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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #8

    Bilder vom Krieg #8

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Anastasia Taylor-Lind

    Anna Dedowa, 75, am Grab ihres Sohnes, der sich versehentlich mit einer Handgranate getötet hat, die er in der Nähe seines Hauses in Optyne, einem Dorf in der Region Donezk, gefunden hatte. Dieser Besuch am Grab im Jahr 2019, der von einem dort ansässigen Aktivisten organisiert wurde, ist ein seltenes Ereignis für sie. Denn der Friedhof liegt zwischen Awdijiwka und Donezk und ist wegen der Kämpfe und Landminen kaum zugänglich. Opytne, Juli 2019 / Foto © Anastasia Taylor-Lind

    Anastasia Taylor-Lind
    „Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“

    [bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität.
    Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.

    Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.

    Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.

    Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.

    Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.

    Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.

    Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.

    Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von  Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen. 

    Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“

    I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.

    I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023.
    Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military.  
    This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself. 

    I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.

    As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. 
    I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.

    Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. 
    There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.

    Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]

    ANASTASIA TAYLOR-LIND

    ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann. 

    BÜCHER UND AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
    UPCOMING  – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, London (ab 07.02.2023)
    ONGOING – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, Manchester (14.10.22-02.01.23)
    2022 – One Language [Gedichtband]
    2014 – MAIDAN – Portraits from the Black Square 

    PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.


    Foto: Anastasia Taylor-Lind
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Textprotokoll: dekoder-Redaktion
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder
    Veröffentlicht am 20.10.2022

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    Bilder vom Krieg #7

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Julia Kochetova

    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022
    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022

    JULIA KOCHETOVA
    „Der Krieg hat ein konkretes Gesicht. Es kann nicht allgemein sein“

    [bilingbox]Ich war auf dem Weg in den Donbas, als ich auf Telegram von Explosionen in Winnyzja las. Ich rief meine Mutter an und sie sagte: „Alle Fenster sind zersprungen.“ Das war einer der dunkelsten Tage meines Lebens und eines der schwierigsten Gespräche. 27 Menschen auf dem Platz wurden von einer russischen Kalibr-Rakete getötet. Darunter waren drei Kinder.

    Wir fuhren neun Stunden, um aus Winnyzja zu berichten, und am Morgen nach dem Einschlag machte ich dieses Bild. Ich habe es zwei Meter vom Haus meiner Eltern entfernt aufgenommen. Das Auto hatte direkt daneben in der Wynnytschenka-Straße geparkt.

    Es war ein „close call“, wie wir Reporter zu sagen pflegen. Buchstäblich von zu Hause zu berichten – das ist keine leichte Aufgabe. Vielleicht empfindet ein Chirurg etwas Ähnliches, wenn er einen Verwandten operiert. Man muss in etwas hineinschneiden, das man liebt. 

    Das Ukraine-Länderkennzeichen inmitten lilafarbener Glassplitter im Auto – das erinnert an das, was wir als Nation empfinden: Tod, Ruinen, Zerstörung, Kämpfe, Verluste und Siege. Doch nichts konnte mein Land auslöschen. Selbst, wenn der Krieg so nah ist, selbst wenn er zu nah ist.

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein – ich glaube nicht an Kunst ohne einen Autor oder eine Autorin, die dahinter steht; und ich glaube nicht an Kunst ohne Politik. Ich berichte als Ukrainerin aus der Kriegszone und das zeichnet mich aus: Mein Bild ist ein Foto, aufgenommen von dem Mädchen aus diesem Hof, neben dem vier Raketen heruntergekommen sind. Es kann nicht außerhalb meiner persönlichen Erfahrung liegen, es kann nicht gleichgültig sein, nicht nicht-subjektiv.

    Meine Kriegserfahrung ähnelt der Kriegserfahrung meines Landes. Ich habe erst von der Revolution berichtet, weil meine Kamera meine stärkste Waffe ist. Dann begann Russland seinen hybriden Krieg auf der Krim – ich habe über die Annexion berichtet. Dann marschierte Russland in den Donbas ein – ich begann darüber zu berichten. Russlands nächste offene Invasion folgte, und acht Jahre später packe ich wieder Objektive und Verbandspäckchen. Dazu gehören der Verlust mir nahestehender Personen, Kollegen, posttraumatische Zustände, wir sagen „bis bald“ ohne die Sicherheit, dass wir uns lebendig wiedersehen.

    Ich bin ein offener Mensch und teile intime Dinge – denn ich glaube, dass der Krieg ein konkretes Gesicht hat. Es kann nicht allgemein sein. Hinter Zahlen wie „10 Millionen Geflüchtete, 9000 in Kampf getötete ukrainische Soldaten, 383 getötete Kinder, 742 Verletzte“ stehen konkrete Menschen und ihre Geschichten. Du darfst die Geschichten der Menschen erzählen, die Grenze dessen, was du zeigen darfst, hängt davon ab, wer du bist.

    Meinen Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt

    Ich habe erlebt, dass sich Reporter in der Ukraine (meistens Ausländer) unangemessen verhielten, ohne Respekt meinem Volk gegenüber, was zu zusätzlichen Traumatisierungen führt – da kann ich nur schreien. Im Krieg musst du Schmerz und Tod respektvoll begegnen, speziell, wenn du die Erlaubnis hast, Zeuge zu sein und es zu zeigen.

    Kunst muss immer laut sein. Vor allem dann, wenn das Artilleriefeuer so laut ist.

    Nein, ich bin nicht interessiert und glaube nicht an Brücken zu Russland. Ich würde mir wünschen, diese Frage bliebe auf Jahrzehnte irrelevant, und Raschismus, koloniale Politik und die von den Russen begangenen Kriegsverbrechen würden jegliche Wege in die zivilisierte Welt kappen. Wir kämpfen und sterben für unsere Freiheit und auch für die der übrigen Welt.

    Früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen

    Mein Leben hat sich stark verändert – früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen. Das Motiv ist ein anderes, die Umstände, der Rhythmus und ich persönlich auch – ich war reich beschenkt und habe seit 2014 aufgrund des Krieges viel verloren. Meine Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt.

    Bedaure ich etwas? Nein, niemals, das ist mein Weg, das ist der Weg meines Landes und fotografieren und beschreiben sollten ihn Stimmen von hier. Ich bin froh, dass ich meine noch habe.~~~I was on the road to Donbas when I read about explosions in Vynnytsia on Telegram. I called my mom and she said: “All the windows are shattered“. One of the darkest days I had so far and one of the toughest talks. 27 people were killed on the square cause of the Russian “Kalibr” missile. Among them – 3 kids. We drove 9 hours to report from Vinnytsya and I took this picture the next morning after the hit. 

    This picture was made 2 meters from my parent’s home. The car was parked next to it on Vynnychenka Street.
    It was a “close call”, as we usually say among reporters. To report literally from your homeplace – it’s not an easy task. Maybe a surgeon feels something close to that while operating on a relative. You literally need to cut something you love. 

    This “UA” sign in a mess of violet glass fragments inside the car – reminds what we experience as a nation – death, ruins, destruction, fights, losses and victories – but nothing could erase my country. Even when war is so close, even when it’s too close. 

    As a photographer, you should stay sharp and honest – I don’t believe in art without the author behind it, and I don’t believe in the art without policy. I’m reporting from the war zone as a Ukrainian, and it highlights me. My picture is a photo made by the girl from this yard, next to which four missiles have fallen. It can’t be outside of my personal experience, it can’t be indifferent, and non-subjective. 

    My war experience is similar to the war experience of my country. I was covering revolution, cause my camera was the strongest weapon I have. Then Russia started the hybrid war in Crimea – I was covering the annexation. Then Russia invaded in Donbas – I started to report. Russia invaded openly again and 8 years after I’m packing my lenses and IFAK again.  All inclusive, unfortunately – losing the closest, colleagues, dealing with post-trauma, saying “see you later” without confidence that you will meet again alive. 

    I’m an open person and share intimate things – cause I believe that war has an exact face. It can’t be general, behind numbers – “10 millions refugees”, “9 thousands Ukrainian soldiers killed in action”, “383 kids killed, 742 wounded” – behind that – exact people and their stories. You are allowed to tell people’s stories, the boundaries depend on who you are. 
    I faced inappropriate behavior of reporters in Ukraine (mostly, foreigners), with additional traumatization and zero respect for my people – that’s something that I jelling about. In war, you should be respectful for pain and death, especially if you are allowed to witness it and share.

    Art should always stay loud. Especially if the artillery duel is so loud.

    No, I’m not interested and don’t believe in any bridges like that with Russia. I wish this question would be not relevant for decades and Rashism, colonial policy and war crimes committed by Russians cut any possible paths to the civilized world. We are fighting and dying for our freedom and for this world as well. 


    My life has changed a lot – I’ve photographed portraits before, and now I’m photographing funerals.
    The object has changed, the circumstances, the rhythm, and me personally – I was gifted and lost a lot because of this war since 2014. My vision and professional path are shaped via war. Do I have any regrets? No, never, that’s my way, that’s the way of my country and it should be written and photographed by a local voice. 
    I’m glad to still have mine.[/bilingbox]

    JULIA KOCHETOVA

    geboren 1993 in Winnyzja, aufgewachsen in Kyjiw, arbeitet als Fotojournalistin und Dokumentarfilmerin. Sie hat Journalismus in Kyjiw studiert und war Teilnehmerin der IDFAcademy (Niederlande).
    Seit dem 24. Februar 2022 führt sie auf Instagram ein visuelles Tagebuch, „weil ich wirklich ans Geschichtenerzählen aus erster Hand glaube“.
     
    AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
     
    2022 – Gruppenausstellung URGENCY! Ukraine, Bronx Documentary Center, New York, USA
    2022 – Gruppenausstellung The Captured House, Brüssel, Berlin, Amsterdam, Paris, Rom
    2020 – Civilians, Veteran Hub, Kyjiw, Ukraine
    2019 – Femm in East, Invogue Art, Odessa, Ukraine
    2016 – 2017 Gruppenausstellung RAW: A History of Changes in Ukrainians and in the Ukrainian Armed Forces, Kyjiw, Paris, New York
    2015 – Gruppenausstellung Ukraine 24. War&Peace, Los Angeles, New York
    2015 – Gruppenausstellung Conflict zone: Ukraine, Chicago, USA
    2014 – Gruppenausstellung Maidan, Kyjiw, Ukraine
    2014 – Gruppenausstellung Together we are Ukraine, Washington DC, USA
    2014 – Gruppenausstellung Ukrainian Crisis, London, UK
     
    BÜCHER
     
    2017 – Voice of War
    2017 – RAW. Story of changes of Ukrainians and army, kuratiert von Yaroslav Hrytsak and Donald Weber

    PUBLIKATIONEN in internationalen Medien, darunter Vice News, Der Spiegel, Zeit, Bloomberg, Vanity Fair.
     


    Foto: ​​Julia Kochetova
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 16.09.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

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    Bilder vom Krieg #6

  • Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #6

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lisa Bukreyeva

     

    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva
    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva

     

    Lisa Bukreyeva
    „Krieg ändert alles“

    [bilingbox]Krieg ändert alles. Er berührt alles, was du gewohnt bist und kennst. Die Stadt ändert sich, als würden ihr Zähne wachsen. Ich habe mein ganzes Leben in Kyjiw gelebt, doch hat es niemals so desolat und aggressiv gewirkt. Viele Kontrollposten, Gräben, Panzersperren und Sandsäcke. Überall. Ich spürte, dass Kyjiw bereit war zum Kampf.

