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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #24: Wie wird der Tag des Sieges in Belarus gefeiert?

    Bystro #24: Wie wird der Tag des Sieges in Belarus gefeiert?

    Am 9. Mai wird in Belarus wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken der Tag des Sieges begangen. Auch in Minsk wird mit einer Parade an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges, beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs in Europa, und an den Sieg über den Faschismus erinnert. Zu dem Feier- und Gedenktag gehört auch, dass Veteranen am 9. Mai kostenlos Telefonate über den staatlichen Dienstleister Beltelekom führen können. Wie aber hat sich die Erinnerungskultur zum Tag des Sieges in den Jahren seit der Unabhängigkeit der Republik Belarus gewandelt? Wird die junge Generation von den sowjetischen Mythen überhaupt noch erreicht? Ein Bystro von Historiker Alexey Bratochkin in acht Fragen und Antworten.

    1. 1. Wie wird der Tag des Sieges aktuell in Belarus begangen und wie hat sich das seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verändert?

      In den Jahren der Unabhängigkeit hat sich der politische Kontext der Erinnerung verändert: Das Erinnern in den Familien, das individuelle Gedenken entfernt sich immer weiter von der offiziellen Version, es ist nuancierter geworden und längst nicht mehr schwarz-weiß, auch wenn die Idee vom Sieg über den Faschismus weitergetragen wird.

      Das offizielle Erinnern ist endgültig zu einem Stereotyp geworden, das nicht auf Veränderung ausgerichtet ist. Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2020 lief in allen belarussischen Staatsmedien das Projekt Belarus erinnert sich, dessen Analyse zu verstehen hilft, was diese Erinnerung ausmacht: Betont werden die heroische, idealisierte Selbstaufopferung und die Heldentaten der Soldaten und Partisanen auf der einen, und die Tragödie der zivilen Bevölkerung auf der anderen Seite. Alle anderen Themen werden in keiner Weise kritisch oder realistisch beleuchtet (beispielsweise die Themen Kollaboration, Alltag unter der Besatzung, Holocaust und jüdischer Widerstand oder Kriegsgewalt auf beiden Seiten). 

      Die Erinnerung an den Krieg steht grundsätzlich nicht mehr im Zentrum des offiziellen Projekts, eine kollektiven Identität zu erschaffen, wie es in den 1990er Jahren und früher der Fall war. Sie bildet lediglich den Hintergrund für die Versuche, den Autoritarismus und seine Praktiken zu legitimieren. Denken wir beispielsweise an die Militärparade in Minsk zum 9. Mai 2020 – auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie, die von der Staatsmacht ja mehr oder weniger ignoriert wurde.

    2. 2. Sie nutzen den Begriff Zweiter Weltkrieg. Ist Großer Vaterländischer Krieg nicht mehr gebräuchlich in Belarus?

      In Belarus wird zwar immer noch vorwiegend der Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ verwendet, aber er gerät zunehmend in die Kritik und ist Gegenstand von Diskussionen. Der Feiertag wird ja auch mittlerweile zum großen Teil von Menschen begangen, die lange nach Kriegsende geboren sind. Man kann es so sagen: Die Verwendung des Begriffs „Zweiter Weltkrieg“ ist typisch für diejenigen, die sich von der sowjetischen Erinnerungskultur distanzieren wollen oder, wie die jüngere Generation, die Geschichte des Krieges von vornherein außerhalb des sowjetischen Kontextes wahrnehmen, als eine Geschichte, an der viele Länder beteiligt waren. 

    3. 3. Wie nehmen jüngere Generationen, die die Sowjetunion nicht mehr bewusst erlebt haben, diesen Gedenktag überhaupt wahr?

      Die sowjetische Interpretation der Geschichte des Krieges hat sich in den Jahren der Unabhängigkeit gewandelt. Mittlerweile haben wir es mit einem Hybrid aus dem sowjetischen Narrativ und den Versuchen der Staatsideologen zu tun, dieses Narrativ zu nationalisieren. Es wird nicht mehr die sowjetische Identität der Kämpfenden betont, sondern die belarussische. Gleichzeitig werden alle unangenehmen Fragen ausgeblendet.

      Auf junge Menschen wirkt das alles wie ein überholtes Ritual. Sie wollen eine „Belebung“ des Gedenkens, persönliche Geschichten, Offenheit, ein Verständnis für die Schattenseiten des Krieges. Die Erinnerung muss in für sie verständlichen Medien präsentiert werden – Youtube, Instagram, digitalen Projekten und so weiter, mit der Möglichkeit zur Interaktion. Die Jugend will die Geschichte des Krieges „von unten“ sehen, als Erzählung einer persönlichen Erfahrung, nicht als Ansammlung stereotyper Propaganda-Parolen.

    4. 4. Inwiefern widerspiegeln kritische Haltungen gegenüber den aktuellen Machthabern andere Auffassungen von diesem Feiertag?

      Natürlich wird in Belarus über verschiedene Interpretationen des Krieges gesprochen. Manche sehen in der Verehrung des Sieges eine spezifische Fortsetzung: die Rückkehr zum Stalinismus und seiner Vorkriegsatmosphäre. Manchen liegt die Idee von den zwei totalitären Systemen näher – dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen und vor diesem Hintergrund dann die nationale Tragödie. 

      Mainstream in unserer Gesellschaft ist aber, dem Krieg die entscheidende Rolle für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben, für die Geschichte von Belarus und die kollektive Identität. Gerade deshalb hat die Gesellschaft den Machthabern lange alle Manipulationen verziehen – denn sie waren populistisch und verstärkten die Vorstellung vom Alleinanspruch auf Kriegserinnerung. Heute haben Manipulationen an der kollektiven Erinnerung einen gegenteiligen Effekt – man assoziiert das Regime mit den Manipulationen und nicht mit dem Bedürfnis nach Identität.

    5. 5. Gerade der Mythos der „Partisanenrepublik“ war lange mit der Identität von Belarus verbunden. Welche Bedeutung hat dieser Mythos heute noch?

      Der Mythos ist tatsächlich erhalten, obwohl man schwer sagen kann, was wir mit dem Wort Partisanen überhaupt meinen. Zum Beispiel gab es während der Proteste sogenannte „Cyberpartisanen“, die die Internetseiten der staatlichen Behörden zu hacken versuchten. Oder wenn wir über die „Partisanen“-Taktik der Proteste sprechen. 

      Ich denke, wichtig sind hier weniger die Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, obwohl es sie gibt (und die Partisanen-Bewegung ist in diesem Zusammenhang eines der komplexesten Themen), sondern vielmehr der Gedanke, dass „wir das schaffen“, die Idee, ein Subjekt zu sein, aktiv zu sein, zu handeln. 

      Ich denke außerdem, dass man schon lange aufgehört hat, das Wort „Republik“ im sowjetischen Sinne zu gebrauchen – als Terminus, der ein Teilgebiet der UdSSR beschreibt und nichts mit der politischen Bedeutung von res publica zu tun hat: einer gemeinsamen Sache, mit Solidarität, den Werten politischer Teilhabe.

    6. 6. Zeigt sich in den aktuellen Protesten eine politische Haltung der Bevölkerung, die möglicherweise der offiziellen Erinnerung zum Tag des Sieges kritisch gegenübersteht?

      Die Proteste begannen im Zusammenhang mit politischem Betrug, sie hatten nichts mit der Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu tun. Die erste Massendemo fand nach dem 9. August 2020 statt, rund um das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk. Erst später ging das Regime dazu über, die Demonstrierenden fast schon zu Faschisten zu erklären, die die heiligen Werte mit Füßen treten würden – und bei allen späteren Protesten wurde das Museum durch das Militär abgeriegelt. Es war das Regime, das die Erinnerung an den Krieg instrumentalisierte. So versuchen die Ideologen der Staatsmacht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für den Kampf gegen die politische Opposition zu instrumentalisieren (wie schon Mitte der 1990er Jahre), indem sie die Proteste von 2020 und ihre Symbolik mit dem Kollaborationismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringen. 

    7. 7. Der Holocaust, der Belarus nahezu vollständig seiner jüdischen Bevölkerung beraubte, gehörte eigentlich nie zur offiziellen Erinnerungskultur zum Tag des Sieges. Gibt es dahingehend Wandlungsprozesse?

      Ich sehe heute keine einheitliche Erinnerungskultur, die für alle gelten würde. In den staatlichen Medien spielt das Thema Holocaust während der Feierlichkeiten zum 9. Mai eine untergeordnete Rolle. Es gibt zwar noch andere Gedenktage, die dem Holocaust gewidmet sind, aber selbst dann wird nicht viel darüber geschrieben. Ich denke, dieses Jahr werden sich die Staatsmedien darauf konzentrieren, den Kollaborationismus der Kriegszeit mit den Protesten in Verbindung zu bringen. Aber viele haben kein Interesse an den staatlichen Medien, sie informieren sich stattdessen zum Beispiel in den sozialen Netzwerken. Dort sieht man viele Fotos, Familiengeschichten, darunter auch Erinnerungen an den Holocaust. Aber das ist die Mikroebene des Gedenkens.

    8. 8. Gibt es Debatten darüber, wie ein Tag des Sieges in Zukunft begangen werden könnte?

      Öffentlich wird das Thema in Belarus kaum diskutiert. Ich erinnere mich zum Beispiel aber an die Präsentation der Publikation Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, die sich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes mit dieser Frage beschäftigte. Darin wurden für alle betroffenen Länder verschiedene Szenarien gezeichnet: Dass der Feiertag zu „einem von vielen“ werden oder im Zuge der zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens in Belarus und Russland mehr und mehr profanisiert werden wird. Ich denke, die Instrumentalisierung des Gedenkens könnte auch zu einer Reaktualisierung der Erinnerung führen und den gegenteiligen Effekt haben, dass es da noch Diskussionen geben wird. Der Einsatz von Militärtechnik beispielsweise während der Niederschlagung der Proteste in Minsk hat eine große Debatte darüber ausgelöst, inwiefern wir die Erfahrung der Gewalt in unserem Land historisch reflektiert haben, unter anderem auch die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Alexey Bratochkin
    Übersetzerin: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 06.05.2021

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  • Bystro #23: Hat der Protest Belarus bereits verändert?

    Bystro #23: Hat der Protest Belarus bereits verändert?

    Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Sie fordern die Durchsetzung ihrer Grundrechte und Neuwahlen. Was war der Auslöser für die historischen Proteste? Warum hat die autokratische Staatsführung derart Vertrauen in der Gesellschaft eingebüßt? Wie gespalten ist das Land? Welche Rolle spielen Russland und die EU für die Haltung der Belarussen?

