dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten?
Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben.
Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus?
Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will.
Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um?
Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.
Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.
Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung?
In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend.
Was bedeutet ihr dieser Job?
Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.
Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen.
dekoder: Im Garten ihres Hauses unweit der Front schmiegt sich die 13-jährige Uliana an ihre Mutter Aliona. Wie ist dieses Bild entstanden?
Iva Sidash: Ich wollte eine Geschichte über den Krieg aus der Perspektive der Zivilist:innen erzählen. Es wird viel über militärische Operationen berichtet, man sieht Panzer und Drohnen. Aber wie leben die einfachen Menschen in der unmittelbaren Nähe der Front? Über Bekannte hörte ich von Aliona, die mit ihrer Tochter in dem kleinen Ort Slatyne in der Region Charkiw lebt. Als ich sie dort zum ersten Mal besuchte, habe ich meine Kamera gar nicht ausgepackt. Ich möchte immer erst eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, bevor ich anfange zu fotografieren.
Abends machten wir ein Feuer im Garten, denn aufgrund der Zerstörungen gibt es im Ort keinen Strom. Wir kochten das Abendessen über dem Feuer. Dann legten wir uns ins Gras und schauten in den Nachthimmel. Es war August und wir sahen viele Sternschnuppen. Gleichzeitig hörten wir aus der Ferne Artilleriefeuer. Im Angesicht des Todes die Schönheit des Moments genießen zu können, das ist für mich eine der Eigenschaften, die den Ukrainerinnen und Ukrainern bis jetzt geholfen hat, durchzuhalten.
Das Bild strahlt ein Gefühl von Geborgenheit aus. Kann es die im Krieg geben?
Gleich nach Beginn des russischen Überfalls war Aliona mit ihrer Tochter zunächst nach Polen geflohen. Aber sie hielten es dort nicht lange aus. Erst zogen sie nach Kyjiw, nach einem Jahr kehrten sie nach Slatyne zurück. Der Ort ist verwüstet, die Schule ist zerstört, die Kirche ist zerstört, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die Front ist nicht weit weg. Trotzdem fühle sie sich dort freier als irgendwo sonst, sagt Aliona.
Sie hat dafür eine schöne Metapher gefunden: „Als Flüchtling in einem fremden Land kam ich mir vor wie eine abgeschnittene Blume. Als hätte mich jemand in eine schöne Vase gestellt, aber innerlich fühlte ich mich leer und einsam. Erst hier in meiner Heimat fühle ich wieder meine Wurzeln.“
Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die Ukrainer nicht auf einen Teil ihres Landes verzichten, damit der Krieg aufhört?
So etwas kann nur jemand sagen, der selbst nie seine Heimat verloren hat. Es geht ja nicht um das Territorium, es geht um die Menschen, die dort zuhause sind. Wer nicht fliehen kann, muss unter der Unterdrückung leben. Und wer flieht, ist für immer entwurzelt.
Iva Sidash (geb. 1995) stammt aus Lwiw im Westen der Ukraine. 2023-2024 studierte sie am International Center of Photography in New York. Ihre Bilder erschienen unter anderem im Atlantic Magazine, in der Financial Times und im Spiegel und wurden in Ausstellungen in New York, London, Paris und Berlin gezeigt.
Foto: Iva Sidash
Fotos: Iva Sidash, aus der Serie: Seeing the Unseen, 2024 Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 18.3.2025
dekoder: Man traut sich fast nicht, das zu sagen, aber das sind schöne Bilder. Sie zeigen Krieg und Zerstörung. Gleichzeitig sind sie farbenfroh und haben fast eine friedliche Ausstrahlung: Man fühlt sich eingeladen in diese Wohnungen, der Himmel strahlt blau. Wie sind diese Aufnahmen entstanden?
Oksana Nevmerzhitska: Ich hatte eigentlich gar nicht geplant, vom Krieg zerstörte Gebäude zu fotografieren. Ich bin keine Kriegsfotografin und arbeite nicht dokumentarisch. Außerdem sind schon so viele Bilder von Zerstörung und Ruinen aus diesem Krieg um die Welt gegangen. Mir schien, dass zu diesem Thema bereits alles gezeigt wurde und alles gesagt ist. Aber dieses Haus hat mich auf besondere Weise berührt. Es steht etwa 60 Kilometer außerhalb von Kyjiw in Borodjanka. Dort sind in den ersten Wochen des Krieges fürchterliche Dinge geschehen. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, wurde völlig zerstört. Ich kenne das Gebäude gut, weil ich seit 20 Jahren immer wieder daran vorbeifahre, wenn ich meine Eltern besuche. Seit das Haus eine Ruine ist, lässt es mir keine Ruhe. Jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, hat sich mir innerlich alles verkrampft. An einem schönen Sommertag im August 2023 habe ich schließlich meinen Mann gebeten anzuhalten. Meine Familie hat im Auto gewartet und ich bin losgezogen und habe diese Bilder gemacht.
Die Serie trägt den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“. Was wollten Sie damit ausdrücken?
Es sind keine dokumentarischen Bilder, eher eine Reflexion. Mein Ziel war es nicht, dem Publikum ein weiteres zerstörtes Haus zu zeigen, sondern etwas von meinen Gefühlen auszudrücken, von der Angst und der Verunsicherung mit der wir in der Ukraine seit fast drei Jahren leben. Das internationale Publikum ist müde von den Bildern der Zerstörung. Wir alle sind müde. Man möchte sich am liebsten abwenden und das alles nicht mehr sehen. Deswegen wollte ich weg von diesen düsteren Bildern und etwas zeigen, wo man sich nicht so schnell abwenden kann. Da sind frohe Farben, ein strahlender Himmel – und erst auf den zweiten Blick erkennt man die Tragödie. Dieser Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken zwingt zum Nachdenken.
