland verhält sich die Zahl der Protestierenden nicht immer proportional zur Einwohnerzahl: Sankt Petersburg ist traditionell verhältnismäßig passiv, Städte wie Kaliningrad, Tomsk oder Wladiwostok sind dafür trotziger. 
      Protest gibt es weiterhin in vielen Regionen, aber nicht unbedingt zu Wahlen, sondern eher zu den klassischen Themen Umwelt, Lebenskosten und Städtebau. 
      In Tscheljabinsk zum Beispiel setzt sich seit Jahren eine große Umweltbewegung gegen den Bau einer Kupferaufbereitungsanlage unweit der Stadt ein. Fast wöchentlich gibt es Verhaftungen oder Angriffe auf Protestierende, aber die Medien in Moskau und im Ausland berichten nur sehr spärlich darüber.


    6. 6. Kann man die heutigen Proteste mit 2011–13 vergleichen? Kommt die zweite Bolotnaja-Bewegung? Und der zweite Bolotnaja-Prozess?

      Im Dezember 2011 wurde im ganzen Land gegen Wahlfälschungen protestiert. Im Vergleich dazu sind die derzeitigen Moskauer Proteste viel kleiner, lokaler, aber auch konkreter. Viele Menschen wurden damals politisiert und machen sich keine Illusionen mehr über das gesamte politische System, sehen aber durchaus Chancen für punktuelle Erfolge. 
      Das heißt aber auch, dass die Proteste kaum noch als Bühne für die verschiedensten Anliegen dienen, wie dies 2012 und noch 2017 beim Protest gegen die Rentenreform der Fall war. Man merkt dies im Gespräch, aber auch an der relativ geringen Zahl der Plakate bei den Kundgebungen. 
      Zugleich ist angesichts der zahlreichen Verhaftungen durchaus mit einer Neuauflage des Bolotnoje Delo zu rechnen: also jahrelange Verfolgungen und Prozesse, die zu mehrjährigen Haftstrafen führen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Mischa Gabowitsch
    Stand: 01.08.2019

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  • Bystro #8: Ljudmila Alexejewa

    Bystro #8: Ljudmila Alexejewa

    Am 8. Dezember 2018 ist Ljudmila Alexejwa mit 91 Jahren verstorben. Sie galt als Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung. Was machte sie so einzigartig? Einen Überblick über ihr Leben und Wirken gibt Maike Lehmann – in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Am Samstag ist Ljudmila Alexejewa verstorben, die Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung. Was für ein Mensch war sie?

      In gewisser Hinsicht war Ljudmila Alexejewa eine typische Vertreterin ihrer Generation. Aufgewachsen in den 1930er und 1940er Jahren, war sie eine junge Stalinistin bis sie nach der Geheimrede Chruschtschows 1956 in ihrer Parteizelle den stalinistischen Terror erklären musste. 
      Aber während sich Altersgenossen in der neuen sowjetischen Konsumgesellschaft einrichteten, beteiligte sich Ljudmila Alexejewa in den 1960er und 1970er Jahren an der Dokumentation staatlicher Repressionen. Sie organisierte außerdem die Unterstützung der Familien von Inhaftierten, trotz mehrerer Verhöre durch den KGB. 
      Nachdem sie 1976 die Moskauer Helsinki Gruppe mit begründet hatte, wurde sie ins Exil gedrängt, setzte aus den USA aber ihre Informationsaktivitäten zu Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion fort und erklärte dem Westen zugleich die Dissidentenbewegungen.

    2. 2. Was machte Ljudmila Alexejewa so einzigartig?

      Was sie von ihren MitstreiterInnen unterschied, war ihre besondere Fähigkeit, zwischen Ost und West zu übersetzen, mit soviel Bestimmtheit wie Humor und ohne viel Aufhebens um ihre eigene Person. Sie verstand im besonderen Maße wie Aufmerksamkeit in den Medien dem Kampf für Menschenrechte dienlich sein konnte. Zugleich gehörte sie zu den wenigen exilierten DissidentInnen, die nach 1991 nach Russland zurückkehrten und dort ihre Arbeit fortsetzten. 
      Trotz nachlassender Gesundheit nahm sie bis vor wenigen Jahren an Demonstrationen teil, reiste um die Welt, schuf durch konsistente Anwesenheit bei den öffentlichen Sitzungen des Polizeikonzils eine effektive Plattform zur Verteidigung der Rechte von verhafteten Demonstranten. Und sie scheute sich zugleich nicht, im Menschenrechtsrat der Regierung mitzureden und -zustreiten, ob es nun um den Tschetschenienkrieg, das Agentengesetz oder die Versammlungsfreiheit ging. 
      Einzigartig war auch ihre Bereitschaft über die Jahre, mit allen zu reden, beharrlich in ihren Grundsätzen, witzig und pointiert, mit viel Hoffnung für die junge Generation, aber auch ohne große Illusionen über die Schwierigkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements in Russland.

    3. 3. Ljudmila Alexejewa war zu Sowjetzeiten Mitbegründerin der Moskauer Helsinki Gruppe. Was war das für eine Organisation?