    Félix Krawatzek ist diesen Fragen zusammen mit anderen Wissenschaftlern in einer Studie für das Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) auf den Grund gegangen. Im Bystro liefert er Antworten auf sieben wichtige Fragen.

    1. 1. Man sagt, dass der Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl ein wesentlicher Antreiber für die Proteste war. Bestärkt die Umfrage diesen Eindruck?

      Der eklatante Wahlbetrug war der unmittelbar entscheidendste Faktor für die Massenproteste. Aber bereits im Vorfeld der Wahl fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt, die sich quer durch die Altersgruppen und Regionen des Landes zog. Diese Unterstützung – beispielsweise in Form von solidarischen „Menschenketten“ – galt insbesondere den unabhängigen potentiellen Präsidentschaftskandidaten: Viktor Babariko und Waleri Zepkalo. Beide galten als aussichtsreiche Kandidaten, wurden aber von der Wahlkommission Mitte Juli nicht zur Wahl zugelassen. Nach dieser massiv kritisierten Entscheidung wandelten sich die kleineren Märsche und Versammlungen zu Massenveranstaltungen für die einzige unabhängige Kandidatin, Swetlana Tichanowskaja, und ihre beiden Unterstützerinnen: Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa.
      Die Umfrage verdeutlicht zudem die Wichtigkeit der exzessiven Polizeigewalt für die Teilnahme an den Protesten. Menschen gingen verstärkt auf die Straße, weil sie von der Gewalt schockiert waren. In unserer Umfrage geben annähernd 80 Prozent der Protestierenden dies als Grund an. 

    2. 2. Wie geschlossen stehen die Belarussen hinter den Protesten, und wie hoch ist der Anteil derjenigen, die nach wie vor die Machthaber unterstützen?

      Die Einschätzung der Proteste ist vielfältig. Die Umfrage verdeutlicht jedoch, dass es die Protestbewegung nicht geschafft hat, die breite gesellschaftliche Frustration über das Regime hinter sich zu vereinen. 29 Prozent der von uns befragten Belarussen geben zwar an, dass sie vollständig mit den Protesten übereinstimmen. 20 Prozent sagen aber auch, dass sie dies überhaupt nicht tun. Weitere 19 Prozent sind unschlüssig und geben an, dass sie nicht wissen, wie sie auf diese Frage antworten sollen. Einigkeit gibt es hingegen darüber, dass die Proteste weiterhin gewaltfrei bleiben sollen. 
      Das Vertrauen in die Institutionen, nicht nur in den Präsidenten, war Ende 2020 ausgesprochen gering. Etwas mehr als 40 Prozent der von uns befragten Menschen haben gar kein Vertrauen, weitere 15 Prozent eher kein Vertrauen in den Präsidenten und 18 Prozent beantworten diese Frage nicht. Diese Zahlen sehen für andere staatliche Institutionen recht ähnlich aus. Man kann davon ausgehen, dass knapp 30 Prozent der Bevölkerung den Machthaber weiter unterstützen.

    3. 3. Lukaschenko genoss bei einer Mehrheit der Bevölkerung über viele Jahre großes Vertrauen. Warum war das so? 

      Der Rückhalt für den Präsidenten lässt sich aufgrund der unklaren Datenlage eigentlich nicht verlässlich ermitteln. Die ritualisierten Wahlsiege mit 80 Prozent bilden die öffentliche Meinung nicht ab. Aber auch die tatsächliche Beliebtheit der Oppositionskandidaten der vergangenen Jahrzehnte ist unklar. Größere Proteste folgten bereits auf frühere Präsidentschaftswahlen (2001, 2006 und insbesondere 2010) und sind ein Indiz dafür, dass die Unterstützung für den Staatsapparat seit einiger Zeit auf tönernen Füßen stand. 
      Durch eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche versuchte man, den Rückhalt für den Präsidenten sicherzustellen. Und das Regime hat eine gewisse Weitsicht im Umgang mit potentiellen Herausforderungen unter Beweis gestellt – früher als in Russland schikanierte Belarus unabhängige NGOs oder versuchte, jugendlichem Missmut durch eine loyale Jugendorganisation den Wind aus den Segeln zu nehmen.
      Darüber hinaus gab es keine glaubhafte und öffentlich wahrnehmbare politische Opposition – es fehlt an unabhängigen Parteien und bis 2020 auch an charismatischen Gegenkandidaten, die die weitgefächerte Frustration mit dem Präsidenten hinter sich vereinen konnten. Stattdessen konnte Lukaschenko vermeintliche Erfolge im wirtschaftlichen und sozialen Bereich auf seinem Konto verbuchen und mit einer Rhetorik der Stabilität und Warnungen vor Chaos Teile des Landes hinter sich vereinen.

    4. 4. Was hat dazu geführt, dass die Belarussen ihr Vertrauen in die Staatsführung verloren und sich letztlich von den staatlichen Institutionen entfremdet haben?

      Ein ganz wichtiger Katalysator, ein externer Schock für das System, war die gravierende Auswirkung der Covid-19-Pandemie und der gesellschaftliche Missmut, wie mit dieser umgegangen wurde. Eine von uns im Juni 2020 durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass knapp die Hälfte der jungen Menschen die offizielle Politik der Regierung, keinerlei Einschränkungen als Antwort auf die Pandemie einzuführen, ablehnten. Menschen verloren also bereits vor der Wahl massiv an Vertrauen in die Staatsmacht. Der Umgang mit Covid-19 verdeutlichte einem breiten Teil der Bevölkerung, dass sich der belarussische Gesellschaftsvertrag auflöste.
      Darüber hinaus ist die Situation 2020 besonders, da die Menschen in den Selbstorganisationsprojekten im Zuge der Pandemie bereits die gemeinsame Erfahrung der Mobilisierung machten und so vor der Wahl ein Gefühl dafür hatten, wie weit verbreitet der Missmut über den Amtsinhaber war. Bei früheren Wahlen dagegen konnten die Menschen durch die annähernd perfekte Kontrolle der Medien kaum einschätzen, wie die tatsächliche Stimmungslage war. Auch mit der rapiden Verbreitung der sozialen Medien hatte man 2020 jedoch ein anderes Gefühl für die gesellschaftliche Stimmung. Das erste vom Staat verkündete Ergebnis am 9. August 2020 stand dann in einem massiven Missverhältnis zu den eigenen Erwartungen. In unserer Umfrage geben 65 Prozent an, dass die Wahl ihrer Meinung nach gefälscht war.

    5. 5. Lässt sich etwas über eine Veränderung von gesellschaftlichen Werten im Zuge der Proteste sagen?

      Im Augenblick lässt sich beispielsweise feststellen, dass es ein neues Selbstbewusstsein dafür gibt, dass man eine belarussische Nation ist: Es hat sich eine Art gesellschaftliches „wir“ entwickelt. Durch die Proteste wurde dieses Gefühl sicherlich bestärkt; was sich besonders in dem symbolischen Kampf um die weiß-rot-weiße Fahne zeigt. Protestierende begreifen die Farben als Ausdruck belarussischer Identität, wohingegen der Amtsinhaber sie aus der Öffentlichkeit verbannen möchte und als faschistisches Symbol der Kollaboration diffamiert.
      Darüber hinaus sind Menschen, die an Protesten teilgenommen haben, eher pro-demokratisch eingestellt und haben eine Präferenz für marktwirtschaftliche Ideen, also wie beispielsweise Wettbewerb oder wirtschaftliche Chancengleichheit. 
      Von einem Wandel durch Proteste zu sprechen wäre jedoch verfrüht. Zudem bleibt es fraglich, wohin sich das gegenwärtige Momentum entwickelt. Die traumatisierende Erfahrung von Gewalt kann auch dazu führen, dass sich 2020 als Warnsignal in den Köpfen der Menschen verankert, was dann eher ein Hindernis für eine zukünftige Mobilisierung darstellt.

    6. 6. Es heißt ja immer, der Protest sei nicht geopolitisch ausgerichtet. Welche Rolle aber spielen die EU und Russland in der Haltung der Belarussen?

      Insbesondere junge Menschen wenden sich von Russland ab und Europa zu. Unsere Umfragen zeigen, dass in der Altersgruppe der 18–34-Jährigen mehr als die Hälfte der Meinung ist, dass engere Beziehungen mit der EU erstrebenswert sind, selbst wenn dadurch Beziehungen zu Russland leiden würden. In der allgemeinen Bevölkerung sind knapp 40 Prozent dieser Meinung. Protestteilnehmer sind besonders pro-europäisch eingestellt. Ein knappes Viertel der von uns Befragten hofft, dass die EU in Zukunft die Visavorschriften erleichtert.
      Gleichzeitig ist klar, dass die engen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Belarus und Russland fortbestehen bleiben sollen. Russisch ist die den öffentlichen und privaten Alltag dominierende Sprache, selbst wenn knapp 28 Prozent der Befragten angeben, dass sie gerne mehr Belarussisch sprechen würden. Darüber hinaus findet die Idee eines russisch-belarussischen Einheitsstaates kaum Unterstützung in der allgemeinen Bevölkerung – bei uns befürworten dies nur knapp sieben Prozent der Befragten.

    7. 7. Mit welchen Herausforderungen hat man zu kämpfen, wenn man eine Umfrage in einem autoritären Land und dazu unter schwierigen politischen Bedingungen durchführt?

      Bei einer solchen Umfrage gibt es praktische und inhaltliche Herausforderungen.
      Rein praktische Schwierigkeiten wurden durch Covid-19 verstärkt, denn mit der Pandemie ist es unmöglich geworden, persönliche (face-to-face) Umfragen durchzuführen. In Belarus kommt noch hinzu, dass Telefonate systematisch abgehört werden. Mit Telefonumfragen würde man die Teilnehmer also gefährden. In Folge der zunehmenden Repressionen seit Dezember 2020 bleiben online-Umfragen die einzige Möglichkeit, um an Daten zu gelangen. Diese haben den Vorteil, dass sie die Anonymität der Befragten schützen und somit auch kritische Fragen ermöglichen.
      Rein praktisch ist das größte Problem, dass man wenig Vergleichswerte und somit Orientierung für eigene Fragen hat. Darüber hinaus ist die Formulierung der Fragen in autoritären Kontexten kniffelig. Eigene Ideen können nicht direkt in eine Frage übertragen werden, da diese mitunter mit der Lebenswelt der Befragten nichts zu tun hat und man unmotivierte Antworten erhält. Schlussendlich gilt es in der Analyse, gerade in einem autoritären Kontext, ein besonderes Augenmerk auf die Option „möchte nicht antworten“ zu haben. Sie könnte ein Hinweis auf eine mögliche Selbstzensur sein.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Félix Krawatzek
    Veröffentlicht am 13.04.2021

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  • Bystro #22: Twitter gedrosselt – wie, warum, weshalb?