Sie sprachen davon, dass sie der Anblick dieses Hauses so aufgewühlt hat. Warum?
Dieses Haus ist einerseits groß und gleichzeitig wirkt es wie ein Puppenhaus. Eine Explosion hat die Außenwand weggerissen, man blickt in das Intimste, den privaten Lebensraum der Menschen. Das ist für mich die schlimmste Erfahrung in diesem Krieg:
Ein Haus bedeutet Schutz. Mein Zuhause war immer auch meine Festung, in die ich mich zurückziehen konnte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Innenwelt, hier kann ich nackt und verletzlich sein. Der Krieg hat diese Gewissheit zerstört. Wir mussten erleben, dass diese Festung fragil ist, und das macht Angst. Ich kann mich nirgends mehr sicher fühlen. Jederzeit kann jemand in meinen intimsten Rückzugsraum eindringen, mit schmutzigen Fingern in meinen Sachen wühlen. Das hat viele Parallelen zu der sexuellen Gewalt, die die russischen Angreifer ja auch häufig ausüben. Dieses Bild verkörpert für mich all diese Gefühle: Etwas, das mir lange unerschütterlich schien, ist plötzlich ganz zerbrechlich.
Die Möbel stehen noch immer an ihrem Platz. Es wirkt fast so, als könnten die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen…
Als ich das Bild aufgenommen habe, stand das Haus bereits seit anderthalb Jahren so da. Und heute, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, sieht es fast noch genauso aus. Die Stühle, die Zeitschriften im Regal. Es hat geregnet, geschneit und gestürmt. Der Krieg dauert an, aber hier wirkt es, als wäre die Zeit angehalten. So habe ich das auch in den ersten anderthalb Jahren nach Kriegsbeginn empfunden: Als wäre das Leben eingefroren, als wäre ich in einem Vakuum gefangen. Du bewältigst deinen Alltag, du lächelst, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.
Das zweite Bild zeigt das Treppenhaus eines zerstörten Gebäudes in der Nähe. Jemand hat „Ukrajina ponad use!“ an die Wand gesprüht – „Die Ukraine über alles!“ – und daneben das Kürzel der ukrainischen Streitkräfte „WSU“. Ist diese Parole in einer Ruine ironisch zu verstehen?
Für mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Graffito erst nach der Zerstörung des Gebäudes entstanden ist. Für mich ist diese Parole wie ein Aufschrei: Ihr werdet uns nicht brechen! Ihr könnt unsere Häuser zerstören, ihr könnt unseren Alltag zur Hölle machen. Aber unseren Selbstbehauptungswillen und unsere Identität werdet ihr uns nicht nehmen. „Die Ukraine über alles“, das heißt, es gibt etwas, das wichtiger ist als materielle Dinge.
Wie reagieren Ihre Landsleute auf diese Bilder?
Sie wecken auch bei Ihnen widersprüchliche Gefühle. Das war ja auch meine Absicht. Meine Absicht war nicht, den Krieg zu ästhetisieren. Ich wollte ihn so zeigen, dass die Leute hinsehen. Dieses Nebeneinander von Schrecken und Schönem ist Teil unseres Alltags. In unseren Familien erleben wir schreckliche Tragödien, aber wir feiern auch Kindergeburtstage. Nachts fallen die Bomben, aber am nächsten Morgen um 7 habe ich Yoga. Manchmal komme ich aus dem Luftschutzkeller und gehe erstmal auf die Matte, bevor ich mich nochmal hinlege. Das ist unser täglicher Surrealismus: Heute früh um 6 mussten wir in den Luftschutzkeller, weil Raketen im Anflug waren. Ich habe die Kinder geweckt und wir sind losgelaufen. Es war dunkel, es war kalt, auf der Straße lag Schneematsch, und meine Tochter lachte und rief: „Schnee, Schnee!“. Wir laufen in den Luftschutzraum, und meine Tochter freut sich über den ersten Schnee.
Die Ruinen, die Sonne und auf der Wiese blühen Blumen. Bomben fallen und Kinder freuen sich über den ersten Schnee – das passt alles nicht zusammen.
Aber so sieht unsere Realität aus. Du bekommst eine Warnung: Es sind wieder Flugzeuge aufgestiegen, in 20 Minuten werden ihre Raketen in Kyjiw sein. Und während du mit der einen Hand Kaffee kochst, lädst du mit der anderen noch schnell einen Film bei Netflix runter, damit ihr euch die Zeit im Luftschutzraum vertreiben könnt, denn 20 Minuten hast du ja noch. Du hast Angst, und gleichzeitig handelst du routiniert. Zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meinen Landsleuten schätze, gehört der Humor. Wir Ukrainer lachen viel, selbst wenn wir Angst haben müssen. Es kommt vor, dass der Luftalarm versagt. Neulich wurden wir von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Es war keine Zeit mehr, sich anzuziehen, alle sind wie sie waren in den Luftschutzraum gerannt: im Nachthemd, im Schlafanzug, mit zwei unterschiedlichen Hausschuhen. Und als wir da einer nach dem anderen in diesem Aufzug eintrafen, meinte jemand, ob wir denn zu einer Pyjama-Party verabredet waren, und alle lachten. Die emotionale Belastung ist enorm, aber der Humor hilft manchmal, den Druck rauszunehmen und mental zu überleben.
Wie kann man das jemandem vermitteln, der das nicht selbst erlebt hat?