      Die Moskauer Helsinki Gruppe wurde 1976 gegründet, nachdem die KSZE-Schlussakte in Helsinki unter anderem die Achtung der Menschenrechte samt der Gedanken- , Überzeugungs-, Religions- und Meinungsfreiheit völkerrechtlich für alle Unterzeichnenden und somit inklusive der Sowjetunion festlegte. Die Gründungsmitglieder waren Dissidenten und Menschrechtsaktivisten, die schon zuvor in unterschiedlichen Konstellationen die Verletzung der sowjetischen Verfassung und Gesetzgebung durch Gerichte, Geheimdienst und Miliz dokumentiert und international publik gemacht hatten. 
      Mit Helsinki gab es nun eine internationale Rechtsnorm, deren Nichteinhaltung durch den sowjetischen Staat neben der Moskauer auch Helsinki Gruppen in der Ukraine, dem Baltikum und im Kaukasus dokumentierten. Letztere hatten aber keinen vergleichbaren Zugang zu internationalen Medien wie die Moskauer Helsinki Gruppe. Nach Verhaftungen und Exilierung der Mitglieder stellte die Moskauer Helsinki Gruppe 1982 ihre Aktivitäten ein.

    4. 4.  Und was macht die Moskauer Helsinki Gruppe heute?

      1989 kam es zu einer Neugründung der Gruppe, die sich seither weiterhin für die Wahrung von Menschenrechten und Versammlungsfreiheit einsetzt. In den 1990er Jahren erhielt die Gruppe Büroräume auf Anweisung von Präsident Jelzin, was damals als Ausweis des Prestiges der Gruppe gesehen wurde. 
      Angesichts des Agentengesetzes von 2012 entschied sich die Moskauer Helsinki Gruppe dafür, ausländische Finanzquellen aufzugeben, um ihre Menschenrechtstätigkeit zumindest im eingeschränkten Rahmen fortsetzen zu können. Dennoch setzt die Gruppe ihre Kritik an der staatlichen Politik fort, nicht zuletzt am Agentengesetz. So trat Ljudmila Alexejewa aus Protest gegen die Wiederwahl Putins aus der Menschrechtskommission 2012 zurück, kritisierte 2014 die Besetzung der Krim, um dann 2015 wieder einen Sitz in der Menschenrechtskommission des Präsidenten zu übernehmen, um hier die Stimme der Nichtregierungsorganisationen hörbar zu machen.

    5. 5. Putin honorierte nun ihre Verdienste für die Zivilgesellschaft, war auf ihrer Trauerfeier. Wie war das Verhältnis der beiden zueinander?

      Ljudmila Alexejewa hat Putin wiederholt für seine Politik kritisiert, sei es in Tschetschenien, in der Ukraine, in Bezug auf seine dritte Wahl zum Präsidenten, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die politische Atmosphäre, die die Regierung nach Beginn des Krieges in der Ostukraine im Land schürte.
      Als Putin sie zu ihrem 90. Geburtstag besuchte, nutzte sie die Gelegenheit, ihn um die Amnestierung von Igor Ismestijew zu bitten, einen ehemaligen Senator, der 2007 wegen Mordes angeklagt und verurteilt wurde, wofür nach Ansicht seiner Anwälte keine ausreichenden Beweise präsentiert wurden.

       



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Maike Lehmann
    Stand: 12.12.2018

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  • Bystro #7: Putin Forever? Wie stabil ist das System?

    Bystro #7: Putin Forever? Wie stabil ist das System?

    Wie stabil ist das System Putin? Ein schneller Überblick in vier Fragen und Antworten – einfach durchklicken oder durchwischen.

    1. 1. Umfragen zufolge steigt derzeit die Protestbereitschaft in Russland. Können Proteste, wie die gegen die Rentenreform, das System Putin ins Wanken bringen?

      Tendenziell nicht. Obwohl sich die jüngsten Proteste teilweise nicht mehr nur gegen die Regierungspartei Einiges Russland, sondern auch gegen den Präsidenten wandten. Dennoch ist ihr Destabilisierungspotential recht gering: Der Druck der Straße ist üblicherweise nämlich dann am wirksamsten, wenn der Anteil von 15- bis 30-jährigen Männern an der Gesamtbevölkerung besonders hoch ist, und wenn die Arbeits-  und Perspektivlosigkeit in dieser Alterskohorte ebenfalls hoch ist. Dies ist in Russland bei Weitem nicht der Fall. 
      Allerdings sinkt das Realeinkommen nun schon seit vier Jahren in Folge, und notwendige Wirtschaftsreformen bleiben aus. Damit wächst in der Gesellschaft laut Umfragen sowohl die Unzufriedenheit mit der Staatsführung als auch der Ruf nach Veränderungen.

    2. 2. Immer wieder heißt es, dass immer noch zwei Drittel der Russen hinter ihrem Präsidenten stehen. Die Wahlen hat Putin auch gewonnen. Muss man das nicht anerkennen?

      Die Präsidentschaftswahl im März hat er zwar gewonnen, politische Konkurrenz war aber schon im Vorfeld unterbunden – es war also keine demokratische Wahl. Bei den Gouverneurswahlen im September musste die Regierungspartei Einiges Russland dann außerdem einige herbe Schlappen einstecken. Putins Zustimmungswerte liegen derzeit zwar tatsächlich bei 66 Prozent, sind damit aber seit April 2018 um 16 Prozentpunkte gesunken.

      Parallel zur steigenden Armutsquote wächst auch der gesellschaftliche Ruf nach Veränderungen. Umfragen zufolge ist dieser Wunsch erstmals seit Mitte der 1990er Jahre wichtiger als jener nach Stabilität. Der sogenannte Krim-Konsens scheint ebenfalls zu bröckeln, doch ist es unwahrscheinlich, dass der Kreml keine Gegenmaßnahmen ergreifen wird. In Rubel gerechnet ist der durchschnittliche Ölpreis 2018 so hoch wie noch nie, damit könnten aus dem Staatshaushalt zum Beispiel Sozialprogramme bezahlt werden, um neuen Zuspruch zu gewinnen.   

    3. 3. Der russischen Wirtschaft geht es schlecht. Bringt das Putin keine Minuspunkte in der Gesellschaft?