    Krieg ist die schrecklichste Erscheinungsform des Menschseins. Kein Film, kein Buch, kein Foto kann den Schrecken dessen vermitteln, was da geschieht. Selbst ein Mensch, der es erlebt, ist sich nicht des gesamten Schmerzes bewusst, denn es ist unmöglich, damit zu leben. Doch ich denke, eine Künstlerin kann und sollte darüber sprechen, meine Arbeit ist dokumentarisch, aber auch emotional.
    Gleichzeitig denke ich, dass Fotografie Herzen berühren kann. Haben Sie Fotos aus Butscha oder Mariupol oder Asowstal gesehen? Jedes Mal, wenn ich die Namen dieser Städte ausspreche, habe ich diese Bilder vor Augen. Brauchen wir ein solches Foto? Ganz, ganz sicher. Das Mindeste, was es schafft: Es fängt ein, wie fragil die Menschlichkeit ist.

    In jedem Fall ist Fotografie subjektiv. Wir können diesen Krieg auf einer politischen Ebene gewinnen, doch wir werden ihn nie in den Köpfen der Russen gewinnen. Sie werden weiter nach einem Genozid lechzen. Daher ist eine Brücke zwischen unseren Kulturen unmöglich. Und es gab nie eine. Die Ukrainer sind immer zu dieser Freundschaft gezwungen worden, unsere Identität und Kultur wurden dabei ausradiert.

    Seit Beginn von Russlands Großinvasion bin ich in Kyjiw. Und bin immer noch hier. Ich glaube, meine Erfahrung gleicht der anderer Ukrainer. Es ist ein grenzenloser Schmerz und Schrecken. Die Zeit steht still. Es ist immer noch der 24. Februar, der 25. Februar beginnt erst, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.

    Es ist auch nicht einfach zu fotografieren, denn hinter jedem Einschussloch in einer Mauer, einem Zaun oder einem Fenster verbirgt sich Tragik. Dann triffst du Menschen, die die Besatzung überlebt haben, du unterhältst dich mit ihnen, und in ihren Augen spiegelt sich der gesamte Horror dessen, was sie durchgemacht haben.~~~War changes everything. It touches absolutely everything you are used to. The city is changing, it’s like his teeth are growing. I’ve lived my whole life in Kyiv, but he’s never looked so desolate and aggressive. Many checkpoints, trenches, anti-tank hedgehogs and sandbags. They were literally everywhere. It felt like Kyiv was ready to fight.

    War is the most terrible manifestation of humanity. No film, book or photograph can convey the horror of what is happening. Even the person living in it is not fully aware of all this pain, because it is impossible to live with it. But I think an artist can and should talk about it, and my work is documentary, but it’s also emotional. 
    At the same time I believe that the photograph is capable of breaking hearts. Have you seen pictures from Bucha or Mariupol, Azovstal? Every time I say the names of these cities I have before my eyes these shots. Do we need such a photo? Absolutely sure. At the very least, it encapsulates how fragile humanity is. 

    In any case, photography is subjective. We can win this war at the political level, but we will never win it in the minds of the Russians. They will still be hungry for genocide. So no bridges between our cultures are possible. And they never existed. Ukrainians have always been forced into this friendship, while erasing our identity and culture. 

    Since the beginning of Russia’s full-scale invasion, I have been in Kiev. And I’m still here. I think my experience is similar to other Ukrainians. It’s endless pain and horror. Time has stopped for us, we still have the 24th of February, and the 25th will come when the last Russian soldier leaves our land.

    It’s not easy to take pictures either, because behind every bullet hole in the fence or window is tragedy. Then you meet the people who survived the occupation, you talk to them, and all the horror they’ve been through is reflected in their eyes.[/bilingbox]

    LISA BUKREYEVA

    geboren 1993, lebt und arbeitet seit 2019 als Fotografin in Kyjiw

    AUSZEICHNUNGEN

    2021 Italian Street Photography festival |finalist
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL | Gewinnerin der Kategorie Street Art Photo 
    2021 PEP New Talents | shortlist
    2022 Baku Street Photography festival 

    AUSSTELLUNGEN 

    2022 Nulid Gallery, Island
    2022 PEP, Kommunale Galerie, Berlin
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL
    2020 ICP Concerned, New York, USA
    2019 Kyiv Photo Fair, Ukraine

    VERÖFFENTLICHUNGEN u. a. in The New York Magazine, Der Spiegel, Die Zeit, Blind, Bird In Flight u.v.m.

    BÜCHER

    2021 ICP Concerned. Global Images for Global Crisis
    2021 Ukraine XYZ


    Foto: ​​Lisa Bukreyeva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 27.07.2022

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #5

  • Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #5

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Igor Chekachkov

    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov
    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov

    IGOR CHEKACHKOV
    „Was macht das Gefühl von Zuhause aus – und was passiert, wenn man dieses Gefühl verliert?“ 

    [bilingbox]Als russland [sic!] die Ukraine überfiel, war ich gezwungen, meine Heimatstadt Charkiw zu verlassen. Ich bin nach Lwiw gegangen und habe ziemlich bald damit begonnen, das Leben der vertriebenen Menschen zu dokumentieren. Das Thema interessiert mich, weil ich jetzt selbst ein Vertriebener bin. Und indem ich Menschen fotografiere, die ihr Zuhause verlassen haben, hinterfrage ich auch meine eigene Position und meine Gefühle.

    Dieses Foto habe ich in einem Wohnheim aufgenommen, in dem Vertriebene leben. Marina, Kostja und Wlad sind Freunde aus Kyjiw. Sie haben gemeinsam Film studiert und sind zu Beginn der Invasion nach Lwiw gezogen. Jetzt leben sie zusammen in einem kleinen Zimmer in einem Wohnheim.