Das ist sehr schwer. Einerseits verstehe ich, dass die Menschen in Europa den Krieg in der Ukraine verdrängen. Das ist eine normale Reaktion. Es gibt so viele gewaltsame Konflikte auf der Welt, wir können uns nicht alles zu Herzen nehmen. Deswegen will ich den Betrachter einfangen, bevor er sich wieder abgewandt hat von so einem schrecklichen Bild. Weil er das schon kennt, weil er es nicht sehen will, weil er nichts tun will und auch nicht will, dass das an ihm nagt. Ich hoffe, dass er schon in dieses einladende Gebäude eingetreten ist, bevor er merkt, dass es hier um Krieg geht. Dass er nicht mehr weglaufen kann.
Arbeiten der Fotografin Oksana Nevmerzhytska (geb. 1984) wurden unter anderem auf Ausstellungen in Frankreich, Schweden, Israel und den USA gezeigt und bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Ihre Bilder erschienen unter anderem im renommierten British Journal of Photography. Sie lebt mir ihrer Familie in Kyjiw.
Fotos: Oksana Nevmerzhitska, aus der Serie „They will no longer drink tea there“ Bildredaktion: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 17.12.2024
dekoder: Die Verteidiger der Ukraine sind im Osten des Landes seit Wochen stark unter Druck. Sie waren Ende September im Frontgebiet zwischen Pokrowsk und Kurachowe. Was haben Sie da erlebt?
Nicole Tung: Das Feldlazarett in Kurachowe, in dem ich dieses Foto aufgenommen habe, versorgte einen 90 Kilometer langen Frontabschnitt. Das ist ein riesiges Gebiet. Als der verwundete Soldat auf einer Trage eingeliefert wurde, wand er sich vor Schmerzen. Die Sanitäter hatten ihm diese Plastikspritze zwischen die Zähne gesteckt, damit er da draufbeißen konnte. Unter anderen Umständen hätte die Wunde an seinem linken Bein gut behandelt werden können. Aber das Bein war oberhalb des Knies mit einem Tourniquet abgebunden, um die Blutung zu stillen. Wegen des starken Beschusses konnten die Sanitäter ihn nicht gleich aus der Gefechtszone rausholen. Also lag er einen halben Tag da. Als sie ihn eingeliefert haben war das Bein schon lila. Er flehte immer wieder: „Bitte rettet mein Bein!“.
Welchen Eindruck haben sie insgesamt von der Situation an der Front?
Die Lage ist sehr ernst. Die Ukrainer verlieren stetig an Boden. Als ich den Versorgungspunkt zum ersten Mal besuchte, befand er sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes in Kurachowe. Beim nächsten Besuch war er in den ersten Stock verlegt worden, weil bereits Gleitbomben in die Stadt flogen. Als ich dieses Foto aufnahm, war die Front nur noch zehn Kilometer oder weniger entfernt. Erkundungsdrohnen kreisten über der Stadt und wir konnten hören, wie die Ukrainer Mörser abfeuerten. Zwei Wochen später musste das Lazarett in einen anderen Ort verlegt werden, weiter weg von der Front.
Es gab unterschiedliche Phasen in diesem Krieg: Auf den ersten Schock nach dem Überfall folgte eine Euphorie, als die Russen zurückgeschlagen werden konnten. Wie ist die Stimmung in der Truppe zur Zeit?
Ich glaube, sie sind ziemlich verzweifelt, weil kein baldiges Ende des Krieges absehbar ist. Die Ukrainer sind sehr innovativ, zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen. Aber sie können einfach nicht dieselben Ressourcen mobilisieren, wie Russland sie in die Schlacht wirft. Der Staat bemüht sich verstärkt darum, mehr Männer einzuziehen. Aber sie haben momentan einfach nicht genug Leute. Und wenn die Russen rasch vorrücken, wirkt sich das auch auf die Moral der ukrainischen Soldaten aus. Selbst wenn es in nächster Zeit Verhandlungen geben sollte, könnte das bedeuten, dass so viele Kämpfer vielleicht vergeblich gestorben sind und Russland dennoch große Territorien einnimmt. Eine verbreitete Klage lautet: „Unsere Unterstützer geben uns gerade genug Waffen, damit wir nicht verlieren. Aber nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen.“
Zu Beginn des Krieges hatten sich viele Männer und auch Frauen freiwillig gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Jetzt werden Männer auch gegen ihren Willen eingezogen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus?
Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Wehrpflichtige heute nur einen oder anderthalb Monate lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz müssen. Einige werden Truppenteilen zugewiesen, die russische Stellungen stürmen müssen, das sind die gefährlichsten Einsätze. Ich war in letzter Zeit bei vielen Beerdigungen von Einberufenen. Die waren oft zwischen 40 und 50 Jahre alt, als sie nach vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt wurden. Man kann sich denken, dass sich diese Situation auch auf die erfahreneren Soldaten auswirkt, die vielleicht schon seit 2014 kämpfen, wenn sie sehen, wie schlecht die Soldaten ausgebildet sind, die sie unterstützen sollen.
Sie sind eine erfahrene Reporterin und haben schon aus vielen Kriegen berichtet, unter anderem aus Syrien. Was ist das Besondere am Krieg in der Ukraine?
Zunächst handelt es sich aus historischer Sicht um den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir leben im Jahr 2024 und in Europa sitzen Menschen in Schützengräben. Zum anderen ist da die Technik: Wir sehen Artilleriegeschütze aus der Sowjetzeit und gleichzeitig Drohnen, die erst am Morgen zusammengebaut wurden. Und die Soldaten, die sie steuern, gucken durch diese VR-Brillen auf das Schlachtfeld. Dieser Kontrast ist krass. Und schließlich ist da die menschliche Seite: Die Ukrainer sind sehr widerstandsfähig. Sie halten ihr Alltagsleben unter allen Umständen aufrecht. Aber auch das wird langsam zermürbt. Einst lebendige Orte wurden ausgelöscht. In jedem Krieg gibt es Tod und Zerstörung. Aber dieser Krieg fühlt sich wirklich an wie ein Angriff auf die ukrainische Identität und ihre Geschichte.