      Tatsächlich wächst die Unzufriedenheit mit dem System Putin: Die Korruption grassiert, gleichzeitig werden bei einem relativ hohen Ölpreis Steuern erhöht und das Rentenalter heraufgesetzt. Viele Menschen in Russland bekommen vor diesem Hintergrund vermehrt den Eindruck, dass „Menschen das neue Erdöl“ seien.
      Projektionsfläche für diese Unzufriedenheit ist allerdings nicht so sehr Putin, sondern vor allem Staatsbedienstete. Sie und ihre Familienmitglieder stellen in Russland rund zwölf Millionen Menschen. Sie sind gewissermaßen Profiteure des Systems und dürften kaum an Reformen interessiert sein. Demgegenüber gelten laut offiziellen Zahlen rund 20 Millionen (laut inoffiziellen: 36 Millionen) Menschen als arm. Da sich ihre Situation mit der Zeit verschlechtert, ist es denkbar, dass ihre Unzufriedenheit wachsen könnte.  

    4. 4. Und was sagen russische Wissenschaftler? Wie schätzen Sie die Stabilität des System Putin ein?

      Da gibt es unterschiedliche Szenarien. Da die Wohlstandsdividenden in den letzten Jahren wegbrechen, behaupten einige Politologen, dass die Verdienste (Meritokratie) Putins aus den 2000er Jahren heute nur noch eine Art Amtsbonus sind. Auch der Persönlichkeitskult bricht laut Soziologen ein. Das Regime sei eine lahme Ente, innenpolitisch weitgehend handlungsunfähig. Es habe zwar noch einige Stabilisierungs-Instrumente in petto, heute wirke aber vor allem das Feindbild legitimierend. Dies ist mittelfristig jedoch ein dünner Faden, der laut manchen Wissenschaftlern durchaus vom Westen eingerissen werden könnte. 
      Andere Wissenschaftler meinen dagegen, dass das Herrschaftssystem stabil und nachhaltig sei. Einer der wichtigsten Gründe sei die sogenannte Alternativlosigkeit: Durch die systematische Ausschaltung politischer Konkurrenz gebe es im heutigen Russland keine massentauglichen Alternativen, so die Argumentation. Hinzu kommen die in den letzten Jahren massiv ausgebauten Sicherheitsstrukturen: Solche Institutionen wie die Nationalgarde schaffen einerseits eine Drohkulisse, könnten bei Protesten andererseits aber auch die Repressionen verschärfen.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Anton Himmelspach
    Stand: 06.12.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Ein Überblick über den Großen Terror – in 14 Fragen und Antworten von Memorial-Mitarbeiter Sergej Bondarenko auf Meduza. Einfach durchklicken oder durchwischen.

    1. 1. Was genau geschah eigentlich im Jahr 1937?

      Im Sommer 1937 begann eine ganze Serie staatlicher Repressionskampagnen, die heute allgemein als der Große Terror bezeichnet wird. Mit dem Befehl Nr. 00447 des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) wurde die „Kulakenoperation“ verkündet, bei der Bauern, Priester, ehemalige Adelige und Menschen verhaftet wurden, die auf die eine oder andere Art einer Verbindung zur Weißen Bewegung oder zu oppositionellen Parteien verdächtig waren. 

      Fast parallel hierzu wurden sogenannte nationale Operationen durchgeführt: Nach vorgefertigten Listen wurden Deutsche, Polen, Letten und viele andere Bürger der UdSSR oder auch Ausländer verhaftet. Und mit der Verhaftung einiger hochrangiger Militärführer begannen auch die Säuberungen in der Armee. 

      Unter der Anschuldigung, Verbindungen zu Volksfeinden zu haben, kamen Tausende ins Lager – das waren die sogenannten Familienmitglieder von Heimatverrätern (russ. TschSIR).

    2. 2. Weshalb kam es so weit? Und warum ausgerechnet 1937?

      Die heftigste Welle des staatlichen Terrors erfolgte zwar Mitte 1937, die Vorbereitungen liefen aber schon in den Jahren davor. Als Ausgangspunkt wird oft der 1. Dezember 1934 genannt, der Tag an dem Sergej Kirow, Chef der Leningrader Parteiorganisation und Sekretär des ZK der KPdSU, ermordet wurde (die Rolle, die Stalin bei diesem Mord spielte, ist bis heute nicht endgültig geklärt). 

      In den Jahren danach stieg nicht nur die Zahl der Verhaftungen, es fanden darüber hinaus in Moskau „offene Gerichtsprozesse“ [Schauprozesse – dek] gegen ehemalige Angehörige der Parteispitze statt, gegen den „rechts-trotzkistischen Block“. Es erfolgte ein großangelegter Kaderwechsel im Bereich der Staatssicherheit (Genrich Jagoda wurde als Volkskommissar [des Inneren] durch Nikolaj Jeschow abgelöst). 
      In der Presse wurde viel darüber geschrieben, dass die Repressionen verschärft werden müssen. Eine neue Welle des staatlichen Terrors wurde vorbereitet: Es wurden Lager errichtet, in die zukünftige „Feinde“ geschickt werden sollten; es wurden spezielle Kommissionen gebildet, die die Strafverfahren gegen diese Menschen bearbeiten sollten. 

    3. 3. Und welche Rolle spielte die außenpolitische Lage?