    Vor etwa zehn Jahren habe ich in Charkiw an der Fotoserie Daily Lives gearbeitet, die zeigt, wie Menschen zusammenleben und sich gemeinsame Räume teilen. Diese Serie setze ich heute in einem ganz anderen Kontext fort – ich dokumentiere, wie Menschen, die gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, in Notunterkünften zusammenleben. Als ich Charkiw gerade verlassen hatte, lebte ich in einem Haus in der Nähe von Lwiw mit etwa 20 anderen Vertriebenen zusammen. Dann zog ich an einen anderen Ort, und wir waren nur noch zu sechst. Diese Erfahrung machte mich neugierig darauf, wie andere Vertriebene zusammenleben.

    Ich versuche, die Grenzen der Dokumentarfotografie zu erweitern und neue Formen der Darstellung des Krieges zu finden. Dokumentar- und Pressefotografen leisten eine großartige Arbeit, aber es gibt viele von ihnen auf der ganzen Welt. Deshalb möchte ich experimentieren und mich auf persönlichere Themen konzentrieren. Ich habe das Gefühl, dass ich noch mehr Zeit brauche, um darüber nachzudenken, was gerade passiert, was ich damit machen kann und was dabei die Rolle des Fotografen ist. 

    Mit meiner Fotografie frage ich, was das Gefühl von Zuhause, von Heimat ausmacht und was passiert, wenn Menschen dieses Gefühl verlieren. Wie Werte sich wandeln, wenn wir mit etwas so Schrecklichem konfrontiert sind, wie sich unsere Persönlichkeit verändert. Das sind die Fragen, die ich mir selbst stelle, und auch den Menschen, die ich fotografiere.

    Kann Kunst eine Brücke bauen zwischen der Ukraine und russland? Ich hatte immer das Gefühl, dass Kunst der beste Weg ist, um Brücken zwischen Kulturen zu bauen, aber jetzt bin ich nicht mehr so optimistisch. russland hat so viele Dinge getan, um Hass in ukrainischen Herzen zu säen, und die Ukrainer werden für eine ganze Weile keine Brücken zu russland bauen wollen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen, solange russland weiterhin die Ukraine angreift. Die Menschen, die uns angegriffen haben, sind von der Kunst nicht berührt; die, die es doch sind, würden nicht in ein anderes Land einfallen. Deswegen denke ich, dass wir Künstler nicht viel tun können. Die Kunstwerke werden nie von Kreml-Politikern oder russischen Soldaten gesehen werden. Aber ich hoffe, dass Kunst – und Fotografie im Besonderen – helfen kann, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern.~~~When russia invaded Ukraine, I was forced to leave my hometown Kharkiv to western Ukraine. I’ve settled down in Lviv and shortly I started documenting displaced people. I am interested in this subject because now I am a displaced person myself, and by photographing people who left their homes I am also questioning my position and my feelings.

    This photograph was taken in the dorm, which is inhabited by displaced people. Marina, Kostya and Vlad are friends from Kyiv. They were studying cinematography together and moved to Lviv at the beginning of the invasion. Now they live together in a small room in the dorm. 

    About 10 years ago I was working on a “Daily Lives” series in Kharkiv, depicting how people live together and share common spaces. Now I continue this series in a very different context — I document how people who were forced to leave their homes and live together in shelters. When I just left Kharkiv I was living in a house not far from Lviv with about 20 other displaced. Then I moved to another place and there were just six of us. This experience made me interested in how other displaced people live together.

    I am trying to push the boundaries of documentary photography and searching for new forms of depicting the war. Documentary and news photographers are doing a great job, but there are plenty of them from all over the world and that’s why I want to experiment and focus on more personal topics. I feel that I still need more time to reflect on what is going on, what I can do with it and what is the role of the photographer now. 

    With my photography I am questioning what is the feeling of home and what happens when people lose it. How values change when we face something so dreadful and how it changes our personality. These are the questions I ask myself, as well as the people I photograph. 

    Can art build bridges between Ukraine and russia? I always felt that art is the best way to build bridges between cultures, but now I am not so optimistic. russia did so many things to plant hate in Ukrainians hearts and Ukrainians will not want to build bridges with russia for quite a while. At least I can’t imagine this happening while russia continues to attack Ukraine. People, who attacked us, are not touched by art; the ones who are will not invade another country. This is why I don’t think we (artists) can do much. The work of art will never be seen by Kremlin politicians or russian soldiers. But I hope that art, and photography in particular, can help to prevent this kind of disaster in the future.[/bilingbox]

    IGOR CHEKACHKOV

    1989 in Charkiw/Ukraine geboren. Begann 2008 zunächst als Fotojournalist zu arbeiten und fand schließlich zur Arbeit als künstlerischer Fotograf. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Maison de la Photographie, Lille
    2021 – Interphoto Festival, Białystok
    2021 – Mystetskyi Arsenal, Kyjiw
    2019 – Dongsung Market Art Project in Daegu/Südkorea
    2019 – Einzelausstellung während des Hybrid-Kunstfestivals, Madrid
    2019 – CEPA Gallery, Buffalo, New York
    2018 – EEP Berlin
    2017 – Fotofestival Odessa/Batumi

    PUBLIKATIONEN
    u.a. in British Journal of Photography, Bird in Flight, P3 uvm.