    Bystro #22: Twitter gedrosselt – wie, warum, weshalb?

    Anfang März hatte Putin vor den Gefahren des Internets gerade für Jugendliche gewarnt, die im Netz zum Suizid oder zur Teilnahme an illegalen Aktionen aufgefordert würden. Mit fast gleichlautender Begründung verlangsamte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor am 10. März plötzlich den Kurznachrichtendienst Twitter. Gleichzeitig lagen Seiten von staatlichen Institutionen lahm – viele fühlten sich an den Kampf von Roskomnadsor gegen Telegram 2018 erinnert.
    Was genau ist passiert? Warum ausgerechnet jetzt? Und ist das überhaupt legal?
    Ein Überblick von Meduza in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Was ist passiert? 

      Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat erklärt, dass sie vom 10. März an die Zugangsgeschwindigkeit zu Twitter in Russland verlangsamen wird. Erklärt wird das damit, dass das Soziale Netzwerk auf Bitten der Regulationsbehörde nicht reagiert, „rechtswidrigen Content“ zu entfernen: Aufrufe zum Selbstmord, extremistische Materialien, Kinderpornographie, Informationen zu Drogen et cetera.

      Roskomnadsor bestätigt, dass Twitter derartige Forderungen schon über viele Jahre ignoriert, genau genommen seit 2017. Wenn die Leitung des Kurznachrichtendienstes seinen Ansatz nicht ändert, würden „die Maßnahmen zur Einflussnahme erweitert“. Mit anderen Worten: Twitter könnte in Russland blockiert werden.

    2. 2. Entfernt Twitter das alles tatsächlich nicht?

      Twitter entfernt Inhalte, jedoch nicht in dem Umfang, wie Roskomnadsor das gern hätte. Laut dem letzten Transparency Report der Plattform, hat der Kurznachrichtendienst in der ersten Hälfte 2020 von russischen Staatsorganen 8949 Anfragen bekommen, Content unterschiedlichsten Inhalts zu entfernen. Dem ist Twitter in gut 20 Prozent der Fälle nachgekommen: 1437 Tweets wurden auf dem Gebiet Russlands gesperrt.

      Gegen 628 Accounts wurden gemäß der Nutzungsbedingungen des Sozialen Netzwerks Maßnahmen ergriffen – sei es, dass Content entfernt oder Accounts blockiert wurden. Twitter selbst legt jedoch nicht offen, was genau unternommen wurde.

      Roskomnadsor behauptet, seit 2017 über 28.000 Löschaufforderungen an Twitter geschickt zu haben, jedoch habe Twitter 3168 Materialien mit verbotenem Inhalt immer noch nicht entfernt.

    3. 3. Warum können sich Roskomnadsor und Twitter nicht einigen?

      Es gibt seit Langem Probleme zwischen Roskomnadsor und Twitter. Beispielsweise erfüllt Twitter nicht die gesetzliche Forderung, persönliche Daten russischer User auf Servern in Russland zu speichern. Dafür wurde das Soziale Netzwerk Anfang 2020 mit einer Geldstrafe von vier Millionen Rubel [damals etwa 56.000 Euro – dek]  belegt, was natürlich keinerlei Wirkung auf die Firmenleitung hatte.

      In den letzten Monaten fordert Roskomnadsor besonders eifrig, dass Soziale Netzwerke auf seine Bitte hin Inhalte entfernen. Dies ist vor allem auf die verstärkte Protestaktivität im Zusammenhang mit der Vergiftung, Rückkehr und Verhaftung Alexej Nawalnys zurückzuführen. Im Ordnungswidrigkeitengesetz stehen seit dem 30. Dezember 2020 denn auch „Sanktionen im Fall der Unterlassung von beschränkenden Maßnahmen beim Zugang zu Informationen, die einen Minderjährigen zur Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung, Kundgebung, Demonstration verleiten“. Twitter hat es bisher nicht eilig, diese neue Regel einzuhalten.

      Außerdem missfällt Roskomnadsor außerordentlich, wie Twitter Accounts mit prorussischer Propaganda blockiert. Ende Februar hat die Behörde Twitter zur Erklärungen aufgefordert wegen 100 gesperrter Accounts, die angeblich der russischen Trollfabrik gehören.

    4. 4. Ist die Verlangsamung des Zugriffs auf Twitter überhaupt legal?

      Das ist eine umstrittene Frage. In der aktuellen Gesetzgebung gibt es keine Regelung, die explizit eine mögliche Geschwindigkeitsdrosselung für Internetressourcen vorsieht, falls diese den Forderungen der Regierung nicht entsprechen, wie der Jurist und Partner des Zentrums für Digitalrechte Sarkis Dabrinjan gegenüber Meduza erklärt und die Direktorin des Instituts für Internetforschung Karen Kasarjan bestätigt.

      Nach Angaben beider Gesprächspartner von Meduza nutzt Roskomnadsor zur Begründung der Geschwindigkeitsbegrenzung für Twitter ein Schlupfloch im Gesetz über das souveräne Runet, das im November 2019 in Kraft getreten ist. Eine der gesetzlichen Bestimmungen besagt Folgendes: Das Zugänglichmachen von Informationen, die nach russischen Gesetzen einer Beschränkung unterliegen, gelte als „Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Internets auf dem Gebiet der Russischen Föderation“. Roskomnadsor muss diese „Gefahr“ in eine interne Liste aufnehmen und anschließend festlegen, wie man darauf reagiert, einschließlich konkreter Maßnahmen zur Beseitigung der „Gefahr“. Zu solchen Maßnahmen zählen die „Veränderung von Routen für Telekommunikationsmitteilungen“ und die „Veränderung der Konfiguration von Verbindungsmitteln“. 

      Das sind sehr schwammige Formulierungen, mit denen man quasi beliebige Handlungen im Telekommunikationswesen begründen kann, darunter eben auch die Verlangsamung von Zugriffsgeschwindigkeiten, da dafür tatsächlich die „Konfiguration der Verbindungsmittel“ verändert wird.

      Aber ob das Vorgehen von Roskomnadsor legal ist, lässt sich nicht eindeutig sagen, denn gesetzlich ist ein genaues Vorgehen festgelegt, und ob dieses eingehalten wurde, weiß man nicht.

    5. 5. Sollte Twitter vielleicht einfach gegen die Entscheidung von Roskomnadsor klagen?

      Die Plattform hat das Recht, sich an ein russisches Gericht zu wenden, um das Vorgehen von Roskomnadsor anzufechten. „Doch die Chancen, dass eine amerikanische Social-Media-Plattform im Haus- und Hofgericht von Roskomnadsor im Moskauer Taganski-Bezirk gewinnt, gehen gegen Null“, meint Sarkis Darbinjan.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Maria Kolomytschenko/Meduza
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 12.03.2021

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  • Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

    Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

    Minsk ist aktuell in ein rot-grünes Farben- und Flaggenmeer getaucht. Am morgigen Donnerstag, 11. Februar,  beginnt in der belarussischen Hauptstadt die Allbelarussische Volksversammlung (russ. Wsebelorusskoje narodnoje sobranije). Alexander Lukaschenko hat ein solches Forum schon Mitte August in Aussicht gestellt, als die Protestwelle nach dem 9. August 2020 ihren Höhepunkt erreichte. An zwei Tagen werden 2700 Delegierte über Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik debattieren. Angeblich sollen auch Vorschläge zur Verfassungsreform vorgestellt werden. Wie legitim ist diese Versammlung? Wer genau nimmt daran teil? Was hält die Opposition von der Veranstaltung? Ein Bystro von Ingo Petz in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Was genau ist die Allbelarussische Volksversammlung?

      Die Allbelarussische Volksversammlung wurde 1996 von Alexander Lukaschenko per Präsidialerlass ins Leben gerufen. Sie findet seitdem alle fünf Jahre statt. Die Delegierten, die aus allen Landesteilen stammen, sowie aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Bildungswesen oder Kirche, haben in der Vergangenheit vor allem wirtschaftliche Entwicklungsfragen debattiert. Dabei wurden auch Kernziele für die jeweils nächsten fünf Jahre festgelegt, was an die Fünfjahrespläne der Sowjetunion erinnert, wie auch die ganze Aufmachung und Ästhetik an Parteitage der KPdSU erinnert. Entsprechend bezichtigen Kritiker die Veranstaltung als „Theater“ oder „Show von Lukaschenko“. Vertreter des Machtapparats halten die Versammlung dagegen für ein „demokratisches Forum“. Man kann sagen, dass es für Lukaschenko in seiner Vorstellung als „Landesvater“ ein wichtiges Legitimationsinstrument seiner Macht ist.

    2. 2. Wie läuft die Auswahl der Delegierten?

      Der Präsidialerlass (ukas) Nummer 492, mit dem Lukaschenko am 28. Dezember 2020 die Organisation der Versammlung veranlasst hat, gibt vor, dass die Abgeordneten von den Bezirks- und Stadträten in den sechs Oblasts des Landes nominiert werden. Dabei sollen sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche abdecken. Jeder Oblast entsendet 310 Personen. Aus Minsk sollen nicht mehr als 370 Personen teilnehmen. Nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ist allerdings völlig unklar. Der Prozess an sich ist höchst intransparent. Er wird zudem von der Präsidialverwaltung geleitet, also dem Kontrollinstrument der Machtvertikalen. Auf Grund der Erfahrung in der Vergangenheit kann man sagen, dass die Versammlung fast ausschließlich mit Pro-Lukaschenko-Leuten besetzt wird. Bei vergangenen Versammlungen gab es immer wieder Versuche von Oppositionellen, eine Teilnahme durchzusetzen. So 2006: Als der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin Einlass begehrte, wurde er am Ort der Versammlung von der Miliz brutal zusammengeschlagen.

    3. 3. Wie verbindlich sind die Entscheidungen der Volksversammlung?