      Zu der Frage, warum die größten Repressionen ausgerechnet 1937 stattfanden, gibt es vielfältige Erklärungen. Neben der inneren Logik der Ereignisse selbst – Jeschow wurde bereits im September 1936 Leiter des NKWD und bereitete dann fast ein Jahr lang sein Ministerium auf die Massensäuberungen vor – wird zu Recht oft auf die große Rolle der außenpolitischen Lage verwiesen, auf den Verlauf des Krieges in Spanien, wo die Kommunisten durch Frankos Armee eine Niederlage erlitten, auf das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland und auf das von allen gespürte Näherrücken eines neuen großen Weltkrieges

      Vor diesem Hintergrund verstärkten sich in der UdSSR Spionomanie, die Suche nach inneren Feinden – bei denen eben jene sogenannten Ehemaligen (vermeintliche „Kulaken“, Priester, Esery [Sozialrevolutionäre] …) ganz oben auf der Liste standen – wie auch deren Umgebung, ihre Familien, Freunde und Arbeitskollegen.

      Ein weiterer, nicht minder wichtiger Grund ist das Verwaltungssystem selbst, das in der UdSSR in den 20 Jahren seit der Revolution entstanden war. Da die bürgerlichen und politischen Rechte in keinster Weise gewährleistet waren, es keine wirklichen Wahlen der staatlichen Organe und keine Meinungsfreiheit gab, blieb der Terror wichtigstes Mittel für sozialen Wandel. Gewalt wurde zur Gewohnheit. 

    4. 4. Wie reagierte die Gesellschaft auf diese Gewalt?

      Die Repressionen sorgten zwar für Schrecken, wurden aber als etwas Unabdingbares, als Teil des Alltags aufgefasst. In dieser Hinsicht ragen die Ereignisse von 1937 allein durch ihre Dimension und Intensität heraus, schließlich hatte es ja bereits den Roten Terror und die Kollektivierung/Entkulakisierung gegeben sowie in der ersten Hälfte der 1930er Jahre den im Zuge der Industrialisierung organisierten Hunger in der Ukraine, in Kasachstan und im Wolgagebiet. Der Große Terror ist in dieser Hinsicht lediglich eine weitere Episode in einer Reihe der bisherigen Ereignisse.

    5. 5. Wie viele Opfer gab es?

      In der heißen Phase des Großen Terrors, von August 1937 bis November 1938 (als Jeschow abgesetzt wurde), sind über 1.700.000 Menschen aufgrund politischer Anklagen verhaftet worden. Von ihnen wurden über 700.000 Personen erschossen. Und das ist nur das Minimum der statistischen Opferzahl-Schätzung, da zur gleichen Zeit weiterhin Menschen verschickt und „auf administrativem Wege“ deportiert wurden (mindestens 200.000 Personen); Hunderttausende wurden als „sozial schädliche Elemente“ verurteilt. 

      Viele Paragraphen des Strafgesetzbuches jener Zeit (beispielsweise, wenn jemand sich zur Arbeit verspätete oder blau machte), konnten in ihrer Ausrichtung auch als politische Paragraphen eingesetzt werden. Somit ließe sich die Opferstatistik der Vorkriegszeit um mindestens einige Hunderttausend erweitern.

    6. 6. Warum wird oft gesagt, dass die Dimensionen des Terrors übertrieben dargestellt werden?

      Behauptungen, die Dimensionen des Terrors der Jahre 1937 und 1938 seien „übertrieben“, entspringen in der Regel zwei Vorstellungen: Angezweifelt wird die angeblich „gefälschte“ Statistik – obwohl eine große Zahl der regionalen Verhaftungspläne und Stalinschen Erschießungslisten heute bereits veröffentlicht und in vielen Regionen Nekrologe, Gedenkbücher für die Opfer erschienen sind, die sich auf Archivunterlagen stützen. Daneben – und sogar noch häufiger – wird in Zweifel gezogen, dass es einen „politischen“ Gehalt der Beschuldigungen gegeben hat: Viele meinten, wenn jemand verhaftet wurde, dann wird da auch etwas gewesen sein.

    7. 7. Die wird man ja nicht einfach so verhaftet haben?! Da wird jemand schon schuldig gewesen sein!

      Hauptmerkmal des sowjetischen politischen Terrors der 1930er Jahre war seine grundlegende Irrationalität und Unberechenbarkeit. Hierin unterscheidet er sich beispielsweise vom Terror der Nationalsozialisten, dem er oft vergleichend gegenübergestellt wird. 

      Es stimmt zwar, dass die Zugehörigkeit zu einer der „falschen“ Bevölkerungskategorien für die Betroffenen Gefahr bedeutete, andererseits wurden auch Hausmeister und Lokführer verhaftet, wie auch Hausfrauen, Sportler und Künstler – kurzum: Es konnte jeden treffen. 

      Nur ein ganz kleiner Anteil der Verhafteten war tatsächlich an nicht genehmen Aktivitäten beteiligt (ob nun jede Handlung, die von der Politik der Partei abwich, ein Verbrechen darstellt, ist noch eine ganz andere Frage). Alle Übrigen zählten zur Mehrheit der gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürger. 

      Da die Ermittlungen zu den Verfahren mit Hilfe von Folter geführt wurden (mit physischer Gewalt, Drohungen gegen Familienangehörige, Schlafentzug in Form von allnächtlichen Verhören und Schlafverbot am Tage), lag der Anteil der „Geständigen“ bei nahezu hundert Prozent. Die Geständnisse dienten als äußerst wichtiges Argument für eine Schuld der Betroffenen, genauso wie die Aussagen von bereits verhafteten oder erschossenen Bekannten und Kollegen.

    8. 8. Stimmt es, dass die Säuberungen in erster Linie die Parteiführung selbst trafen?

      Von den 1,7 Millionen Opfern politischer Repressionen standen lediglich rund 100.000 auf die eine oder andere Weise in einer Beziehung zur Partei der Bolschewiki. Dabei handelte es sich entweder um Mitglieder des Komsomol oder gewöhnliche Parteimitglieder, oder aber – in geringer Zahl – um leitende Parteikader. 