    Foto: Igor Chekachkov
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: dekoder
    Veröffentlicht am 13.07.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

  • Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #4

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber

    Links: eine leere russische Munitionskiste und zerstörtes Kriegsgerät in Butscha/Ukraine, Juni 2022
    Rechts: Oleksandra, 21, kurz vor der Ausgangssperre in Lwiw/Ukraine, Juni 2022
    © Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber

    Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber
    „Verschiedene Perspektiven erzählen“

    Am Abend, an dem wir Oleksandra in Lwiw treffen, ist die Stadt voller Menschen. Lautes Grölen schallt durch die Gassen. Das Grau ist dem Grün der Bäume gewichen. Und die Wintermäntel den kurzen Kleidern. Seit unserem letzten Aufenthalt in der Ukraine sind zwei Monate vergangen. Die sonnigen Tage lassen den Krieg abseits der Front jetzt noch surrealer erscheinen. In Lwiw haben die Cafés geöffnet und Alkohol darf wieder ausgeschenkt werden – zumindest bis 21 Uhr. Drei Gruppen von Männern in Camouflage und gelben Armbinden patrouillieren durch die Straßen. Sie gehören der Territorialverteidigung an, die überall im Land eingesetzt wird, auch um die eigenen Bürger*innen zu kontrollieren.
    Die Stimmung ist ausgelassen, aber die ersten Bars machen schon zu. Um 23 Uhr fängt die Ausgangssperre an. Oleksandra sitzt lässig auf dem linken Bein ihres Kumpels Wolodymyr. „Wir sind kein Paar“, sagt er „sie ist lesbisch. Wenn meine Freundin uns so sehen würde, wäre sie trotzdem ganz schön eifersüchtig.“ Die junge Frau schaut auf ihren Kumpel herunter und zieht eine Augenbraue hoch. „Danke fürs Outing,“ sagt sie, und fängt an zu erzählen:

    „Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, mein Vater will nicht, dass meine Mutter arbeiten geht. Seit der Krieg angefangen hat, ist die Situation sehr angespannt. Mein Vater hat Angst, mobilisiert zu werden. Und wir alle haben Angst davor, wie viele Familien sind wir von seinem Einkommen abhängig. In der Ukraine sagt man: „Sprich nicht öffentlich über Probleme in der Familie.“ Und „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ Auch von meiner Mutter höre ich diese Sprüche.
    Leider ist die Ukraine ein sehr konservatives Land. Die meisten Menschen sind religiös und die Rechte von Frauen und LGBT Personen sind eingeschränkt. Ich höre so oft – in meinem Job, in der Uni, im privaten Umfeld: „Du bist nur ein Mädchen, du bist nicht stark genug.“ Aber was ich momentan erlebe ist das Gegenteil. Die Frauen sind viel stärker als die Männer. Viele Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie kämpfen würden, wenn es sein müsste. Ich würde es auch tun. Auch wenn die Gefahr für uns Frauen von überall ausgehen kann. Eine Soldatin, die an der Front gekämpft hat, wurde von ihren Kameraden vergewaltigt. Als sie darüber mit dem Kommandeur der Truppe geredet hat, sagte er zu ihr, sie müsse gehen. Wenn sie so über die Soldaten rede, würde sie die ukrainische Armee beschämen. Der Vorfall dürfe in der Kriegssituation nicht öffentlich gemacht werden. Sie sprach trotzdem darüber. Und wurde nach Hause geschickt. Der Mann, der sie vergewaltigte, ist weiterhin in der Truppe.
    Der schlimmste Satz derzeit ist: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Ich höre ihn ständig, wenn ich mich über die Situation von Frauen und LGBT Personen aufrege. Vor dem Krieg war es schon schlimm genug, aber jetzt ist es noch schlimmer, weil gar keine Kritik mehr erlaubt ist. Wenn ich mich darüber aufrege, wie Frauen beim Militär behandelt werden, beschimpfen mich alle – Männer und Frauen. Sie sagen zu mir: „Was willst du mit diesem Feminismus, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Du fällst deinen Leuten in den Rücken, du musst die Armee unterstützen! Warum machst du die Soldaten schlecht? Warum konzentrierst du dich so sehr auf EINE vergewaltigte Frau?“ Ich sage ihnen, das ist nicht die einzige Frau, die vergewaltigt wurde. Es ist nur die erste, die sich bis jetzt getraut hat an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich kenne viele Frauen in der Armee. Alle haben Angst vergewaltigt zu werden.“

    Wir haben den ganzen März und drei Wochen im Juni gemeinsam in der Ukraine gearbeitet. Von Anfang an war es uns wichtig nicht nur Fotos zu zeigen, sondern auch den Geschichten der Menschen Raum zu geben, um die Situation in der Ukraine fernab des schnellen, tagesaktuellen Journalismus zu dokumentieren und dabei verschiedene Perspektiven zu erzählen. Auch, um die Vielschichtigkeit dieses Krieges aufzuzeigen, beschäftigen wir uns in unserer Arbeit vor allem mit Einzelschicksalen und persönlichen Geschichten. Dabei merken wir, dass viele Menschen über bestimmte Themen im Moment nicht sprechen wollen, weil sie Angst haben, dass ihre Kritik missverstanden werden könnte. Oleksandra ist eine der Wenigen, die sich traut, das offen anzusprechen.

    Jedem Portrait geht ein langes Gespräch voraus. Dabei wechseln wir uns ab, wer aufschreibt und wer fotografiert. Mit vielen Protagonist*innen sind wir in ständigem Kontakt und bei unserem zweiten Besuch im Juni haben wir einige wieder getroffen, Freundschaften sind entstanden. Wir erleben, wie sich die Stimmung der Menschen verändert, und ergänzen so unseren Blick von außen mit einem Blick von innen.

     

    HELENA LEA MANHARTSBERGER
    geboren 1987 in Innsbruck, lebt in Wien
    Studium Internationale Entwicklung an der Uni Wien, Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der HS Hannover und am DMJX in Aarhus, Fotografie am ISI Jogjakarta, Indonesien. Global Challenges and Sustainable Developments an der Angewandten in Wien und der Tongji University, Shanghai.
    Freie Foto- und Videojournalistin, Mitarbeiterin beim Verein ipsum und Teil des Selbstlaut Kollektivs.

    AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt Haus, Berlin
    2021 – sex work – lock down, Einzelausstellung, Reich für die Insel, Innsbruck
    2021 – VGH Fotopreis, Finalist, GAF Eisfabrik, Hannover
    2021 – Portraits Hellerau, Technische Sammlung Dresden
    2021 – Fotofestiwal Łódź, Polen
    2020 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover
    2020 – Athens Photo Festival, Benaki Museum, Griechenland
    2020 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 
    2019 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 
     
    2022 – RLB Kunstpreis
    2021 – Hellerau Portraits Award
    2021 – VGH Fotopreis (finalist)
    2020 – Digital Storytelling Award, LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus
    2020 – Bird in Flight Price (finalist)

    PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern Crime, Financial Times, Dummy, BBC 
     

    LAILA SIEBER
    geboren 1989 in Freiburg, Deutschland
    Studium der Audiovisuellen Medien an der Hochschule der Medien Stuttgart und Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover, sowie an der KASK School of Arts in Gent, Belgien.
    Freie Foto- und Videojournalistin, Mitbegründerin des Fotomagazins BLUME und visuelle Künstlerin. 

    AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
    2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt-Haus, Berlin
    2021 – Award of Excellence in CPOY 76 Spot News
    2019 – On poetry and what remains, Jaleh Galerie, Teheran, Iran (Einzelausstellung)
    2019 – Visa pour l’image, Perpignan, Frankreich
    2018 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover

    PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Al Jazeera, Süddeutsche Zeitung



    Fotos und Text: Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 28.06.2022
     

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

  • Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #3

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ​​Jędrzej Nowicki

    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki
    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki

    ​​Jędrzej Nowicki
    „Ein Funken Licht, selbst in dunkelsten Zeiten“

    [bilingbox]Das Foto mit Glassplittern vor einem stark zerstörten Wohnblock im Bezirk Saltiwka in Charkiw hat mir wieder einmal gezeigt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einen Funken Licht gibt. Das Bild ist vom 19. März 2022. Charkiw befand sich damals mitten in einer brutalen Belagerung, und Saltiwka – einer der größten Schlafbezirke der Stadt – lag direkt an der Front. Tausende Bewohner von Charkiw lebten nur noch unter der Erde, die humanitäre Krise spitzte sich zu. Es war sehr bewegend und herzzerreißend, die zweitgrößte ukrainische Stadt zu dieser Zeit zu sehen. 

    Fast zwei Monate später fuhr ich wieder dorthin. Die russischen Truppen waren zurückgedrängt worden, Menschen kehrten zu den Ruinen ihrer Häuser zurück, das Leben normalisierte sich wieder. Es ist eine neue Normalität, doch war sie nicht von Dauer. Während ich diesen Text schreibe, steht Charkiw unter schwerem Beschuss – niemand weiß, was das bedeutet. Ist es einfach eine Mahnung der Russen, dass sie noch da sind, oder wollen sie vielleicht einen zweiten Totalangriff auf Charkiw starten? Also fahre ich wieder mit Helm und kugelsicherer Weste durch die Stadt. Erkundige mich ständig bei Einheimischen nach den sichersten Routen und Stadtteilen, wo es weniger gefährlich ist zu arbeiten.

    Kein einziges Leben wird zurückkommen, und es wird Jahrzehnte brauchen, bis dort wieder eine friedliche Region entstehen kann. Genau wie mein geliebtes Warschau Jahrzehnte brauchte, nachdem es vor 80 Jahren in Ruinen verwandelt wurde. Heute blüht der Flieder wieder und die Luft flirrt in den endlosen Sommernächten. Eine Stadt, die überlebt hat.

    Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, immer Licht im Dunkel zu finden, treibt mich an als Fotograf und fasziniert mich als Mensch.~~~This photograph of shattered glass laying in front of a heavily damaged block in the Saltivka district of Kharkiv reminded me that even in the darkest times there always is a glimpse of light. The picture was taken on the 19th of March. Kharkiv was back then in the middle of a brutal siege and the Saltivka district – biggest dormitory suburb of the city – was its very frontline. Thousands of Kharkiv’s residents moved to live underground and humanitarian crisis was a pressing issue. To see Ukraine’s second-largest city at that time was a moving and rather heartbreaking experience. I decided to revisit Kharkiv after nearly 2 months. Russian troops had been pushed back, people started coming to their ruined houses, life was getting normal back again. New normality it is though and it is not given forever. As I’m writing this text now Kharkiv is being heavily shelled – no one knows what this might mean. Whether it’s just a reminder from Russians that they’re still there or maybe they will attempt to prepare a second full-scale attack on Kharkiv? So again I find myself driving around the city in a helmet and vest. Constantly checking with locals safest routes and neighbourhoods where it is relatively safe to work. 
    No lives will be returned and rebuilding a peaceful region will take decades.  

    As it took decades for my beloved city of Warsaw – turned into ruins some 80 years ago now blooming with lilac, with the air vibrating with the noise of endless summer nights. The city that survived. 
    This deeply humane ability to always find light in darkness is what drives me as a photographer and fascinates me as a human being.[/bilingbox]

     

    JĘDRZEJ NOWICKI

    geboren 1995, lebt in Warschau/Polen
    Er ist ein Dokumentarfotograf mit Fokus auf Osteuropa und bislang vor allem auf Belarus. Er hat auch im Nahen Osten und in Afrika gearbeitet.


    AUSSTELLUNGEN, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2021 – World Report Award
    2021 – Luis Valtuena Award
    2019 – Ian Parry Scholarship


    PUBLIKATIONEN
    Le Monde, Die Zeit, Newsweek, The Guardian, The Wall Street Journal  uvm.