      Die Beschlüsse der Versammlung werden in Form von Resolutionen, also von Empfehlungen verfasst. Bedeutet: Es obliegt dem Ermessen von Lukaschenko, diese Empfehlungen an bestimmte Ausschüsse im Parlament oder an andere Gremien und Verwaltungsorgane weiterzugeben. Juristen wie Michail Kiriljuk halten die Versammlung grundsätzlich sogar für verfassungswidrig, weil sie als Organ oder Gremium in der Verfassung nicht erwähnt und eben nur über den Präsidialerlass geregelt sei. Auch deswegen sind Zweifel und Skepsis angebracht, ob die angekündigten Vorschläge zur Verfassungsreform – die eine Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung von Parlament und Regierung vorsehen sollen – je umgesetzt werden. Man kann aber auch annehmen, dass sie wohl kaum große Überraschungen liefern werden, in dem Sinne, dass man möglicherweise versucht, die Macht Lukaschenkos tatsächlich einzuhegen. 

    4. 4. Welchen Sinn hat die aktuelle Versammlung in Anbetracht der politischen Krise im Land?

      Gute Frage, über die man nur spekulieren kann. Die Versammlung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich das Land offensichtlich in einer tiefen Krise befindet. Allerdings kann man sagen, dass Lukaschenko wohl davon ausgeht, dass er die Proteste besiegt hat. Demzufolge dürfte die Versammlung eine Art Versuch sein, die aktuellen Machthaber – die allein durch ihr brutales Vorgehen eigentlich jegliche Legitimation verloren haben – weiter zu legitimieren und ihnen mit Hilfe einer Propagandashow den Rücken zu stärken. Was durchaus Sinn macht in der Logik Lukaschenkos, der sich für den einzigen potenten Garanten der belarussischen Souveränität hält. Auf der Versammlung werden wohl auch deshalb Leute wie Wadim Gigin sprechen. Er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und soziale Wissenschaften der Belarussischen staatlichen Universität. Ein rhetorisch versierter Redner und Vertreter des Systems Lukaschenko, der aber zumindest für Teile der Öffentlichkeit eine Art Scharnierfunktion einnimmt und nicht unbedingt als Hardliner gesehen wird. 

    5. 5. Was sagt die belarussische Opposition zu der Versammlung?

      Die Demokratiebewegung lehnt die Versammlung weitgehend ab. Franak Wetschorka, Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, beispielsweise hält das Gremium für einen „Festtag für Beamte und Komplizen des Regimes“, wo alle Probleme schon gelöst seien. Pawel Latuschko, der wie viele andere Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrates ins Ausland fliehen musste, hat angekündigt, alle Namen der „Marionettendelegierten“ identifizieren zu wollen, um sich bei der EU dafür einzusetzen, sie auf die aktuelle Sanktionsliste zu setzen. Ob es zu größeren Protesten während der Versammlung in Minsk kommt, darf allerdings bezweifelt werden, da die Hauptstadt aktuell einer von OMON und Miliz bewachten Festung gleicht. 



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Ingo Petz
    Stand: 10. Februar 2021

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  • Bystro #20: Russlandweite Proteste – wie nervös macht Nawalny den Kreml?

    Bystro #20: Russlandweite Proteste – wie nervös macht Nawalny den Kreml?

    Russlandweit sind am vergangenen Sonntag wieder tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um ihre Solidarität mit dem inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden. Bereits zuvor hatte es zahlreiche Festnahmen und Durchsuchungen gegeben, Mitarbeiter und Verbündete Nawalnys wurden teilweise unter Hausarrest gestellt, etwa sein Bruder Oleg Nawalny.
    Bei den Protesten am Sonntag schließlich kam es landesweit zu mehr als 5000 Festnahmen, wie die NGO OWD-Info berichtet. In Sozialen Netzwerken machten Bilder von Polizeigewalt die Runde, Spezialeinheiten setzten etwa Elektroschocker ein.
    Was treibt die Menschen auf die Straße? Weshalb die hohe Polizeigewalt? Und wie nervös ist der Kreml? Ein Bystro in fünf Fragen und Antworten von Jan Matti Dollbaum.

    1. 1. Derzeit registrieren wir die größten Proteste mindestens seit 2012. Woher kommt dieser Unmut? Sind das alles nur Nawalny-Befürworter? Oder ist der gemeinsame Nenner Protest gegen Putin?

      Nawalny ist in russischen Oppositionskreisen eine durchaus kontroverse Figur. Das ist zum einen seiner Neigung geschuldet, sich auf Social Media unerbittlich zu streiten – auch mit politisch Gleichgesinnten. Es liegt zum anderen auch an seinen politischen Positionen und Strategien, mit denen weder Linke noch Liberale durchgehend sympathisieren. Doch zurzeit sind solche Differenzen vorübergehend einer breiten Solidarität gewichen – angesichts des Giftanschlags und Nawalnys mutigen Entschlusses, nach Russland zurückzukehren, obwohl die Verhaftung drohte. Das heißt: Es sind nicht alle dort glühende Nawalny-Fans, aber die meisten sind erbost darüber, wie ihm mitgespielt wurde. Hinzu kommen mittlerweile auch Wut und Fassungslosigkeit darüber, wie die Polizei mit friedlichen Demonstranten umgeht. Und immer klarer spitzt sich der Protest auf Putin zu. Dazu trägt Nawalnys Film über Putins Palast sicher einen Teil bei – zumindest indem er denjenigen, die ohnehin an Putin zweifeln, weitere Argumente an die Hand gibt.

    2. 2. Es gibt zahlreiche Verhaftungen und Festnahmen, Strafverfahren, die eingeleitet werden. Wie nervös ist die Regierung?

      Den Verantwortlichen im Kreml wird dieser Tage oft Nervosität attestiert. Und tatsächlich sitzt Putin nicht mehr so fest im Sattel wie noch vor drei Jahren. Der Grund dafür sind aber nicht die Proteste selbst, sondern das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten. Solange es keine Aufrüstung und koordinierte Gewalt der Protestierenden gibt (und das ist nicht zu erwarten), würde der Sicherheitsapparat auch mit größeren Protesten locker fertig werden (Wasserwerfer wurden bislang noch nicht aufgefahren). Die Verhaftungen und Strafverfahren sind deshalb weniger ein Zeichen von Nervosität, sondern ein Teil der Abschreckungsbotschaft, die schon seit 2012 gilt und seitdem immer deutlicher gemacht wird: Wer politisch protestiert, muss mit Repression rechnen. Das Polizeiaufgebot und der Gewalteinsatz sind also nicht deshalb so hoch, weil der Kreml aktuell Massen erwartet, sondern um die Aussichtslosigkeit des Widerstands zu kommunizieren.

    3. 3. Wie ist vor diesem Hintergrund der Prozess gegen Alexej Nawalny zu bewerten, der für den morgigen Dienstag, 2. Februar, angesetzt ist?

      Die erneuten Proteste diesen Sonntag haben gezeigt, dass Nawalny ein größeres Mobilisierungspotential hat, als man es sich im Kreml eingestehen wollte: Trotz Verhaftungen und Strafverfahren seit vergangenem Wochenende gingen wieder Zehntausende auf die Straßen. Die Überlegungen im Kreml werden jetzt dahin gehen, wie dieses Potential am effektivsten auszubremsen ist: Lässt man Nawalny frei und hofft auf ein langsames Abflauen, riskiert aber, dass er jetzt die Opposition hinter sich vereinigt? Oder schickt man ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis, nimmt in Kauf, dass er zur Symbolfigur des Widerstands wird und weitere Proteste möglicherweise noch repressiver niedergeschlagen werden müssen? Die Entscheidung bleibt abzuwarten, doch die zweite Variante ist wahrscheinlicher.

    4. 4. Ende 2020 hat die Duma eine ganze Reihe schärferer Gesetze beschlossen, betroffen ist auch das Demonstrationsrecht. Es geht demnach um die Aufrechterhaltung der Sicherheit des öffentlichen Raums. Wie viel haben die Maßnahmen aber auch mit der Dumawahl 2021 zu tun?

      Bei Protesten geht es in Russland – wie auch anderswo – viel um die öffentliche Wirkung. Wenn man, wie der Kreml, politischen Protest diskreditieren will, dann hilft es, wenn man diesen Protest als „illegal“ bezeichnen kann. Auch ein harscher Polizeieinsatz lässt sich so leichter öffentlich rechtfertigen. Die Regeln zu verschärfen ergibt also schon allein aus dieser Perspektive heraus Sinn. Da es anlässlich der Lokalwahlen in Moskau schon zu großen Protesten kam, und auch jetzt wieder zahlreiche oppositionelle Kandidaten antreten (und wahrscheinlich nicht zugelassen) werden, ist auch diesmal mit Protest zu rechnen. Die Gesetze sind also sicher auch mit Blick auf die Wahlen erlassen worden.

    5. 5. Auch das sogenannte ausländische Agentengesetz wurde verschärft. Was sind da die wichtigsten Änderungen, und wie sind sie zu bewerten?

      Bereits seit 2019 kann das Justizministerium nicht nur Nichtregierungsorganisationen, sondern auch Medien auf die Liste ausländischer Agenten setzen. Im Februar 2020 kamen dann auch Einzelpersonen dazu, die öffentlich Informationen verbreiten und Geld aus dem Ausland erhalten. Die jetzigen Änderungen verschärfen dies noch einmal: Nun kann jede „politische Tätigkeit“ in Kombination mit ausländischer Geldquelle dazu führen, dass man auf der Liste landet. Was als politische Tätigkeit gilt, ist dabei höchst vage. Ein weiterer Trick: Die ausländische Finanzierung muss ab jetzt überhaupt nicht mehr mit der „politischen Tätigkeit“ in Zusammenhang stehen.
      Weitere wichtige Änderungen besagen, dass das Label Ausländischer Agent auch an Organisationen vergeben werden kann, die nicht offiziell registriert sind. Dies ist insbesondere deshalb brisant, weil zudem alle Medien verpflichtet sind, den Status jedesmal zu nennen, wenn sie öffentlich über einen sogenannten Ausländischen Agenten berichten.
      Es scheint also insgesamt, als hätte sich aus Sicht des Kreml das Gesetz, das 2012 erlassen wurde, bewährt.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Jan Matti Dollbaum
    Stand: 01. Februar 2021

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  • Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?

    Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?

    Journalisten in Belarus leben gefährlich. Vor allem seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 sind sie fast täglich staatlichen Repressionen ausgesetzt. Auch Festnahmen gehören zum Alltag. 

    Wie aber sieht die belarussische Medienlandschaft aus? Wie frei können Medien berichten? Woher beziehen die Menschen ihre Informationen? Und sprechen belarussische Medien immer nur po-russki? Ein Bystro von Ingo Petz in neun Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. Wie sieht die belarussische Medienlandschaft generell aus? 