      Zweifellos bestand eines der Ziele Stalins in der Vernichtung der alten Bolschewiki und Revolutionäre, doch in Wirklichkeit waren viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits in zweit- und drittrangige Rollen abgeschoben worden und stellten in der Partei keine wirkliche Opposition dar. 

      Die Vorstellung vom Großen Terror als Terror gegen die Partei ist in der Ära Chruschtschow entstanden, als man bemüht war, die „treuen Gefolgsleute Lenins“ als Hauptopfer der Stalinschen Verbrechen zu deklarieren, während nebenbei die Dimensionen der Repressionen heruntergespielt wurden.

    9. 9. Warum wird Stalin die Schuld an den Repressionen gegeben, wo sich doch die Bürger selbst gegenseitig denunziert haben?

      Ein weiterer, sehr verbreiteter Mythos über die Repressionen sind die „drei Millionen Denunziationen“ (bisweilen werden zwei genannt, manchmal vier). Dass verbreitet schriftlich denunziert wurde, war Teil der allgemeinen politischen Hysterie. Es steht außer Zweifel, dass das bei den Massenverhaftungen eine Rolle gespielt hat, doch sind sehr viel mehr Menschen schlicht und einfach nach Listen verhaftet worden, nach im Voraus abgesegneten Plänen, in denen alle „unzuverlässigen“ Bürger der verschiedenen Ebenen aufgeführt wurden. 

      Zudem sind viele Anzeigen unter riesigem psychischem Druck geschrieben worden: Bereits in der Ermittlungsphase schwärzten die Betroffenen ihre Angehörigen an. Sehr oft standen sie vor der Wahl zwischen der (oft illusorischen) Aussicht zu überleben und dem Zwang, eine Aussage gegen jemand anderen zu unterschreiben. 

      Die Denunziationen sind Teil einer weiteren, sehr wichtigen Frage, nämlich der nach der bürgerlichen Verantwortung der Gesellschaft für den staatlichen Terror. Die Erkenntnis, dass viele an der Ausübung des Terrors beteiligt waren, ist sehr wichtig. Allerdings können die Repressionen auch nicht als reine „Initiative von unten“ betrachtet werden.

    10. 10. Hat Stalin persönlich die Befehle zur Hinrichtung gegeben oder doch nicht?

      Selbstverständlich. Von den 383 Listen, die zur persönlichen Gegenzeichnung durch Mitglieder des Politbüros verfasst wurden – den sogenannten Stalinschen Erschießungslisten – hat Stalin 357 persönlich unterschrieben. Die Gesamtzahl der nach diesem Listenverfahren Verurteilten beträgt rund 44.500. Die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen wurde erschossen. 

      Darüber hinaus ist die gesamte Architektur des Terrors höchstpersönlich von Stalin und dessen Umgebung entworfen worden. Umgesetzt wurden die Repressionen unter Stalins unmittelbarer Kontrolle: Ihm wurde über den Stand der Verhaftungskampagnen Bericht erstattet, er ergänzte die Listen um einzelne Personen, und er las die Verhörprotokolle.

    11. 11. Wie war das System der Registrierung der Verhaftungen und Erschießungen aufgebaut?

      Im Unterschied zu vielen der früheren Repressionskampagnen wie denen des Roten Terrors und der Entkulakisierung sind die umfangreichen Operationen des Großen Terrors recht gut dokumentiert. Neben den erwähnten Stalinschen Erschießungslisten sind viele Schlüsseltexte erhalten geblieben, die vor Ort verfasst wurden und in denen gebeten wurde, jene Verhaftungspläne zu präzisieren oder auszuweiten, die aus der Hauptstadt eingegangen waren. 
       
      Die Zahl der Verhaftungen war festgelegt, über die Anzahl der Verhaftungen wurde Bericht erstattet; die Ermittler lieferten sich untereinander einen sozialistischen Wettbewerb über erledigte Verfahren. Und die archivierten Ermittlungsakten der 1937 und 1938 Verhafteten sind mit dem Vermerk „Aufbewahren für alle Zeit“ versehen: Jeder, der es will, kann hingehen und detailliert den Gang der meisten Verfahren gegen die verhafteten (und rehabilitierten) Opfer des Großen Terrors nachlesen.

    12. 12. Kam es denn vor, dass sich bei jemandem, der verhaftet wurde, dann herausstellte, dass man sich geirrt hatte, und er dann freigelassen wurde?

      Geschichten über wundersame Freilassungen und Rettungen bereits verhafteter Menschen stammen in der Regel aus den 1920er Jahren und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. 1937/38 waren im Verlauf der Ermittlungen keine Freisprüche vorgesehen: Der Beschuldigte hatte weder das Recht auf einen Anwalt, noch auf eine Revision seines Falles (sehr häufig wurden die Urteile noch am Tag der Verkündung vollstreckt; gefällt wurden sie von Gerichten oder außergerichtlichen Troikas [Dreierkollegien]).
       
      Ein Teil der Personen, die unter Jeschow verhaftet wurden, ist 1939 wieder freigekommen; das wird bisweilen als Berija-Amnestie bezeichnet. Denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer das Glück hatten, vor dem November 1938 ihr Urteil noch nicht erhalten zu haben, gelang es manchmal, eine Revision zu erreichen. Besonders dann, wenn beim Verfahren der Ermittler gewechselt hatte oder es formal noch nicht zu Ende geführt worden war. 
      Allerdings wurden viele dieser Hunderttausenden später wieder verhaftet, während des Krieges oder 1947/48, kurz nach Kriegsende.