    Foto: ​​Jędrzej Nowicki
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 02.06.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

  • Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #2

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Robin Hinsch

    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch
    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch

    ROBIN HINSCH
    „Auf diesem Parkplatz könnten auch wir stehen“

    Ich bereise die Ukraine seit 2010. In meiner Serie Kowitsch untersuche ich, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. Ich fand und finde die Ukraine allein deshalb interessant, weil sie peripher und zentral zugleich ist und schon immer war. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion gab ein Ringen um Einfluss auf das Land, ob nun aus Ost oder West. Dieser Zustand der Identitätsfindung oder des – im etwas überspitzen Sinne – nation building ist, was mich an der Ukraine interessiert. 

    Als ich Anfang März in Lwiw ankam, lag allgemeines Unbehagen in der Luft, unterstützt vom Dröhnen des Bombenalarms. Doch die Situation blieb noch diffus. Dies änderte sich schlagartig, als die ersten Raketen auch in Lwiw einschlugen. Immer drastischer wurde dieses Bild, je weiter ich in den Osten fuhr. Nach einiger Zeit im Südosten des Landes beschloss ich, nach Kyjiw zu fahren. In dieser Zeit schlug ein Iskander-Marschflugkörper in das Einkaufszentrum Retroville ein und hinterließ einen gigantischen Radius der Zerstörung. 

    Für mich steht dieses Bild stellvertretend für diesen entpersonalisierten Krieg, den Schrecken und das Leid, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. Es ist ein Versuch im Betrachter, in der Betrachterin das Gefühl zu wecken, selbst auf diesem Parkplatz zu stehen.

     

    ROBIN HINSCH

    geboren 1987
    Er studierte Fotografie an der HfG Karlsruhe in der Klasse von Elger Esser, an der Hochschule Hannover bei Prof. Ralf Mayer und Prof. Rolf Nobel, an der HfBK Hamburg bei Silke Großmann und schloss sein Studium mit einem Master in Fotografie an der HAW Hamburg bei Prof. Vincent Kohlbecher ab. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Kowitsch, Galerie Melike Bilir, Hamburg, Eröffnung am 2. Juni 2022, 19 Uhr

    2022 – Gute Aussichten, Haus der Fotografie, Hamburg

    2021 – Fotofestiwal, Lodz

    2020 – Willy Brandt Haus, Berlin

    STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – PH Museum Photography Grant (Shortlist)
    2022 – Copenhagen Photo Award (Shortlist)
    2022 – Hellerau Portrait Award (Shortlist)
    2021 – Gute Aussichten Award
    2020 – Sony Grant

    PUBLIKATIONEN u.a. in Spiegel, CNN, Guardian, Rolling Stone, National Geographic, Süddeutsche Zeitung Magazin u.v.m.


    Foto: Robin Hinsch
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Veröffentlicht am 23.05.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

  • Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #1

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ELENA SUBACH

     

     

    Links: Eines der Zelte an der Grenze, in denen sich Flüchtlinge ausruhen, aufwärmen und medizinische Hilfe bekommen. Ushgorod, Ukraine, Februar 2022
    Rechts: Olena aus Charkiw in einem Schutzraum in Lwiw, ein kurzer Zwischenstopp auf ihrem Weg in die EU. Ukraine, April 2022
    Fotos © Elena Subach

    ELENA SUBACH
    „Wir spüren keine Zukunft mehr“

    [bilingbox]Ein Mensch aus Mariupol hat mir einmal gesagt: „Für die Evakuierung musste man eine andere Person werden – halb-leer und semi-neu. Anders hattest du keine Chance, aus der Stadt herauszukommen. Du wirst eine Person ohne Vergangenheit, denn sie wird dir weggenommen, ein Mensch, dessen Erinnerungen keine materielle Grundlage mehr haben. Du stehst ohne alles da, sogar ohne die Gräber deiner Eltern.“

    Die Fotos habe ich in Schutzräumen für Binnenflüchtlinge in Lwiw aufgenommen. Theater, Schulen, Bibliotheken, Kindergärten und Büros wurden in Schutzräume umgewandelt. Außerdem nehmen die Bewohner von Lwiw auch viele Menschen bei sich zu Hause auf. Lwiw in der Westukraine, die Stadt, in der ich lebe, ist heute ein wichtiger Fluchtort für mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges von zu Hause fliehen mussten. Einige von ihnen werden nach Hause zurückkehren können, einige nicht, weil es nichts gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Städte, aus denen sie kommen, sind womöglich dem Erdboden gleichgemacht, wie zum Beispiel Mariupol.

    In einem Team von Gleichgesinnten arbeite ich an einem Projekt, bei dem wir die Geschichten von Menschen aufzeichnen, die wegen des Kriegs gezwungen waren, von zu Hause zu fliehen. Das Ziel unseres Projekts ist eine Dokumentation mit Fakten und den tragischen persönlichen Geschichten dieser Menschen. Nach Fertigstellung wollen wir der Welt dieses Projekt zeigen, obwohl das wahrscheinlich noch lange dauern wird.

    Mein Ansatz beim Fotografieren ist mittlerweile ein anderer als in den ersten beiden Kriegswochen, als ich die Serie Chairs at the Border aufgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich dürfe den privaten Raum der Menschen nicht verletzten, denn es würde ihnen Zeit rauben, die sie brauchen, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Ich habe nicht gewagt, in ihre sowieso schon fragile und zerstörte Privatsphäre einzudringen, obwohl ich mir der historischen Bedeutung und Wichtigkeit des Moments bewusst war. Auch für mich selbst war alles seltsam, so dass ich mich auf die Suche nach Spuren der Anwesenheit von Menschen begab – das waren Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Ich habe einige Stillleben fotografiert. Stühle mit Gegenständen, die dort noch lagen. Das waren für mich Inseln inmitten der Wellen von Menschen, auf denen man innehalten und kurz ausruhen konnte.