      Die ist zumindest auf dem Papier recht breit gefächert. Das Fernsehen spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle, wird aber immer mehr von Internetmedien und seit vergangenem Jahr zunehmend von Messenger-Diensten abgelöst. Die Rolle von Radio und gedruckten Medien nimmt – wie in den meisten Ländern – deutlich ab. Die wichtige Unterscheidung für Belarus liegt darin, ob die Medien unabhängig oder staatlich sind. Dabei bedeutet staatlich nicht öffentlich-rechtlich. Das heißt: Gerade die wichtigsten TV-Sender oder -Unternehmen wie ONT, BT oder CTV gehören direkt dem Staat oder Holdings, an denen Ministerien oder andere staatliche Strukturen beteiligt sind. Diese Medien werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Präsidialverwaltung oder das Informationsministerium haben mitunter direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Redaktionen und vor allem auf die politische Berichterstattung, die in erster Linie für Propagandazwecke genutzt wird.

    2. 2. Gibt es überhaupt unabhängige Medien?

      Was heißt „unabhängig“? Natürlich gibt es privatwirtschaftlich finanzierte Medien – als Fernsehen, Radio, Zeitung oder Zeitschrift, und vor allem im Internet; nicht alle, aber viele davon sind auch inhaltlich unabhängig. Eine echte Unabhängigkeit ist in autoritären Staaten eh nur schwer umzusetzen, wenn bei heiklen Themen Gefängnis oder Geldstrafen drohen. Stichwort: Selbstzensur. Zudem arbeiten sogenannte oppositionelle Medien nicht unbedingt nach journalistischen Standards, sondern betreiben nicht selten eine Art Gegenpropaganda. Dennoch ist die kritische journalistische Berichterstattung in den vergangene Jahren deutlich professioneller geworden. Und das, obwohl die Medien einer restriktiven Registrierungsregelung unterliegen. Damit Medien arbeiten können, müssen sie sich nämlich beim Informationsministerium anmelden. Diese Registrierungspflicht ist ein mächtiger Kontrollmechanismus für die autoritäre Staatsführung. Unter den sogenannten (finanziell) unabhängigen Medien befinden sich aber vor allem TV-Unterhaltungsprogramme, kommerzielle Radiosender, Tierzeitschriften, Tourismusportale oder sonstige unverfängliche Formate. 

    3. 3. Aus welchen Medien holen sich die Belarussen ihre Informationen?

      Vor allem aus dem Fernsehen und aus dem Internet. Die ältere Generation guckt laut Umfragen immer noch sehr viel Fernsehen. Dabei sind die populärsten Informationskanäle ONT, RTR Belarus, Belarus 1, NTV Belarus, Belarus 2 oder CTV staatlich und somit Teil der offiziellen Propaganda. 60 bis 74 Prozent der Belarussen informieren sich Umfragen zufolge auch im Netz. Online haben die unabhängigen Medien eine wesentlich stärkere Präsenz als offline. Unter den Top Ten der wichtigsten Online-Informationsportale finden sich mit tut.by, Naviny, Belsat, CityDog und The Village Belarus vor allem kritische, journalistische Formate, zu deren Nutzern hauptsächlich jüngere und mittelalte Menschen gehören. Je jünger die Menschen also sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen, und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen. 

    4. 4. Welche Bedeutung haben die russischen Staatsmedien in Belarus?

      Zentrale Programme des russischen Staatsfernsehens sind in Belarus Teil des landesweit empfangbaren Fernsehens. Teilweise werden die Inhalte eins zu eins übernommen, teilweise für das belarussische Publikum anders zusammengestellt, wie bei den Sendern NTW und RTR Belarus. Der Sender ONT ist eine Art belarussisch-russisches Joint Venture, das Inhalte der russischen Sender Perwy Kanal oder Wremja nutzt. ONT und RTR Belarus gehören zu den reichweitenstärksten Kanälen des Landes: Damit finden die Sichtweisen des Kreml in Belarus eine weite Verbreitung. Die belarussischen Ableger der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty gehören zudem zu den meistgelesenen Zeitungen. Und Sputnik.by – Teil der gleichnamigen staatlichen russischen Nachrichtenagentur – ist  eines der populärsten Internetmedien in Belarus. Hinzu kommt die Kreml-Finanzierung von deutlich prorussischen Portalen im Internet. Russland hat also grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus.

    5. 5. Wie frei können unabhängige journalistische Medien arbeiten?

      Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen ist, hat er sofort damit begonnen, die unabhängige Presse an die Kandare zu nehmen. Zunächst wurden Zeitungen und Zeitschriften über findige Rechtswege verboten, Journalisten festgenommen und mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt. Die Zensur war indirekt: über fingierte Vorwürfe und Anklagen wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Die Methode wird auch aktuell angewandt: Wie beispielsweise bei der Initiative Press Club Belarus, deren führende Koordinatoren im Dezember 2020 aufgrund angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen wurden.
      Zudem gibt es mittlerweile sehr viele Gesetze, die nur den Sinn haben, die Arbeit von Journalisten und Medien zu behindern. Während der aktuellen Proteste sind Journalisten direktes Ziel von OMON und Spezialeinheiten: Seit August 2020 gab es fast 400 Festnahmen von Journalisten. Internetseiten werden blockiert und gestört, bei investigativen Beiträgen spricht das Informationsministerium Warnungen gegen Medien aus, was zur Schließung führen kann. Reporter ohne Grenzen führt Belarus auf Platz 153 im aktuellen Index für Pressefreiheit.

    6. 6. In welcher Sprache senden und veröffentlichen die Medien in Belarus?

      Überwiegend auf Russisch. Es gibt Medien, die beide Sprachen – also Russisch und Belarussisch – nutzen. Wie beispielsweise die unabhängige Zeitung Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), die älteste, noch als klassisches Druckerzeugnis erscheinende sogenannte Oppositionszeitung. Aber auch Internetmedien für ein jüngeres Publikum wie 34Mag, CityDog oder The Village Belarus nutzen dieses sprachliche Zwitterformat. Selbst die älteste belarussische Zeitung Nasha Niva, die allerdings nicht mehr als gedruckte Zeitung erscheint, veröffentlicht ausgewählte Beiträge seit ein paar Jahren auch in einer russischen Übersetzung. Nur der in Prag ansässige Sender Radio Svaboda, der von Geldern der US-Regierung finanziert wird, oder das Internetmedium Novy Chas publizieren auschließlich auf Belarussisch. Die Internetseite des in Warschau ansässigen Senders Belsat, den vor allem der polnische Steuerzahler finanziert, gibt es auf Russisch und auf Belarussisch. Im Fernsehen von Belsat sprechen zumindest Moderatoren nur Belarussisch; im belarussischen Staatsfernsehen wird fast durchgehend Russisch gesprochen, und im staatlichen Radio teilweise auch Belarussisch.

    7. 7. Welche Rolle spielen die jungen Nischenmedien im Internet? 

      Unabhängige Medien wie 34Mag, CityDog oder Kyky haben in den vergangenen 15 Jahren sowohl zur Diversifizierung und Professionalisierung des belarussischen Journalismus beigetragen als auch zu einer Professionalisierung des Medienmanagements. Das zeigt, dass man mit Nischenmedien auch unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen eine nachhaltige Entwicklung erreichen kann. Allein das Stadtmagazin CityDog hat pro Monat laut eigenen Angaben über 650.000 Nutzer. Hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Informationsaufbereitung darf man diese Medien nicht über-,  aber auch nicht unterschätzen: Schließlich liefern sie den Echo- und Reflexionsraum für die Selbstentfaltungs- und Freiheitssehnsucht junger Menschen, die autoritären Systemen grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Zudem zeigen diese Medien einen generellen Trend: Gerade im Internet sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche neue, auch lokale Medien entstanden, wie beispielsweise das Portal Hrodna.Life. Diese jungen Medien setzen auf eine enge regionale Bindung zu ihrem Publikum. 

    8. 8. Haben die aktuellen Proteste die belarussische Medienlandschaft und die Mediennutzung verändert?

      Infolge der Proteste, aber auch infolge der Coronakrise, die der belarussische Staat miserabel managt, lassen sich ein paar Trends ausmachen: Die staatlichen Medien haben Umfragen und Analysen zufolge grundsätzlich einen massiven Vertrauensverlust erlitten. Die Leute machen sich auf die Suche nach alternativen Informationsmöglichkeiten, vor allem im Internet, was den unabhängigen Informationsmedien und journalistischen Kanälen zugute kommt. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien nun gesellschaftspolitische Beiträge liefern. Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischen Niveau. Zudem scheint die in autoritären Systemen bei unabhängigen Journalisten stark verankerte Selbstzensur im Moment kaum noch eine große Rolle zu spielen.

    9. 9. Kann man in Bezug auf die Proteste von einer Telegram-Revolution sprechen?

      Der Messenger-Dienst Telegram spielt aufgrund seiner Verschlüsselungstechnik sicherlich eine sehr große Rolle bei den Ereignissen in Belarus, vergleichbar zu den sozialen Medien während des Arabischen Frühlings. Journalistische Medien betreiben längst alle ihre eigenen Telegram-Kanäle. Zudem findet man dort Kanäle von Initiativen, Organisationen oder Fachexperten, die der Informationsverbreitung und Meinungsbildung dienen. Vor allem für die visuelle Abbildung der Proteste und der Verbreitung von Videos hat der von Exil-Belarussen aus Polen betriebene Kanal Nexta eine gewaltige Bedeutung. Da ausländische Korrespondenten so gut wie gar nicht vor Ort sind, der Staat belarussischen Korrespondenten ausländischer Medien die Akkreditierung entzogen hat und die Arbeit vor Ort grundsätzlich schwierig ist, fehlen häufig visuelle Eindrücke. Vor allem diese Funktion übernimmt Nexta. Der Kanal hat über 1,7 Millionen Abonnenten. Insgesamt kann man sagen: Ohne Telegram wüssten die Belarussen und auch die Menschen in Westeuropa sicherlich wesentlich weniger über die Vorgänge in Belarus.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Ingo Petz
    Stand: 12. Januar 2021

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  • Bystro #18: Wie radikalisiert ist die tschetschenische Diaspora?

    Bystro #18: Wie radikalisiert ist die tschetschenische Diaspora?

    Nach den Attentaten von Dresden, Paris und Wien haben mehrere EU-Regierungschefs am 10. November beschlossen, härtere Maßnahmen gegen den islamistischen Terrorismus zu ergreifen. Im Zuge dieser Debatte rückt auch die tschetschenische Diaspora – der Pariser Attentäter hatte tschetschenische Wurzeln – wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit: Wie stark ist sie radikalisiert? Ein Bystro in sieben Fragen und Antworten von Marit Cremer.

    1. 1. Der Attentäter von Paris, der den Lehrer Samuel Paty enthauptete, war Tschetschene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht von einem hohen Gefährdungspotenzial durch Islamisten aus dem Nordkaukasus. Wie verbreitet ist Islamismus in der tschetschenischen Diaspora

      Die tschetschenische Community ist sehr heterogen – wie auch andere Migrantengruppen und fast jede Gesellschaft. Über ganz Deutschland verteilt leben etwa 40.000 bis 50.000 Menschen tschetschenischer Herkunft, ein Teil von ihnen ist inzwischen eingebürgert. Die meisten von ihnen sind gut integriert und unauffällig. Lediglich eine winzige Minderheit lässt sich dem islamistischen Spektrum zurechnen, laut Bundesamt für Verfassungsschutz lebte 2019 eine „mittlere dreistellige Zahl“ von Islamisten aus dem gesamten Nordkaukasus in Deutschland. Von den 735 sogenannten islamistischen Gefährdern hatten 2019 insgesamt 35 Personen die russische Staatsangehörigkeit. 

    2. 2. Sie sagten, die tschetschenische Diaspora sei sehr heterogen? Inwiefern, wie äußert sich das?

      Für die Heterogenität der tschetschenischen Community spielen sowohl die Zeitpunkte der Einwanderung als auch das Alter der Eingewanderten eine Rolle: Die ersten Geflüchteten Anfang der 2000er Jahre waren noch überwiegend sowjetisch sozialisiert, und Religion hatte oftmals eine untergeordnete Bedeutung für ihre Identität. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekam die Religion in Tschetschenien selbst eine immer stärkere Bedeutung, was sich auch an den Einstellungen späterer Einwanderer in Westeuropa zeigte. Dabei hat Religion oft nur deklarativen Charakter, das Wissen um die Religion ist häufig eher gering. Es sind tendenziell die Kinder der Eingewanderten, die sich intellektuell mit Religion auseinandersetzen und sich für oder gegen die Ausübung einer Glaubenspraxis entscheiden.

    3. 3. Wo findet die Radikalisierung statt, so sie denn überhaupt stattfindet – tatsächlich erst in der Diaspora oder bereits im Heimatland? 

      Insgesamt ist die tschetschenische Diaspora in ihrer Struktur und Entwicklung vergleichbar mit anderen Migrantengruppen aus traditionellen Gesellschaften. Die erste Generation kam vor allem im Erwachsenenalter nach Deutschland. Ihr gelingt die gesellschaftliche Teilhabe eher weniger, insbesondere haben diese Menschen häufig Probleme, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Zur zweiten Generation zählen Menschen, die nur wenige Lebensjahre in Tschetschenien verbracht haben und bereits in Deutschland sozialisiert wurden. Diese Kohorte findet sich oft wieder in der – für die Migrationsforschung klassischen – Auseinandersetzung mit Werten der Herkunfts- und denen der Aufnahmegesellschaft. Ein Teil dieser Kohorte distanziert sich weitgehend von den Werten der Herkunftskultur und lehnt insbesondere religiöse und gewohnheitsrechtliche (traditionelle) Gebote und Verbote ab, die sie als Eingriffe in ihre freien Entscheidungen empfindet. 

    4. 4. Aber es gibt auch Vertreter der zweiten Generation, die sich an traditionellen Werten orientieren?

      Ja. Ein Teil richtet seine Lebensführung ausdrücklich an den traditionellen Werten seiner Eltern und Großeltern aus, akzeptiert gleichzeitig aber die freiheitlich demokratische Grundordnung: Personen aus dieser Gruppe tolerieren beispielsweise voreheliche Partnerschaften ihrer Freunde, nehmen diese größeren Freiheiten für sich selbst jedoch nicht in Anspruch. 
      Ein anderer Teil dagegen versucht, es beiden Seiten – ihren traditionsbewussten Eltern und der westlich ausgerichteten Aufnahmegesellschaft – gleichermaßen recht zu machen. Dieser Anspruch ist aufreibend und birgt erhebliches Potential zu scheitern. 

    5. 5. Die Hinwendung zu einer radikalisierten Form des Islam ist also die Folge eines Wertekonflikts?

      Nicht zwangsläufig, aber in manchen Fällen führt der Wunsch, unbedingt zu beiden Seiten dazuzugehören und von beiden akzeptiert zu werden, zu der zweifelhaften Hinwendung zu einem dritten Wertesystem, das den anderen beiden übergeordnet wird. Tatsächlich manövrieren sich diese Menschen in ein weiteres Konfliktfeld hinein: Bis in die Perestroika-Zeit hinein bestand in der tschetschenischen Gesellschaft bei Auseinandersetzungen zwischen Personen ein Konsens über den Vorrang des Gewohnheitsrechts (Adat) vor dem islamischen Recht. Die Tschetschenienkriege haben diese Balance zerstört. Der Einfluss islamischer und islamistischer Strömungen aus dem arabischen Raum auf das Wertesystem der tschetschenischen Gesellschaft hat zu dessen Pluralisierung, aber auch zu Konkurrenz zwischen den Werteorientierungen geführt. Dabei kam es zu einem Kampf um die Deutungshoheit über die Frage, welches Wertesystem für alle Tschetschenen verbindlich sein sollte. Diese Auseinandersetzung wird bis heute mit harschen Mitteln in Tschetschenien geführt und spiegelt sich auch in der Diaspora wieder. Die Entscheidung für eine fundamentalistische Auslegung des Korans und eine daran anknüpfende Lebensführung erscheint dann als Ausweg aus dem konfliktbeladenen Zugehörigkeitsdilemma. Sie führt allerdings auch zu einem sozialen Ausschluss aus Teilen der tschetschenischen Community und der freiheitlich orientierten Mehrheitsgesellschaft. 

    6. 6. Was hindert manche Tschetschenen bei ihrer Integration in Westeuropa?

      Die meisten tschetschenischen Einwanderer sind gut integriert und sozial unauffällig. 
      Hinderlich bei der Integration können jedoch sowohl die Kriegserlebnisse sein als auch eine starke Orientierung an vorislamischen Traditionen und der Scharia, die zum Teil im Widerspruch zu den freiheitlichen Werten Europas stehen. Mitarbeiter*innen aus der Sozialarbeit beobachten ein hohes Gewaltpotential in tschetschenischen Familien. Eine Ursache hierfür dürfte in den unzureichend aufgearbeiteten Gewalterfahrungen seit Beginn des Ersten Tschetschenienkrieges liegen. Im Zusammenspiel mit Ohnmachtserfahrungen während des Asylverfahrens und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe entlädt sich diese Gewalt häufig an den Schwächsten in den Familien. 

      Angebote der Sozialarbeit werden nicht selten als Einmischung des Staates in private Angelegenheiten missverstanden. Viele nehmen außerdem die Fürsorgepflicht des Staates, insbesondere bei Kindeswohlgefährdung, als Angriff auf die tschetschenische Community insgesamt wahr. Problematisch für die Integration sind zudem die zumeist fehlende Akzeptanz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, des Rechtes auf Selbstbestimmung, mithin aller Bereiche, die individuelle Lebensentscheidungen betreffen. Hingegen besteht innerhalb der Community eine hohe soziale Kontrolle, die das Ausscheren aus dem tschetschenischen Wertekanon verhindern soll und im Fall der Abweichung zum sozialen Ausschluss aus der Community führen kann.

    7. 7. Was müsste von seiten der Aufnahmegesellschaften passieren, um die Integration zu verbessern?

      Als Hindernis für die Integration in die Europäische Union ist zuallererst das Asylsystem der EU zu nennen. Die sich oft über Jahre hinziehende Unklarheit über eine dauerhafte Perspektive im Aufnahmeland führt neben zunehmenden gesundheitlichen Belastungen zu erheblichen Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe und im ungünstigsten Fall zum Rückzug aus der Gesellschaft. Sich wiederholende negative Erfahrungen mit Behörden, einhergehend mit dem Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein, tragen zu einem distanzierten Verhältnis zu europäischen Werten bei.

      Häufig lässt sich an den Biographien der Kinder ablesen, wann die Familie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen hat: Ab diesem Zeitpunkt findet plötzlich ein erheblicher Schub in der Sprachentwicklung und Leistungsfähigkeit statt. 

      Eine Verbesserung der Situation muss deshalb zunächst bei den Asylverfahren ansetzen. Die ersten Jahre in Deutschland sind entscheidend für eine gelingende Integration und dürfen nicht mit dem Warten auf Handlungsmöglichkeiten vertan werden. Neben den bestehenden zahlreichen Unterstützungsangeboten des Staates und der Zivilgesellschaft braucht es zudem auch eine gute Aufklärung über die Strukturen und Funktionsweisen des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems. Damit können Irritationen und Missverständnisse, die leicht zu einer Distanz zur Aufnahmegesellschaft führen können, vermieden werden.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Marit Cremer
    Stand: 12.11.2020

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  • Bystro #17: Polizeigewalt – Wie entwickeln sich die Proteste in Chabarowsk?

    Bystro #17: Polizeigewalt – Wie entwickeln sich die Proteste in Chabarowsk?

    Am vergangenen Wochenende ist die Polizei deutlich brutaler als zuvor gegen die Demonstranten in Chabarowsk vorgegangen. Seit Juli gehen die Menschen in der Stadt im Fernen Osten Russlands auf die Straße, um gegen die Festnahme des örtlichen Gouverneurs zu protestieren. Was bedeutet die Polizeigewalt für den Protest: Heizt sie ihn an? Oder steht er vor dem Aus? Ein Bystro von Jan-Matti Dollbaum in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Die Polizei hielt sich lange zurück, nun kam es aber zu vermehrten Festnahmen. Warum gerade jetzt? 

      Es gab am vergangenen Samstag, dem 10. Oktober 2020, nicht nur 25 Festnahmen, die Polizei ging an diesem 92. Protesttag auch viel brutaler gegen die Demonstrierenden vor als zuvor. Es bewahrheitet sich damit, was viele Protestierende und Beobachter schon von Anfang an befürchtet haben: Sobald die Proteste kleiner werden, wird der verbliebene Teil der Demonstranten auseinandergetrieben. Dahinter kann die Überlegung stehen, dass, wenn ohnehin immer weniger Menschen auf die Straße gehen, dieser abnehmende Trend durch Repression noch verstärkt wird. Diese Erfahrung haben die Verantwortlichen zumindest bei den Bolotnaja-Protesten von 2011/12 schon einmal gemacht. Repression gegen eine so breit getragene Demonstration wie im Sommer dagegen, hätte die Wut vermutlich nur vergrößert (siehe Belarus im August). 

    2. 2. Werden die Proteste in anderen Teilen Russlands wahrgenommen? Und wenn ja: Wie werden sie wahrgenommen?

      In der öffentlichen Wahrnehmung waren die Proteste in Chabarowsk Teil einer wachsenden Zahl von Fällen, in denen BürgerInnen unermüdlich für Ihre Sache einstehen: gegen eine Mülldeponie in der Region Arсhangelsk im Jahr 2019, für die Anerkennung eines baschkirischen Berges als Naturdenkmal im September 2020 – und eben gegen die Verhaftung eines „Gouverneurs des Volkes“. Chabarowsk hat dabei noch eine besondere Stellung, weil es sich erstens um explizit politische Proteste handelt, und weil die Mobilisierung für russische Verhältnisse besonders stark und langanhaltend ist.
      Gerade aufgrund dieser Sonderstellung ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichen im Kreml dafür sorgen wollen, dass Chabarowsk nicht zum inspirierenden Vorbild wird, sondern zu einem weiteren Beispiel dafür, dass Protest, zumal politischer, in Russland zu nichts führt.

    3. 3. Die Proteste in Chabarowsk gehen in den vierten Monat. Wie sehen sie aktuell aus? 

      Angesichts der totalen Blockadehaltung der Behörden ist es erstaunlich, dass die Proteste so lange angehalten haben. Zudem gibt es auch weiterhin (meist kleine) Solidaritätskundgebungen im ganzen Land. Doch die Zahl der Protestierenden ist über die Zeit stark zurückgegangen: Während im Juli noch Zehntausende auf die Straße gingen, waren es bei den letzten Protesten im Oktober nur noch einige Hundert. Am 10. Oktober versuchten einige Protestierende, ein Protestcamp zu errichten, wurden aber von der Spezialeinheit OMON auseinandergetrieben. 

      Zugleich haben sich die Protest-Themen über die Zeit erweitert und verändert. Im August etwa kam es zu Solidaritätsbekundungen mit Belarus, einige Protestierende forderten den Rücktritt Alexander Lukaschenkos. Auch die Vergiftung von Alexej Nawalny fand Ausdruck in Losungen wie „Ljoscha, bleib am Leben“. Die Proteste ordnen sich also in die großen überregionalen Ereignisse ein und richten sich auch immer wieder direkt gegen Putin. Der Fokus bleibt aber auf Furgal selbst.

      Insgesamt scheint es allerdings zurzeit, dass die Mischung aus weitgehendem Ignorieren und erst spät angewandter Repression ein weiteres Mal ihre Wirkung zeigt und die Proteste langsam abklingen.

    4. 4. Was treibt die Protestierenden an? 

      Die Menschen protestieren, weil mit Sergej Furgal ein von der Mehrheit gewählter Kandidat, der sich überraschend gegen den Kandidaten der Regierungspartei durchgesetzt hatte, nach noch nicht einmal zwei Jahren aus dem Amt entfernt wurde. Viele hatten Furgal zu schätzen gelernt, andere fühlen sich einfach um ihre Stimme betrogen. Furgal gehört nicht der Regierungspartei an, sondern der LDPR. Die kremlloyale LDPR hat sich allerdings bei den Protesten von Anfang an zurückgehalten. Das hat sich, wie erwartet, nicht geändert. Und auch sonst sind Organisationen nicht dominant: Das Regionalbüro von Alexej Nawalny berichtet über die Proteste auf Twitter, aber die Proteste sind weiterhin eher von horizontalen, spontanen Organisationsformen gekennzeichnet.

    5. 5. Im Juli wurde Gouverneur Furgal festgenommen, was die Proteste ausgelöst hatte. Was ist der aktuelle Stand in seinem Verfahren?

      Sergej Furgal befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, die kürzlich bis zum 9. Dezember 2020 verlängert wurde. Die Angehörigen der beiden Mordopfer haben unterdessen Furgal auf 1,5 Milliarden Rubel (etwa 16,5 Millionen Euro) Schadenersatz verklagt. In der Zwischenzeit ist außerdem – neben den Ermittlungen zu zwei Auftragsmorden – auch das im Jahr 2004 eingestellte Verfahren wegen eines weiteren versuchten Mordes wieder aufgenommen worden. Wenn das Verfahren tatsächlich politisch motiviert ist, dann statuieren diese Schritte ein Exempel: Straßenproteste, und seien sie noch so stark, können die Behörden nicht dazu zwingen, Entscheidungen von hoher politischer Wichtigkeit zu revidieren. Im Fall Furgal kann es sein, dass er aus dem Amt gedrängt werden sollte, weil er zu unabhängig oder zu beliebt wurde.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Jan Matti Dollbaum
    Stand: 13.10.2020

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    Foto © Furfur/wikimedia unter CC BY-SA 4.0
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    1. 1. Der EU-Außenbeauftragte Borell warnte vor äußerer Einmischung in den Konflikt in Bergkarabach. Welche Rolle spielen äußere Mächte dabei – und welche Mächte sind das?

      Die wichtigste Rolle in der Region spielt Russland, dies seit dem Ende der Sowjetunion. Als sich Armenien und Aserbaidschan zu Beginn der 1990er Jahre bekämpften, bestimmten russische Truppen, aber auch Vermittlungsbemühungen aus Moskau den Ausgang des Krieges mit. Die russische Führung betrachtet bis heute die Region Südkaukasus als vorgelagerte Sicherheitszone und ist zugleich Schutzmacht für Armenien. Durch den ungelösten Konflikt kann sie Einfluss ausüben, will allerdings auch keinen offenen Krieg, bei dem sie die Kontrolle verlieren könnte. So bemüht sich Russland auch um gute Beziehungen zu Aserbaidschan, an das es zum Beispiel Waffen verkauft.

    2. 2. Inwiefern heizt die Türkei den Konflikt an?

      Mit Rücksicht auf Russland hielt sich die Türkei bislang in der Region zurück. Seit diesem Jahr aber engagiert sie sich stark auf Seiten des turksprachigen „Bruderstaates“ Aserbaidschan. Präsident Recep Tayyip Erdogan positionierte sich nicht nur verbal gegen Armenien, er unterstützt Aserbaidschan auch in großem Umfang militärisch und gerät damit indirekt in Konfrontation mit Russland. Zurückhaltender zeigt sich bislang der südliche Nachbar Iran, der gute Beziehungen zu Armenien pflegt.

    3. 3. Tragen demnach hier auch Russland und die Türkei einen Konflikt miteinander aus?

      Die macht- und militärstrategischen Interessen beider Staaten widersprechen sich, und alte Rivalitäten gewinnen derzeit wieder die Oberhand. In Syrien und Libyen unterstützen sie gegnerische Kräfte. Auch im Schwarzen Meer kommen sie sich durch die russische Aufrüstung der Krim und der weiteren Region immer näher. Mit dem Engagement für Aserbaidschan bedient Erdogan wiederum revanchistische und nationalistische Ansprüche, die er in den vergangenen Jahren bei seinen Anhängern geschürt hat. Bislang vermieden die Türkei und Russland aber eine direkte Konfrontation, indem Erdogan und Putin immer wieder Arrangements eingingen.

    4. 4. Was ist mit den USA und der EU?

      Die EU ist neben den USA der größte Geldgeber für demokratische und zivilgesellschaftliche Projekte sowie Wirtschaftsförderung im Südkaukasus. Bei der Lösung des Konflikts verweist die EU allerdings auf die Minsk-Gruppe der OSZE, die seit dem Waffenstillstand 1994 einen dauerhaften Kompromiss auszuhandeln versucht. In der Führung der Minsk-Gruppe ist als EU-Staat Frankreich vertreten, dies neben Russland und den USA.
       
      Die USA haben ihr Engagement in den vergangenen vier Jahren erheblich reduziert. Die Regierung von Präsident Donald Trump konzentrierte sich darauf, Druck auszuüben, damit dem südlichen Nachbarn Iran sämtliche Wege für wirtschaftliche und finanzielle Aktivitäten über Armenien und Aserbaidschan verschlossen werden. Aufgrund der Gegnerschaft zum Iran sind die USA, aber auch Israel, an guten Beziehungen zu Aserbaidschan interessiert.

    5. 5. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Kämpfe in einen Krieg ausarten – was ja auch nicht im Interesse Russlands sein kann?

      Seit Beginn der Gefechte am 27. September entwickelt sich das Geschehen sehr dynamisch. Die Kämpfe finden entlang der gesamten Frontlinie statt und greifen stellenweise auf Gebiete außerhalb Bergkarabachs über. Neben weitreichenden Geschützen, Panzern, Drohnen und Kampfhubschraubern kommen inzwischen offenbar auch Kampfjets zum Einsatz. Auch wenn die Zahlen kaum überprüfbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Zahl der militärischen und zivilen Opfer schon nach wenigen Tagen höher ist als beim letzten großen Ausbruch der Kämpfe 2016. Dauern die Gefechte unvermindert und länger als eine Woche an und greifen sie weiter aus, muss von einem offenen Krieg gesprochen werden. 

      Bislang signalisiert die aserbaidschanische Führung keine Bereitschaft zu einem Ende der Kämpfe, motiviert auch durch die Unterstützung der Türkei. Armenien, das den Status Quo aufrechterhalten will, fordert internationale Vermittlung, die zu einem Ende der Gefechte führen soll. Russland hält sich bislang auffallend zurück, auch wenn es im Rahmen der Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit (OVKS) eine Beistandsklausel für Armenien gibt – nicht aber für das Territorium von Bergkarabach.

    6. 6. Wie begann der Konflikt um Bergkarabach überhaupt?