    13. 13. Wie viele Menschen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Erschießungen bestraft? Gab es überhaupt ein Sanktionierungssystem für Tschekisten?

      Den Statistiken zufolge, die uns vorliegen, sind in dem Jahr nach der Absetzung Jeschows mit ihm rund 1000 Mitarbeiter des NKWD verhaftet worden. Wie auch in den grausamsten Momenten der Kollektivierung wurde der Terror auf Fälle „lokaler Exzesse“ zurückgeführt. Beschuldigt wurden die konkreten Täter. 
      Gleichwohl sind längst nicht alle Tschekisten bestraft oder von ihren Posten entfernt worden. Viele der unmittelbaren Täter des Großen Terrors arbeiteten während des Krieges weiter, erhielten militärische Auszeichnungen für „politische Arbeit in der Armee“ und kehrten als Helden aus dem Krieg zurück.

    14. 14. „Natürlich tut es einem um die Menschen leid, aber dafür ist der Gulag effektiv gewesen“ – stimmt das?

      Wir haben es hier mit einem gigantischen und sehr komplexen, vielschichtigen System zu tun, das nicht erst 1937 entstand, sondern erheblich früher, Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Der Gulag bestand nicht nur aus politischen Häftlingen, es gab dort auch gewöhnliche Strafgefangene, und darüber hinaus die Wachen und die Lagerleitungen. 

      Auch in den Lagern war die Zeit des Großen Terrors mit massenhaften Erschießungen und sehr schweren Überlebensbedingungen verbunden (an einigen Orten ist es nur während des Krieges noch schlimmer gewesen, als es nämlich überhaupt nichts zu essen gab). 

      Man könnte jetzt natürlich versuchen herauszufinden, wann genau mehr gebaut wurde, was hätte gebaut werden müssen und was sinnlos gewesen ist … Gleichwohl bleibt die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Gulag eine ethische: Welcher Koeffizient von eingesetzter Sklavenarbeit und welche Zahl an Toten wäre für uns „effizient“ im Verhältnis zu der Menge an gebauten Fabriken und Städten? 

      Darüber hinaus ist die Wirtschaft des Gulag von der modernen Forschung analysiert worden und steht dabei in keiner Weise als „erfolgreich“ da. Es kommt extrem selten vor, dass Zwangsarbeit effizienter ist als freie Arbeit.


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Sergej Bondarenko
    Übersetzer: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 30.10.2018

    Dieses Bystro wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Bystro #5: Schisma in der orthodoxen Kirche?

    Bystro #5: Schisma in der orthodoxen Kirche?

    Ein schneller Überblick über den Wunsch der ukrainisch-orthodoxen Kirche, von Moskau unabhängig zu werden, und über die potentiellen Folgen – in fünf Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.
     

    1. 1. Warum will die ukrainisch-orthodoxe Kirche eigenständig werden? Und was meint „Autokephalie“ überhaupt?

      Es ist nicht so eindeutig, wer genau die Autokephalie – also die kirchliche Eigenständigkeit – möchte. Es gibt nicht die eine ukrainisch-orthodoxe Kirche, sondern drei. 
      Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) war bis vor wenigen Tagen die einzige, die von der Welt-Orthodoxie anerkannt war. Sie gehört zum Moskauer Patriarchat, hat jedoch offiziell aktuell keine Unabhängigkeit gefordert. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) spaltete sich 1992 von der UOK ab und forderte schon damals die Autokephalie. 
      Die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) gibt es sogar schon seit den 1920er Jahren: Sie ist im Ausland anerkannt („kanonisch“), in der Ukraine jedoch nicht. 
      Die UOK-KP und die UAOK fordern nun gemeinsam mit vielen Gläubigen der UOK (aber eben nicht mit der UOK selbst) und vielen Politikern eine weltweit anerkannte und von Moskau unabhängige, eigenständige Orthodoxe Kirche. Dadurch wollen sie vor allem den ideologischen Einfluss aus Moskau einschränken und auf eine eigenständige Weise das geistliche Erbe der Kiewer Rus und ihre Gesellschaft gestalten. 

    2. 2. Und was stört das Moskauer Patriarchat daran?

      Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) stört das Durchgreifen des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel in der Ukraine. Denn seit dem 17. Jahrhundert wurde die Moskauer Zuständigkeit dort immer respektiert. Nachdem Moskau seit 26 Jahren die Lage der ukrainischen Kirchen faktisch ignoriert hat, ist dieses Durchgreifen aber durchaus nachvollziehbar. 
      Nun droht der ROK großer Bedeutungsverlust: Eine unabhängige Orthodoxe Kirche in der Ukraine macht das gesamte Narrativ der Heiligen Rus fragwürdig. Der Moskauer Anspruch auf die politische, moralische und geistliche Deutungshoheit über die Ukraine (und Belarus) wird mit der Autokephalie haltlos. Das Gewicht des Moskauer Patriarchats innerhalb der Welt-Orthodoxie erklärte sich bislang daraus, dass die ROK die relative Mehrheit aller orthodoxen Gläubigen vereinte. Durch das Wegbrechen der ukrainischen Gläubigen wird auch die Bedeutung der ROK abnehmen. 

    3. 3. Kritiker werfen der Russischen Orthodoxen Kirche vor, immer mehr zum Werkzeug des russischen Staates zu werden. Stimmt das?