Foto: Nicole Tung @nicoletung Bildredaktion: Andy Heller @frau.heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 11.11.2024
dekoder: Als wir die Serie „Bilder vom Krieg“ gestartet haben, haben wir nicht an Fotos von Tänzerinnen oder einer Modeschau gedacht. Wie kommt der Krieg auf den Laufsteg?
Pernille Sandberg: Ich war im Mai auf der Buchmesse in Kyjiw zu Gast und war beeindruckt von der kreativen Szene in der Ukraine. Dabei ist die Idee zu meinem Projekt A State of Uncertainty gereift. Die Menschen dort leben ständig in einem Zustand der Ungewissheit: Ungewissheit über ihre eigene Zukunft. Ungewissheit darüber, was aus ihrem Land wird. Ungewissheit, weil sie schon im nächsten Augenblick ihr Leben verlieren können. Dieses Gefühl wollte ich einfangen. Die Künstlerinnen, die ich dafür porträtiert habe, waren froh darüber, nicht als Opfer gezeigt zu werden, sondern mit ihrer Kunst. Schöpferisch zu arbeiten bedeutet, lebendig zu sein. Wenn Neues entsteht, ist das auch eine Antwort auf die zerstörende Kraft des Krieges.
Die Frau auf dem ersten Bild wirkt zugleich erschöpft und entschlossen. In welcher Situation ist es entstanden?
Liza Riabinia ist eine Tänzerin und Choreographin aus Kyjiw. Ich habe sie im September in ihrem Studio im Stadtteil Podil besucht. Sie probte dort zusammen mit einer anderen Tänzerin. Für die Fotosession hatten sie die Idee, die gleiche Kleidung zu tragen, die sie an dem Tag getragen hatten, als die russische Invasion begann. Sie wählten sehr düstere, atmosphärische Musik dazu. Dieses Bild ist in einer Pause entstanden, als Liza völlig erschöpft und verschwitzt aus dem Fenster schaute.
Wie haben die Künstler in der Ukraine auf den russischen Angriff reagiert?
Zunächst einmal sind von einem Tag auf den anderen alle Pläne in sich zusammengefallen. Liza hat in unterschiedlichen Ensembles getanzt, auch für internationale Produktionen. Die kamen jetzt nicht mehr in die Ukraine. Früher war sie viel auf Tournee, auch das ist jetzt schwieriger. Und dann kamen auch Zweifel am Sinn ihrer Arbeit: Bringt das, was ich tue, dem Land überhaupt irgendeinen Nutzen? Darf man Bilder malen, während Soldaten ihr Leben für uns opfern? Hat Musik noch einen Sinn? Wozu noch Gedichte schreiben? Wie kann man sich die Zeit nehmen, ein Buch zu lesen, wenn die Welt blutet? Aber mit der Zeit wurde vielen Künstlern klar, wie wichtig ihr Schaffen auch für die Gesellschaft ist. Dass sie den Menschen Freude machen und Lebensmut verbreiten können. Und dass Kunst und Kultur ein Gefühl der Verbundenheit und der Zusammengehörigkeit schaffen.
Es ist schließlich auch ein erklärtes Ziel der Angreifer, die ukrainische Kultur zu zerstören…
Kurz bevor ich im Mai zur Buchmesse nach Kyjiw reiste, hatten russische Raketen die Factor-Druckerei in Charkiw zerstört. Unter den Tausenden verbrannten Büchern in den Trümmern waren auch viele Kindenbücher, das hat die Menschen besonders getroffen.
War es schwer, einen Zugang zu den Künstlerinnen und Künstlern zu bekommen?
Im Gegenteil. Ich war überrascht, wie offen ich empfangen wurde und wie bereitwillig alle ihre Erlebnisse und ihre Emotionen mit mir geteilt haben. Auch ihre Zweifel und ihre Schwächen. In der Nacht, bevor wir zu einem Fotoshooting verabredet waren, gab es mehrfach Luftalarm. Wir hatten alle kaum ein Auge zugetan und waren ziemlich gerädert. Aber viele Menschen in der Ukraine gehen jeden Morgen in diesem Zustand zur Arbeit. In diesen Situationen trägt niemand eine Maske. Niemand versucht, sich als jemand anderes zu präsentieren, um dir zu gefallen. Da ist kein Platz für oberflächlichen Smalltalk. Diese Ehrlichkeit fand ich sehr befreiend.
Was ist die Geschichte hinter dem zweiten Bild mit der Prothese auf dem Laufsteg?
Das war auf der Kyjiw Fashion Week, die in diesem Jahr zum ersten Mal seit der Beginn des Angriffskrieges wieder stattgefunden hat. Die Veranstaltung im Kultur- und Museumskomplex Mystezkyj Arsenal war total überlaufen. Vor jeder Modenschau stand der ganze Saal auf und hat eine Schweigeminute abgehalten und der Armee gedankt, weil auch Dank ihr solche Veranstaltungen stattfinden können. Auf dem Gelände gab es auch eine große Gedenkmauer mit den Porträts von Frauen und Männern aus der Modeindustrie, die als Soldaten oder Zivillisten Opfer des Krieges geworden waren.
Ist das Model mit der Prothese auch ein Opfer des Krieges?
Karyna Staschtschyschtschak ist eine Tänzerin aus Odessa, die ihr Bein aufgrund einer Erkrankung in der Kindheit verloren hat. Sie tanzt sehr erfolgreich bei Wettbewerben für lateinamerikanische Tänze. Damit ist sie auch ein Vorbild für die vielen Kriegsversehrten: Auch mit einer Prothese kann man ein gutes Leben führen, sogar tanzen oder bei einer Modeschau auftreten.
War der Krieg auch in den Kollektionen gegenwärtig?
Viele Designer haben traditionelle Motive in ihren Kollektionen aufgegriffen als Bekenntnis zur Lebendigkeit der ukrainischen Kultur. Die Farbe Rot hat eine besondere Rolle gespielt, etwa in fließenden Stoffen, die an Blut erinnerten. Mein Eindruck, war, dass der Auftritt gerade den männlichen Models viel bedeutete: Über den Laufsteg zu gehen, die Musik zu genießen, etwas Schönes zu präsentieren und dafür gefeiert zu werden. Und für einen Moment die Angst zu vergessen, dass man vielleicht bald an die Front muss. Ich arbeite selbst in der Fashion-Industrie und habe Mode schon immer Spiegel der Gesellschaft gesehen. Aber zu erleben, welche Freude sie den Menschen in der Ukraine bringt, und dass sie gleichzeitig ihren Schmerz durch ihre Kreationen ausdrücken können, das hatte enorme Kraft.
Fotos: Pernille Sandberg, aus der Serie: A State of Uncertainty Bildredaktion: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 19.11.2024
dekoder: Sie haben gerade zwei Monate in Kyjiw verbracht, was ist der Fokus Ihrer Arbeit in der Ukraine?
Sitara Ambrosio: Zusammen mit meiner ukrainischen Kollegin Yana Radchenko arbeite ich an einer großen Recherche über Kriegsverbrechen an queeren Menschen in der Ukraine. Das Projekt wird vom Journalisten-Netzwerk N-Ost unterstützt. Gleichzeitig interessiere ich mich auch grundsätzlich für queeres Leben in der Ukraine und dafür, was sich durch den Krieg verändert hat.
Sind queere Menschen denn besonderes Ziel von Kriegsverbrechen?
Aktuell gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass die russischen Truppen eine Anordnung oder einen Befehl haben, nach LGBT*Q-Personen zu suchen. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass man als queere Person einer besonderen Gefahr ausgesetzt ist, Opfer von Folter zu werden, wenn russische Truppen eine Stadt besetzt halten. Beispiele dafür kennen wir etwas aus Cherson. Dort dokumentieren wir aktuell Fälle, bei denen Betroffene aufgrund ihrer Sexualität Misshandlungen erlebt haben. Daran sollte man auch denken, wenn man davon spricht, Teile der Ukraine an Russland abzutreten um des Friedens willen: Menschen, die schwul, lesbisch oder transsexuell sind, könnten dort dann nicht mehr leben.
Eines Ihrer Bilder zeigt einen Rave in Kyjiw. Was ist die Geschichte dazu?
Seit anderthalb Jahren gibt es in Kyjiw eine spannende Veranstaltungsreihe: Sie verbindet traditionelle ukrainische Musik und elektronische Musik. Bei diesem Rave gab es ein DJ-Pult, aber es wurde auch auf traditionellen Instrumenten gespielt. Es ist spannend zu sehen, wie die junge Generation, die so sehr darum kämpft, den Fortschritt in der Ukraine voranzubringen, gleichzeitig an Traditionen anknüpft und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht. An diesem Abend waren auch viele queere Menschen da. Sie feiern und halten dabei ihre Traditionen hoch. Traditionen aufleben zu lassen und ein fortschrittliches Verständnis von Geschlechterrollen zu leben, muss kein Widerspruch sein.
Kann man das denn auf die ganze Ukraine übertragen?
Man muss schon ehrlich sagen, dass es in der ukrainischen Gesellschaft noch sehr festgeschriebene Geschlechterrollen gibt. Es kann für queere Menschen in der Ukraine auch durchaus gefährlich sein. Sie sind immer wieder Angriffen ausgesetzt. Die Ehe für alle ist in der Ukraine auch noch nicht legal. Das hat im Krieg gravierende Auswirkungen: Einerseits kämpfen ja auch queere Personen an der Front. Aber wenn eine von ihnen fällt, dann hat der Partner oder die Partnerin nicht dieselben Rechte wie Verheiratete. Etwa wenn es darum geht, über den Körper zu verfügen und eine Beerdigung zu organisieren.
Auf dem zweiten Bild sehen wir Teilnehmerinnen eine Pride-Veranstaltung in Charkiw. Die Fassade im Hintergrund trägt Spuren von Geschossen. Ein Pride mitten im Krieg, wie passt das zusammen?
Charkiw ist seit Beginn des Krieges unter Beschuss. Diese Spuren sind Einschlagstellen von Schrapnells. Also wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete oder eine Drohne niedergeht, dann werden diese Trümmerteile von der Wucht der Explosion durch die Straßen geschleudert. Tatsächlich sehen die meisten Häuser in der Stadt inzwischen so aus. In diesem Gebäude ist das Büro von Charkiw Pride untergebracht. Es bietet einen doppelten Schutz: Einmal ist ein hinterer Raum als Luftschutzkeller ausgewiesen, bei dem die Menschen bei Alarm Zuflucht finden können. Und zum anderen lassen sich die zwei Türen des Büros doppelt verriegeln, um Schutz vor einem queerfeindlichen Angriff zu bieten.
Eine Loslösung von Russland, wo der Staat offen homophob auftritt, bedeutet also noch nicht automatisch eine liberalere Gesellschaft?
Dieses Land steht gerade auf dem Prüfstand. Eine junge Demokratie wird angegriffen und soll unter den Bedingungen eines Krieges beweisen, wie es weiter geht mit demokratischen Werten und Menschenrechten. Immerhin werden queere Veranstaltungen in der Regel sehr gut von den Behörden geschützt. Dieses Foto ist während des Pride Wochenendes entstanden. Da haben hintereinander drei unterschiedliche Veranstaltungen stattgefunden. Alle mussten von der Polizei geschützt werden. Ohne geht es nicht, weil es immer wieder zu Angriffen durch homophobe rechte Gruppen kommt. Auch die Kyjiw Pride wurde angegriffen. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die Behörden aber mittlerweile sehr zugänglich. Die Kommunikation mit der Polizei und mit den Sicherheitskräften ist sehr gut. Das war nicht immer so. Unter den Bedingungen eines Krieges für eine offenere Gesellschaft zu kämpfen, ist extrem schwierig.
dekoder: Sie haben zwei Fotos von Ihren Reisen in der Ukraine ausgewählt: Das erste zeigt einen Jugendlichen beim Eintritt in die Marineakademie in Odessa. Was sieht man auf dem zweiten?
Daniel Rosenthal: Das ist eine Szene aus einem Sanatorium. Die ukrainischen Soldaten können sich dort zwei Wochen lang erholen, bevor sie wieder zurück in den Einsatz müssen. Sie bekommen Lasertherapie und Atemtherapie und inhalieren Salzlösung und Lavendelduft. Dort traf ich den Bären. Das ist der Mann, der seine Hand ans Gesicht hält. Seinen Codenamen bekam er wegen seiner bärigen Statur. Er ist Maschinengewehrschütze und hat bei Wuhledar gekämpft. Anderthalb Jahre war er fast kontinuierlich an der Front.
Und jetzt darf er sich 14 Tage in einem Sanatorium davon erholen?
Ich traf den Bären auf einer Bank im Park, als er eine Zigarette rauchte. Er sagte: „Es ist so still hier. Diese Stille!“ Die Stille und das Vogelgezwitscher, das hat ihn fertig gemacht. Später hat er das erklärt: Es war immer still, bevor die Russen angegriffen haben. Stille bedeutete für ihn immer Gefahr. Und jetzt ist er in diesem Sanatorium, nach anderthalb Jahren hinter dem Maschinengewehr, und muss mit der Stille dort klarkommen. Er erzählte dann noch, dass seine Familie, die er anderthalb Jahre nicht gesehen hat, ihn besuchen kommt. Und man hat gemerkt, dass er sich natürlich einerseits freuen will, aber andererseits total am Ende ist und eigentlich gar nicht mehr kann. Dieser Kontrast zwischen dieser Statur und diesem Wesen, das total am Ende war, das fand ich sehr berührend.
Wie soll diesen Männern während zwei Wochen in einem Sanatorium geholfen werden?
Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Sanatorium atmet einerseits noch den Geist der Sowjetunion, mit Bädern und Anwendungen. Zusätzlich gibt es aber auch Gesprächstherapie und Yoga zum Beispiel. Das war natürlich ein unglaubliches Bild, diesen Bären und seine Kammeraden in der Yogastunde zu beobachten. Sie haben sich alle Mühe gegeben, es wirkte fast komisch, wenn die Umstände nicht so tragisch wären.
Und nach den zwei Wochen Yoga und Therapie geht es wieder zurück an die Front?
Danach geht es wieder in den Einsatz, ja. Das läuft so, dass der Kommandant einer Einheit Leute auswählt, von denen er glaubt, dass die eine Auszeit nötig haben. Ob die von sich aus das Bedürfnis haben, Yoga zu machen, lässt sich schwer sagen. Die leiden alle unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und wissen selbst gar nicht, was sie eigentlich wollen und brauchen. Wenn man sie fragt, sagen alle, sie wollen sofort zurück zu ihren Kameraden. Das scheint eine typische Reaktion von Menschen in solchen Situationen zu sein: Sie haben ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kameraden im Stich lassen. Von einer Heilung sind die nach zwei Wochen natürlich weit entfernt.
Ihr zweites Bild zeigt den Anfang einer Karriere als Soldat. Was ist die Geschichte hinter diesem Foto?
Das stammt aus einer Reportage aus der Hafenstadt Odessa. Zu Beginn des Studienjahres werden 800 junge Kadetten an der Marineakademie aufgenommen. Die Leiterin der Kleiderkammer gibt Uniformen an die Erstsemester aus. Viele träumen davon, die Meere zu befahren und die weite Welt zu sehen. In der Realität ist das Schwarze Meer weitgehend durch russische Kriegsschiffe blockiert. Diesen Clash zwischen Traum und Wirklichkeit fand ich interessant.
Sie fotografieren seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Wie gehen Sie selbst mit den belastenden Erlebnissen um?
Ich halte meine Aufenthalte an der Front oder in der wirklichen Gefahrenzone relativ kurz. Erst recht, seit ich Kinder habe. Aber natürlich wirken die Ereignisse nach. Oft kommen die Gefühle hoch, wenn ich wieder zuhause bin und die Bilder bearbeite und um mich herum geht das normale Alltagsleben weiter. Seit ich Vater bin, kann ich die Verzweiflung der ukrainischen Eltern noch einmal ganz anders nachempfinden. Ich glaube, das muss dich wirklich fertig machen, wenn du nicht in der Lage bist, dein Kind zu beschützen.
Fotografie: Daniel Rosenthal Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 27.09.2024
dekoder: Ein verrußtes Gebäude und eine junge Frau mit dem Wappen der Ukraine auf der Wange – was verbindet diese beiden Bilder?
Rafał Milach: Ich beschäftige mich schon lange mit den unterschiedlichen Initiativen, die hier bei uns in Polen gegen die russische Aggression protestieren. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit anderen Fotografen, Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten das Archive of Public Protests gegründet. Uns interessiert das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und was politische Entscheidungen auslösen können. Ein Krieg ist wohl die heftigste Auswirkung, die eine politische Entscheidung auf das Leben der Menschen haben kann. Ich berichte nicht direkt über den Krieg, aber hin und wieder fahre ich auch in die Ukraine, um mir vor Ort einen Eindruck von den Folgen der russischen Aggression zu machen. Die beiden Bilder stellen die Verbindung her zwischen Krieg und Protest.
In Deutschland gibt es zwei Arten von Demonstrationen mit Bezug zu diesem Krieg: Auf den einen fordern Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr Unterstützung für die Ukraine, auch mit Waffen. Auf den anderen werden ein Ende dieser Unterstützung und Verhandlungen mit Russland gefordert. Gibt es so etwas auch in Polen?
Demonstrationen, die die russische Position offen unterstützen, gibt es in Polen nicht. Aber es gibt auch hier Proteste, die von Russland benutzt werden. Das sind zum Beispiel die Proteste der Bauern gegen Importe aus der Ukraine. Oder der Widerstand rechter Politiker gegen Klima-Abkommen, die die Vorgängerregierung der rechten PiS-Partei noch selbst geschlossen hat. Das passt in die Agenda der russischen Propaganda und die Proteste spielen Russland in die Karten, ähnlich wie das in anderen Ländern Europas auch der Fall ist.
Wer kommt denn zu den Protesten? Sind das überwiegend Ukrainerinnen, oder auch Polinnen und Polen?
Die Proteste werden überwiegend von Ukrainerinnen getragen. In Polen gab es ja auch schon vor dem Beginn des Krieges 2014 eine große ukrainische Diaspora. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zum Arbeiten nach Polen gekommen. Aber nach dem Februar 2022 haben sich auch sehr viele Polen beteiligt und übrigens auch viele Menschen aus Belarus. Es gab Proteste im ganzen Land, in Wrocław, in Krakau, in Poznań und vielen anderen Städten. Über eine lange Zeit gab es fast wöchentlich Proteste, aber seit einer Weile wird es weniger. Mein Eindruck ist, dass auch die Menschen in Polen langsam müde werden von diesem Konflikt. Wenn man bedenkt, dass die polnische Gesellschaft sehr ablehnend gegenüber Migranten eingestellt ist, dann war die Solidarität nach Beginn der Vollinvasion und die Bereitschaft, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen wirklich beeindruckend. Aber das lässt jetzt nach und vereinzelt wird auch Unmut über die Geflüchteten laut. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wir froh sein können, dass wir nicht direkt vom Krieg betroffen sind. Wir können uns ja nicht einmal sicher sein, dass das nicht noch kommt.
Haben die Menschen in Polen Angst vor der russischen Aggression?
Ja. Sie sprechen oft darüber, was passieren würde, wenn Russland unser Land angreift. Das ist gar nicht so unrealistisch, gerade wenn man unsere Geschichte kennt. Polen war ja mehrfach von Russland besetzt.
An wen richtet sich der Protest?
In Warschau haben sich die Demonstrierenden meistens vor der russischen Botschaft getroffen, sind dann vor das Parlament gezogen und schließlich in die Innenstadt. Sie hatten also mehrere Adressaten: Russland, die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft. Oft haben sich ihnen auch polnische Politiker angeschlossen.
Wie ist das Bild von dem verrußten Beton entstanden?
Nach der Welle von Raketenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt Anfang Februar 2024 habe ich den Schauplatz im Südwesten von Kyjiw besucht, wo Trümmer eines abgeschossenen Marschflugkörpers niedergegangen sind. Es gab mehrere Tote und einige Wohnungen wurden zerstört. Ich habe mich einer Gruppe Freiwilliger angeschlossen, die Trümmer beseitigten und verbrannte Möbel wegräumten, damit die Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden können. Das ist gewiss nicht mit dem vergleichbar, worunter derzeit die Menschen in Charkiw und anderen frontnahen Städten zu leiden haben. Aber selbst an Orten wie Kyjiw, die relativ gut durch Flugabwehrsysteme geschützt sind, besteht immer noch ein Risiko, unter russischen Beschuss zu geraten.
Sie haben sich für ein abstraktes Motiv entschieden. Warum?
Die Medien zeigen täglich Bilder von Leid und Zerstörung. Ich fahre nicht an die Front, ich mache keine News-Fotografie. Ich interessiere mich mehr für das, was nach diesen traumatischen Ereignissen passiert, wenn der Rauch sich verzogen hat und das Leben wieder beginnt. Ich möchte zeigen, wie der Krieg auch jenseits der großen Katastrophen seine Spur in den Städten und im Leben der Menschen hinterlässt. So arbeiten wir übrigens auch beim Archive of Public Protest. Es geht um mehr als nur Berichterstattung, wir wollen die Perspektive öffnen.
Fotografie: Rafał Milach Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 11.06.2024
dekoder: Herr Palinchak, ein Soldat schaukelt auf einer Kinderschaukel. Was war da los?
Mykhaylo Palinchak: Im Februar war ich zusammen mit einem Journalisten in einem Dorf nahe der Front im Donbas. Einige Soldaten haben uns eine zerstörte Schule gezeigt. Während mein Kollege Interviews führte und ich Bilder machte, wurde einem der Soldaten langweilig und er setzte sich auf die Schaukel. Als er merkte, dass ich ihn fotografiere, stand er sofort auf.
Beide Bilder strahlen etwas von dem kühnen Widerstandsgeist aus, mit dem die Ukrainer die Welt verblüffen. Manchmal wirkt es, als warteten ausgerechnet wir im Westen auf eine Aufmunterung durch die Ukrainer, um selbst nicht zu verzagen.
Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr habt die Wahl, hinzusehen, was in der Ukraine passiert, oder wegzuschauen. Die Nachrichten aus der Ukraine zu verfolgen oder nicht. Wir Ukrainer haben diese Wahl nicht. Wir können die Nachrichten nicht einfach abschalten, denn das passiert mitten unter uns. Wir können nicht davor weglaufen. Wir haben keine Wahl als zu kämpfen. Und wer kämpft, braucht Motivation und Hoffnung. Er muss an sich glauben, sonst kämpft er vergeblich.
Der Hund auf dem zweiten Bild hat offenbar die richtige Einstellung. Ist es am gleichen Ort entstanden?
Nein. Das war in einem anderen Dorf an der Grenze zwischen der Oblast Mykolajiw und Oblast Cherson. Anfang März habe ich einige freiwillige Helfer begleitet, die die Menschen in den befreiten Gebieten im Osten versorgen. Wir sind drei Stunden über Land gefahren, bis wir dort ankamen. Das Dorf war besetzt gewesen, bei heftigen Kämpfen wurden fast alle Gebäude zerstört. Heute leben dort noch 25 Menschen. Sie versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Dorf liegt so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, dass nur selten Hilfe kommt. In Kyjiw und anderen Großstädten bemüht sich die Verwaltung, die Schäden nach jedem Angriff schnell zu beseitigen und Gebäude wieder aufzubauen. Aber obwohl dieses Dorf schon im September 2022 befreit wurde, sieht es immer noch so aus, als wäre die Front erst vor kurzem darüber hinweggegangen. Es stecken noch immer Granaten und Blindgänger in den Gärten. Man bekommt dort eine Ahnung davon, was es heißt, dass große Gebiete der Ukraine mit Minen und Artilleriegeschossen verseucht sind. Trotzdem ist die Moral dieser Menschen hoch. Sie wollen ihr Leben weiterleben, sie wollen ihre Häuser wieder aufbauen. Sie brauchen nur etwas Unterstützung.
Bringen die Helfer Lebensmittel?
Die Organisation, mit der ich unterwegs war, bringt vor allem Saatgut. Die Menschen dort leben von dem, was sie selbst anpflanzen. Früher haben sie Melonen und Tomaten angebaut. Jetzt sind die Gewächshäuser und die Traktoren zerstört und die Felder mit Munition verseucht. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird, das alles wieder aufzubauen.
Fühlen sich die Menschen allein gelassen?
Ich glaube, sie verstehen, dass die Regierung nicht überall zugleich sein kann. Gerade wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, aber es geht eben sehr langsam voran. Ich finde, da gibt es auch eine Lücke in der Berichterstattung über den Krieg: Die konzentriert sich meistens auf die Raketenangriffe auf Kyjiw und andere große Städte oder auf die Frontbewegungen. Das Leben der Menschen in dem großen Raum dazwischen wird oft vergessen. Neulich habe ich mit einem Minenräumer gesprochen, der hat mir erzählt, dass sie in der Oblast Charkiw vor der russischen Vollinvasion jeden Monat Hunderte Alarme hatten, weil Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Dieser Krieg ist jetzt bald 80 Jahre her, und es wird immer noch Munition gefunden. Und jetzt kommt die Munition aus dem neuen Krieg noch dazu.
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Johanna-Maria Fritz
Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz
dekoder: Wie ist dieses Bild entstanden?
Johanna-Maria Fritz: Ich arbeite gerade an einem Fotobuch zur Jugend an der Front. Dafür porträtiere ich Teenager und junge Männer, die als Soldaten kämpfen, aber auch solche, die einfach nur in der Nähe der Front leben. Ich bekam die Nachricht, dass in Zorya eine Beerdigung stattfindet. Der kleine Ort liegt etwa zwanzig Kilometer westlich von Awdijiwka im Gebiet Donezk.
Um wen trauern die Menschen hier?
Dima ist mit 20 Jahren in Bachmut bei einer Angriffswelle der Russen getötet worden. Er ist im Gebiet Donezk in der Ostukraine geboren und aufgewachsen. Als der Krieg begann, war er elf Jahre alt. Mit 18 hat er sich freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet. Seine Eltern sind vor zwei Jahren vor der russischen Großinvasion geflohen, sie leben jetzt in Kyjiw. Aber sie wollten ihren Sohn in ihrem Heimatort beerdigen. Nadia, seine Mutter, sagt, sie hoffe, dass die Russen ihr ihren Sohn nicht ein zweites Mal nehmen: Erst haben sie ihn getötet, jetzt drohen sie, auch den Ort einzunehmen, wo er beerdigt ist. Die Frau, die über seinem offenen Sarg steht, ist seine Großmutter, die um ihren Enkel weint. Neben ihr steht Dimas Freundin Sofia, sie hält seine Mutter an der Hand.
Drei Generationen, aber die Gesichter der Frauen sind vom Schmerz so verzerrt, dass es fast aussieht, als wären alle im gleichen Alter.
Ja, das ist mir in der Ukraine häufig aufgefallen, besonders bei Soldaten: Ich habe Soldaten gesehen, die waren Ende 20, aber sie sahen aus wie Ende 40.
Sie berichten seit Beginn der russischen Großinvasion aus der Ukraine. Nach der Befreiung von Butscha waren Sie dort eine der ersten Journalistinnen. Verschmelzen eigentlich die Schrecken, die sie gesehen und fotografiert haben irgendwann zu einer ununterscheidbaren Masse?
Ich bin trotz allem jedes Mal neu betroffen. Dieses Bild ist für mich eines, auf dem man den Schmerz am deutlichsten sieht, den dieser Krieg verursacht. Ich habe fotografiert und dabei geweint. Es gibt aber auch manchmal Momente, in denen ich nicht fotografieren kann. Einmal wurde ich in einen Keller gerufen. Dort hatte eine Frau gerade ein Kind zur Welt gebracht, während draußen die Bomben fielen. Da habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, meine Kamera hochzunehmen. Die Umstände waren fürchterlich, aber gleichzeitig war es so ein besonderer Moment für die junge Mutter, den wollte ich ihr nicht kaputt machen.