      Die Ursachen des Konfliktes gehen weit zurück. Gebietsansprüche beider Seiten aufgrund historischer Grenzverläufe und Ereignisse im Südkaukasus widersprechen sich weitgehend. Spannungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern führten bereits 1905/06 und 1918/19 zu Massakern mit mehreren tausend Toten. Im Zuge der Eroberung der Region durch die Sowjetunion wurde Bergkarabach Aserbaidschan zugeschlagen – mit dem Status eines autonomen Gebietes. Wiederholten Bitten der armenischen Mehrheitsbevölkerung um Anschluss an die SSR Armenien kam die Zentralregierung in Moskau nicht nach. Als die staatlichen und politischen Strukturen der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre immer schwächer wurden, trat die armenische Nationalbewegung immer offener und fordernder auf und wurde zur Triebkraft der Opposition. Die zunehmenden Spannungen führten erneut zu massiver Gewalt zwischen beiden Volksgruppen mit zahlreichen Toten, was schließlich in den Krieg zu Beginn der 1990er Jahre mit mehr als 30.000 Toten und hunderttausenden Vertriebenen führte.

    7. 7. Weshalb ist es so schwer, diesen Konflikt zu lösen?

      Die internationalen Bemühungen der Minsk-Gruppe um eine dauerhafte Lösung des Konflikts seit 1994 führten mehrfach zu Kompromissvorschlägen, die jedoch jeweils in den Bevölkerungen beider Staaten keine ausreichende Unterstützung fanden. Ein Grund dafür ist die Intransparenz bei der Aushandlung der Regelungen. 
      Hinzukommt, dass die Führungen beider Staaten in den vergangenen 30 Jahren den Konflikt auch immer wieder dazu nutzten, um von innenpolitischen Problemen abzulenken und Widerspruch zu verhindern mit dem Hinweis darauf, dass eine Schwächung der nationalen Einheit dem Gegner helfen würde.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Silvia Stöber
    Stand: 30.09.2020

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  • Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Wird der Kreml das schwächer werdende Lukaschenko-Regime stabilisieren, oder eher auf einen neuen Kandidaten seines Vertrauens setzen? Ist es denkbar, dass Moskau in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine? Was sind überhaupt Russlands Interessen in Belarus, und was denken die Menschen übereinander? Ein Bystro von Astrid Sahm in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    3. 1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?


     

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    Der Kreml ist wie viele andere Akteure von den aktuellen Entwicklungen in Belarus überrascht worden. Ein Sieg Alexander Lukaschenkos bei der Präsidentschaftswahl am 9. August galt in Moskau stets als sicher. Dementsprechend gratulierte Wladimir Putin Lukaschenko bereits einen Tag später zu seiner Wiederwahl. Auf die wachsende gesellschaftliche Protestbewegung und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten reagierte der Kreml zunächst zurückhaltend. Dies änderte sich erst am vergangenen Wochenende. Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Lukaschenko zeigte sich nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen; 2. Moskau sieht seine geopolitischen Ansprüche seit der Verlautbarung von Vermittlungsangeboten aus Lettland, Litauen und Polen bedroht. Der Kreml verwahrt sich daher gegen jegliche Einmischung durch die EU oder die USA in Belarus. Nur wenn seine geopolitischen Interessen gewahrt blieben und kein innenpolitischer Fallout droht, könnte der Kreml einem Machtwechsel in Belarus zustimmen. Ein vorsichtiger Hinweis auf eine Kompromisssuche ist, dass Russlands Außenminister Lawrow am 19. August die belarussischen Wahlen als „nicht ideal“ bezeichnete und die Bereitschaft der Staatsführung zum Dialog mit ihren Bürgern hervorhob.


    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    Dies sehe ich anders. In Moskau ist man schon lange unzufrieden mit der Politik des belarussischen Präsidenten. Alexander Lukaschenko wollte sich bei den diesjährigen Wahlen als Garant der belarussischen Souveränität präsentieren. Bereits während der Covid-19-Pandemie, auf welche die Staatsführungen beider Länder ganz unterschiedlich reagierten, äußerte sich Lukaschenko kritisch über russische Einmischungsversuche. Auch im Wahlkampf gab es etliche russlandkritische Äußerungen. Der Höhepunkt war die offensichtlich inszenierte Verhaftung von 33 Söldnern der russischen Sicherheitsfirma Wagner in einem Sanatorium bei Minsk. Allerdings schloss Lukaschenko den Kreml explizit aus dem Vorwurf aus, russische Akteure würden versuchen, die Lage in Belarus zu destabilisieren. Der Kreml hielt sich daher mit Kommentaren zurück. 
    Die Annahme war, dass Lukaschenko aus der Präsidentschaftswahl so geschwächt hervorgehen würde, dass er gezwungen wäre, die russischen Integrationspläne zu akzeptieren. Stattdessen sieht sich der Kreml nun mit dem Risiko konfrontiert, die Kontrolle über Belarus zu verlieren. Hält sich Lukaschenkо an der Macht, kann er Moskau zwar nicht länger mit einer Westwende drohen. Allerdings dürfte dies antirussische Stimmungen in der belarussischen Gesellschaft stärken. 
    Im Falle eines Machttransfers ist unsicher, ob der Kreml einen Kandidaten seines Vertrauens lancieren kann. Zudem würde nach innen das Scheitern seiner bisherigen Belarus-Politik offensichtlich, da erneut eine „Revolution“ in der Nachbarschaft nicht verhindert werden konnte. Moskau steht daher vor einem Dilemma.


    3.1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    Der Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Verfassung, Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht und einen Rechnungshof vor. Vor dem Hintergrund der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte die bilaterale Integration jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Erst Ende 2018 wurden die Pläne zum Aufbau des Unionsstaats überraschenderweise vom Kreml wieder aus der Schublade geholt. Im Laufe des Jahres 2019 verhandelten beide Seiten über 30 Integrationsfahrpläne. Besonders umstritten war die Roadmap Nr. 31, die die Gründung von supranationalen Organen vorsah. Aus diesem Grund wurde die für Dezember 2019 geplante Unterzeichnung des Integrationspakets verschoben. Allgemein wird angenommen, dass dem Kreml an der Bildung supranationaler Organe vor allem deshalb gelegen war, um eine Option für eine Führungsrolle Putins über 2024 hinaus zu haben. Diese Notwendigkeit ist nun entfallen mit der russischen Verfassungsänderung, die unter anderem eine Aufhebung der Amtszeitbegrenzung für Wladimir Putin vorsieht. Ein Integrationserfolg mit Belarus hätte zudem keinen derartigen Effekt für Putins Popularität wie die Krim-Annexion, die ein nationalpatriotisches Stimmungshoch auslöste. 


    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    Die meisten Russen haben ein positives Bild von Belarus und hegen keine Zweifel an den engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies gilt auch für den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den einer Umfrage vom Juli 2020 zufolge immerhin noch 52 Prozent der Befragten positiv bewerteten. Es gibt keine relevanten belastenden Ereignisse in der Vergangenheit, die konfliktfördernd wirken könnten, und in Belarus befinden sich keine Orte, die von besonderer mythischer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis Russlands sind. Und so wird ein Zusammenschluss beider Staaten mit einer gemeinsamen Staatsführung nur von einer Minderheit gewünscht. Allerdings würden eine eventuelle Westwende von Belarus und ein Austritt des Landes aus den bestehenden Integrationsformaten mit Russland äußerst negativ wahrgenommen werden. Insgesamt sind die politischen Entwicklungen in beiden Ländern eng miteinander verwoben. Dies gilt auch für die politische Opposition. So berichteten der YouTube-Kanal von Alexej Nawalny und der unabhängige Fernsehkanal Doshd stundenlang über die Ereignisse in Belarus. Auch die Demonstranten in Chabarowsk brachten ihre Solidarität mit der belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck. Insgesamt fragen sich in Russland viele Menschen, ob sie in Belarus derzeit die mögliche Entwicklung des eigenen Lands bei den Präsidentschaftswahlen 2024 beobachten können.    


    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    Die engen Beziehungen beider Länder stehen auch in Belarus nicht zur Disposition. Allerdings ist die Unterstützung der Belarussen für eine enge politische Integration beider Staaten in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig. Dem belarussischen Soziologen Andrej Wardomatzki zufolge ist die Unterstützung für die Union von Belarus und Russland im Laufe des Jahres 2019 von 60,4 auf 40,4 Prozent gesunken. Anfang 2020 befürworteten nur 12,8 Prozent einen gemeinsamen Staat, während sich eine deutliche Mehrheit (74,6 Prozent) für freundschaftliche Beziehungen von zwei unabhängigen Staaten mit offenen Grenzen, das heißt ohne Visa- und Zollschranken, aussprach. 
    Die aktuelle Protestbewegung konzentriert sich ausschließlich auf innenpolitische Fragen. Sie ist in erster Linie gegen Präsident Lukaschenko gerichtet, der infolge seiner Verharmlosung der Covid-19-Pandemie einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat. Ihre zentrale Forderung ist die Umsetzung des Rechts auf freie und faire Wahlen. Der vereinigte Wahlkampfstab der Alternativkandidatin Swetlana Tichanowskaja betont in seinen öffentlichen Statements zudem stets, dass sie keine grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses von Belarus und gleichermaßen gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstreben. Hierzu steht auch die Verwendung der Weiß-Rot-Weißen Flagge durch die Opposition nicht im Widerspruch.    


    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?

    Eine offene Intervention wäre für Russland mit hohen Kosten verbunden. So müsste der Kreml dann auch die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus übernehmen, was angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in Russland eine hohe Belastung wäre. Zudem müsste der Kreml in diesem Falle mit Widerstand aus der belarussischen Gesellschaft sowie mit neuen westlichen Sanktionen rechnen. Damit würde er sich international weiter isolieren. Wahrscheinlicher sind daher verdeckte Versuche der Einflussnahme. Damit könnten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. So hat die belarussische Liberal-Demokratische Partei am 18. August zur Bildung eines Koordinationskomitees der „Volkspatriotischen Bewegung“ aufgerufen. Diese ist offensichtlich als Gegenbewegung zu den aktuellen Protesten gedacht und soll diese neutralisieren helfen. Hinter den Kulissen dürfte der Kreml nach geeigneten Personen und Wegen suchen, um einen geordneten Machttransfer im eigenen Sinne zu gewährleisten. Mit seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen über die akute Gefahr einer westlichen Einmischung in Belarus und dem Vorwurf an den Koordinationsrat der Opposition, antirussische Ziele zu verfolgen, setzt Alexander Lukaschenko den Kreml allerdings unter Handlungsdruck. Eine weitere Eskalation, die zu einer direkten Intervention Russlands führt, kann daher nicht ausgeschlossen werden.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Astrid Sahm
    Veröffentlicht am 21.08.2020

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