      Die Situation in der Ukraine zeigt, dass das Moskauer Patriarchat sich dermaßen eng mit dem russischen Staat verstrickt hat, dass es jetzt nur wenig eigenen Entscheidungsspielraum hat. Über viele Jahre und in vielen Bereichen waren sich die Interessen von Staat und Kirche einfach sehr nah und haben sich zum Teil auch ergänzt: So waren die Umsetzung der sogenannten Machtvertikale und der Stabilisierung auch im Interesse der Kirchenführung. Auch bei Feindbildern, moralischem Konservatismus sowie bei Einschränkung von Pluralität passt kaum ein Blatt zwischen Kirchenleitung und Staat. Die ROK hätte Möglichkeiten gehabt, als Mutterkirche selbst die Autokephalie der ukrainischen Kirche zu gestalten, aber eine unabhängige Kirche als Ausdruck einer unabhängigen Ukraine widerstrebt der politischen und ideologischen Linie Moskaus radikal.

    4. 4. Was bedeuten all diese Vorgänge für die Orthodoxe Kirche insgesamt?

      Es ist sicher eine große Krise für die Orthodoxie und zeigt, wie sehr ungeklärte technische Zuständigkeitsfragen sowie die Bindung an nationale Grenzen und Identitäten die Einheit der Kirche gefährden. 
      Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus unterstützt das Streben der ukrainischen Gläubigen nach einer eigenständigen Kirche und ebnet kirchenrechtlich den Weg dafür. Deswegen hat das Moskauer Patriarchat nun den Bruch mit Konstantinopel verkündet. Dieser einseitige Bruch ist vor allem für die russischen Gläubigen außerhalb Russlands eine Herausforderung, denn sie dürfen nun nicht mehr in Kirchen des Patriarchats von Konstantinopel an der Eucharistie teilnehmen, und das obwohl es keinen Unterschied in der Glaubenslehre gibt. Sämtliche Dialoge, gemeinsame Gottesdienste und Bischofskonferenzen der orthodoxen Kirchen im Ausland werden ohne Vertreter der ROK stattfinden. Insgesamt bewegt sich die ROK damit in die Isolation. 
      Innerhalb der Orthodoxie ist allerdings nicht absehbar, ob andere Kirchen den Schritten Moskaus folgen werden, und auch das Ökumenische Patriarchat hat die Gemeinschaft mit Moskau nicht beendet.

    5. 5. Droht ein Schisma? Was genau bedeutet das, und was wäre daran so schlimm?

      Das ist schwer abzusehen, bisher ist die Drohung mit dem Schisma eher eine rhetorische Form des Machtkampfes zwischen Moskau und Konstantinopel. Grundsätzlich erfordert ein Schisma genauso wie ein Anathema (ein Kirchenbann) dogmatische Gründe. Nach wie vor geht es hier aber um technische beziehungsweise kirchenrechtliche Probleme, in der Glaubenslehre gibt es dagegen keinen Dissens. 
      Es ist zu hoffen, dass alle Beteiligten dies im Blick behalten, denn ein Schisma ist vor allem eine Tragödie für die Gläubigen sowie für die Glaubwürdigkeit der Kirche.




    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Regina Elsner
    Veröffentlicht am: 17.10.2018

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  • Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal

    Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal

    Sind die beiden Verdächtigen im Fall Skripal nur Touristen, die die „englische Gotik genießen“ wollten? Nachdem britische Ermittler Fotos und Namen veröffentlicht hatten, haben Ruslan Boschirow und Alexander Petrow der Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonjan, ein Interview gegeben. 
    Ihre Version der Geschichte: Petrow und Boschirow seien ihre richtigen Namen (die britischen Ermittler hatten dies angezweifelt), sie seien keine Geheimdienstmitarbeiter, sondern als Touristen in London gewesen. Nach Salisbury seien sie gefahren, um die „berühmte Kathedrale“ dort zu besichtigen. Wegen des extrem schlechten Wetters seien sie aber zunächst wieder nach London zurückgekehrt, um am nächsten Tag wiederum nach Salisbury zu fahren. 

    Nach dem Interview wurde vielerorts im russischen Internet gemutmaßt, ob es sich bei den beiden um ein schwules Pärchen handele. Der von Simonjan selbst ins Spiel gebrachte Verdacht um die sexuelle Orientierung der beiden wurde mitunter als geschickter Schachzug gewertet, da nach traditioneller Auffassung russische Agenten generell nicht schwul sind. Der britische Geheimdienst hatte Fotos ihres Hotelzimmers veröffentlicht, auf denen ein Doppelbett zu sehen war.
    Sie geben indem Interview außerdem an, im Fitnessbusiness tätig zu sein. Den Namen ihrer Firma aber wollen sie nicht nennen, um ihre Geschäftspartner zu schützen.
    Als Beweis ihrer Unschuld führen sie unter anderem an, dass man an der Grenze ja auf sie aufmerksam geworden wäre, hätten sie als Männer tatsächlich Frauenparfüm bei sich gehabt (das Nowitschok, mit dem die beiden Skripals vergiftet worden waren, befand sich laut britischen Ermittlungen in einem solchen Parfümflakon).

    Meduza hat nach dem Interview sechs offene Fragen gesammelt.

    1. 1. Warum haben Petrow und Boschirow keine Fotos der Kathedrale von Salisbury gezeigt?

      Die Russen erklären ihre Reise nach Salisbury damit, dass sie örtliche Sehenswürdigkeiten und insbesondere die Kathedrale von Salisbury sehen wollten. Ihren Angaben zufolge sei es ihnen am 4. März gelungen, die Kathedrale zu besichtigen, und sie hätten dort sogar Fotos gemacht. 

      Im Interview wundern sich Petrow und Boschirow, warum die britische Polizei keine Aufnahmen von Überwachungskameras nahe der Kathedrale veröffentlicht hat (wobei Scotland Yard auch nicht behauptet hat, dass die Russen dort nie gewesen wären). Dabei haben sie aus irgendwelchen Gründen keine eigenen Fotos von der Sehenswürdigkeit gezeigt, die ihre Version über die Absicht der Reise nach Salisbury belegt hätten. Auf das direkte Angebot von Simonjan, das zu tun, sind sie kein bisschen eingegangen. 


    2. 2. Warum haben Boschirow und Petrow so wenig über sich erzählt?

      Das Hauptziel des Interviews war für Boschirow und Petrow, ihren eigenen Worten zufolge, zu zeigen, dass sie ganz gewöhnliche Russen sind. Allerdings haben sie dafür nur minimale Anstrengungen unternommen: Zum Beispiel waren sie nicht bereit, auch nur irgendwelche Details aus ihrem persönlichen Leben zu erzählen. So wirft das Gespräch nur neue Fragen auf. Wenn sie wenigstens den Namen der Firma genannt hätten, in der sie arbeiten, dann hätte man prüfen können, wann sie registriert wurde, ob sie wirklich Geschäfte machen – und ob sie mit dem Staat verbunden ist.


    3. 3. Boschirow und Petrow sind nach London gefahren, um „zu relaxen“. Zwei von drei Tagen haben sie in Salisbury verbracht. Ist das ihre Vorstellung von „Relaxen“?

      Das ruhige 45.000-Einwohner-Städtchen Salisbury liegt über 100 Kilometer von der britischen Hauptstadt London entfernt. Zu Beginn des Interviews sagen Boschirow und Petrow, dass sie nach Großbritannien nicht zum Arbeiten gekommen seien, sondern zum „Relaxen“. Anscheinend bedeutet „Relaxen“ für sie, zwei von drei Urlaubstagen auf dem Weg nach Salisbury und zurück zu verbringen.

      Vielleicht sind Boschirow und Petrow große Architektur-Liebhaber und beschäftigen sich tatsächlich mit Gotik. Aber dennoch, aus dem Interview wird ein solch besonderes Interesse nicht erkenntlich.


    4. 4. Hat das Wetter Petrow und Boschirow wirklich gestört?

      Die britische Polizei sagt, dass Petrow und Boschirow an zwei Tagen in Salisbury waren: Am ersten Tag „zur Erkundung“, am zweiten, um das Verbrechen zu begehen. Im RT-Interview betonen Petrow und Boschirow, dass sie die Stadt beide Male als Touristen besucht hätten: Am 3. März fuhren sie nach Salisbury, aber dort sei alles „voller Schneematsch“ und sie selbst völlig durchnässt gewesen, so seien sie wieder gefahren, um am nächsten Tag wiederzukommen. 
      Fotos in Sozialen Medien belegen, dass am 3. März durchaus Touristen in Salisbury waren, die nichts daran hinderte, die Kirche zu besichtigen. Hier ein Beispiel:


       
      „So sah die Kathedrale von Salisbury am 3. März aus. Wie man sieht, das Wetter ist nicht zu ertragen.“


    5. 5. Wie haben Boschirow und Petrow Kontakt zu Margarita Simonjan hergestellt?

      Wie die Chefredakteurin von RT sagte, haben die mutmaßlichen Vergifter sie selbst um ein Interview gebeten, indem sie sie auf ihrem Mobiltelefon anriefen. Dabei, so Simonjan, kennen ihre Nummer „alle, sogar Kuriere, die Blumen zum 8. März ausfahren“. In Wirklichkeit ist Simonjans Telefonnummer auf keiner ihrer Profilseiten in Sozialen Netzwerken zu finden, auch auf der Website von RT steht sie nicht. Standardanfragen auf Suchmaschinen spucken ihre Nummer ebenfalls nicht aus. Die Männer haben sich laut eigenen Angaben erst nach dem Vorschlag von Wladimir Putin zu einem Gespräch mit den Medien entschlossen: „Ich möchte mich an sie wenden, damit sie uns heute zuhören. Sie sollen kommen […] zu den Medien“, erklärte Putin tagsüber am 12. September, und abends war das Interview schon gedreht. Sie müssen die Nummer Simonjans also buchstäblich innerhalb von ein paar Stunden herausgefunden haben.

      [Ergänzung von Meduza: Am Abend des 13. September verlinkte die Yandex-Suche unter den ersten Rängen einen Eintrag aus dem Steuerregister, wo tatsächlich Simonjans Telefonnummer steht. Google gibt diese Seite unter analogen Suchanfragen nach wie vor auf den ersten Seiten nicht aus. Simonjan selbst sagte, dass sie nicht ausschließe, dass Putin ihre Nummer an Baschirow und Petrow gegeben habe.] 


    6. 6. Warum hat Simonjan ihnen einige wichtige Fragen nicht gestellt?

      Warum unterscheiden sich ihre Reisepassnummern nur um eine Ziffer? Warum sind sie sich so sicher, dass sie an der Grenze angehalten worden wären, wenn man Frauenparfüm bei ihnen entdeckt hätte? Wie reagieren ihre Verwandten, Nahestehende, Bekannte und Geschäftspartner auf das Aufsehen um sie? 
      Wladimir Putin sagte: „Wir haben uns natürlich angeschaut, was es für Leute sind. Wir wissen, wer sie sind, wir haben sie gefunden.“ Wer hat sie denn genau gefunden? Haben sich die beiden mit Geheimdiensten unterhalten?
      Und zuletzt ganz banale Fragen: Wo haben sie ihre Ausbildung gemacht? Wer sind ihre Eltern? Was für einen Lebenslauf haben sie? 
      Im Grunde weiß man nach dem Interview nicht mehr über sie, als davor.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Russisches Original: Meduza
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    veröffentlicht am 14.09.2018

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