    Mittlerweile höre ich den Geschichten von Menschen zu und fotografiere sie dann. Manchmal unterhalten wir uns mehrere Stunden, denn jetzt haben sie Zeit und das Bedürfnis, uns von sich zu erzählen. Sehr oft setzen sich diese Bekanntschaften fort. Wir haben ihre Kontaktdaten und versuchen zu helfen, wo wir nur können.

    So entstand auch dieses Portrait von Olena, 44. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn Jaroslaw (1 Jahr und 7 Monate alt) und ihrer Schwiegermutter aus Charkiw geflohen. Ungefähr zehn Tage nach Kriegsbeginn war Olenas Mann aus dem Haus gegangen, um nach Wasser für die Familie zu suchen. Auf dem Rückweg geriet er in ein Feuergefecht, fiel in ein durch eine Explosion entstandenes Erdloch und brach sich ein Bein. Der Krankenwagen erreichte sie wegen der scharfen Kämpfe in dem Gebiet erst nach zwei Tagen. Nach einem Monat im Keller wurde das Kind allmählich krank und Olena beschloss, die Stadt zu verlassen. Sie stiegen in einen Zug, der Menschen evakuierte, und kamen nach Lwiw. Ihr Mann und ihre Mutter blieben in Charkiw.

    Im Krieg erinnern mich die Menschen mehr und mehr an Bäume. Sie sind stark und mächtig, die Tiefe ihrer Wurzeln ist um Vieles größer als die Höhe ihrer Stämme. Doch nun werden diese Bäume entwurzelt und weggeworfen. Nicht jeder kann sich tief genug eingraben, um wieder Wurzeln zu schlagen, nicht jeder wird im Frühling blühen und im Herbst gelbe Blätter kriegen. Wir, alle Ukrainer, spüren keine Zukunft mehr. Alles, was wir noch haben, sind Fragmente der Erinnerung an das, was vor Februar geschah. Aber viele von uns haben nichts mehr.~~~One guy from Mariupol once told me, “In order to be able to evacuate from there, you had to become a different person—half-empty and semi-new. Otherwise, you had no chance to leave the city. You become a person with no past as it has been taken away, a person whose memories have no material basis. There is nothing you are left with, not even the graves of your parents.“
    The photos you can see here were taken in Lviv shelters for internally displaced persons. Theaters, schools, libraries, kindergartens, and offices have been converted into shelters. Moreover, Lviv residents also take in many people at their own homes. Today, Lviv in Western Ukraine, the city, where I live, has become a great refuge for more than 200,000 Ukrainians who have been forced to flee their homes because of the war. Some of them will be able to get back home, and some will not because there will be nowhere to return to. The cities where they lived may be wiped off the face of the earth, as is the case with Mariupol. 
    With a team of like-minded people, I am working on a project which deals with recording the stories of people who were forced to flee their homes because of the war. The end goal of the project is the creation of a document of recorded facts and tragic personal stories of those people. We aim to show this document to the world when the project is ready, although I understand that this may not happen soon.

    Now my approach to taking photos is different from what it was during the creation of Chairs at the Border series in the first two weeks of the war. At that point in time, I felt that I could not violate people’s private space, because it would take their time, which they would rather like to use saying goodbye to their relatives. I did not dare to interfere in their already fragile and ruined private space, although I understood the historicity and importance of the moment. Also, for me personally, everything was strange, so I looked for traces of people’s presence—the things which remained after they left. I took a number of still life photos. I photographed chairs with the objects left on them, since they seemed to me like islands among waves of people, that is, places where one could stop and rest for a moment.

    Now I listen to people’s stories before taking their photos. Sometimes we talk for a few hours because now they have time for it and feel the need to tell us about themselves. Very often these acquaintances have a continuation. Having the contacts of the people, we try to help them as much as possible. 
    This is a portrait of Olena, 44. She fled Kharkiv with her young son Yaroslav, who is 1 year and 7 months old, and her mother-in-law. About 10 days after the start of the war, Olena’s husband left home to find and bring water to the family. On the way back, he came under gunfire, fell into a pit left after the explosion and broke his leg. The ambulance was able to reach them only in 2 days, because fierce battles were fought in their area. After a month of hiding in the basement, the child began to get sick and Olena decided to leave the city. They boarded an evacuation train and arrived in Lviv. Her husband and mother stayed in Kharkiv.

    In wartime, people remind me more and more of trees. They are strong and powerful, the depth of their roots is many times greater than the height of their trunks. However, now these trees are uprooted and thrown away. Not everyone can bury themselves enough to take root again, not everyone will bloom in spring and turn yellow in autumn. Now, all of us Ukrainians no longer feel the future. All we have left are the fragments of memories of everything that happened before February. But many of us have nothing left.[/bilingbox]

     

    ELENA SUBACH

    geboren 1980 in Tscherwonohrad, Ukraine
    Wirtschaftsstudium an der Staatlichen Universität Wolyn
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalgalerie Lwiw, Kuratorin, visuelle Künstlerin

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Home again, Willy-Brandt-Haus, Berlin

    2022 — In Ukraine, Gallery at Dobbin Mews, New York

    2021 — Odesa Photo Days festival, Who is next to you?, Museum of Odesa Modern Art

    2019 — City of Gardens, EEP Berlin (Einzelausstellung)

    2019 — Woven Matter at Unseen, Amsterdam

    2019 — Fotofestival Lodz


    PUBLIKATIONEN u. a. in Weltkunst, SZ Magazin, Vogue Polska, Guardian (UK)


    Fotos: Elena Subach
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 10.05.2022

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #2