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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Jahr des historischen Gedenkens

    Jahr des historischen Gedenkens

    Julia Artjomowa, 1985 geboren, hat sich in Belarus als Autorin einen Namen gemacht. In ihrem 2021 erschienenen Roman Ja i jest rewoljuzija (dt. Ich bin die Revolution) erzählt sie „eine sehr aufrichtige, sehr weibliche und sehr verruchte Geschichte: über Revolution und Liebe, über Brüderlichkeit und Schwesternschaft, über den Zerfall von Illusionen und das Erwachsenwerden als Wahl“. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft, der im Titel sarkastisch auf das von Alexander Lukaschenko verkündete Jahr des historischen Gedenkens anspielt, reflektiert Julia Artjomowa (die mittlerweile in der Ukraine lebt) die Gewalteskalation, die sich im Zuge der historischen Proteste 2020 in ihrer Heimat und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in ihrer Region eingestellt hat. Und sie fragt sich, ob man mit dem Wissen um diese schreckliche Gewalt überhaupt noch an diese Orte zurückkehren kann.

    Russisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Diesen Text kann ich nur in der ersten Person schreiben. Normalerweise würde ich ihn niemandem zeigen – Tagebucheinträge sind nicht für fremde Augen bestimmt, und das hier ist fast einer. Aber wir haben (kein) Glück – wir leben in einer Zeit und an einem Ort, wo unsere Erinnerungen zu Tagebüchern werden und unsere Tagebücher zu Dokumenten. Unsere Balkone und Fenster werden zu Tribünen, unsere Körper zu Zeugen und Beweisen von Verbrechen. Die Buchstaben presst du mühevoll aus dir heraus, weil es dir wie so vielen die Sprache verschlägt, deine Stimme ist heiser, aber immer noch da, und deswegen muss sie erklingen, ja, muss. Daher kann ich diesen Text schlichtweg nicht nicht veröffentlichen.

    Ich glaube, es war im Februar 2021. Wirklich, im Februar? War es nicht Januar? Oder doch März? Vielleicht schon im Dezember? Ich weiß noch genau, dass es geschneit hat – doch das ist ein zweifelhafter Anhaltspunkt. Herrscht in Belarus in diesen Monaten nicht fast immer unerträglich graues, matschiges Schneewetter? Oder hat sich in diesen Tagen einfach alles verknäuelt, verklumpt, verklebt, wie ein Schneeball, zu einem einzigen langen Monat des Wartens? Aber für das hier sind Chronologie und dokumentarische Genauigkeit überhaupt nicht wichtig. Also, sagen wir Februar. Im Februar 2021 trieb ich mich abends in der Stadt herum und machte ein paar Besorgungen. Auf dem Heimweg wollte ich Geld abheben. Ich suchte in der App den nächsten Geldautomaten und machte mich auf.
    Auf halbem Weg erwischte es mich. Eine Druckwelle versetzte mich zurück in die jüngste Vergangenheit. Ein halbes Jahr zuvor hatten mein Freund Kolja und ich uns öfter genau bei diesem Geldautomaten getroffen. Das war einfach ein praktischer und eindeutiger Treffpunkt. Am Samstag, den 15. August, um 12 Uhr waren wir von hier aus zusammen zur Beerdigung von Alexander Taraikowski gegangen.
    Damals, an jenem Februarabend im Schnee, begriff ich, dass es die Stadt meiner Kindheit, die Stadt, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, nicht mehr gibt. In Minsk gibt es keine Geschäfte mehr, keine Läden, keine Höfe, Zäune, Cafés. Minsk ist überzogen mit einem Netz aus Narben: Da drüben sind wir davongerannt – und dorthin entkommen; da haben wir uns in der Hauseinfahrt versteckt; da haben wir gestanden und gesehen, wie sie auf die Menschen einprügeln und sie auseinandertreiben, und waren selbst erstarrt; da eine Spur von einer Blendgranate; da marschierten die Frauen durch; da wurde mein Mann Shenja geschnappt, und jedes Mal – wirklich jedes Mal – wenn wir an dieser Stelle vorbeifuhren, sagte er: „Da haben sie mich festgenommen“; dort waren im Winter die Hofproteste mit dem Nachbarbezirk; da standen wir in der Solidaritätskette, zusammen mit Roma und anderen Leuten aus unserem Hof. Und da, da wurde Roma umgebracht. 
    Ich schließe die Augen. Auf dem Stadtplan gibt es keine blinden Flecken mehr, keine sauberen Stellen, keine Erinnerungen mehr an das vorrevolutionäre Leben. Erstaunlich, wie das Gedächtnis funktioniert – es legt sich in Schichten übereinander wie Wandverputz. Und jede neue Schicht scheint die vorherige zu verwischen, zu überdecken, zu ersetzen. 
    Was ist auf der vorigen Schicht? Straßen, die ich als verliebte Sechzehnjährige entlangspazierte, mit immer derselben Kassette im Walkman. Den Park zehn Minuten von unserem Haus entfernt, in den meine Mutter immer mit mir ging, als ich klein war. Den Hof, wo meine beste Freundin und ich so gern saßen, uns am Karussell drehten und billigen Rotwein direkt aus der Flasche tranken, die wir uns teilten. Sogar die Schule, die ich neun Jahre lang besuchte, ist jetzt die, die an mein Wahllokal grenzt, und meine Lehrer sind zu Mitgliedern der Wahlkommission geworden, die ein gefälschtes Protokoll unterschrieben haben. Als hätte es mich als Sechzehnjährige nie gegeben. Das Private ist politisch. Mein Privates wurde in nur drei Tagen, 9. bis 11. August, mit einem groben Radiergummi aus dem Stadtplan gelöscht. Tage der Folter. Unser 9/11.   
    Wäre es doch nur die Stadt. Aber auch ganz normale Dinge bekamen plötzlich eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn. Im August/September/Oktober 2020 waren wir ein riesiger Menschenfluss. Wie der kleine Fluss Nemiga, der einst in eine Betonröhre gezwängt wurde. Als unsere Demonstrationen endgültig von der Straße verdrängt waren, wurden gewöhnliche Bänke, Zäune, Bäume, Aufzüge und Haltestellen zu Plakaten, zu Leinwänden für politische Statements. Die Wände verlassener Häuser und normaler Plattenbauten fingen an zu weinen wie Ikonen: Nichts vergessen, nichts verzeihen. Diese Worte in roter Schrift drangen immer und immer wieder durch mehrere Schichten weißer Farbe. Als die Schichten zu viele wurden und die Buchstaben nicht mehr durch die Farbe schimmerten, wussten alle, was sich hinter den weißen Rechtecken verbarg.   

    ***

    Ein Junimorgen, Samstag, im Zentrum von Warschau. Meine Schulfreundin und ich sitzen auf der Terrasse eines Cafés (sie war immer einfach meine Schulfreundin gewesen, bis sie zu eben jener Freundin aus Irpin wurde, die mit ihrer Mutter und ihrer Katze zehn Tage unter Beschuss der Stadt überlebt hat). Hier in Warschau ist der Krieg überhaupt nicht spürbar, auch wenn überall viele ukrainische Flaggen hängen, sehr viele. Ich stelle meiner Freundin eine Frage, die mir schon lange im Kopf herumgeht: „Willst du zurück in die Ukraine?“ Sie sagt: „Weißt du, ich würde gern manchmal hinfahren, mal eine Woche oder zwei nach Lwiw oder Kyjiw, mal nach Odessa oder in die Karpaten. Aber richtig zurück … Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich jetzt in Irpin leben soll, wo in dem Park mit Designerbänken Menschen beerdigt wurden.“
    Sie redet und redet, und ich höre ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, sie spricht, und ich  merke mir, was sie sagt, sie spricht, und ich begreife – sie antwortet für uns beide, sie beantwortet auch meine eigene Frage, vor der ich jedes Mal wieder Angst habe, weil ich dann ehrlich mit mir selbst sein muss. Will ich zurück nach Minsk? Will ich jeden Tag vor meinem Fenster den Hof sehen, in dem mein Nachbar Roma erschlagen wurde? Will ich auf dem Spielplatz, der jetzt eine Gedenkstätte ist, Kaffee trinken? Will ich durch Straßen gehen, in denen Menschen geprügelt wurden, wo auf Menschen geschossen wurde, wo Granaten auf Menschen geschleudert wurden?

    Es ist unmöglich, in einer Stadt leben zu wollen, in der Parks zu Massengräbern und Spielplätze zu Gedenkstätten werden.

    So wird mir ein Jahr nach meiner Ausreise, während ich in der Warschauer Morgensonne sitze, endgültig bewusst – du kannst nicht zurück nach Minsk, diese Stadt gibt es nicht mehr, sie existiert nur in deinem Gedächtnis, sie besteht aus erinnerten Bildern wie Frankensteins Monster. Wir wollten sie umschreiben, aber haben es nicht geschafft. Jetzt ist sie nurmehr der Entwurf einer Stadt, der von einem unfähigen Schriftsteller mittendrin verworfen wurde. 
    Und trotzdem, und trotzdem ist es die Stadt, in deren Adern die Nemiga unseres Widerstands fließt. Wieder schlage ich mein Tagebuch auf und lese den Eintrag:  

    Letzten Sommer waren mein Mann und ich Fahrradfahren. Wir fuhren über die Stela auf den Siegerprospekt. Im Jahr davor hatte diese Gegend an Sonntagen ganz anders ausgesehen, und wir hatten so sehr gehofft, dass wir die Sieger sein würden. Jetzt überall rot-grüne Flaggen, demonstrativ viele, mehr als Menschen weit und breit. Und was für Menschen. Gleichgültige, die herumspazierten, als wäre nichts gewesen. Als hätten wir wirklich das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es war bitter – vor einem Jahr noch war hier ein weiß-rot-weißer Fluss geflossen. Wir setzten uns auf eine Bank vor ein Gebäude mit dem Schriftzug: Minsk – Heldenstadt. Ich verschwand in meinem Handy, um mich abzulenken. Auf die nächste Bank setzte sich ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn. Zufällig drang ihr Gespräch zu mir durch, es war nicht zu überhören – sie sprachen Belarussisch. Das war wie ein kleines Wunder. Als würde dir die Stadt in dem Moment, in dem du die Hoffnung verlierst, zuzwinkern.       

    Minsk gibt es nicht – es existiert nur in unserem kollektiven Gedächtnis.

    Minsk gibt es – es existiert in unserem kollektiven Gedächtnis. 

    Und solange wir uns an alles erinnern, gibt es eine Chance. Eine Chance, die Stadt neu zusammenzusetzen, die Narben mit Tattoos zu verdecken, den Orten neuen Sinn zu verleihen. Hinaus auf die Straßen zu gehen und sich die Stadt zurückzuholen. Keine neue Seite aufzuschlagen, sondern diese sauber umzuschreiben, ins Reine. Dort Gedenkstätten zu errichten, wo der Schmerz wirklich groß war. Nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen. Den Straßen neue Namen zu geben. Die Nemiga aus dem Rohr zu befreien. 

    ***

    Es gibt noch etwas, das unser kollektives Gedächtnis lange prägen wird. 2020 haben die Belarussen eine erstaunliche Kraft in sich entdeckt, aus der unsere Nationalidee entstand. Damals war niemand in der Lage, diese Kraft richtig zu benennen, keiner konnte diese Idee formulieren. Die unglaublichen Belarussen? Das klang zu begeistert und zu naiv. 
    Jetzt, wo unsere ukrainischen Nachbarn so hingebungsvoll für ihre Freiheit kämpfen und uns manchmal Schwäche und Feigheit vorwerfen, ist es besonders schwer, sich das nicht zu Herzen zu nehmen, sich nicht selbst zu geißeln und sich nicht zu schämen. Wir hören nicht auf zu vergleichen. Und immer schneiden wir schlecht ab bei diesem Vergleich. 
    Doch auch, wenn wir uns so ähnlich sind, so sind wir doch ganz verschieden. Während die Ukrainer sagen: „Kämpft, und ihr werdet gewinnen!“, sagen wir: „Wir werden nicht vergessen, nicht verzeihen.“ Und diese Worte scheinen mir die ehrlichste und treffendste Losung von allen zu sein, die aus unserer gescheiterten Revolution 2020 hervorgegangen sind. Diese Worte sprechen aus jedem verletzten Herz. Diese Worte stehen für 9/11 genauso wie für Taraikowski, Bondarenko, Schutow und Aschurak. Diese Worte stehen für Sawadski, Gontschar und Sacharenko. Für 1307 politische Gefangene. Für 30 Journalisten, die von Repressionen betroffen sind. Für 28 Jahre ohne Wahl. Für Dima Stachowski, den 17-jährigen Jungen, der wegen Teilnahme am Protest strafrechtlich verfolgt wurde und Selbstmord beging. Für Andrej Selzer. Diese Worte stehen für Hunderte von Raketen, die seit Februar von meinem Land aus auf die Ukraine abgefeuert werden. Sie stehen für Kuropaty. Die Worte stehen für Bykau, Karatkewitsch, Kupala und Kolas. Die Worte stehen für die Nacht der erschossenen Dichter.    

    Heute, da ich in der Ukraine bin, sehe ich jeden Tag, wie sogar auf dem unfruchtbarsten Boden Leben entsteht. Es bahnt sich seinen Weg durch Schmerz, Krieg und Horror. Ich weiß, das ist es, was mein Volk am besten kann, genau das ist die nationale Idee der Belarussen – nicht zu kämpfen, sondern wie Gras durch den Asphalt zu dringen, trotz des rauen, harten Winters. Zu wachsen, wo sonst nichts mehr wächst. Zu überleben, zu leben und zu gedenken, sich immer wieder zu erinnern. Nicht zu vergessen, nicht zu verzeihen.
    … nicht zerschlagen, nicht stoppen, nicht aufhalten.

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    Ich sehe das, was in meinem Garten ist

  • Ich sehe das, was in meinem Garten ist

    Ich sehe das, was in meinem Garten ist

    Tania Arcimovich, 1984 geboren, gehört im belarussischen Kulturraum zu den bekanntesten Intellektuellen ihrer Generation. Die Autorin und Theaterregisseurin hat zahlreiche Bildungsprojekte und Ausstellungen kuratiert, sie ist Herausgeberin der Kunst- und Kulturzeitschrift pARTisan/pARTisanka. In ihren Arbeiten ist sie immer wieder bestrebt, belarussische Kulturphänomene und gesellschaftspolitische Ereignisse in ihrer Heimat außerhalb der üblichen Grenzen und Fixpunkte zu deuten und zu interpretieren. So auch in diesem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. In diesem Text fragt sich Tania Arcimovich, was in Belarus im Zuge der historischen Proteste im Jahr 2020 eigentlich passiert ist und was diese politische Mobilisierung für eine mögliche Zukunft ihres Landes bedeuten könnte. Dabei setzt sie nicht auf eine kollektivistische Erfahrung, sondern auf die Entwicklung der individuellen Eigenverantwortung.

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Ich möchte von den Geschmeidigen reden. So heißt ein Buch von Nora Bossong, das ich vor einigen Monaten im Buchladen sah, in dem ich blätterte, den Klappentext las und wusste: Das ist mein Buch. Meines, nicht weil es von mir handelt, denn das ist schon wenigstens deshalb unmöglich, weil die Autorin und ich unterschiedliche geografische und kulturelle Ausgangspunkte haben. Doch wir gehören derselben Generation an, sind Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme – nur der jeweils anderen Seite der Mauer. Rückblickend und analysierend, was in den letzten Jahren geschehen ist, sitzen wir beide scheinbar auf den Ruinen unserer Träume und sortieren Steine. Bossong beginnt mit dem Ende einer Ära, und das ist genau das, was auch ich empfinde, wenngleich unsere „Ären“ und ihre „Enden“ sicher verschiedene sind. Oder nicht?
          Das war meine heimliche Absicht – ich wollte beim Lesen des Buches in mich hineinhören, was um mich herum und mit mir geschehen war, ihr Fragen stellen, widersprechen oder zustimmen. Natürlich geht es nicht um die Ereignisse an sich, sondern um deren Wahrnehmung – basierend auf persönlichen Erfahrungen, Ängsten, Traumata, meinem sozialen und kulturellen Körper, der die für ihn vorherbestimmte Biografie ausführen sollte. Oder kann diese Vorherbestimmung durchbrochen werden? Unabdingbar ist es jedenfalls, die Gründe für die bestehende Asymmetrie der Geografien zu verstehen, die meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft bestimmt. Denn wenngleich ich eine Vergangenheit habe und in einer Gegenwart – wie auch immer sie aussehen mag – stehe, so wird mir doch, wenn ich den westlichen Politikern zuhöre, eine Zukunft verwehrt. Auf der Landkarte gibt es mich nicht mehr. 
          „Bei euch ist es doch still“, sagte eine Frau auf der Straße zu mir. „Genau,“ antworte ich, „wie auf dem Friedhof.“ Und dachte bei mir, wie soll man erklären, dass still nicht nur bedeutet, dass nichts passiert, es bedeutet auch den Wunsch, etwas zu hören. Daraus folgt, dass meine einzige Chance auf eine Zukunft wohl ist, in eine andere Haut zu schlüpfen – in eine weißere, in einen anderen Körper, aufgeben, mich anpassen – eine Europäerin werden? „Sie müssen wohl über einen anderen Beruf nachdenken, Philologen werden hier nicht gebraucht.“ Beim nächsten Mal, denke ich, muss ich mich vorbereiten und mir eine fundierte Antwort auf die Frage überlegen, was ich beruflich mache. 
          Vielleicht Gärtnerin?

          Cyanobacteria

          Ich möchte einen Garten anlegen, in dem sechshundertsiebenundvierzig Pflanzen wachsen. Das habe ich nie getan, ich meine, Pflanzen pflanzen, also eigentlich habe ich welche gepflanzt, aber sie sind immer auf meinem Fensterbrett gestorben. Als mir eines Tages auffiel, dass eine Pflanze zu vertrocknen beginnt, habe ich ihr nur beim Sterben zugesehen. Doch die Pandemie hat meine Einstellung grundlegend verändert. Als der März-Lockdown in den EU-Ländern 2020 meine Pläne komplett umgeworfen hatte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich saß in Selbstisolation im Dorf fest und begann zu pflanzen – Sträucher, Gemüse, Zierpflanzen, Blumen. In dieser Zeit entdeckte ich auch Lynn Margulis und ihre Theorie der Symbiogenese, mit der sie jahrzehntelang die Neodarwinisten herausgefordert  hatte, doch erst in den letzten Jahren war ihre Stimme in breiteren Kreisen wahrgenommen worden.
          Der Theorie der Symbiogenese zufolge findet Evolution nicht aufgrund von Konkurrenz oder Genmutation statt, sondern als Ergebnis physischer Zusammenarbeit und Interaktion zwischen unterschiedlichen Arten von Organismen. Somit hat die Evolution nicht beim Menschen geendet, er ist nur eine ihrer Etappen. Wenn sich der Mensch also der Natur entgegenstellen möchte – als höchstes, herrschendes Lebewesen – dann ist das naiv. Bakterien leiten das Ökosystem, sie sind die höchsten Lebewesen, sagt Margulis, denn der Abfall der einen ist die Energiequelle der anderen. Ein geschlossener Kreislauf. Davon kann der Mensch nur träumen. Aber gerade weil es zwischen Mensch und Bakterien viel mehr Gemeinsamkeiten gibt, als wir uns vorstellen – auch wir sind ein Ökosystem – haben wir eine Chance.
          Das Gefühl der Veränderung verstärkte sich nicht nur durch meine persönlichen Erfahrungen. Letztlich war die Pandemie für die belarussische Gesellschaft, wie auch für andere periphere Gesellschaften, kein Schock – denn die Menschen hatten sich noch nie in Sicherheit gefühlt. Wie viele andere stellt auch Nora Bossong fest – und zitiert hier die Wissenschaftlerin Hana Gründler – dass die Pandemie insbesondere „die Unverletzlichkeit der westlichen Welt“ in Frage gestellt habe. Es sei die erste „kollektive Krise“ für ihre Generation gewesen, schreibt Bossong, begleitet vom Verlust des Kontrollgefühls. Doch während in den EU-Staaten die Nachrichten aus anderen Breitengraden ihre Bedeutung verloren – „die Grenzen im Kopf wurden so hoch gezogen wie die der Nationalstaaten“ – las ich sogar in meinem Garten in der tiefsten Provinz sorgsam die Nachrichten aus aller Welt. Die Welt muss sich grundlegend verändern, dachte ich, war allerdings unsicher, ob dies schnell und unter Berücksichtigung der jeweiligen Geografien geschehen würde. Deshalb müssen die, die am Rande sind, wissen, was in der großen Welt vor sich geht. Es gibt die Hoffnung einer echten Wende  – dass diese Zwangspause zum Trigger für eine wirklich radikale Revision der bestehenden sozialen und politischen Systeme und ethischen Normen wird. Daran glaubte ich wirklich, denn die Entledigung von gewohnten Existenzmustern, das Pausieren von allem, – ist das nicht ein Momentum, in dem man sich der wirklichen Bedürfnisse bewusst wird? 
          Das hätte das Ende für Neoliberalismus und Kapitalismus bedeuten müssen, die zwar nicht Teil meiner Erfahrungswelt waren, von denen ich aber wünschte, sie blieben nicht der einzige Ausweg aus dem Autoritarismus, in dem ich lebe. 
          In Belarus begann derweil die Wahlkampagne.

          Wir-Sätze

          Als Jugendliche las ich weder Marx noch Engels, wir sprachen nicht über Politik und gingen nicht zu Demonstrationen. Die Welt endete mit der Grenze des Stadtteils, das Schulwissen war abstrakter Natur. Auch wenn die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, real war das, was vor dem Fenster geschah. Warst du in einer Arbeiterfamilie an der Peripherie geboren, war deine Biografie schon geschrieben. Du musstest sie nur noch still und leise leben. Tschernobyl „gab es nicht“, Umweltkatastrophen „gab es nicht“. Von Konsum wussten wir auch nichts, denn es gab nichts, das in kapitalistischem Sinne hätte konsumiert werden können. Die Generation der Schlüsselkinder und der Tüten in einer Tüte – so nennen uns die Soziologen manchmal. Damit die kleinen Kinder den Schlüssel für die Wohnung nicht verloren, in die sie nach der Schule allein zurückkehrten und bis zum Abend auf die Eltern warteten, hing der Schlüssel an einer Schnur um den Hals. Und Plastiktüten waren immer Mangelware, deshalb wusch und trocknete man sie, um sie sorgfältig zusammengefaltet in einer Plastiktüte aufzubewahren.
          Die Frage der Freiheit stellte sich uns, doch sie war eher universell, es ging um eine innere Freiheit, die geeignet war, die eigene Biografie zu durchbrechen. Teil der großen Welt zu werden, deren Bild sich aus Büchern und Fernsehsendungen speiste, davon träumten wir. Die Ereignisse dieser Zeit – Krieg in Jugoslawien, Putsch in Moskau, Krieg in Tschetschenien, Referendum in Minsk 1996 – all das war unwirklich, jenseits unseres Einflusses, es existierte einfach für sich. Freiheit und Politik gingen getrennt, liefen einzeln nebeneinander her.
          Ich schreibe über mich als Wir, weil auch ich eine Generation wahrnehme – keine der Geschmeidigen, sondern eine der von der Geschichte Isolierten. Damals gab es noch keine Wir-Sätze, eher eine Wir-Masse. Die Sätze kamen erst später auf, verschafften sich während der Pandemie laut Gehör. Denn während für die Bewohner der westlichen Länder eine Atomisierung stattfand, wurden in Belarus, wo die Mehrheit endlich der Gewaltfunktion des Staates gewahr wurde, gerade wir zum Trigger für die Geburt des politischen Willens. Das Alte begann endlich zu sterben, markierte den Beginn einer riesigen Krise, deren Ausgang etwas Neues sein musste. Etwas Neues?
          Wie auch Bossong schreibe ich hier „wir“ und bin mir dabei der Bedingtheit dieser Wir-Sätze bewusst. Wer ist wir? Diejenigen, die nach langer Zeit der Isolation ihr Recht auf die eigene Geschichte realisierten, gleichzeitig aber begannen, sich in ihrer Heimat wie Fremdkörper zu fühlen, da sie schon nach anderen Maßstäben lebten? Oder diejenigen, die bis zur Pandemie vollkommen entspannt in die bestehende autokratische Normalität integriert waren und dabei bewusst von politischen Freiheiten und Rechten absahen? Oder diejenigen, für die erst die Gewalt im Akreszina-Gefängnis, wo die Mächtigen nach den Wahlen 2020 tausende Menschen folterten, das Fass zum Überlaufen brachte? Oder diejenigen, die auch heute noch verbrecherische Befehle ausführen, die Propaganda mittragen, foltern und Verrat begehen? 
          „Nicht alle wollten Teil dieses Wir sein – eines Wir, das sie selbst nicht bestimmt haben“, schreibt Bossong. Umso mehr, da für Politiker – egal ob Nationalsozialisten oder Linke – der Kampf um dieses Wir, um das Recht, in seinem Namen zu sprechen (das wohlbekannte „Wir sind das Volk“), entscheidend bleibt. Und so geschieht es im Moment der politischen Revolution, dass der Wunsch, dieses Wir zu meiden, als Verrat an der Revolution verstanden werden kann. Aber ist das nicht auch eine Art Manipulation? Wenn die Idee im Raum steht, eine neue soziale und politische Struktur (zum Beispiel ohne Parteien und Anführer) zu schaffen, ist es dann nicht auch an der Zeit für neue Strategien? Ich möchte schon jetzt komplex denken und empfehle das allen um mich herum. Doch darauf erhalte ich nur ablehnende Reaktionen, da es in der aktuellen Abwesenheit einer politischen Landschaft – in dieser Wüste, in die sich Belarus verwandelt hat – nicht möglich zu sein scheint, in solchen Kategorien zu denken: „Erst siegen wir, dann kommt die Zeit für politische Programme.“
          Ich will aber nicht warten. 

          Wenn das Alte stirbt

          Im Verlauf ihres Buches bezieht sich Nora Bossong immer wieder auf Antonio Gramscis Idee von der Krise, die demnach darin besteht, dass das Alte gestorben, das Neue aber noch nicht geboren ist und dieser Zwischenraum von bestimmten Krankheitserscheinungen geprägt ist. Darüber hinaus werden gerade in dieser Periode unterschiedliche Wege des Übergangs zum Neuen gefunden. Die zentrale Frage ist dabei die Zeit, denn eine Krise kann dauern, sich hinziehen, der Übergang aber muss stattfinden, denn das Alte ist tot.
          Nora Bossong stellt die Frage nach der Krise der Demokratie, die nicht mehr als die einzige, beste Option wahrgenommen wird, oder, wie die Autorin feststellt, im steten Prozess der Selbstfindung steckt. Was wie eine Niederlage erscheint, ist nur der nächste Entwicklungsschritt. Es braucht Mut, um diesen Krisen zu begegnen und einen Schritt nach vorn zu machen. Nora wendet sich an ihre Generation als diejenige, die gerade an die Macht kommt – langsam, gegen Widerstände, da die grauhaarigen Herren in blauen Anzügen sie noch immer als „Kinder an der Macht“ bezeichnen. Dennoch geschieht es, und damit geht das einher, was die Autorin als Geschmeidigkeit bezeichnet. Ungeachtet ihrer Jugendträume von radikalen Veränderungen, vor allem in Bezug auf die ökologische Verantwortung, geht die Generation der Geschmeidigen Kompromisse ein (Ökologie aber mit Ökonomie). Weil sie als die Erste Veränderungen doch zu Gunsten von Machtbestrebungen opfert? Haben sie sich angepasst? Sind sie nicht bereit, die Privilegien ihres kleinen bürgerlichen Lebens zu verlieren? Ja, antwortet Bossong, auch wir sind bürgerlich geworden, „vielleicht nicht im klassischen Sinne“, aber doch. Zugleich, führt sie fort, kann eine solche Geschmeidigkeit – ein schnelles und kreatives Reagieren – zuträglich bei der Lösung der Probleme sein, die die Gegenwart aufwirft. In Belarus nennen wir das „Wie Wasser sein“. Doch Wasser füllt nicht einfach bestehende Leere und fügt sich dort ein. Wasser ist eine Naturgewalt, die Raum für das Lebendige erobert und dabei alles zerstören kann, was sich ihr in den Weg stellt.
          „Wir waren freier. Aber Freiheit bedeutet auch die Möglichkeit des freien Falls“, schreibt Nora. Auch wir haben von der Freiheit gekostet und begannen zu fallen. Und ich bin bereit, diese Erfahrung zu machen – auch das Fallen will gelernt sein. Ich frage mich allerdings, wie ich das Gleichgewicht zwischen meinem eigenen Erwachsenwerden und der Brutalität der politischen Wirklichkeit finden kann, deren Zeugin ich bin. Wie kann man darüber nachdenken, dass das Alte gestorben ist, wenn die Gewalt wie ein Gespenst weiterhin in Wellen verschiedene Geografien erfasst? Wie mache ich meinen Frieden mit der Idee, dass die Freiheit ihren Preis hat? Warum muss man für das Recht auf Eintritt in eine andere Zukunft mit Menschenleben bezahlen? Hier meine ich nicht den Eintritt in eine komfortable bürgerliche Welt, sondern in eine radikal andere Zukunft – jene, die der Epoche der Herrschaft, der sozialen Ungleichheit und Ausbeutung ein Ende setzt.
          Und damit meine ich auch die Ausbeutung anderer Lebewesen und Ressourcen durch den Menschen.

          Das Ende einer Ära?

          Eine der schmerzhaften Begleiterscheinungen der Pandemie war für die Bewohner der westlichen Welt die Selbstisolation – die Körper verloren aufgrund der Gefahr, die sie füreinander darstellten, die Möglichkeit einander zu berühren, einander zu spüren und sich zu versammeln. Übrigens ist es strittig, ob das Konzept der Versammlung von Körpern als Äußerung des politischen Willens noch immer ein Merkmal der Demokratisierung ist. Gerade die Anzahl der Körper auf den Straßen der belarussischen Städte 2020 wurde zum Indikator (für wen?) des radikalen Wunsches der belarussischen Gesellschaft nach Veränderung. Diese Gebundenheit an Zahlen war mir schon immer unverständlich. Warum braucht es eine Mehrheit, wenn gleichzeitig in zahlreichen internationalen Organisationen eine einzige Stimme ausreicht, um ein Veto einzulegen? Darin sehen viele heute eine Schwäche der repräsentativen Demokratie.
          Das Gegenteil geschah, als im Verlauf des letzten Jahres immer mehr politische Körper der Belarussen von den Straßen verschwanden. Ein Raum wird von Körpern gesäubert – zeugt das von Zustimmung und Unterordnung? Rückkehr zur „Normalität“? Oder doch von Okkupation durch eine illegitime Regierung? Und hier beginnt der freie Fall der westlichen politischen Theorien, denn es geht ja nicht nur darum, dass sie in autoritären, totalitären Staaten nicht funktionieren. Selbst in demokratischen Staaten verlieren sie ihre Funktion, und die Körper auf der Straße, selbst wenn sie ihren politischen Willen kundtun können, haben keinen realen Einfluss. Das ist das Ende der Agora als schöner Idee. Doch Bossongs Generation kann im Unterschied zu uns wenigstens sagen, dass sie es versucht hat. Und wir? Die Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme auf der anderen Seite der Mauer? Wir sind nicht weiß genug, nicht schwarz genug, wir haben keinen imperialen Mythos im Rücken, und der koloniale interessiert niemanden. 
          In Lynn Margulis’ Schilderung, wie es ihr als junger Forscherin gelang, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, beschreibt sie die Frau als „periphere Visionärin“. Gerade also die Tatsache, dass sie sich „am Rande“ der von Männern dominierten Wissenschaft befand, erlaubte ihr einen anderen Blick auf das Gewöhnliche. In diesem Sinne haben alle, die „zwischen“ verschiedenen Systemen groß geworden sind und isoliert von der großen Geschichte waren, ebenfalls einen Vorteil. Auf Krisen vorbereitet, sehen wir diese Unzulänglichkeiten. Glaubt ihr wirklich, dass eine grüne Wirtschaft durch Verlagerung von Fabriken und Müll in ärmere Länder erreicht werden kann? Oder dass neu errichtete Mauern die Migration stoppen? Ich schaue ein Video, von polnischen Grenzsoldaten durch Stacheldraht hindurch gefilmt, wie belarussische Soldaten auf der belarussischen Seite Migranten misshandeln. Die Polen filmen es als Beweis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einer von ihnen sagt auf Russisch zu den belarussischen Grenzern: „Helft den Menschen.“ Ich schreie: „Hilf du ihnen doch!“
          Ist nicht die Zeit gekommen, die Niederlage der bestehenden politischen Modelle und die Notwendigkeit wirklicher Reformen einzugestehen? Dafür braucht es Mut. Und zwar nicht den, der durch Armeeuniformen demonstriert wird oder sich hinter Reden über Diplomatie versteckt. Man kann nicht in der einen Situation menschlich handeln und in der nächsten die Augen vor dem verschließen, was beispielsweise noch immer an der belarussisch-polnisch-litauischen Grenze geschieht. Denn wie dick die Mauern auch immer gebaut sind, die Pandemie hat uns gezeigt, dass sie nur eine weitere naive „Erfindung“ des Menschen sind. Wenn Margulis also sagt: „Wir leben in einer symbiotischen Welt“, dann heißt das, dass wir auf unterschiedlichsten Ebenen miteinander verbunden sind. „Irgendwo dort“ gibt es nicht, dieses „dort“ wird immer auch Einfluss auf mein „hier“ haben. 
          Als einen weiteren Schritt in Richtung Zukunft sehe ich die Abkehr von diesem Wir; das ist kompliziert, aber unerlässlich. Einerseits wird dieses Wir immer mehr zur Abstraktion, hinter der man ganz praktisch die eigene Verantwortung verbergen kann. Zudem ist dieses Wir immer häufiger defragmentiert, weil es eben gerade nicht erlaubt, komplex zu denken. Andererseits ist dieses Wir, wie auch die schönen Ideen von Gemeinschaft und Kollektivismus, von politischen und konsumfreudigen Losungen korrumpiert. 
          Daher muss nicht das Wir mobilisiert werden, sondern das Ich, um die Verantwortung für den Garten zu tragen, den ich pflege. Denn ich glaube an den Willen und die Kraft gerade dieses Ich, das die heutigen Politiker ignorieren. 
          Und gerade deshalb stehen sie vor der Niederlage.

          tell them we don’t know
          of the politics
          or the science
          but tell them we see
          what is in our own backyard
                   Kathy Jetn̄il-Kijiner, ‘Tell them’, 2011

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    Maxim Shbankou, 1958 in Minsk geboren, hat sich unter anderem mit seinen scharfen und scharfsinnigen Polemiken als Kulturkritiker und -forscher einen Namen in seiner Heimat Belarus gemacht. Zudem ist er einer der Organisatoren des Filmfestivals Bulbamovie, das zwischen 2011 und 2015 in Warschau veranstaltet wurde. In einem Essay voller popkultureller Reminiszenzen, den Shbankou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geschrieben hat, vollzieht er den geistigen und kulturellen Aufbruch des unabhängigen Belarus nach, den er sich als junger Mensch in der Sowjetunion ersehnt hatte. Ein Aufbruch, der aber häufig konträr zu dominierenden politischen Entwicklungen und erzkonservativen Geisteshaltungen verlief. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und einer Radikalisierung des politischen Systems in Belarus ergründet er, was das Versprechen der Zukunft überhaupt noch wert ist und bedeuten kann:  „Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.“

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla

    Die Zeitrechnung endete 2020 und George Orwell verging vor Neid. Die Endzeitliteratur wurde vom belarussischen Nachrichtenstream auf den Müll verfrachtet. Gleichzeitig schwanden auch alle anderen Gruselschriften – vom Prozess über Einladung zur Enthauptung bis hin zum Archipel GULag. Das Happy End verreckte, der Himmel voller Diamanten erwies sich als schwarzes Loch. Nirgends konnte man hinschauen. Nirgends konnte man abschreiben. Alle Partituren zurück auf Null. Meme der Saison: Bleib stehen! Hab Angst! Alle auf Stopp. Alles auf Stopp. Nein, die Erde dreht sich weiter. Kaffeepausen laut Plan. Und da Winter ist, wird wahrscheinlich auch wieder Sommer. Nur werden an diesem Bahnhof keine Fahrkarten nach Morgen mehr verkauft. Ob es je welche gab, ist unklar. Vielleicht liegt es daran, dass es gar kein Bahnhof ist. Bloß eine Eisbude neben einem Provinzzirkuszelt.

    Wenn ich darüber nachdenke, dann hatte ich niemals eine Zukunft. Wobei – niemals. Das halbe Leben auf jeden Fall. Was sagten sie uns immer? „Schau, wenn du mal groß bist …“ Und dann? Nichts. Dann bist du eben groß. Als ich klein war, verfrachteten sie mich in den Kindergarten, man musste lange fahren, mein Physiker-Vater kam immer zu spät ins Institut. Später die Schule, ich laufe auf die Kreuzung, stürze mit dem Knie aufs Eis, es tut weh, da kommt ein schwarzes Auto. Bremst gerade noch. Uff. Noch mal heil davon gekommen. Ich schaffe es noch zum Unterrichtsbeginn. Weiter – höher. Neue Kurse. Alles fremd. Wozu? Weil es so sein muss. Zwei Jahre Wehrdienst. Uni. Dissertation (war langweilig, daher brauchte ich nur die Hälfte der Zeit). Professur. Hochzeit. All sowas eben.

    Die Zukunft schufen andere: die kommunistischen Zombies von den Paradenporträts, die Chefs in spitzen Schuhen und glänzenden Anzügen, die kühnen Baumeister, die das alte Minsk komplett auskämmten, und die Kulturschmuggler, die pünktlich frische Dosen Rock’n’Roll-Gift ins kommunistische Paradies schmuggelten. Kurz gesagt alle, die wenigstens ein bisschen Einfluss hatten und den globalen Rahmen auf den eigenen Eifer zuschnitten. Sicherlich nicht ich – ein Statist in Jeans in einem Theaterstück unter fremder Regie. Ein frischer Ziegelstein in einer Mauer ungewissen Zwecks. Vielleicht Supermarkt, vielleicht Mausoleum.

    Ich habe die Zukunft nicht bestellt, die Zukunft hat mich bestellt. Und es blieben nur drei Möglichkeiten: sich als Bahnschwelle unter diesen Zug legen, vor der Lok herrennen oder an den Rand zu treten. Für jeden Bewohner des Sowjetreichs der späten 1970er Jahre war in der Zone fremder Geräusche und transzendenter Signale, im Bereich der Kultur, die bis an den Rand gefüllt war mit Produkten der Lebensaktivität ausländischer Programmierer, eine Form der Präsenz normal, in der an erster Stelle und unvermeidlich der Pioniereid stand. Dann folgte – das Anderssein des Teenagers. Und schließlich für die dreistesten – die reife und bewusste Abkehr. Praktiken der Selbstidentifikation außerhalb des Systems. Aus der Trias Sex, Drugs and Rock’n’Roll lag das erste noch im Dunkeln, das zweite war unerreichbar. Dafür haute die dritte Komponente mit voller Wucht rein.

    An die Stelle des „Zeit, voran!“ unter rotem Banner – schon damals völlig entleert vom Heldenpathos der Anfangszeit und eingetauscht gegen gestammelte Gesänge von hohen Tribünen – trat die private kulturelle Gestaltung: Welche helle Zukunft bitteschön sollte da sein? Welcher Kommunismus? Welche Subbotniks? Die Zeit drehte und kurvte herum. Sie zerstob zu den Tracks von Led Zeppelin und den Mantren der Doors. Der einzig wichtige Tagesplan war das Programm des polnischen Radiosenders. Wo seit ihrem Erscheinen Tag für Tag die komplette Pink-Floyd-Platte The Dark Side of the Moon lief. 

    Im Land des feierlichen Auf-der-Stelle-Tretens war uns ein kulturelles Plateau zugeteilt, auf dem alles mit Verspätung ankam. Aber doch, oh Wunder, genau rechtzeitig. Lennon und McCartney begann ich vom Ende an zu hören: mit der Kollage  des Weißen Albums und dem Grand Finale Abbey Road. Sobald wir die Tonbandkopien in die Hände bekamen, ging es los. Und so lief es weiter. Eine gebundene Fotokopie der Nowy-Mir-Ausgabe von Meister und Margarita fand ich auf einer Parkbank im Stadtzentrum. Ein exzellenter Platz, um den teuflischen Kater mit der Browning lieben zu lernen. Meine weißen T-Shirts färbte ich in einer Schüssel in der Küche, zu einem Knoten verschnürt – wie die britischen Hippies in der zerfledderten Zeitschrift Anglia

    Während die irren Planer uns Perspektiven formten, lebten wir in unserem selbstgemachten Heute. Das reichte uns vollkommen zum Glück.

    Hier, in diesem Standbild des Welpendunstes gab es kein Gefühl des Kontrollverlustes. Denn es gab überhaupt keine Kontrolle. Von der Komsomol-Versammlung liefen wir direkt zu den strawberry fields. Dort blieben wir und fingen Käfer und pafften Pusteblumen. Ausflippen im abgekoppelten Waggon.

    Wir erwarteten keine Siege, weil der Sieg schon in unseren zotteligen Köpfchen stattfand. Die schwache Selbstidentifikation sprengte jeden Wunsch, Prozesse zu leiten und in Fünfjahresplänen zu denken. Wichtiger war herauszufinden, was da auf der neuesten Kassette der Stones stand – Family oder Country Joe? Und wer hatte sich eigentlich diesen Jungen namens Bananan ausgedacht?

    Die Manöver der Staatspitze und das Lächeln vom Mausoleum beherrschten die ersten Spalten der Zeitungen. Letztlich bedeuteten sie aber nicht mehr als die Stunde Morgengymnastik im Radioprogramm. Selbst als Gorbatschow kam. Die Perestroika klang wie eine idiotische Rochade der Regierung. Plus die eingeschalteten Abgeordnetenmikrofone in unserem grenzenlosen Neubaugebiet. Die Zeit gewann nicht an Tempo. Sie gaben einfach Solschenizyn zurück, gaben Brodsky heraus und tauschten in Karabach Sowjetmief gegen Bleikugeln. 

    Die Volksfronten? Sie kämpften für ein schlecht retuschiertes Gestern und ein trübes Heute. Eigentlich wie ihre Gegner auch. Der Unterschied lag in der Farbe der Flaggen und dem Heldenportfolio. Wieder keine Zukunft. Es war unklar, wer aufrief und unklar, wozu. In diesen Film wollte ich nicht: Ich hatte schon meinen eigenen. Die Choreografie der Reformierer und der Konservierer erschien wie ein Kampf der Papierdrachen, während ich Jimi Hendrix hörte.

    Und was kam dann? Dann kam das Gestern. Immer dasselbe, nur dass anstelle des rotgebannerten sowjetischen Morgen das belarussische Kolchosen-Retro zu uns kam. Das, was sich heute aktiv als polizeilich-militärischer Triumph hervortut.

    Die große Zeit blieb nicht stehen, sondern begann ihren eigenen Schwanz zu jagen wie ein beklopptes Kätzchen. Erst kamen die Demonstranten. Dann die Gefangenentransporter. Dann wurden Kredite verteilt und die Zinsen wucherten. Danach wieder Demonstranten. Und noch mehr Gefangenentransporter. Und fünfzehn Tage für einen Repost. Und dann durfte selbst die Kartoffel das Land nicht mehr verlassen. Und in der Ukraine sind wieder „Nazis“.

    Damals aber, an der Jahrhundertwende, war in der netten Kulturwelt alles greller und bunter. Wir durchforsteten die Archive und studierten das Verpasste. Der Eiserne Vorhang hatte sich irgendwohin verzogen. Die Zensur war eingetrocknet. Für Rock’n’Roll wurde man nicht mehr verhaftet. Europa kam näher, die Grenzen wurden transparenter. Die Bohème bekam britische Journale, schwarze Jeans und polnische Platten. Vor diesem Hintergrund des popkulturellen Glücks war es den abgesonderten aktiven Bürgern noch gleichgültiger, wohin die Machtspitze uns manövrierte. Gleichgültig und unverändert unklar.

    Die Bewegung im Stil der lässigen beautiful People blieb die beste Technik des psychischen Wohlbefindens und ein sicherer Selbstschutz vor den weiteren Mobilisierungen. Die minimalen Karriereoptionen und null Einflussmöglichkeiten auf die bestehende Ordnung wurden vollständig kompensiert durch die Absage des Staates, sich in deine persönlichen Pläne einzumischen. Man konnte weiterhin als Dekor leben, da immer mehr Dekor hinzukam. Der Lebensraum deiner Transitträume erstreckte sich von Porto bis Stockholm.
    Doch hier geht es wieder nicht um die Zukunft. Nicht ums Morgen. Denn all dieser Jazz ertönte hier und jetzt. In unseren unteren Etagen.
    Und wer weiß, was die da oben rauchten? Und ob dort überhaupt noch jemand am Leben war?

    Man kann das leicht als stagnierenden Stupor oder nationale Depression betrachten. Als abgekartetes Spiel der sozialen Stabilität: „Ihr lasst nichts anbrennen – wir üben keinen Druck aus.“ Doch ich würde eine solche Ordnung eher als kulturelle Gleichgültigkeit bezeichnen. Als flackernde Präsenz einzelner Piratensender dort, wo Störsender nicht hin reichen. 
    Ja, das ist ein Spiel mit Metaphern, aber keine verbale Effekthascherei. Einfach nur der Versuch Bedeutungsnuancen mit Wortkonstruktionen zu erfassen. Der hybride Zustand kulturellen Tauchens mit Übergang zum emotionalen Strudel. 

    Dabei haben auch Sinnbrüche einen Sinn. Und in parallelen Sphären findet sich manchmal Licht. So hatte auch unsere nach dem grenzwertigen Präsidenten benannte Provinzdiktatur ihre samtene Periode. Irgendwo in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts ergab sich eine inoffizielle Parität zweier Unabhängigkeiten – derjenigen der Basis und derjenigen der Spitze. Die stille Anerkennung der gegenseitigen Unvereinbarkeit des Old-School-Regimes und der neuen kreativen Klasse. Wir können so gut ohneeinander, dass wir einander nicht auf die Mokassins treten. 
    Nahe, aber nicht zusammen. Eine scheinbar integrierte Nation. Bis zum ersten Protest. Bis zur ersten Verhaftung.

    Es war eine wunderbare Welt an der Welt vorbei. Ein choreografierter, ineinandergreifender Übergang von Hochtechnologie und Machtbalett. Hi-Tech-Dancing im Affenhaus. Die Außerirdischen sind schon angekommen und lassen sich bereitwillig als Minderheit und rein dekorative Rasse halten. 

    No News from Belarus / Foto  © Alexander Komarov, 2010
    No News from Belarus / Foto © Alexander Komarov, 2010

    No News from Belarus – wie ein belarussischer Künstler melancholisch konstatierte. Wieder Sowjetunion, nur durchtrainiert. Zwei ausgebremste Realitäten – den administrativen Wahnsinn und das kreative Hub – nähten Staatssicherheit und Venediger Biennale periodisch aneinander. 
    Auf die Schnelle. Situativ. Notdürftig. Thema hinbiegen und Problem abhaken, solange niemandem Leid zugefügt werden musste.

    Was geschah im stürmischen Jahr 2020? Bruch der Konventionen. Die oberste Etage krachte unter Schreien, Schimpfen und Schüssen runter. Wahrscheinlich bildeten sie sich ein, dass der Keller den Umsturz angezettelt hatte, um zum Penthouse zu werden. Vielleicht war es an einem gewissen Punkt auch so. Wirklich, wie kann man nicht das Penthouse sein wollen? Das wollen doch alle.

    Der aufgebrachten Vertikale der trüben Macht waren zwei einfache Ideen nicht zugänglich. Erstens: Es gibt nichts Schlechtes an der Horizontalen. Und zweitens: Der größte Feind der Vertikalen ist die Vertikale selbst. Eine aggressive Gopnik-Band hat die Führung des Landes ruiniert, schuld aber sollten die sein, die Mandarinen schälen oder einfach das Kinderzimmer neu tapezieren wollten.
    In der Folge wurde nicht darüber gestritten, wo man leben wollte, sondern mit wem man sein will. Alles ist ganz einfach: Sie können uns nicht vergeben, dass wir ohne sie zurechtkommen. 

    Die Kolchos-Elite wird von ihrer eigenen Geistesarmut, ihrer aggressiven Selbstverliebtheit und der völligen Phantasielosigkeit erstickt. Daher der Wille, alles zurückzudrehen. Wo es noch verständlich war. Aufzeigen, dass die horizontalen Menschen ein statistischer Fehler sind. Alles, was in diesen unglücklichen, vom Fernseher ramponierten Köpfen ankommt: „Sie lieben uns nicht, weil sie gekauft wurden“. Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.

    Worin liegt also der Sinn einer belarussischen Perspektive? Darin, dass hier keine für alle gültige Version entstanden ist. Die Nation lebt dauerhaft im dauerhaften Ungleichtakt. Tür an Tür, aber in verschiedene Richtungen.

    Fast wie die Konstellation in Berlin: S-Bahn versus U-Bahn. Verkehr auf verschiedenen Ebenen. Oben der Versuch zu regieren – eine (scheinbar) pragmatische Polit-Choreografie und/oder ein hysterischer Tanz kriegspropagandistischen Vokabulars. Unten – das private Mosaik aus Bruchstücken des vergangenen Lebens. 
    Die Züge fahren nicht nur auf verschiedenen Ebenen. Sie fahren in verschiedene Richtungen und mit unterschiedlichen Passagierzahlen. Es gibt grundsätzlich nie einen Zug für alle. Auch die Waggons sind verschieden. Und dabei geht es nicht um besser oder schlechter. Es sind verschiedene Systeme von Organismen. Verschiedene Lebensformen. Wie Fische und Kaninchen. 
    Die Zukunft wächst gleichzeitig in alle Richtungen. Es kann nie nur eine geben. Zum Glück. 

    Und nun kommt das Wichtigste: Die Zukunft gibt es nicht deshalb, weil jemand sie besser als ein anderer erdacht hat. Sie ist kein Plan und kein Szenario. Sie ist ein gegebener Verlauf jenseits toter Konzepte. Ein anderes Leben, das keine Angst hat sich zu verändern. Die natürliche Erfahrung eines vorübergehenden Bewohners instabiler sozialer Verschiebungen. Ihr Sinn ist die Unschärfe der Route und ein nicht offensichtlicher Bedeutungshorizont. Der Zustand der offenen Suche und der permanenten Degustation von Optionen.

    Sie kann nicht regiert werden, und sie hat keinen Chef. Sie ist eine unumkehrbare Abfolge von Dias und ein permanentes Upgrade von Inspirationsquellen und Energieressourcen. Die echte Zukunft killt unsere Illusionen. Und sie gelingt niemals hundertprozentig. Die Zukunft ist der Anstieg von Problemen und Katastrophen. Ein Training am Komplizierten. Oder Dramedy Non-Stop.    

    Die Zukunft gibt es nicht, weil sie schon da ist. Und unser allgemeines Theater bleibt Theater, nur kann man die Show jetzt anschauen, ohne die Angst kotzen zu müssen. Was rettet? Wir haben das Recht auf eine Stimme, Bewegungsfreiheit und Zutritt zur Bühne. Was stört? Genau dasselbe.
    Gut daran – regelmäßiger Spielerwechsel, die Freiheit abzuhauen, der Effekt der Mitleidenschaft und die ständige Wahl der Helden der Saison. Schlecht ist, dass ständig jemand den Einsatz verpasst, in den Saal platzt, die Rolle verwechselt und scharf drauf ist rumzuballern.

    Heute lebt jeder sein Morgen – so gut er kann – für sich. Die Nation ist keine Paradeabordnung, sondern einfach ein gut ausgestattetes Feld für gemeinsamen Jazz. Statt einer verängstigten Kaserne – ein zerfranster Stapel bunter Identitäten. Postkino. Telegram-Style für die posttotalitäre Gesellschaft.
    Apokryphen sind unvermeidlich. Mutationen erwünscht. Dezentralisierung garantiert.

    Das totalitäre Theater brennt – aber im Großen und Ganzen gibt es niemanden, der ihm nachweinen würde. Außer Feuerwehrleuten, Platzanweiserinnen und Jongleuren ballistischer Raketen.
    Die Matrix ist zerlegt. Die Kreativität ist geblieben. Sie haben nichts mehr miteinander zu schaffen.

    Stellt euch die Titanic vor, deren Decks wie ein Strandhaus im Hurricane auseinanderfliegen. Welche gemeinsame Zukunft sollten sie haben? Sie haben nichts gemeinsam: Ozean, Sturm, Eisberg. Und eine absolut vorhersehbare Scheiße. Deren Fahrplan wiederum für jedes Deck ein anderer ist. Die Bedeutung dieser Zukunftsversion liegt am Ende einer gemeinsamen Route und eines gemeinsamen Märchens. Und auch im gemeinsamen Unglauben an Märchen und Märchenerzähler. Nein, die Bullshit User werden bleiben. Aber die Realität wird sie schnell korrigieren.

    Sie kommt auf Putins Panzern angefahren und bringt die nächste Brigade derer, die mit einer ausgedachten Vergangenheit vergiftet wurden. Um sie in kalten ukrainischen Feldern zu vergraben. Oder sie führt dich in der Geschützpause raus zum Rauchen. Damit du die Sterne am Himmel zählst – Gold auf Blau. Und dich freust, dass du die Morgendämmerung noch erlebst.

    Was eint? Was verbindet uns alle in diesen Erschießungsstürmen? Keine neue Ganzheit, sondern ein neuer Schwall von Brüchen. Die Stabilität der Instabilität. Wir sind schon morgen. Weiter zu denken ist unmöglich.

    Die Bewohner der Gegenwart wurden in eine unerwartete, katastrophal schöne Konstellation geworfen – Flüchtlinge und politische Gefangene, Schützen und Poeten, Performer und Cyber-Partisanen, IT-Jedi und Straßencellisten, rebellische Gastronomen und Underground-Künstler – sie alle werden nicht durch ein neues Zirkuszelt gerettet, sondern durch seine glänzende Abwesenheit.
    Zeit für aufrechten Aufbau und messerscharfe Wahl. Die Möglichkeit für seltsame Reime und spontane Konsonanzen. Ein mosaikhaftes Draußen. Raum der situativen Kollaborationen. Logik der Easy Riders.

    Nächster Orientierungspunkt? Zugluft und Mangel als Zone des persönlichen Antriebs und der privaten Obsessionen verstehen und lieben.
    Der grundlegende Sinn? Kontrolle über die eigene private Situation. Einrichtung der Selbstbestimmung. Der persönlichen – also der öffentlichen.
    „Imagine there’s no heaven …“ Der bebrillte Beatle Johnny-John wusste, was er sagen sollte. 
    Es ist einfacher, in einen leeren Himmel zu fliegen.

    Wie also existieren? Leben nach der verbrannten Show. Sich schärfen für eine neue Welt. Schusswaffen und Messer verbinden. Asche kosten. Hülsen aufsammeln und Matrizen begraben.
    Es gibt keine Kanons, es gibt einen Baukasten der Bedeutungen. Einen Garten sich gabelnder Pfade. Jeder ist sein eigener Borges. Jeder ist sein eigener Buddha.
    Danke, Chaos. Die Ordnung tötet sich selbst.

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    Von Fischen und Menschen

    Der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou, geboren 1964 in der belarussischen Stadt Homel im Südosten des Landes, ist einer der prägendsten Denker und Intellektuellen der jüngeren Ideen- und Geistesgeschichte seiner Heimat. Für seine Lyrik und Essays wurde Babkou vielfach ausgezeichnet. Er hat sich eingehend beschäftigt mit der Bedeutung des belarussischen Kulturraums als europäischer Grenzregion und als Raum, der zwischen oder am Rande von Imperien lag und liegt. Dabei geht es ihm immer wieder um die Bedeutung für die Ausformung einer nationalen Identität und kulturellen Selbstverortung. Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erörtert Babkou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft in seinem Essay die ideengeschichtliche Einordnung dieser Zeitenwende, die Europa erschüttert. Es gehe vor allem um die Verteidigung der Diversität, schreibt er. Es sei „ein Krieg für die Diversität. Ein Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa“.

    Belarussisches Original

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    1. Krieg und Frieden

    Es existiert die Ansicht, dass die Philosophie die Dinge komplizierter macht, als sie wirklich sind. Aber auch so etwas gibt es: Die Dinge an sich sind uns unbekannt, und die Philosophie zeigt sie komplizierter, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheinen.

    Es gibt jedoch Kontexte, in denen möchte man klar und deutlich sein. Daher beginne ich mit Definitionen. 

    Wenn wir über die „Russische Welt“  sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).

    Die heutige „Russische Welt“ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine „geopolitische“ Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland „gerechnet werden“ muss. 

    Diese postkoloniale Kränkung reift schon seit Längerem heran. Entsprechende Symptome findet man seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Doch der Übergang zur brutalen und aggressiven Phase geschah so abrupt und unerwartet, dass es ein wirklicher Schock für Intellektuelle war – sowohl in Russland als auch in Europa. Selbst heute kann ich nicht eine richtungsweisende Arbeit nennen, ob nun auf Deutsch oder Französisch, die über den Versuch der situativen Beschreibung der Ereignisse und Schuldzuweisungen hinausgeht und hinter dem ideologischen Konzept eine bestimmte Denkweise erkennt und ihre Funktionsweise versteht.

    Beschreibt doch bitte Grundlagen und Konzepte und stellt dann endlich die Frage nach der neuen Epoche, in die wir aus unseren fröhlichen Postmodernismen und bedeutend weniger fröhlichen Postkommunismen nun hineingeraten sind. 

    Einen Text, der die Praktiken imperialen Denkens kritisch reflektiert oder gar dekonstruiert, anstatt nur Risiken und Folgen zu kalkulieren. Das Imperium findet zuallererst im Geiste, in den Köpfen und Texten statt, erst danach beginnt es sein Wirken in der politischen und wirtschaftlichen Realität. Das Imperium, das sind nicht nur Armee, Geheimdienste und Kolonialverwaltung. Es sind auch Werte, Emotionen und kulturelle Codes. Ein Weltbild, das als universell aufgedrückt wird.

    Noch bedeutsamer ist, dass in der aktuellen intellektuellen Sphäre Europas nicht nur reflektierende Texte fehlen. Es fehlt auch der Ort, von dem eine solche Reflexion ausgehen könnte. Und eine Sprache, in der diese kritische Reflexion stattfinden könnte.

    Es mutet seltsam an, denn im gesamten 20. Jahrhundert war in Europa eine Überproduktion kritischer Theorie zu beobachten. Heute verstehen wir jedoch auch ohne weitere Argumente: die Hegemonie der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, selbst Sloterdijks zynische Vernunft und Žižeks Glanznummern zu Lacan, sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben. 

    Und nun sind wir bereit, die Wahrheit auszusprechen: Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir betreten haben.

    ***

    Hier entsteht die Verlockung zu sagen: Einer der Denkorte, von dem aus die Zukunft sichtbar wird, ist heute die osteuropäische Grenzregion. 

    Und die Sprache, in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.

    Denn gerade das ist das Erstaunlichste: Ungeachtet zweier Jahrhunderte permanenter Arbeit des Imperiums ist die osteuropäische Grenzregion nicht nur nicht verschwunden, nicht im Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation aufgegangen, sondern hat sogar ihre paradigmatische Andersartigkeit gestärkt.

    So zeichnet sie sich heute weniger durch Regionalität, sondern als wirkliches Alternativkonzept zur „Russischen Welt“ aus. 

    In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog. 

    Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarussischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.

    *** 

    In Belarus hat die kritische Dekonstruktion des östlichen Nachbarn eine lange intellektuelle Tradition, chiffriert in grundlegenden Mythen der Identität, sie beginnt letztlich mit dem belarussischen Projekt an sich. Letzteres ist nicht einfach ein Standardprojekt des Nation Building mit zentralem Fokus auf dem sozialen Aspekt (soziale Befreiung des belarussischen Dorfes), sondern auch ein explizit antikoloniales Projekt (diese Befreiung ist nicht möglich ohne die Strukturen des imperialen Jochs zu demontieren).

    Begonnen bei Adam Mickiewicz, der als erster in der hiesigen Tradition das Imperium kritisiert (vor allem in der Ahnenfeier (Dziady), aber auch in den Büchern des polnischen Volkes und seiner Publizistik der 1830er Jahre), später Janka Kupala, dessen Tuteischyja (Die Hiesigen) ein klassisches Beispiel für Literatur ist, die ein koloniales Trauma bearbeitet, Ihnat Abdsiralowitsch und Uladsimir Samojla, die eine entsprechende Metaphysik der belarussischen anti- und postkolonialen Handlungsmacht erarbeitet haben, bis hin zu Sjanon Pasnjaks klassischem Text Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren und eine ganze Reihe postkolonialer Analytik vom Ende der 1990er Jahre, – die belarussischen Intellektuellen stellen wieder und wieder die passenden Fragen und geben immer neue Antworten.

    Hin und wieder glaubt man schon, dass es davon zu viel in der Kultur gäbe. Dass die zentrale Aufgabe sei, „das Imperium zu vergessen“, endlich zur Normalität überzugehen und zu erinnern, dass wir „alle gemeinsam zu den Sternen fliegen“.

    Doch jedes Mal, wenn die Intellektuellen sich an die Umsetzung dieser Aufgabe machen, wendet sich die Geschichte erneut, und wie am Murmeltiertag wachen wir auf, im Bett mit dem Imperium, erinnern uns qualvoll an den Vortag und versuchen zu begreifen, wie all das noch enden wird.

    *** 

    Vorreiter bei der Adaption der westlichen postkolonialen Theorie für die osteuropäische Grenzregion war die ukrainische Diaspora. Der Australier Marko Pavlyshyn, die Amerikanerin Oksana Grabowicz und andere verfassten zu Beginn der 1990er Jahre erste Texte, in denen sie aufzeigten, dass Frantz Fanon, Edward Said und sogar Homi K. Bhabha, dass all das auch um uns geht. Die Entstehung einer ukrainischen Theorie verdanken wir zwei Kiewer Intellektuellen: Oksana Sabuschko und Mykola Rjabtschuk. Sie waren es, die die postkolonialen Studien aus dem akademischen Ghetto befreit und in eine Logik und Strategie für die Kultur verwandelt haben, in eine Kulturpolitik. Konzeptuell war die Ukraine seit dem Ende der 1990er Jahre bereit für die Situation „nach dem Imperium“.

    In der russischen Intellektuellenszene ist die Situation weniger erfreulich. Nur drei Beispiele möchte ich anführen. 

    2006 erschien in Moskau die russische Übersetzung von Edward Saids Orientalismus in einem Verlag namens Russkij Mir (dt. Russische Welt). Im Vorwort wurde darauf hingewiesen, dass Said Palästinenser sei, den Westen kritisiert und daher, wenn nicht Verbündeter, so doch sicher „Weggefährte“ unseres Imperiums sei. Unerwähnt blieb an dieser Stelle jedoch, dass Saids Buch die Entstehung eines der stärksten und effektvollsten Diskurse befördert hatte, in dem das Imperium (alle Imperien) kritisiert und dekonstruiert wird. 

    Im selben Jahr, 2006, inszenierte das Bolschoi Dramatitscheski Teatr (BDT) in Sankt Petersburg das Stück Translations von Brian Friel. Der Autor der russischen Version, Michail Stronin, gab dem Stück den Titel Nushen perewod (dt. etwa Es braucht (eine) Übersetzung). Friels Stück wird an Universitäten schon lange als Klassiker postkolonialer Literatur behandelt. Es zeigt, wie die imperiale Macht gewaltsam den Raum überschreibt, indem sie nicht nur die Geografie und kulturelle Tradition zerbricht, sondern auch die Lebenswelten der Bewohner. Insofern kann seine Botschaft nicht unpassender verstanden werden als mit „Perewod nushen“.

    Und das letzte Beispiel: 2011 erschien in Cambridge Alexander Etkinds Buch Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, in dem der Autor anstrebt, den intellektuellen Apparat der postkolonialen Studien an die intellektuelle Geschichte des Russischen Imperiums anzupassen. Ich sage es gleich: Bei aller Sympathie für den Autor und die Verdienste des Buches an anderen Stellen – sein postkolonialer Teil ist ein komplettes Fiasko. Der Autor steigt direkt mit der kolonialen Annahme ein, „ganz Russland kolonisiere sich selbst“, wodurch er nicht nur andere konzeptuelle Perspektiven marginalisiert und verdrängt, sondern auch alle Völker und Gebiete, die das „Glück“ hatten, sich innerhalb Russlands zu befinden.

    Diese drei Geschichten sind bezeichnend für das Verständnis der russischen intellektuellen Szene der letzten Dekaden. In meinen Augen sind sie Teile einer Kette, zeigen ein und dieselbe kulturelle Logik und denselben Denktypus.

    Und alle drei Geschichten zeugen von Nichtbegegnung. Nicht nur mit Said, Friel und den akademischen postkolonialen Studien. Sondern vor allem den nächsten Nachbarn – Belarus und der Ukraine.

    2. Fische und Menschen

    „Ich bin kein Fisch, ich bin Ichthyologe“, sagte der Redner.

    Das war ein Scherz unter Profis. Wir saßen in einer geschlossenen Zoom-Konferenz, einem Seminar, und diskutierten einen Vortrag über die belarussische Revolution. Er war relativ kurz. Die erste halbe Stunde zur Kultursoziologie (um die Instrumente festzulegen). Danach zehn Minuten über den August 2020 (um den Kontext herzustellen). Zum Schluss wurde es konzeptuell: Es war eine Revolution des Visuellen. Sie hatte keinen sozialen oder politischen Inhalt außer der eigenen phänomenalen Performativität. Das Volk zeigte sich einfach selbst. Trat auf die Bühne der Geschichte. Spazierte durch ihre Straßen und Gassen.

    Mir verschlug es die Sprache. Dann folgte ein Anflug von Hysterie. Nicht nur, weil das alles der Wahrheit entsprach – genauso hatten wir es gemacht. Sondern auch, weil dies eine These war, die ein guter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen gewesen wäre. Für Fragestellungen. Aber der Redner beendete damit seinen Vortrag und seine weiterführenden Gedanken galten lediglich den Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Erkenntnisse.

    Zweifel konnte es ohnehin nicht geben. Der Redner war ja ein Ichthyologe.

    ***

    Für die hiesigen Ichthyologen brach eine wunderbare Zeit an. Und sie hatten sie verdient. Jahrzehntelang hatten sie weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung erfahren. Die letzte Diktatur, die entnationalisierte Nation. Seltsam, dass ihr überhaupt noch lebt. Dann kam 2020 und rückte alles wieder an seinen Platz. 

    Jetzt konnten sie Vorträge und Mitteilungen schreiben, Konferenzen organisieren, Sammelbände herausgeben. Die Revolution wurde zum Modethema. Vorher war sie offensichtlich vorbei, zu Ende, ein totes Objekt. Man konnte Monographien schreiben, ohne zu befürchten, dass das Finale die Erkenntnisse in Frage stellen wird.

    Mit den Fischen war es schon schwieriger. Wir fühlten uns gar nicht so optimistisch.

    ***

    Vor unseren Augen zerfielen alle Versuche zu verstehen, was mit uns passiert. Wir hatten das Seminar von Anfang an geleitet und hatten alle Stadien durchlaufen. Von Euphorie und Erhabenheit der ersten Treffen, über den Willen zum Wissen während der Kulmination, bis zur Sorge und Depression während der Pogrome.

    Am Anfang standen Ideen und Muster für jeden, es schien, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Dann begannen die exklusiven Spiele. Alle wollten ihr Stück von der Ruhmestorte abbeißen.

    Die Feministinnen schrieben, es sei eine weibliche Revolution. Und verließen das Land.

    Die progressiven Liberalen schrieben, das sei ihre Revolution, sie habe alle befreit und nun seien alle frei. Die Konservativen waren misstrauischer. Sie bezweifelten zwar den Heldenmut des Volkes nicht, doch die Anführer und deren Richtung passten ihnen nicht. Und so schwankten sie: Mal lobten sie das Volk, mal schimpften sie auf die „zufälligen Anführer“.

    Es gab noch die Kreativen. Die hatten eigene Versionen.

    Das Tragikomische an der Situation war, dass alle recht hatten. Die Feministinnen, die Progressiven, die Konservativen, selbst die Poeten.
    Die Revolution gab allen mehr als möglich. Aber nur für eine gewisse Zeit.

    Diese Zeit ist nun offensichtlich vorbei. Und das war furchtbar. Dass die Dinge, die auf der Bühne der Revolution wie Gold und Glitter aussahen, im Licht der neuen Epoche nur Tand und Blendwerk sind.

    ***

    Das alles kulminierte, und sank dann sanft wieder ab in den Bereich des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Alles kehrte an seinen Platz zurück. Man konnte sich umschauen und Bilanzen ziehen. Es war kein Anblick für schwache Nerven.

    Wir waren am Boden. Über den Asphalt malmten russische Panzer. Es war unklar, ob die Okkupation lange dauern würde oder ob es noch eine Chance gab.

    Die exklusiven Spiele kamen zur Ruhe. Niemand schrieb mehr, dass „wir“ das waren. Wirklich. In den Gefängnissen saßen über tausend Häftlinge. Die eine Hälfte des Landes hasste die andere Hälfte aufrichtig. Von Emotionen überwältigte Journalisten schrieben vom Krieg.

    Wie sind wir dahingekommen? Nach den Rosen und Umarmungen, den Teepartys in den Innenhöfen und den süßen Träumen vom Sieg. Und noch eins. Eine Frage, die wir uns kaum zu flüstern trauten.

    Wer übernimmt die Verantwortung für all das?      

    ***

    Der Fischwitz ist gut, schrieb ich in den Chat.
    Nur bin ich kein Ichthyologe. Ich bin ein Fisch.
    Und es scheint höchste Zeit zu sein, sich in die Tiefe zu verdrücken.

    ***

    Noch gestern erinnerte Minsk an das Paris der Zwischenkriegszeit: Cafés eröffneten und schlossen wieder, Bücher und Performances sprudelten förmlich, IT-Leute halfen Katzen und Hunden, die Mittelklasse kaufte Wohneigentum und reiste durch die Welt.

    Wie und warum ist all das verschwunden?

    Wie und warum konnte eine Macht, die schon fast gewonnen, alle Formen des Widerstands in sich vereint hatte, plötzlich das eigene Projekt zerstören und mutigen Schrittes in den Selbstmord gehen und nebenbei noch alle ins Giorgio-Agamben-Konzentrationslager schicken?

    Das liegt alles an ihm, sagt A. Dem Chef der Gazprombank. Man muss ein völliger Idiot sein, um zu glauben, dass er wirklich gewinnen wollte. Von der Revolution ganz zu schweigen. Bestenfalls, wenn wir optimistisch sind, hätte er zehn Prozent geholt und einen Sitz im Parlament. Mit weißen Bändern und Russlands Unterstützung.

    Das Schlimmste wäre, wenn es ihm gelungen wäre. Dann hätten wir nicht mehr zwei Seiten im Land, wie jetzt, sondern nur noch eine. Die Gefängnisse wären auch voll, aber dort würden „eure ganzen Nationalisten“ sitzen.

    Das ist alles Verschwörungstheorie, sagt B. Das kann nicht sein.

    Ja, Verschwörung, stimmt A. zu. Aber das kommt vor.

    ***

    Der Postkommunismus ist halt vorbei, sagt C.

    Jahrzehntelang Katastrophen und Enttäuschungen, die wir mit Süßigkeiten kompensiert haben. Fast dreißig Jahre haben sie uns angefüttert. Emotionen, Erwartungen. Noch ein bisschen, dann siegen wir. Die Macht wird unsere sein.

    All das war verlockend. Wenngleich von Beginn an klar war: Dieses „wir“, das siegen wird, gibt es nicht. Und die Macht wird niemals „unsere“ sein. Sobald „Unsere“ dahingelangen, passiert etwas Seltsames mit ihnen, das sie sofort zu „Nicht Unsrigen“ macht. 

    Es begann mit dem Gefühl der Freude. Die Zukunft ist ganz nah, bei unseren Nachbarn ist sie schon angelangt. Man musste nur die Hausaufgaben gut machen. So sein wie alle.

    Dann schreiben die Historiker, dass die Mittelklasse im Westen seit 1972 im Niedergang begriffen sei. Dass hinter den Fassaden Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dass alles modert. Und seit 2008/09 bröckelt es in aller Öffentlichkeit. Dass Osteuropa sich zu früh gefreut hat, als es mit der altersschwachen Barkasse den Luxusliner erreichte, auf dessen Oberdeck ein Orchester spielt. Denn das sei die Titanic.

    Das Böse erkennt man nur mit dem Mikroskop, sagt C., das ist die Hauptsache. Das ist die wichtigste Erkenntnis, für uns und die ganze Welt. Plötzlich veränderten sich die Dioptrien und alle konnten es in seiner ganzen Widerwärtigkeit sehen: Auf der Welt herrscht das Böse. 

    ***

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil jemand sie sich ausgedacht hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    Was auch immer die Ichthyologen schreiben, ich kenne das Geheimnis der belarussischen Revolution. Doch davon spricht man nicht einmal im Flüsterton. Denn ausgesprochene Worte verändern sofort ihre Bedeutung. Und Geschriebenes trifft es erst recht nicht. Und dennoch.

    Es war ein Aufstand der Fische. Die Revolution der Antipolitik.

    Kein Sturm, keine Machtübernahme. Sondern ein erfolgreicher Auszug aus der Festung. Eine Flucht in die Zukunft.

    Die Vergangenheit ist immer ein soziales Projekt. Eine kollektive Erinnerung, leicht zu manipulieren. Mit der Zukunft ist es komplizierter. Die Zukunft ist eine Hoffnung. Eine Bestrebung. Und vielleicht ein Glaube.

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil  sie sich jemand ausgedacht hat oder konstruiert hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    In diesem Lichte ist das ziellose und sinnlose Durch die Straßen Gehen gar keine so dumme Beschäftigung: Sich die Zukunft zurückholen – das war der wahre Inhalt des revolutionären Laufs.

    Wer da hinausgegangen ist, kehrt nicht wieder zurück.  

    ***

    Nur das hat wirklich Sinn, in jeder Revolution: das Unmögliche zu fordern. 

    Gemeinsam mit dem Wind auf den Höhen sein, gemeinsam mit der Welle die Mauern abtragen, gemeinsam mit den Wolken die Freiheit üben.

    Mit nichts übereinstimmen, losgelöst gehen. Stets aufgeschlossen sein, nie dagegen.

    Sich den Naturgewalten nicht entgegenstellen, sondern ihre Stärke nutzen.

    Neue Regeln schreiben, um mit Vernunft zu leiten.

    Geopolitik und Post-Wahrheit verbieten.

    Journalisten einen Pflichtkurs in Mediation verpassen, wenn sie mit Emotionen handeln.

    Im Grundschulunterricht immer wiederholen:

    Wir sind keine Ichthyologen. Wir sind Fische.

    3. Untergegangen

    – Herr Präsident, was ist mit Russland geschehen?
    – Es ist untergegangen.

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    Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

  • Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

    Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

     „Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.“ Die Lyrikerin und Übersetzerin Hanna Komar wurde 1989 in Baranawitschy geboren und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation in Belarus. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, mit welchen sprachlichen Mitteln das Geschehen in ihrer Heimat seit Beginn der Proteste im Sommer 2020 beschrieben und adäquat eingefangen werden kann: durch Poesie oder Prosa? Ist es überhaupt möglich, den Schrecken, den Horror, das Unvorstellbare so zu vermitteln, dass der Grundstein für eine Zukunft gelegt werden kann? Eine zutiefst existenzielle und aktuelle Frage, die auch aus dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie ein Mahnmal herausragt.

    Belarussisches Original
    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung” © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” © Tosla

    Belarus 2020/2021 – als Dokumentarpoesie: Diese literarische Form ist vor langer Zeit entstanden und lebte ihr heimliches Leben, beachtet vor allem von Redakteuren bei Literaturzeitschriften und in Akademikerkreisen bekannt, vornehmlich im Westen; lange war sie eine Randerscheinung und nicht anerkannt, umrankt von endlosen Diskussionen über ihre Herkunft und Verortung. Die amerikanische Dokumentarpoesie wurde beispielsweise in den 1920er-/1930er Jahren politisch, engagierte sich sozial, entwickelte sich vom reinen Lyrismus zu hybriden Formen und wandte sich der Geschichte, Folklore und Reportage zu.1 In Belarus geschah das 2020.

    Um ein neues Dokumentargedicht zu schaffen, müssen Ursprungstext und Ursprungstexte zunächst zerstört werden. Die Syntaktische Kompatibilität muss hinzugewonnen werden, der Sinn auf einer anderen Ebene konkretisiert.

    „Die teilzerstörte poetische Sprache bleibt ein System, sie hält die Verbindungen zusammen, die Objekte und Konzepte, Signifikanten und Signifikante aneinanderbinden, und vereint figurative Systeme verschiedener Spektren, um eine künstlerische Aussage zu schaffen, die dem System der betreffenden Welt angemessen ist.“2

    Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.

    Um in die Zukunft von Belarus zu schauen, brauche ich andere Texte Menschen, weil mich schon allein das Wort lähmt – „Zukunft“. Der Ungewissheit und der Angst begegnen, sie durchleben, durch das Sieb der Freiheit seihen, um das ruhige, besonnene, hoffnungsvolle Gefühl der Erdung zurückzuhalten. In diesem Zustand ist es viel leichter zu leben, sich zu verändern und sie zu erschaffen – die Zukunft …


    Montage, Rhythmisierung, Fragmentierung

    „Bald werden wir siegen“, wiederholten wir bei jedem Treffen und planten das Leben für danach. Bücher herausgeben, Stücke inszenieren, tanzen gehen, die Arbeitsstelle wechseln, sich verlieben, ausschlafen … erst werden wir siegen – und dann. Bis zum ersten Marsch, bis Neujahr, bis zum Frühling, bis zum Jahrestag der Proteste …

    Mit diesem „bald werden wir siegen“ haben wir wohl den Moment hinausgezögert, an dem wir eine Entscheidung treffen und endgültig und unwiderruflich Verantwortung übernehmen müssen: Das Land wird uns gehören, und was dann? Dann können wir uns nicht mehr davor verstecken, wie unterschiedlich wir alle sind, wie stark unsere Beziehungen von einer Kultur des Zwangs und der Gewalt durchsetzt und vergiftet sind. Was, wenn wir uns in Friedenszeiten nicht einig sind und unsere Solidarität zur süßen Erinnerung wird, fast zu einem Traum?

    Seite an Seite marschierten Gläubige und Ungläubige, Menschen aus der LGBT-Community und Homophobe, Kinderlose und Abtreibungsgegner, Emigranten und Xenophobe, Feministinnen und Sexisten … Wir wollten auf diesem High bleiben, auf dem reinsten, qualitativ hochwertigsten Zeug. Der Siegesruf erschien uns als der Zauberstab, der mit einem Schlag alle Probleme löst. Doch mir scheint, dass die Mehrheit von uns eigentlich zurück zu den „Bouletten“ wollte – was auch immer hinter diesem Euphemismus steht: Das Kümmern um die Familie, Bücher schreiben, ein Geschäft führen oder viele andere Varianten und Kombinationen. Ist das nicht der Grund, warum so viele über diesen Wunsch empört waren? Diesen Wunsch, der da laut von demjenigen geäußert wurde, auf den wir so viele unserer Projektionen gerichtet hatten? 


    Vertikale Zwischenräume

    Das Gedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen willkürlich festzuhalten und wiederzugeben. Mit anderen Worten also die Fähigkeit, die uns erlaubt, Ereignisse, Gedanken, Gefühle und Konzepte sowie die Verknüpfungen zwischen ihnen zu erinnern. 
    Oktober 2021. London, Innenstadt. Ich stehe vor der Universität und unterhalte mich mit einem Studenten aus Moldawien – über die Veränderungen in seinem Land nach 30 Jahren Kampf, über die erste Präsidentin, auf die man wirklich bauen kann, über Belarus. Ich erzähle sehr emotional – wie auf der Bühne, einem Podium – das ein Gewicht hat, das über einen längeren Zeitraum hinweg Stück für Stück in Richtung Abgrund verschoben wird, früher oder später hinunterfällt. Ich beende gerade den Gedanken und drehe mich in Richtung Fahrbahn, als gegenüber eine Reihe großer, dunkelgrau-grüner Autos halten. Mein Atem stockt. Ich weiß, dass hinter mir eine Tür ist und dass ich dorthin fliehen kann. Mir ist klar, dass das keine Gefangenentransporter sind und dass keine Spezialeinheiten herausstürzen werden. Sie sind nicht wegen mir da, sie wollen niemanden holen. „Atme, Liebes, atme, mach bloß kein Drama.“


    Blackouts

    Das kollektive Gedächtnis formt Identität und Handlungen einer Gemeinschaft und gibt ihr die Möglichkeit, in der Zukunft Fehler zu vermeiden.3

    Wir sind so, wie es uns beigebracht wurde: „unglückliche Wichte, naiv, hilflos; unser Kreuz ist schwer und wir müssen es tragen, bis wir das Ende des Regenbogens finden …“ Eine kurze Zusammenfassung des Lehrplans in belarussischer Literatur, einer zielgerichteten Politik zur Austreibung der Freiheit und der Lebenslust. So sind wir aufgewachsen, so lebten wir im Zustand der erlernten Hilflosigkeit, der Unsicherheit bezüglich unserer Fähigkeiten, unseres Rechts, Fragen zu stellen, Nein zu sagen, andere Lösungen zu suchen, etwas Besseres zu fordern. So funktionierte unser kollektives Gedächtnis. 

    Das, was wir jetzt schreiben, und das, was die neuen Menschen lesen werden, wird unser neues kollektives Gedächtnis ausmachen. In dieser neuen Etappe sind die Protagonist:innen reifer und lassen nicht zu, dass ihre Erfahrungen abgewertet werden. Sie haben die Sache zu Ende geführt und können es sich erlauben, den Ton zu diktieren. Diktiert – ich bin bereit, euch durch mich erzählen zu lassen, wie groß eure Angst war und wie ihr sie überwunden habt. 


    Übertragungen, Worttrennungen, Streichung

    Die Zukunft ist ein Bedürfnis höherer Ordnung, das du nicht befriedigst, solange die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind – zum Beispiel die Vergangenheit. 

    Am 17. September 2020 verließ ich nach 9 Tagen Haft das Gefängnis in Shodsina. Bei der Festnahme hatte ich keine Angst, die Angst kam später – die Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Am 27. September saß ich eine Stunde lang in Minsk am Fenster und beobachtete durch die Bäume hindurch, was am Platz vor der Stele passiert, las die Nachrichten von den Gefangenentransportern und den Festnahmen auf dem Weg zum Protestmarsch und hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Dann zog ich dunkle Sachen an, eine alte Jacke, um die es nicht schade war, und ging hinaus. Wie eine warme Brise wehte er mir ins Gesicht, der Strom der Menschen, die zur Stele liefen: ruhig und ausgeglichen, selbstbewusst. Menschen, die (noch) wussten, warum sie aus dem Haus gegangen waren – um sich die Zukunft zurückzuholen. 

    Eine Zukunft gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist wie dein Elternhaus, in dem noch die Tapeten aus deiner Kindheit an den Wänden kleben, wo dein einäugiger Plüschhase sitzt, wo du in den Schubladen deine alten Tagebücher findest, in denen du deine erste Liebe und den ersten Betrug beschrieben hast, in die du Zeitungsausschnitte mit deinen Lieblingsgedichten geklebt hast, und auch die Blütenblätter der ersten Rose, die du geschenkt bekommen hast. An diesen Ort kannst du kommen, ein Stück frisches Weißbrot in Himbeermarmelade tauchen, Kräuter in der alten Emailletasse aufbrühen und dich in den Schnee vor dem Fenster vertiefen, wie er wirbelt, fliegt und taut … An diesem Ort ist es still und sicher. Dorthin kannst du zurückkehren, wenn du das Gefühl hast zu vergessen, wer du bist.

    Wenn du häufig umziehst, weil du kein eigenes Haus hast, bewahrst du keine Dinge auf: Tagebücher, Fotoalben oder Kleider deiner Mutter, Beweise dafür, dass du dir deine Kindheit und deine Erinnerungen nicht ausgedacht hast. Wenn du in deinem eigenen Haus wohnst, bewahrst du solche Dinge auf, stellst sie gut sichtbar auf, voll Stolz. Wer sich in seinem Heimatland als Hausherrin oder Hausherr fühlt, dem können die Geschichte und die Erinnerung nicht gestohlen werden. Aber ich wache auf mit dem Gedanken an die Liste mit hunderten Mitarbeiter:innen von Kultureinrichtungen, die entlassen werden sollen, und denke mit Schrecken: Wer wird dann im Maxim-Bahdanowitsch-Museum arbeiten? … Was, wenn sie alle Archive vernichten? Alle, wirklich alle … Haben die Museumsangestellten daran gedacht, haben sie alles gescannt … alles, wirklich alles …

    Uns wird ständig die Vergangenheit gestohlen, deshalb können wir sie nicht loslassen. Wir binden uns mit Ketten an sie, wie Umweltschützer:innen – wenn ihr unseren Wald roden wollt, dann nur zusammen mit uns. Es ist nicht möglich, das loszulassen, was man nie zur Genüge hatte – du suchst es in anderen Sprachen, Landschaften, in der Sicherheit und den Möglichkeiten, aber die Vergangenheit wird dir immer einen Schritt voraus sein. 


    Lückenlosigkeit

    Einer der Sonntagsmärsche; Menschen mit Flaggen, Musik, Plakaten und Sprechchören bewegen sich flott die zentrale Straße entlang. Ich beneide sie um die treffenden, witzigen und ironischen Plakate. Ihre Poesie, Pointiertheit, Prägnanz. Jemand stimmt einen Sprechchor an – ich stimme ein. Welch Erleichterung, dass man bei dieser Prüfung aus vorgegebenen Varianten wählen kann, anstatt eigene zu schreiben. Ich fühle mich wie ein kleiner, leuchtender Zombie.

    Wofür bin ich auf die Straße gegangen? Zuerst habe ich nicht darüber nachgedacht, es musste einfach sein. Hingehen und sehen, wie es wirklich sein kann – mein Belarus. Einen Beitrag leisten, um ein ideales Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. Seitdem sage ich immer zuerst „Belarus“, bevor ich meinen Namen nenne. Weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und mich selbst?

    Die Zukunft ist dort, wo ich einen eigenen Namen habe. Wo ich das Recht habe, zu sein. Wo die Welt einfach dadurch besser ist, dass ich mir selbst treu bleibe. Wo ich die Möglichkeit habe, das zu tun.

    Ich konnte mir keine Zukunft vorstellen – aber ich ging auf die Straße für die Möglichkeit eine zu haben. 


    Der polyphone Zeuge

    Ich verstumme. Ich habe viel geredet, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe Angst, dass wir es nicht schaffen, das Begonnene zu Ende zu bringen … Das ist es, was ich auszusprechen fürchtete.

    „Die Wahrheit ist immer ein realer Schritt zur Befreiung.“4 Die Wahrheit soll und darf nicht nur mir gehören, und ich bin nicht die Einzige, die etwas zu sagen hat. Die Zukunft ist ein Dokumentargedicht, das wir, die so unterschiedlich sind, gemeinsam geschrieben haben. 

    Ein Land ohne Rudimente 
                                                der menschenverachtenden Sowjetler!
              Männer können händchenhaltend auf dem Prospekt spazieren gehen!
    Alle sprechen Belarussisch!                           Katzen und Hunde werden nicht vernichtet!
               Sozialstaat,                                          Keine Ideologie! 
               Kein paternalistischer Abklatsch!
                                                             Keine Scheuklappen!
    Entscheidungen treffen, die die Mehrheit interessieren!
                                                  Die belarussische Jugend eröffnet für sich die Zivilisation!
    Ohne Massenbesäufnisse und Alkoholismus!
        Das Alphabet kehrt zur lateinischen Schrift zurück und die unierte Kirche steht wieder auf!     
          Hofgemeinschaften!         
                                                        Betriebe – Gemeinschaften der Arbeiter!
               Ökologisches Handeln!
    Die Literatur, die in dieser Zeit entstanden ist, wird zum Symbol und Vorbild in uns
    unbekannten Sprachen für uns unbekannte Menschen !
                                                                                                 Glückliche Omas und Opas!
                                                                           Gesetz!
    Singen, tanzen und umarmen auf allen Straßen und Plätzen!
                                                     Keine Xenophobie in den unabhängigen Medien!
                                                                                        Eine große sonnige Familie!
                                         In Schulen und Universitäten – Vielfalt der Selbstverwaltung!
                             Eine gerechte Gesellschaft!
    Du hast keine Angst vor Blicken, strengst dich nicht an, nicht gesehen oder bemerkt zu werden, an keinem Ort, von niemandem …!             
                                            Soziale und kulturelle Inklusion!
          Wir sind zusammen eine demokratische Familie!
    Die Menschen auf der Straße wundern sich nicht über das freundliche Wort eines Fremden!
                Alle Bereiche werden auf Grundlage der Menschenrechte reformiert und gegründet!

                                 – Man darf es nicht aussprechen, es wird sonst nicht wahr.
                                 – ?
                                 – Das galaktische Imperium.
                                 – ?
                                 – Die Wahrheit, natürlich.

    Die Autorin dankt allen, die ihre Träume und Vorstellungen von Belarus‘ Zukunft mit ihr geteilt haben. 


    1.Nowoje literaturnoje obosrenije: Exponirowanije i issledowanije, ili Tschto proischodit s subektom w nowejschei dokumentalnoi poesii: Mark Nowak i drugije 
    2.Suchowei, Darja (2008): Grafika sowremennoi russkoi poesii, Sankt Petersburg 
    3.Hirst W./Yamashiro JK./Coman A. (2018): Collective Memory from a Psychological Perspective 
    4.Karlas Scherman, „Blukanez“ 

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    Brief an Papa

  • Brief an Papa

    Brief an Papa

    Nasta Mancevich, 1983 in der belarussischen Kleinstadt Wilejka geboren, debütierte als Lyrikerin und Autorin im Jahr 2012 mit dem Buch Ptuschki (dt. Vögel), das in Belarus für viel Aufsehen sorgte, weil es unter anderem gleichgeschlechtliche Liebe thematisierte. In diesem Text für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft umkreist sie die schwierige Situation in ihrer Heimat Belarus, die seit den Protesten im Jahr 2020 in einer schweren und lähmenden historischen Krise feststeckt. Dabei verbindet sie persönliche Beobachtungen und Reflexionen mit Erinnerungen an ihren Vater und an schmerzhafte Ereignisse, die man durchstehen muss, um womöglich zu einer lebensbejahenden Zukunft zu gelangen.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla


    Als ich geboren wurde, hast du mir ein Gedicht geschrieben:

    für naszja 

    es ist dezember. schnee fällt dicht,
    der erste schnee, mein kind, 
    auf dein gesicht, 
    dein lachen spielt mit warmem lächeln,
    noch fern dein erstes wort,
    dein erster satz.
    doch jetzt schon wärmt an diesem wintertag
    dein lächeln unsere gesichter.

                                                          12.12.83

    du – der mensch, der mir dieses gedicht geschrieben hat – hebt mich als fünfjährige mit seinen großen händen über seinen kopf und wirft mich mit aller kraft zu boden, weil ich zum rausgehen kein kleid anziehen will

    von deinen schlägen mit dem gürtel oder dem schlauch des staubsaugers bleiben noch lange spuren auf meinem kleinen körper zurück

    du, der in rage alle poster von den wänden meines zimmers reißt – ich weiß den grund nicht mehr – 

    und du, der mich nun(mehr) 38-jährige nach mutters geburtstag zum bahnhof begleitet, leicht betrunken, und meinen rucksack auf den gepäckträger des fahrrads legt, das du neben dir her schiebst

    ich sage: „komm papa, ich trag ihn selbst, er ist nicht schwer“, aber du glaubst mir nicht. dir erscheint er schwer, weil all dein schmerz, deine schuld und deine liebe darin liegen.

    Jetzt weiß ich, Papa, was du wohl fühlen musst.

    Ich weiß, wie es ist, einem nahestehenden Menschen Schmerz zuzufügen. Hätte dir jemand am Anfang, als du dieses Gedicht schriebst, von diesem Schmerz erzählt – um nichts in der Welt hättest du es geglaubt. Ich weiß, wie unerträglich groß der Wunsch ist, die Zeit zurückzudrehen, alles wieder an den rechten Platz zu rücken, sich selbst zu betrügen, zu tun, als sei nie etwas geschehen – nur um diesen Schmerz nicht spüren zu müssen.

    Nachdem du mich auf den Boden geworfen hattest, konnte ich einige Minuten lang nicht atmen – offenbar war ich auf den Solarplexus gefallen, sodass mir der Atem stockte – ich weinte aus allen Gründen auf einmal – Schreck, Schmerz, Kränkung, aber allen voran – aus Angst, nicht mehr atmen zu können. Ich verstand nicht, was vor sich geht, wusste nicht, wann das aufhören würde, wie lange ich aushalten muss, ob meine Zeit dafür reicht, ob meine Kinderlunge groß genug ist, um den Moment noch zu erleben, an dem ich wieder Luft holen kann.

    Auch jetzt schnürt es mir die Luft ab, da ich mich entschließe, endlich darüber zu sprechen, überzieht mich mit eisigem Schauer, als würde ich, wenn ich diese Dinge ausspreche, dich und unsere Familie verraten, und dazu habe ich kein Recht. Und ich weiß nicht, ob meine Luft jetzt ausreichen wird, um weiterzusprechen, aber ich möchte es versuchen, auch wenn es eine zerrissene, verworrene Geschichte wird – ich brauche dich bei mir, um sie durchzustehen, um sie beenden zu können und nicht vor Scham und Angst zu sterben. Ich brauche dich. Bleib stehen. Lauf nicht weg. Bleib stehen und zähle, wie lange ich die Luft anhalten kann. Bleib stehen und zähle, während ich dich erstarrt mit erschrockenen Augen anblicke, während ich allein durch die gepeinigte und unerträglich schöne Herbststadt laufe und laufe, während ich diesen Text schreibe.


    Im Jahr 2000 zog ich nach Minsk, mit 17 Jahren. In eine fremde Stadt, zu der ich keine Geschichten oder Erinnerungen hatte, mit der mich nichts verband. Mein gesamtes Gedächtnis war in Wilejka geblieben, doch jetzt ist auch hier ein Ort für mich gewachsen – ich lebe nun schon 21 Jahre in Minsk, den größeren Teil meines Lebens. Die Fenster meiner Wohnung gehen zur Banja hinaus, aus der im September 1999 Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski traten und seitdem nie wiedergesehen wurden. Ich denke jedes Mal daran, wenn ich aus dem Haus trete, zur Metro oder zum Einkaufen, und an der Banja vorbeilaufe. Ich weiß, wo das passiert ist, weil mein Papa mir diese Geschichte erzählt hat, als ich zum Studium nach Minsk zog – als etwas, das ich wissen sollte. Wir saßen in der Küche und er sagte es genau so: „Du solltest das wissen …“ Vor einem Jahr tauchte an dem Gebäude in der Fabritschnaja Straße 20 in Minsk die Aufschrift auf „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen …“ Heute prangen an dieser Stelle auf einer weißen Mauer zwei sorgfältig gemalte, blass-beige Quadrate. Ich weiß, was sich darunter befindet.

    Jetzt ist ganz Minsk für mich voll solcher Spuren. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die menschenleere Stadt, der Wind verweht die herabgefallenen Blätter, hebt sie mutig und selbstbewusst in die Luft, sie wirbeln vor mir herum, als würden sie mir voll Ergriffenheit alle durcheinander von etwas erzählen wollen – ich fahre über die kleine Brücke über die Swislotsch, die Brücke ist rot-grün angemalt, und ich erinnere mich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch in anderen Farben gestrichen war – doch jetzt fällt es mir sogar leichter, über diese rot-grüne Brücke zu radeln, als wenn gar keine Spuren geblieben wären. Ich weiß, was diese Spuren bedeuten. Für mich symbolisieren sie unseren Schmerz. Es tut mir weh, über diese Brücke zu fahren. Und das ist besser, als gar nichts zu spüren; als so zu tun, als wäre gar nichts geschehen.

    Wir sitzen in der Küche meiner Minsker Wohnung, und während das Wasser im Kessel aufkocht, beschließe ich, dich zu fragen – warum hast du mich geschlagen? Es ist eine rhetorische Frage, wahrscheinlich steht eher das Bedürfnis nach einer Bestätigung dahinter, dass du dich ebenfalls daran erinnern kannst. Deine Antwort berührt mich, und ich glaube sie dir, ob sie ehrlich war – ich weiß es nicht. Dann stelle ich die zweite Frage – wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du mich wieder schlagen? Diese Frage ist auch unsinnig, weil die Zeit zurückzudrehen das einzige ist, was wir in unserem Leben nicht tun können. Doch du beantwortest sie. Du sagst – nein. Wir schweigen. In dieser Pause spüre ich, wie etwas Lebendiges auftaucht, wie Bedeutung anwesend ist, die das Schweigen und die Leere ausfüllen, bis Worte herausfließen … Du sagst – ich wurde auch geschlagen. Du bist mein Papa. Ich bin dein Kind. Doch entgegen jeder Logik und allen Gesetzen der vergehenden Zeit erkenne ich deinen Schmerz jetzt, wenn ich in deine mit Tränen gefüllten Augen schaue.


    Man muss lernen zu warten. Das ist das Schwierigste – zu warten ohne die Hoffnung, dass das Warten sich lohnt, man muss Demut lernen, aber nicht resignieren, – nur dann entsteht die Möglichkeit der Verbindung mit etwas Unbekanntem – dem, was man nie im Detail zu betrachten vermag, was immer einen Augenblick eher wegrutscht, als einzelne Eigenschaften für dich sichtbar werden. Mir fällt es unglaublich schwer, diesen Text zu schreiben, ich schlage mich gleichsam bis aufs Blut durch dorniges, dichtes Gestrüpp; und immer, wenn es scheint, als sei irgendwo vor mir ein Licht in Sicht, und die Geschichte beginnt, eine scheue Gestalt anzunehmen – erschrecke ich wieder und erstarre vor Entsetzen. Mein Atem reicht nicht aus, um diesen versprengten Erinnerungen Struktur zu geben, um alles zusammenzufügen. Und dann bitte ich für mich selbst um Geduld und Vertrauen – den Raum und die Zeit.

    Ich habe zwei Familienerinnerungen, die als Bilder in meinem Kopf zum Leben erwachen – in denen wir zusammen sind, zu viert, wie auf einem Foto.

    Das erste dieser Bilder trägt das Datum Mai 1986; Papa läuft aus einem Wäldchen auf uns zu. Als das Atomkraftwerk von Tschernobyl explodierte, war ich fast drei Jahre alt. Mit Mama und der noch ganz kleinen Shenja waren wir für den Sommer zu Oma und Opa, Mamas Eltern, in das Dorf Radkow in die Oblast Gomel gefahren. Nach drei Tagen kam Papa, um uns zurück nach Wilejka zu holen. Selbst kann ich mich an diese Geschichte nicht erinnern, doch aus Mamas Erzählungen kenne ich sie in allen Einzelheiten – es ist eine jener Familiengeschichten, die ich so oft gehört habe, dass es mir scheint, als hätte ich das alles auch gesehen:

    Wir waren ja für den Sommer da, zur Erholung, wir dachten – es ist Sommer, wir sind im Dorf – Gras, frische Luft. In der Stadt waren wir arm, es gab nicht so viel zu essen, aber im Dorf gab es alles, aus den Gärten, überall … Wir wollten den ganzen Sommer bleiben. Aber dann kam es anders – am 26. fuhren wir hin, und drei Tage später schon wieder zurück. Am ersten Mai waren wir dabei, irgendwas auf dem Hof zu graben oder zu pflanzen, vielleicht machten wir die Beete oder verbrannten Abfall … Da schaue ich, und sehe jemanden aus dem Wäldchen zu uns laufen, sieht aus wie Sascha. Dabei weiß ich doch, dass er erst gestern oder vorgestern noch weggefahren ist. Und ich denke – warum ist er zurückgekommen? Und er rennt, da aus dem Wäldchen, ganz sicher ist er es … Das kann er nicht sein, denke ich mir … Warum sollte er? Und er fliegt … Und sieht genau aus wie unser Papa. Da kommt er näher – und er ist es! Als er in Wilejka angekommen war, hatte er Radio Svaboda gehört. Und die sagten was ganz anderes. Und als er genug gehört hatte, ist er noch am selben Tag sofort zu uns gefahren – hat freigenommen und ist los zu uns. Damals gab es ja noch nicht diese Telefone, du konntest nicht Bescheid sagen – am besten bist du selbst hingefahren. Ich war so erschrocken. Warum bist du hier? Was bist du hergekommen? Und er sagt: „Schnell, packt zusammen, wir fahren.“ Er war ja verantwortungsvoll, er kam, um uns zu holen. Wir hatten da noch von nichts gehört. Und er war gekommen und nahm uns mit. Als wir in Minsk ankamen, war dort schon alles voll mit Menschen, riesige Schlangen, und wir standen, alle wurden überprüft – die Schilddrüse, die Kleidung … Alle, die aus dem Zug kamen, wurden überprüft. Ich weiß noch, manche warfen sogar ihre Schuhe weg, die Kleidung musste man auch ausziehen. Bei uns war alles in Ordnung. Der Akzjabrski-Rajon war sauber geblieben. Dort zog es einfach vorbei. Aber Sascha hatte das alles im Radio gehört … Er konnte ja nicht wissen, dass der Akzjabrski sauber ist. Damals dachten alle – je näher, desto schlimmer.“

    Das zweite Erinnerungsbild entstand 20 Jahre später, im März 2006. Wir gingen zum Platz, Papa, Shenja und Lena, das Mädchen, das ich liebte und mit der ich damals zusammen war. Mama und Papa waren nach Minsk gekommen, um an der Wohnungstür zu stehen und meine Schwester und mich nirgendwo hinzulassen. Aber weil das nicht funktionierte, wurde vom Familienrat beschlossen, dass Papa mit uns geht, und Mama zu Hause bleibt und die Nachrichten verfolgt. Ich weiß noch, wie Mama Shenja und mir vorm Hinausgehen half, Zeitschriften in den Hosenbund zu stecken, die die Schläge der Schlagstöcke abmildern sollten. Später erfuhr ich, Lenas Freundin habe erzählt, ihr sei klar gewesen, dass wir uns bald trennen würden, als sie uns beide damals zusammen auf dem Platz sah – weil ich Lena so angesehen hätte, wie sie mich nicht ansah. Manchmal wünschte man sich die Fähigkeit zu haben, in die Zukunft zu schauen, um richtige Entscheidungen zu treffen, um zu wissen, worauf man sich einstellen oder wie lange man noch warten muss; ich hätte sie also damals in Lenas Augen sehen können (ihre Freundin konnte es ja), doch ich habe überhaupt nichts gemerkt. Als könnte man die Zukunft nur erkennen, wenn man in die Vergangenheit schaut. So wie ich jetzt.

    Ein Schneesturm ist aufgezogen. Die unvermittelt niederbrechende Naturgewalt lässt alles leicht irreal erscheinen, es fühlt sich an, als öffne sich eine Art Portal – und wir alle, die jetzt auf dem Platz stehen, sind in eine andere Dimension versetzt, haben die Möglichkeit, uns selbst als andere wahrzunehmen, als die, die wir sein könnten, oder die wir in Gedanken sind, oder die wir vielleicht irgendwo noch sind. Gerade eben war da noch nichts, und mit einem Male ist alles ringsum mit einem weißen Schneeschleier bedeckt, ich schaue jetzt durch ihn hindurch und versuche zu erkennen … Eine meiner Kindheitserinnerungen, die mit Papa verbunden sind, ist wie wir zusammen Fotos entwickeln. Wir schlossen uns in der kleinen Küche unserer Wilejker Wohnung ein, ein zauberhaftes rotes Licht erfüllte den ganzen Raum, durch die Schüssel mit dem Entwickler zogen wir eins nach dem anderen die leeren Blätter des Fotopapiers und begannen zu zählen, bis wir Zeugen des Wunders wurden – wenn aus dem Nichts auf dem weißen Papier das Bild erkennbar wurde … So schaue ich jetzt in mein Gedächtnis und sehe wie aus dem Nebel langsam Silhouetten auftauchen, wie auf einer aus leichten, weißen Körnchen aufgeschütteten Fotografie … Vielleicht ist da Shenja, die auf Papas Schultern sitzt wie in der Kindheit, um weiter als alle anderen sehen zu können. Vielleicht bin da ich, die daneben steht und fragt – Und? Vielleicht antwortet sie mir: „Sehr viele“. Vielleicht ruft Papa plötzlich: „Es lebe Belarus!“, und ich schaue ihn an als würde ich ihn nicht wiedererkennen, oder vielleicht ist es auch umgekehrt – überwältigt vom plötzlichen Erkennen denke ich – warum schreibst du eigentlich keine Gedichte mehr, Papa?


    Im März dieses Jahres habe ich begonnen, Tagebuch zu führen, um mir klar zu werden, wie ich meine Stummheit überwinden kann, wie ich mir selbst das Sprechen erlauben kann, wenn um mich herum so furchtbare Dinge geschehen, wie ich das Unaussprechliche lernen kann auszusprechen? Schreiben ist peinlich. Jedes Wort, das du jetzt in dem Moment schreibst, während um dich herum weiterhin Menschenleben zunichte gemacht werden, erscheint überflüssig und fehl am Platz. Es scheint, als hätten meine inneren, internalisierten Aufseherinnen einen Weg gefunden, mir endlich ganz legal den Mund zu stopfen. Vielleicht muss ich gerade deswegen und genau jetzt versuchen weiterzuschreiben. Seit Beginn meiner Tagebuchaufzeichnungen haben die Jahreszeiten gewechselt – ich habe beobachtet, wie der Frühling kam und alles ringsum mit Leben erfüllt, und wie der Herbst mit der erneuten Mahnung anbrach, dass alles irreparabel endlich ist. Ich erinnere mich gut an diese Verbindung mit den Jahreszeiten, weil in meinem Tagebuch Kerben geblieben sind  …

    Am 29. März waren in Belarus 322 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 12. August waren in Belarus 631 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 29. September waren in Belarus 702 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 28. Oktober waren in Belarus 833 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Gerade ist ein wunderbarer goldener Herbst, seine Schönheit tut fast ein wenig weh, ebenso die Unmöglichkeit, diese Schönheit vollkommen aufzunehmen, sie mit jemandem zu teilen, und das Vorgefühl ihrer Endlichkeit. Ich sage „ein wenig“ nicht, weil dieses Wort den Grad meines Gefühls beschreibt, sondern weil es das Gefühl mildern und mit seiner sachten Anwesenheit umhüllen soll. „Ein wenig weh“ – das sagst du, wenn du nur Wörter zu Hilfe rufen kannst. Es ist unmöglich, zwei Wirklichkeiten gleichzeitig zu fassen – den Frühling, der unausweichlich kommt und alles ringsum mit Leben erfüllt und gleichzeitig den Terror im Land, wenn alles Menschliche und Lebendige weiter vernichtet wird. Man kann dieser Aufspaltung unmöglich entkommen, nur so kann die Psyche sich retten – indem sie Teile von sich abspaltet. Diese Spaltung gibt es auch in mir – das Leben, das aus mir erwächst, trotz allem, und das Konzentrationslager, dem ich nicht entfliehen kann.


    Noch eine mit Papa verbundene Kindheitserinnerung ist, wie er die Sekunden zählt, während ich beim Baden in der Wanne tauche. Das war unser Ritual, das den langweiligen Vorgang des Badens spannend und interessant werden ließ. Papa nahm die Uhr vom Handgelenk, gab mir ein Zeichen, ich holte tief Luft und tauchte unter … Mit aller Kraft versuchte ich, es länger auszuhalten, wollte meine Stärke beweisen – schau, wie lange ich die Luft anhalten kann, wie stark und geübt ich bin, schau, Papa, was ich alles kann. Alle Ungeheuer, alle Monster, alle bösen Menschen verschwanden, wenn ich auf dem Grund des Schaumbads lag, das Zimmer von heißem Dampf erfüllt, und Papa dastand und beobachtete, und ich wusste, dass er auf mich wartet.

    Auch jetzt liege ich wie unter Wasser und halte die Luft an, manchmal scheint mir, dass mir kaum noch Luft geblieben ist, dann stelle ich mir vor, dass du wie in der Kindheit neben mir stehst und weiterzählst – während ich auf dem Grund der von Schmerz und Leid gefluteten Stadt liege, mir Raum zu geben versuche und diesen Text schreibe – ungeschickt, wie es nur einem Kind gelingt, und solange die Kraft und der Platz in meiner Lunge ausreicht – ich weiß, dass du weiterzählst, mir Zeit verschaffst – um hier zu sein, wenn ich endlich auftauchen kann, wenn ich endlich wieder Luft holen kann.

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    Am Ende eines Sommers

    DIE FREMDEN

    Zukunftsnostalgie

    Minsk-21, Transitzone

  • Minsk-21, Transitzone

    Minsk-21, Transitzone
    Zichan Tscharnjakewitsch, 1986 in der süd-belarussischen Stadt Pinsk geboren, gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In diesem Text beschreibt er die momentane Lage, in der sich viele seiner Landsleute nach einem Jahr der scharfen Repressionen befinden. Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.

    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Die Stadt ist alt geworden, das spürt man. Obwohl, verflixt – ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Vielleicht ist mir etwas ins Auge geraten – Staub, ein Spiegelsplitter, und plötzlich ist alles verkehrt. 

    In den Trolleybussen riecht es nach Kölnisch Wasser, nach süßlichen Fahnen von Obstwein, nach vergilbtem Mull selbstgebastelter Masken, nach warmem, feuchtem Kohlendioxid: Das schlägt sich an den geschlossenen Fenstern nieder und trägt den Tod in sich. Immer hustet jemand, ständig sitzt jemand ohne Maske da und hustet. Was hast du hier verloren, Jacques-Yves Cousteau, das erste Mal in deinem Tiefsee-U-Boot,  sehr unbequem, wie lang sich dieser Tauchgang wohl hinzieht. 

    Ich stürze aus dem Trolleybus und stehe vor einer Polizeistreife. Denn in letzter Zeit geht es mir immer so: Wenn ich aus dem Trolleybus steige, stoße ich unweigerlich auf eine Polizeistreife. Neulich ging ich beim Polizeirevier Perwomaiski die Bjalinskaha Straße entlang und sah, wie die Patrouillen losmarschierten: Jede Minute kamen drei aus dem Tor heraus, dann wieder drei, insgesamt dreißig Mann mit Schlagstöcken. Hätte man die Szene gefilmt, hätte sie eins zu eins in den Director’s Cut von The Wall gepasst. Wäre später natürlich rausgeflogen. Denn eigentlich ist das langweilig. Nichts Lebendiges, keine hyperboreische Freude in den Bewegungen, keine Sturmhauben und Munitionsgürtel mehr. Routine.  

    Das letzte Mal, dass einer der berühmten grünen Gefängnistransporter zielstrebig durch die Stadt rollte, war im Juli. Es war heiß, und die schwarzen Sturmhauben ragten aus den offenen Autofenstern, scannten angespannt die Umgebung. Es war der letzte Schultag und offenbar hatte sich jemand im Innenministerium gedacht, dass zumindest ein paar angenebelte Schulabgänger, die Fahnen von Eukalyptus und Menthol verströmten, sich mit inoffizieller Symbolik schmücken, regierungsfeindliche Parolen rufen, sich einer Festnahme widersetzen und an Uniformen zerren würden. Aber nein.    

    Was soll ich denn sagen über die Zukunft? Sie dauert schon lange. Zeitspannen haben mich schon früher beschäftigt. Einmal habe ich den Sohn von Jakub Kolas gefragt, was denn Janka Kupala für ein Typ war. Während ich mich mit ihm über die 1930er und 1940er Jahre unterhielt, spürte ich eine gigantische, kosmische Distanz. Denn Gewalt verdichtet das Zeitgefühl. Gefüllt mit Gewalt, vergehen die Tage langsamer, sind voller Leidenschaft, Schmerz, Moosbeersaft. Je mehr kaputte Seelen, desto größer die Amplitude. Und das Blut in den Adern fließt nicht mehr, sondern verklumpt, verstopft und sperrt dich ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart.    

    Außerdem: Zukunft ist nur im Prozess ihrer Gestaltung möglich. Dafür braucht man Baumaterial und ständig erneuerbare Energiequellen. Modelle, Pläne, Programme, für die es Spielregeln gibt und die man befolgen und umsetzen kann. Besser: nicht nur umsetzen kann, sondern auch wirklich will. Gleich nach dem Aufstehen, ohne erst mal eine zu rauchen.   

    Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.      

    Keiner meiner Freunde kauft Lebensmittel auf Vorrat. Das ist alles Luxus, den man vielleicht gar nicht brauchen wird. Ein halbes Dutzend Eier, zwei Syroki, ein kleiner Becher Schmand. Eine Packung Toastbrot wirkt schon merkwürdig. Planst du etwa für eine ganze Woche? Willst du 100 werden?


    Und immerzu hustet jemand. Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir den chinesischen Impfstoff spritzen zu lassen, damit ich ein Zertifikat bekomme, mir ein Ticket an die nächstbeste Küste kaufen kann, wo ich mitsamt der Kleidung ins Meer steige und vielleicht gleich dort abkratze. Im Stadtzentrum tummelten sich scharenweise Migranten, manche sogar mit Dolmetschern. Sie schienen bester Stimmung. „Ungefähr so werde ich auch drauf sein, wenn ich das Meer sehe“, dachte ich. Aber den chinesischen Impfstoff gab es nirgends, es gab nur noch Sputnik. „Ist hier vielleicht der chinesische aufgetaucht?“ habe ich bei den Impfstationen im ZUM und im GUM gefragt. „Noch nicht, kommen Sie morgen wieder. Alle fragen danach – Sie sind viele, und ich bin hier ganz allein.“

    „Hätte ich ihr Geld zustecken sollen, oder Konzertkarten für Gasmanow?“, so die trostlosen Gedanken eines Menschen, der sich in der Fernsehgeräteabteilung des ZUM umschaut. Auf zwanzig Bildschirmen  gleichzeitig die Übertragung einer Sendung über die Entwicklung strukturschwacher Regionen. Es wurde vorgeschlagen, irgendwo Geld aufzutreiben und es großzügig in die Erneuerung der bestehenden Ordnung zu stecken.

    Alle Regionen, die in der Sendung rückständig genannt wurden, würden im Fall einer Grenzziehung im Osten in den unteren und mittleren Schichten der Atmosphäre bestimmt zu Schmugglerparadiesen und bei Aufstiegsströmungen zu Freihandelszonen. Doch solange es keine Grenze gibt, fahren die Bewohner lieber auf Baustellen nach Moskau, um Estrich zu gießen und wer das nicht kann, um sich die Kehle zu füllen. Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Wer weiß, was für Gerätschaften in dieser Fernseherabteilung noch herumstehen. Wozu habe ich überhaupt diesen ganzen Absatz geschrieben? Ich interessiere mich doch eigentlich gar nicht für Politik.    

    Auf den Bildschirmen läuft jetzt ein Fußballspiel. Doch für Fußball interessiere ich mich auch nicht. Ja klar, ich habe davon gehört, dass letztes Jahr bei der Nationalmeisterschaft im Finale, in den letzten entscheidenden Sekunden, jemand den Ball von der Spielfeldmitte direkt ins Tor des amtierenden Meisters befördert hat. Doch der Schiedsrichter hat das Tor für ungültig erklärt. Als die Mannschaft daraufhin rebellierte, hat der Schiedsrichter alle einsperren lassen, die Fans im Stadion mit Granaten beworfen und dann ebenfalls festnehmen lassen. Die, die die Übertragung verantworteten, wurden auch eingesperrt, und jetzt buchtet man die ein, die die Übertragung gesehen haben. Ich habe das Spiel natürlich nicht gesehen, ich habe nur davon gehört. Ich besitze ja nicht einmal einen Fernseher. Wie gesagt, ich interessiere mich nicht für Fußball.

    Die Stadt ist voll gelbem Ahorngestöber. Instagram ist voll bunter Blätter und in Vorstadtwäldern gefundenen Steinpilzen und Rotkappen. Es gibt auch Fans von Täublingen und Milchlingen, aber das ist eine Kaste für sich, viele Likes bekommen sie nicht. Der Schwarze Milchling ist außerdem ein Vorratspilz – da zeigt sie sich wieder, die Zukunft, die es nicht gibt. Und auch Spielregeln gibt es nicht. Nicht wie beim Angeln – fangen, ausnehmen, braten, essen. Das ist schon näher dran an der Realität.


    Wie dem auch sei, man muss das Leben genießen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Nichts hindert die letzten warmen Strahlen, nichts bremst die Lichtgeschwindigkeit, denn ich stehe neben dem neuen Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Der Platz davor ist eine riesige Ödnis ohne Bäume. Ich bin gerade arbeitslos geworden; im Land wurden mehrere hundert Organisationen aufgelöst, und heute war unsere an der Reihe. Angeblich haben wir irgendwelche Vorschriften im „globalen Computernetzwerk Internet“ ignoriert und den Kontrollinstanzen Dokumente vorenthalten. Dass sie die Hälfte dieser Dokumente bei der Durchsuchung konfisziert und die andere Hälfte zusammen mit dem Büro versiegelt haben, hat niemanden interessiert. Ich stehe da und denke nach über das „globale Computernetzwerk Internet“. Ist es wirklich so global? Und geht es überhaupt um Computer, und wenn ja, warum?

    Wenn Prousts Held sich schlaflos im Bett wälzt und seine blassen Beine betrachtet, denkt er an die Frauen, mit denen er es gut hatte. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich eher an das, was der in Ungnade gefallene Schauspieler Alexander Schdanowitsch einmal gesagt hat: „Jetzt in Belarus zu bleiben, ist wie in einem Zimmer zu wohnen, in dem sich unter dem Bett eine giftige Schlange versteckt.“ Eine Freundin von mir, sie ist Künstlerin, erwiderte, das Leben sei grundsätzlich eine Schlange unter dem Bett, nur sei es in Belarus eine schwarze Mamba. Ehrlich gesagt, wenn du schon ein Jahr chronisch an Schlafstörungen leidest, kommt es dir so vor, als würde unter deinem Bett ein ganzes Schlangennest hausen.

    Wenn einem etwas scheint, dann muss man sich bekreuzigen, so ein Sprichwort. Schließlich kann man seine subjektiven Wirklichkeiten, die einen in Form von Empfindungen überkommen, nicht anderen Menschen aufzwingen. Ja, hier in dieser Stadt, wo zwölf deiner Freunde schon im Gefängnis gesessen haben und weitere Angehörige immer noch sitzen, kann man Lebensfreude nur imitieren. Andererseits musst du sie auch imitieren, sonst frisst dich die Brut auf, die unter deinem Sofa zischt.


    „Na, Sie waren ja ewig nicht mehr zum Haareschneiden hier, bestimmt zwei Monate. Ist schon völlig rausgewachsen. Heute kam ein merkwürdiger Typ hier rein, der wollte unbedingt die Haare auf Pump geschnitten bekommen, hatte wohl sein Geld versoffen und kam dann her. Bei uns im Wohnheim wimmelt es von denen, wollen mal dies, mal das, und dann kommt noch dein Göttergatte, bettelt rum. Welches Wohnheim? Na, das für Energietechniker. Warum soll ich Energietechniker sein, ich bin kein Energietechniker, ich weiß gar nicht, wie viele es bei uns noch gibt von denen, vielleicht gar keine mehr, alle möglichen wohnen da, seit letztem Jahr sind es weniger geworden, die haben alle Rot-Weißen rausgefischt und auf die Straße gesetzt, wissen Sie, woran sie die erkennen? An den Augen. Als die auf die Straßen gekommen sind, da wurden ja die Augen gefilmt, und so haben sie nachher alle erkannt. Bei uns wurden vierzig Leute rausgeworfen. Aber jetzt ist kein Platz mehr, natürlich sind dafür Neue nachgekommen, sogar ein stellvertretender Minister hat bei uns gewohnt, als der alte entlassen wurde. Aus Witebsk kam der neue, hat immer gelächelt, unsere Mädels waren gleich Feuer und Flamme, aber dann kam seine Frau übers Wochenende, hat sie gesehen, und gesagt „Schluss, morgen ziehe ich hierher“. Die hat dann niemanden gegrüßt. Aber jetzt haben sie irgendeine Dienstwohnung bekommen. Aber klar, unsere Mädels sind heiß. Ach was, die sind keine Energietechnikerinnen. Die haben alle drei, vier Kinder, leben vom Kindergeld. Draußen findet man gar keinen Parkplatz mehr, die kaufen sich alle einen Geely auf Kredit, die Kinder lassen sie barfuß im Flur rumlaufen, in dreckigen T-Shirts, stehen alle rum und rauchen, sagen Hi!, die Kinder sind bis abends sowieso wieder durchnässt, das härtet ab, da braucht man keine Schuhe zu kaufen, wenn sie barfuß rumrennen Und dann immer: Hast du einen Bonbon für mich, manchmal geb ich ihnen eins. Haben Sie auch Kinder? Ja? Ach so.“


    Insgesamt glaube ich nicht, dass sich alles auf Dauer beruhigt hat. Nur die Ordnung hat sich verändert im direkten wie im übertragenen Sinn. Die Belarussen waren schon immer Meister im Universum des Überlebens, diese Fähigkeit kann ihnen niemand nehmen. Ein vernünftiger Mensch denkt strategisch, das mag die Staatsmacht nicht. Denn das strategische Denken – das zukunftsgerichtete Denken, das Denken in großen Begriffen – spielt nie auf der Seite der Gewalt. Jede Thrombose wird früher oder später bereinigt, der Organismus versteht die Notwendigkeit, sich selbst zu heilen, damit das Blut normal fließen kann.

    Aber bis dahin, bis dahin rauche ich in der Dunkelheit und atme die Fäulnis der Ebbe ein.     

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    Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?

  • Zukunftsnostalgie

    Zukunftsnostalgie

    Alexey Bratochkin, geboren 1974, gehört zu den bekanntesten Intellektuellen in Belarus. In seinen messerscharfen Analysen geht er den kulturhistorischen Verwerfungen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen auf den Grund, die seine Heimat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 durchlaufen hat. Dies tut er auch in diesem Essay, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen von Zukunft für Belarus in seiner Geschichte seit der Sowjetunion bestimmend waren und wie diese möglicherweise helfen können, eine Zukunft zu schaffen, die ohne den bis heute prägenden Autoritarismus auskommt.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Der Protestsommer 2020 brachte die Idee der Zukunft nach Belarus zurück. Menschenmassen in Minsk und anderen Städten demonstrierten die Absicht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen – ein Recht, das das autoritäre Regime ihnen abgesprochen hatte.

    Der französische Historiker François Hartog erforscht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gemeinschaften und der Kategorie Zeit. Er verwendet den Begriff „Geschichtlichkeitsmodus“ (régime d’historicité), um zu zeigen, wie in unterschiedlichen Gemeinschaften Vorstellungen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft generiert werden: von dem Versuch, die Grundlagen fürs Leben im Goldenen Zeitalter zu finden, also in einer idealisierten Vergangenheit, über Bestrebungen, die Zukunft nahe heranzuholen und mit dieser „futuristischen“ Aufgabe zu leben, bis hin zu einer Dominanz der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft bestimmt. 

    Wenn man über die belarussische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre spricht, so kann man sie anhand wechselnder Zukunftskonzepte beschreiben, von denen es in meiner Generation schon mehrere gegeben hat.

    Wir haben verschiedene Versionen einer kollektiven Zukunft erlebt, überlebt, aufgegeben und uns enttäuscht von ihnen losgesagt. Eine dieser Zukünfte prägte uns in der UdSSR, doch diese Zukunft Nr. 1 war 1991 zu Ende. Die Zukunft Nr. 2 stellte sich dann in den 1990er Jahren ein, sie war optimistisch und utopisch, wenn auch der sowjetischen diametral entgegengesetzt. Diese Zukunft wiederum fand einen autoritären Ersatz in der Zukunft Nr. 3, die jedoch 2020 endgültig in sich zusammenstürzte. Und so stehen wir vor einer neuen Version der Zukunft, der Zukunft Nr. 4. Was erwartet uns?

    Zukunft Nr. 1

    Bis heute ist die übliche Sichtweise, dass die UdSSR in einem besonderen, futuristischen Geschichtlichkeitsmodus beziehungsweise Zeitbezug existierte – eine Gesellschaft, deren Entwicklung von der Zukunft, vom Aufbau des Kommunismus, bestimmt war. Natürlich gab es auch hier Nuancen – doch eigentlich war das Bild der offiziellen Zukunft alternativlos.

    Für mich, wie für viele andere meiner Generation – die formal der vom Kulturanthropologen Alexei Yurchak beschriebenen letzten sowjetischen Generation der Mitte der Siebziger Geborenen angehörte – war eine spezielle Wahrnehmung der Zukunft ein enorm wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens. 

    Was hatten wir damals für eine Vorstellung von unserer, der persönlichen und der kollektiven, Zukunft? Technokratische Phantasien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mischten sich mit ideologischen Postulaten des sowjetischen Marxismus und (in unserem Fall) einer kindlichen, etwas infantilen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Gleichzeitig war diese Zukunft unmittelbar bedroht: Jeden Moment konnte ein Atomkrieg mit dem kapitalistischen Westen ausbrechen.

    Der Glaube an regelmäßige Raumflüge in naher Zukunft existierte in meiner sowjetischen Kindheit in den frühen 1980er Jahren Seite an Seite mit der Propaganda für das ultimative soziale Bestreben der Sowjetbürger – den Aufbau des Kommunismus (und das war die richtige Zukunft).

    Das in der Sowjetunion beliebte Genre der Science Fiction enthielt nicht nur utopische Beschreibungen einer positiven Zukunft – es war ein Ergebnis der Zensur. In der UdSSR durften keine Dystopien veröffentlicht werden (der Roman 1984 von George Orwell kursierte im Samisdat), sodass dieses Genre zum Teil durch Science Fiction ersetzt wurde. Auch in den offiziell veröffentlichten Büchern fand sich immer Platz für Anspielungen auf soziale Probleme, und eine Reihe sowjetischer Phantasten, etwa die Brüder Strugatzki, trieben diese besondere Sprache zur Perfektion. Die sowjetischen Dissidenten der 1960er Jahre sahen die Zukunft kritisch, und Andrej Amalrik schrieb einen fast prophetischen Text: „Überlebt die UdSSR bis 1984?“ 

    1988 erschien im noch sowjetischen Belarus, in der Zeit von Gorbatschows Reformen, Andrej Mrys satirischer Roman Notizen von Samson Samossui aus dem Jahr 1929. Der Autor dieses Romans wurde in den 1930er Jahren politisch verfolgt und sah sich vor seinem Tod gezwungen, Briefe an Stalin mit der Bitte um Begnadigung zu schreiben. In seinem Roman beschrieb er einen „neuen Sowjetmenschen“, der auf groteske Weise alle Anweisungen der Staatsmacht erfüllte und darauf seine Karriere aufbaute. Diese Satire kann man auch als Beschreibung einer gescheiterten Utopie lesen – des Misserfolgs der Bolschewiki bei der Erschaffung einer sozialistischen Zukunft. In gewisser Hinsicht war das eine Dystopie, wenn auch als Satire verkleidet. Seitdem sind dystopische Motive in der belarussischen Literatur äußerst selten.  

    Jelena Swetschnikowa, die dystopische Texte in der belarussischen Literatur erforscht, schreibt in ihrer Dissertation, dass das Genre der Dystopie in Belarus erst in den 1980er, 1990er Jahren zu finden ist. Sie konstatiert einen spezifischen Charakter der dystopischen Zukunftsvisionen in Belarus: „Kulturelle, politische und soziale Veränderungen werden in der belarussischen Dystopie negativ bewertet.“ Die Propaganda sprach vom Kommunismus, die Schriftsteller hingegen schrieben konservative, patriarchale Bücher, die Modernität und Urbanität kritisierten und zur Rückkehr in eine vorindustrielle Harmonie aufriefen.

    Konservativismus kann man hier als Reaktion auf die radikalen sozialen Veränderungen und die rasend schnelle Modernisierung interpretieren, die in der Stalinzeit und in den 1960er bis 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Die Transformation ging schnell vonstatten und hinterließ eine schwer beschädigte Vergangenheit, die in der sozialen Imagination der Intellektuellen keinesfalls zu einer wahrhaft optimistischen Zukunft werden konnte. 

    Einer der erfolgreichsten Filme der spätsowjetischen Populärkultur war die fünfteilige Fernsehserie Gast aus der Zukunft aus dem Jahr 1985, in dem auch Michail Gorbatschows Perestroika begann. In diesem für Schüler gemachten Film kommt Moskau im Jahr 2084 vor: Die Menschen bewegen sich in individuellen Flugzeugen fort, zwischen Planeten verkehren regelmäßig Raumschiffe, es gibt einen Apparat zum Gedankenlesen et cetera.   

    Die Handlung jedoch spielt fast ausschließlich in der Vergangenheit, im Moskau des Jahres 1984: Kolja Gerassimow, ein einfacher Pionier, seine Freunde und Alissa, ein mit Superkräften ausgestattetes Mädchen aus der Zukunft, versuchen, einen Gedankenleseapparat zurückzuholen, den Weltraumpiraten entführt haben. Das Leben 1984 ist leicht ironisch dargestellt – seltsame Erwachsene, das ewige Problem mit der Mangelware und ein ziemlich alltägliches Leben der Sowjetmenschen, das wenig von der Präsenz von Weltraumtechnik spüren lässt. Durch die Gegenüberstellung von Moskau 1984 und der strahlenden Zukunft 2084 konnte das Publikum sich fragen: Wie kann eine solche Zukunft das Ergebnis jener Gegenwart sein, die wir jetzt um uns haben?

    Der für Kinder gedrehte Film erzählt recht blumig eher von Erwachsenen und der Unmöglichkeit einer Zukunft, von Zynismus, Zweifel und Kritik und von den Hoffnungen der älteren Generation, die im Leerlauf zwischen dem irgendwann verblichenen Optimismus und dem Realsozialismus der 1970er und 1980er Jahre aufgewacht sind. Die Zukunft bringt durch ironische Gegenüberstellung die Probleme der Gegenwart zur Geltung, deren Lösung jedoch utopisch, unmöglich bleibt.

    Am Ende des Films erklingt das Lied Prekrasnoje daljoko (dt. Das Schöne ist weit weg), in dessen Text die Zukunft gebeten wird, „nicht grausam zu sein“ – und fast alle Heldinnen und Helden bleiben im Jahr 1984. Das Lied wurde unfassbar populär und ikonisch für mehrere Generationen; es transportiert eine besondere Stimmung – fast ein Gebet, dass unsere Kinder besser leben mögen als wir. Es trägt auch eine besondere Nostalgie in sich – eine Zukunftsnostalgie über etwas, das nie eingetroffen ist, aber so wahrscheinlich erschien, fast schon greifbar, fast real.   

    Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 setzte den technokratischen Zukunftsphantasien ganz plötzlich ein Ende und rückte die Probleme der Gegenwart wieder in den Mittelpunkt. Der Zerfall der UdSSR 1991 war nicht nur das Ende des sowjetischen Projekts mit seinen utopischen Zukunftsvisionen, sondern bot für viele auch eine neue kollektive Idee – die Rückkehr zur Normalität in Form von Verwestlichung, Markt und Demokratie.  

    Zukunft Nummer 2

    Der belarussische Alltag veränderte sich nach 1991 schnell und radikal. Das Bild der kollektiven kommunistischen Zukunft war verschwunden: An seine Stelle trat ein Gefühl von Freiheit, Chancen, aber auch Besorgnis, sowie von individuellen Perspektiven (zumindest für jene, die Ressourcen für Veränderungen hatten oder wenigstens die Hauptressource – ihre Jugend). Das gemeinsame Wertesystem kollabierte, die gewohnten sozialen Strukturen begannen sich aufzulösen, und eines der wichtigsten Kriterien für sozialen Erfolg wurde Geld. 

    Ganz plötzlich verlieh das Geld der Zukunft eine Materialität – sie war nun objektiviert, individualisiert und drückte sich darin aus, wie und was man konsumieren kann. Gleichzeitig war die Zukunft nicht mehr ganz Zukunft, also etwas, das man sich nur schwer bis ins Letzte vorstellen kann. Sie hat sich maximal der Gegenwart angenähert, in der man so leben muss, dass man jetzt Geld verdienen kann und am sozialen Erfolg beteiligt ist.  
    Eines der Symbole dieser Gegenwarts-Zukunft sind die Kleider-, Haushalts- und Technikmärkte in den belarussischen Städten, die in den 1990er Jahren fast spontan entstanden – in Sportstadien, auf Plätzen, auf denen früher sozialistische Kundgebungen abgehalten wurden, und überall, wo auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bestand. Auf diesen Märkten arbeiteten Menschen, die von ruinierten staatlichen Betrieben, wissenschaftlichen Instituten und Schulen entlassen worden waren.  

    Die Märkte waren gerammelt voll mit neuen Waren aus dem Ausland. Die Nachfrage war stabil und mit Versuchen verbunden, durch Konsum neue soziale Zugehörigkeiten zu markieren. Dieser übersteigerte Konsum war bestimmt auch eine unbeabsichtigte Folge des sowjetischen Traums vom Aufbau des Kommunismus – die Zukunft muss man endlich nicht mehr aufschieben, endlich kann man leben.

    Und während auf Alltagsebene die Zukunftsträume sehr pragmatische Formen annahmen, entwickelten sich auf Ebene des intellektuellen und politischen Lebens eigene Vorstellungen davon, wie man schneller zu einem Belarus der Zukunft kommt, zu einem demokratischen, europäischen Land, das sich einfügt ins politische Weltsystem, das seine Bipolarität und Zweigeteiltheit während des Kalten Krieges endlich abgelegt hat. Auch der gefeierte Besuch von US-Präsident Bill Clinton 1994 in Belarus war eine symbolträchtige Episode im Verschwinden des gewohnten Feindbilds, das in der Sowjetzeit geprägt wurde und als dessen Finale eine „nukleare Apokalypse“ im Fall eines Krieges mit dem Westen erwartet wurde. 

    Die Ideen der ersten Jahre der Unabhängigkeit von 1991 bis 1994 transformierten sich zu einer Idee der „Nationsbildung“, zu Versuchen, endlich ein Land und eine Gesellschaft zu entwickeln, die alle Kriterien eines Nationalstaats erfüllen, der die Idee des Imperiums besiegt und überlebt hat. Identität wurde zur Politik (wie immer), die Geschichte wurde nun „aus einer nationalen Perspektive“ diskutiert, und es entstanden neue staatliche Strukturen und Institutionen. 

    Wenn wir uns jetzt an diese Zeit erinnern, sprechen wir von der Naivität dieser Gesellschaft, die überzeugt war, man könne alle Institutionen reformieren und die alten Probleme innerhalb kurzer Zeit loswerden. Aus dieser Naivität entstand jedoch allmählich die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen und politischen Lebens. 

    Die Jahre 1991 bis 1994 waren turbulent; es gab keinen Zweifel, dass die Dynamik unumkehrbar war – es schien kein Zurück mehr zu geben. Und auch hier drängt sich wieder der Gedanke der Naivität auf – viele dachten damals, die Freiheit würde sich von selbst einstellen, man müsse sich darum nicht sonderlich kümmern. Die Gesellschaft dachte nicht mehr so intensiv an die Zukunft wie früher, die Zukunft war da, und das genügte. Weniger Utopien, mehr Pragmatik, und die Überzeugung, alles laufe bestens. Wir waren endlich unabhängig, das war das Wichtigste. Doch paradoxerweise wandelte sich die Zukunft, als wir aufhörten aktiv darüber nachzudenken, in eine Diktatur. 

    Zukunft Nr. 3

    Lukaschenkos Regime, das 1994 begann, erschien vielen wie eine Diktatur aus der Vergangenheit, alle sahen darin das Sowjetische. Was auch Lukaschenko selbst unterstützte: Solange nostalgische Bilder aus der Sowjetzeit dafür eingesetzt werden konnten, wurde das auch doppelt und dreifach getan, mindestens bis Anfang – Mitte der 2000er Jahre.

    Später nutzte die Staatsführung die sowjetische Vergangenheit nur noch selektiv. Als wichtige symbolische Ressource wurde nur noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg maximal genutzt, angepasst an die Bedürfnisse der neuen (alten) politischen Klasse. 

    Und was wurde aus der Idee der Zukunft? Im Unterschied zur sowjetischen Idee einer kommunistischen Zukunft mit ihrem Utopismus und ihrem Globalismus sowie im Unterschied zur Atmosphäre des Übergangs und der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beschränkte sich die Idee der Zukunft unter der Herrschaft Lukaschenkos auf eine einfache propagandistische Formel: Ohne Lukaschenko hat das Land keine Zukunft.

    Die 2000er Jahre begannen mit der Gründung des Museums der modernen belarussischen Staatlichkeit, das so gut wie nichts vom Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzählte, nichts über die Zeit vor Lukaschenkos Amtsantritt. Seitdem dominiert die Auslöschung der Vergangenheit, das Schweigen über die politischen Querelen in den 1990er Jahren und darüber, dass es damals eine Alternative zu Lukaschenko hätte geben können. Zu Lukaschenko gab und gibt es nun keine Alternative mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. So, wie es auch die Zukunft selbst nicht gibt. Die Vergangenheit wurde zensiert, die Zukunft auf die Frage reduziert, wie lange Lukaschenko leben wird, und übrig blieb eine Gegenwart, in der politischer Populismus die Hauptrolle spielte. 

    Zur wichtigsten Losung in Belarus wurde das Wort „Stabilität“. Stabilität bedeutete die Unveränderlichkeit des politischen Regimes und jener zwiespältigen Atmosphäre, die sich im Land entwickelte, als viele ihrer Bürger zwar verstanden, was Autoritarismus bedeutet, ihn aber trotzdem nicht als Katastrophe empfanden und bereit waren sich anzupassen. Alle verzettelten sich im autoritären Alltag, im Konsum und auf der Suche nach Nischen zum Überleben. 2013 berichteten die Medien, dass Werbeflächen im Zentrum von Minsk von jemandem mit Plakaten „Diese Stabilität ist wie der Tod!“ überklebt wurden. Diese Kunstaktion brachte das Geschehen auf den Punkt. 

    In den 2010er Jahren entstand ein neuer Mythos, der eine Illusion der Zukunft erzeugen sollte – der Mythos vom „IT-Land“. Die IT-Sphäre hatte sich abseits der staatlichen Planung entwickelt, doch die Regierung schaffte es trotzdem, sich diesen Trend auf die Fahnen zu schreiben, nicht zuletzt dank der Lobbyarbeit von Vertretern der Branche. Der neue High-Tech-Park in Minsk sollte als Argument dafür dienen, dass Autoritarismus fähig zur Modernisierung ist und Belarus einer digitalen Zukunft entgegensieht. Die Proteste im August 2020, die vor dem Hintergrund eines fast vollständigen Internet-Shutdowns passierten, zogen auch unter diese Geschichte von der digitalen Zukunft einen Schlussstrich.    

    Zukunft Nr. 4

    Die Proteste des Jahres 2020 machten die Legitimität des autoritären Regimes zunichte, das als Antwort Gewalt zum zentralen politischen Werkzeug und zur Grundlage des Systems machte. Die Atmosphäre in Belarus schwankt heute zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das bestehende System kann sich noch halten, aber eine Zukunft hat es nicht (nur die Vergangenheit wird ausgenutzt und Gewalt angewendet).

    Wie können wir uns heute in Belarus die Zukunft vorstellen? Welche Fragen stehen an? Einige von ihnen betreffen die politische Praxis: Welcher Weg führt aus dem Autoritarismus heraus, was wird mit unseren Institutionen und Vorgehensweisen, welchen Preis werden wir zahlen müssen? Wird es uns gelingen, das Erbe der Diktatur zu verdauen und ein System zu erschaffen, in dem Diktatur nicht mehr möglich sein wird? Wird dieses System auch demokratisch, sozial gerecht, inklusiv sein, werden wir in der Lage sein, horizontale Strukturen und Verbindungen aufzubauen? Wird es uns außerdem gelingen, über den politischen Pragmatismus hinauszugehen und allen unseren Bemühungen mehr Gewicht und mehr Sinn zu verleihen?

    Diese Fragen stellen sich wohl viele im Land schon jahrelang mit unterschiedlicher Intensität. Und all diese Jahre hindurch sehen wir Versuche, auf die Bilder einzuwirken, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aussehen – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Verschwinden der sowjetischen Utopie der kommunistischen Zukunft und des nationalen Projekts der Unabhängigkeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre schufen eigene Zukunftsnostalgien unterschiedlicher Zukünfte (und Vergangenheiten). 

    Die Proteste von 2020, Repressionen, Gewalt und der 2021 fortgesetzte Widerstand haben die Diskussion über die Zukunft wieder aufgebracht und vermitteln das Gefühl ihrer Wiederkehr. Gelingt es uns, diese Chance zu nutzen, oder bleibt es bei einer weiteren Nostalgie, einem weiteren nicht realisierten Projekt kollektiver Zukunft?   

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    Tief hinab steigt die Lyrikerin Tanya Skarynkina, 1969 in der west-belarussischen Kleinstadt Smarhon geboren, – in ihre Erinnerungen und Träume, in die multikulturellen sprachlichen Bande der belarussischen Provinz, in die historische Verwerfungen und Brüche des belarussischen Kulturraums und in die schillernden Welten der Literatur und des Films. So macht sich Skarynkina, die zu den bedeutendsten Dichterinnen und Essayistinnen ihres Landes gehört, in ihrem literarisch-poetischen Text vor dem Hintergrund der Ereignisse seit dem Sommer 2020 auf die Suche nach einer Zukunft für Belarus. Ein Land, das auch in der Vergangenheit immer wieder die eigenen Menschen verloren hat, weil sie vor neuen Machthabern in andere Länder fliehen und als Fremde andernorts ein neues Leben beginnen mussten. 

    Belarussisches Original
    Russische Version auf Colta.ru
     

    „Knoten der Hoffnung” © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” © Tosla

    Augustregen hat ohne Vorwarnung die Julihitze abgelöst. Ich gehe absichtlich ohne Regenschirm hinaus. Nach der Höllenhitze ist die Nässe angehm. Für alle Fälle nehme ich den Staubmantel mit, zu dem man hier früher koshówez sagte. An der Betonung auf der vorletzten Silbe merkt man, dass es ein polnisches Wort ist, und das verwundert auch nicht, denn früher war auf unserem Gebiet Polen. „Polschtsch“ sagt die ältere Generation. Warum es koshowez heißt, weiß ich nicht, denn er ist aus wasserundurchlässiger Plane genäht. Sicher nicht aus kosha, Leder. Vielleicht ist es ein ganz leichter Mantel (koshuch)? Im polnischen Wörterbuch konnte ich kożowiec nicht finden, auch im belarussischen suchte ich erfolglos. Also wohl ein dialektaler Schatz aus der Vergangenheit.

    Der Heilige Augustinus, einer der ersten Autoren des frühen Christentums, schreibt in seinen Confessiones, dass nur die Vergangenheit existiert, die Zukunft gibt es nicht. Die Gegenwart im Übrigen auch nicht. Es gibt nur die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen. Darauf baut Augustinus sein gesamtes Verständnis der menschlichen Kultur. Ich laufe ohne Schirm durch den warmen Regen und denke darüber nach. Es fällt mir schwer zuzustimmen. Doch für gewöhnlich vertraue ich dem Heiligen Augustinus.

    Ich erreiche den Teich im Stadtzentrum. Obenauf Seerosen. Die Oberfläche des Blattes der Gelben Teichrose soll die Ebene der zukünftigen Geschichte sein, deswegen stelle ich mir beim Beobachten der Regentropfen vor, wie sie als Details, die täglich in den Text einfließen und ihn schwerer machen, das Blatt der Teichrose niederdrücken. Teichrosen wachsen auch im Weiher von Perawosy, dem Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde. Alle meine Verwandten mütterlicherseits bis in die vierte Generation, vielleicht auch weiter zurück, lebten dort. Sie nannten den Weiher kutok – Winkel – und Teichrosen bulauka – Stecknadeln.

    Warum ich so viel über meine Vorfahren weiß? Ich hatte das Glück, mit der Archivarin Lena aus Minsk befreundet zu sein. Lena fand zum Beispiel Transportlisten der Flüchtlinge aus Perawosy aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie schickte mir die Kopie eines Dokuments von 1914, auf dem Großvater Iosifs Familie registriert ist – der Vater meiner Mutter mit seinen Eltern (Adelaida, Apalinary) und Schwestern (Genueva, Maryja), die vor dem Krieg nach Maladsetschna flohen. Ergebnis dieser Flucht war, dass Maryja, die von allen Marynja genannt wurde, den Chef der Eisenbahn von Maladsetschna kennenlernte, einen Józef Tyszko. Sie heirateten und seitdem haben wir polnische Verwandtschaft.

    Ich stelle mir die Kriegswirren vor, alle fliehen, die Züge sind vollgestopft bis unter’s Dach, keinerlei Komfort, und dann mittendrin diese Liebe, jedenfalls dachte ich das immer, aber sie sagten mir, Tanja, welche Liebe, nichts dergleichen, keinerlei Komfort, Wirrnis, Krieg, die Menschen flüchteten, egal wie, vor Explosionen, vor Deutschen mit Stahlhelmen. Es hat sich so ergeben, aus Ausweglosigkeit hat sie ihn genommen, weil sie wie Bettler lebten, und dann der Krieg, und er brachte sie nach Polschtsch. Eigentlich brauchte keiner den anderen.

    Als der Schriftsteller Dmitri Bykow den Schauspieler Konstantin Raikin fragte, worum es in Kafkas Verwandlung gehe, wunderte ich mich. Kennt ein bekannter Literat und Fernsehmoderator – denn gestellt wurde die Frage in der Sendung SSL (Shalkaja samena literatury, dt. Lausiger Literaturersatz) – wirklich die Antwort auf diese Frage nicht? Er beteuerte aufrichtig, es nicht zu wissen, also gab Raikin eine Antwort, die das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Das Schlimmste ist, wenn man nicht gebraucht wird, aber existiert.“

    Zu diesem Thema habe ich ständig postapokalyptische Träume. Dass uns Außerirdische erobern, die sich in Menschen verwandeln. Die echten Menschen mit ihren Schwächen und romantischen Gefühlen werden sie in der Zukunft nicht mehr brauchen. Mal ehrlich, was sollen die realen Menschen in einer nicht-existenten postapokalyptischen Zukunft?

    Traum Nr. 1
    Wir fahren in einem offenen Auto durch die Berge. Serpentinen hinauf. Vielleicht in ein Sanatorium. Leichter Wind umweht unbeschwerte Gesichter. Noch eine Kurve, und da ist das Meer. Plötzlich, wie immer im Traum, alles passiert plötzlich, herrscht Chaos auf der Straße. Die Autos verhalten sich wie eine Herde wildgewordener Kühe. Jemand sagt, die Verkehrsregeln sind aufgehoben. Ein Lastwagen fährt vorbei, darin sitzen Soldaten in Reihen. Etwas mit ihren Gesichtern stimmt nicht. Die Gesichter glänzen in der Sonne als wären sie aus Plastik. Aus grauem Kunststoff. Auf jedem Gesicht liegt ein gleichbleibender Ausdruck von Selbstzufriedenheit. Angewidert und fassungslos wende ich mich ab, mir wird klar: Jetzt ist alles aus. Wir kehren in die Stadt zurück. Das Meer ist vergessen. Unsere fröhliche Gesellschaft zerfällt mit einem Mal. Ich gehe allein durch die Stadt. Ich beobachte, wie „diese“ – so nenne ich die außerirdischen Besatzer im Stillen – unsere Mädchen mustern und sich widerlich grinsend über die Objekte ihrer Begierde austauschen. Wenn sie das Verlangen nach Kopulation verspüren, bewegen sie sich mit riesigen Sätzen, wie Heuschrecken, zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Vielleicht sitzt dort ihr Stab und sie konsultieren die Machthaber bezüglich dieser unbekannten körperlichen Impulse. Denn unter „diesen“ gibt es keine sogenannten Frauen. Ihre Arbeiter breiten behände unverhältnismäßig große Rollen mit künstlichem Dreck über die Gehwege und Rasenflächen. Kino wurde verboten. Auf Bildschirmen, die in unglaublicher Zahl in der ganzen Stadt installiert wurden, laufen Trickfilme, die jemand mit der Vorstellungskraft eines Wurms und ebensolchen künstlerischen Fähigkeiten gezeichnet hat. Ohne Musik und Sprache. Die Figürchen krümmen sich in seltsamen Rhythmen über die Bildschirme, ihre Augen sind leer, mit schwarzer Farbe ausgemalt. Ich stehe und schaue und muss mich beinahe übergeben. Einer von „diesen“ sagt hinter mir:
    „Schön.“
    Ich muss brechen.
    Da beschließt unsere kleine Gesellschaft, ein halbes Dutzend Invasionsgegner, die nicht einverstanden sind, zu fliehen. In die Wüste. Wie Beduinen gekleidet. Fliehen wir nach Afrika.
    Albert Camus’ Roman Der Fremde, dessen Titel ich ohne Erlaubnis leicht abgewandelt übernommen habe, spielt in Nordafrika, im kolonialen Algerien, wo der Autor auch geboren wurde. Plötzlich fällt mir auf, dass auch der Heilige Augustinus aus Algerien stammte. Das hat für mich Bedeutung. Ich sammle Koinzidenzen. Camus’ Protagonist Meursault sammelt seltsame Zufälle, schneidet sie aus Zeitungen aus und klebt sie in ein Heft. Manchmal liest er sie wieder, so wie ich nun zum vierten Male Der Fremde. Als er bereits im Gefängnis sitzt, nachdem er aus Versehen am Strand einen Araber getötet hat, und weiß, dass ihn die Guillotine erwartet, spielt ihm die böse Ironie des Schicksals noch einen ungewöhnlichen Fall aus der Presse in die Hände: Ein Mann war sich nach Amerika gegangen, dort zu Reichtum gekommen und dann heimgekehrt. Das interessiert Meursault:

    „Zwischen meinem Strohsack und dem Bettrost hatte ich nämlich ein fast an den Stoff geklebtes, vergilbtes, durchsichtiges altes Stück Zeitung gefunden. Es berichtete von einem Vorfall, dessen Anfang fehlte, der sich aber in der Tschechoslowakei ereignet haben musste. Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwester in seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überraschen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er war auf die Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen. Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich habe diese Geschichte wohl Tausende Male gelesen. Einerseits war sie unwahrscheinlich. Andererseits war sie normal. Jedenfalls fand ich, dass der Reisende es ein bisschen verdient hatte und dass man nie spielen soll.“

    „Unglaublich“, denkt Camus’ Held laut über diesen Fall.1 Im Theaterstück, nicht im Buch. Zuerst sah ich die Verfilmung von Luchino Visconti. Doch das reichte mir nicht. Ich suchte nach weiteren Inszenierungen über diesen Menschen, der von der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Ich fand das Stück im Moskauer Theater Sowremennik, erst kürzlich, 50 Jahre nach Viscontis Film mit Marchello Mastroianni in der Hauptrolle. Eine junge, noch unbekannte Regisseurin hatte das Stück inszeniert und war dabei mutig genug gewesen, den Originaltext des Buches abzuwandeln. Im Buch bewertet der Held die Zeitungsnotiz über den Tschechen nicht. Er sagt nicht: „Unglaublich.“

    Ebenso unglaublich ist, dass der Tscheche aus der Gefängnis-Notiz nach Hause zurückkehrte, denn die Jantschukowitschs aus dem Dorf Perawosy zum Beispiel sind nicht zurückgekehrt. Jantschukowitsch war der Familienname meiner Mutter. Im Dorf am Flüsschen Wilija lebten nur Jantschukowitschs. Alle waren miteinander verwandt, manche näher, manche ferner. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Amerika aus. Meine Archivfreundin Lena schickte mir die Dokumente der Perawoser Jantschukowitschs zur Ausreise und zur Registrierung in Amerika. Meine eigenen Verwandten fand ich nicht darunter. Keine mir bekannten jedenfalls. Außer Dshan natürlich, auch ein Jantschukowitsch, über den ich seit meiner Kindheit Geschichten höre. Und der als einziger zurückgekehrt ist.

    Mama erzählt:
    „Nachbar Dshan hatte einen Hampelmann. Wenn wir am Faden zogen, machte der Faxen. Immer wenn wir zu Dshan kamen, wollte jeder der erste beim Hampelmann sein. Er war aus Sperrholz, hing an der Wand und war bunt angemalt. Dshan hatte ihn aus Amerika mitgebracht und aufgehängt.“

    Dshan hieß ursprünglich Iwan. In Amerika hieß er dann John. Aber John, so meine Vermutung, fügte sich wegen des „o“ nicht in die Sprache ein, denn das Belarussische liebt das „a“. Ich studiere die Kopie der Registrierungskarte von Dshan-Iwan genauer und erfahre, dass er von 1917 bis 1933 in der Textilfabrik von Worcester, Massachusetts gearbeitet hat. In seinem Haus hing eine riesige Fotografie, die in der Fabrikhalle aufgenommen worden war.

    Mama:
    „Da waren vielleicht 200 Menschen auf der Fotografie. Immer, wenn wir mit Mama und Papa dort zu Besuch waren, schaute ich sie an und versuchte, Dshan zu finden.“

    Ich weiß, wie Dshan ausgesehen hat. Wir haben ein Foto vom größten Hochwasser, das Perawosy erlebt hat. Darauf sind Mama und ihre Freundin Soja Warsozka zu sehen, wie sie mit dem Boot in die Stadt zur Arbeit fahren. Wie Statuen stehen sie in dem kleinen Boot, adrett mit ihren Handtäschchen. Torebka sagte man damals in polnischer Art zu einer Damenhandtasche. Und feine Schühchen tragen sie. Die Schuhe machte damals der berühmte Damenschuhmacher Baran von der Perschamajski-Straße. Mama und Soja sitzen ganz still. Am Ruder ein schmaler Mann mit dunkler Mütze. Das ist Dshan.

    Traum Nr. 2
    Es ging weiter und weiter und schließlich kamen wir nach Afrika. Mit dem Floß schlugen wir uns zum Anwesen durch, einem riesigen leerstehenden Haus mit Flachdach in arabischem Stil. Fast alle Fenster sind eingeschlagen. Ich erahne, dass hier ein Krieg stattgefunden hat, scheinbar ein Atomkrieg, der keine Menschen übriggelassen hat. Es wird Abend, der breite Fluss, an dessen Ufern das Haus steht, (genau wie in Perawosy), glänzt im Licht der tiefstehenden Sonne. Vogelschwärme. Krach, Geschrei. Als es dunkel ist, entfache ich ein kleines Feuer auf dem Flachdach eines der Wirtschaftsgebäude und röste Kartoffeln. Pelle sie und esse. In diesem Traum ist alles so langsam. Und überdeutlich.. Die Kartoffel zerfällt in meinen Händen. Kühlt ab. Ich esse. Ich spüre nichts von der Veränderung, die stattfindet,. Dass ich nichts außer Kartoffeln zu essen habe. Ich bin eine Verstoßene und muss mich den neuen Lebensbedingungen anpassen. Den Bedingungen ewiger Einsamkeit. Deshalb denke ich mir aus (und das ist einfach, wenn man träumt), dass das Haus dem meines Großvaters in Perawosy gleicht, in dem ich nie gewesen bin. Auch die Sonne ist dieselbe, nur heißer. Und der glitzernde Fluss ist wie unsere Wilija, das trockene Gras am Ufer und die vielen kleinen Punkte der Vögel im Glanz des Flusses sind fast wie unsere belarussischen in Smarhon. Nur zum Reden ist niemand da, aber daran kann man sich gewöhnen.

    Die Bewohner von Perawosy, dem Dorf an der Wilija, wo Ururgroßvater Ignacy, Urgroßvater Apalinary, Großvater Iosif und meine Mutter geboren wurden, verließen ihr schönes Dorf am Fluss, so denke ich, mit großer Bitterkeit und Angst, als sie in die amerikanische Ferne zogen, wo es schwierig war, mit Einheimischen zu reden. Und sie ja erstmal dieses Englisch lernen mussten. Der Familienname klang dort ungewohnt, wie ein wildes Wort. Also wurden sie zu Jankowskis, Janchuks und Janssons. Wie haben sie wohl beschlossen, in diese Ferne zu ziehen, die Jankowskis, Janowskis, Janchuks und Janssons? Mit welchem Geld, für welches Schiff kauften sie Fahrkarten? Der Gedanke macht mich unruhig. Warum hielt und hütete die Heimat sie nicht, warum zwang sie sie ans Ende der Welt für ein Stück Brot? Sie vertrieb sie wie Fremde, wie Dreck, wie Stroh. Dabei gehörten sie doch zu ihr. Es bringt mich um den Schlaf. Ich schalte einen amerikanischen Film ein, Edge of Tomorrow mit Tom Cruise, schaue, bis mir die Augen zufallen. Ich schalte ab, als die Protagonistin Cruise gerade befiehlt:
    „Du musst uns von diesem Strand wegbringen.“

    Am Strand werden „unsere amerikanischen Landsleute“ von den außerirdischen Mimics angegriffen. Agile Giganten, halb Spinne, halb Krabbe, halb Oktopus, halb Affe, halb was weiß ich. Vielleicht Tyrannosaurier. Ich schlafe spät ein. Um drei Uhr nachts klingelt das Telefon. Nummer unbekannt, aber man weiß ja nie. Ich gehe ran – Krach, Geschrei, Rufe. Ich höre, ohne zu begreifen:
    „Hol uns raus!“
    „Was?“
    „Hol uns hier raus!“
    Ich lege auf und stelle auf lautlos. Ich bin nicht Tom Cruise. Keine Retterin. Am Morgen sehe ich acht unbeantwortete Anrufe auf dem Display. Von verschiedenen nichtgespeicherten Nummern. Hätte ich sie doch retten sollen? Haben sie sich selbst vor den angreifenden Mimics gerettet? Die Hilferufe gehen mir nicht aus dem Kopf. Die unbekannte Stimme hallt in meinen Ohren nach.

    Traum Nr. 3
    Die nächste Postapokalypse beginnt mit einem lauten Geräusch aus dem Himmel. „Mu“, der zen-buddhistische Laut, alt wie die Welt. Aus dem Japanischen übersetzt bedeutet er „nichts“. Als sich im Traum aber am Himmel über dem Hauptplatz von Smarhon ein präzises Riesenloch bildete, war da der Kopf einer Kuh, die der ganzen Stadt „Mu“ zurief. Und es geht los. Der Kopf verschwindet. Durch das Loch, das in Sekundenschnelle größer wird, sinkt eine gewaltige fliegende Untertasse herab und schwebt über dem Hauptplatz. Heraus hagelt es gegnerische Soldaten in metallenen Raumanzügen. Die Gesichter verdeckt, die Absichten maximal feindlich. Die ganze Stadt zieht sich in den unterirdischen Gang zurück, der, wie sich herausstellt, schon immer unter dem Lenin-Denkmal ist, was aber keiner weiß. Ich, Heldin meiner eigenen Träume, achte darauf, dass niemand dem Massaker der erbarmungslosen Außerirdischen zum Opfer fällt. Erst als der letzte Bürger in den dunklen Schacht gestiegen und sein Rucksack außerhalb meiner Sichtweite ist, gehe auch ich. Über meinem Kopf ziehe ich den gusseisernen Deckel mit der Aufschrift „Smarhon“ zu. Die Aufschrift des Lukendeckels ist keine Erfindung der Autorin des Traums. In der Stadt gibt es tatsächlich eine Gießerei, die bis heute Kanaldeckel produziert. Wie schwarze Pfannkuchen lagen sie einst in der ganzen Sowjetunion verteilt. Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Aber in unserer Stadt gibt es ein ganzes Meer davon.

    Mama:
    „So was gab es bei uns nicht, sagte Dshan immer. Hochhäuser, schwarze Menschen. Ihm graute vor alldem. Als er wieder hier war, hat er sich einmal in Smarhon betrunken und ist in eine Pfütze gefallen. Da erschienen ihm plötzlich Wolkenkratzer aus der Pfütze und er sprach mit sich selbst auf Englisch.“

    Die Nachfahren der Jantschukowitschs aus Massachusetts sehen schon aus wie Amerikaner. Man schickte mir Archivbilder der amerikanischen Perawoser. Ein junger hübscher Soldat mit weißer Schirmmütze und blauer Uniformjacke, der Enkel von Pjotr Jantschukowitsch aus Perawosy, ist ein Ebenbild von Tom Cruise. Dieselben grünen Augen, dichte Augenbrauen, kleiner klar umrissener Mund, große Nase. John Jansson. Hier würde er Iwan heißen. Selbst das Muttermal auf der linken Wange, genau in der Mitte, wie bei Cruise. Hätten die , die da „rausgeholt“ werden wollten, doch lieber Cruise angerufen und nicht mich. Im Film hat er immerhin die Welt von der monströsen Besatzung befreit, indem er sich in fantastischer Weise ins Gehirn des Wesens versetzte, das die Mimics steuerte. Ich dagegen konnte nicht mal im Traum meinem Vater helfen.

    Traum Nr. 4
    Das Zimmer, in dem Papa und ich wohnen, ist lang und schmal wie ein Korridor. An der Stirnseite gibt es ein großes Erkerfenster. Zum dritten Mal schon lebe ich im Traum hier, in einer Kommunalka. In der Nacht wache ich auf und begreife plötzlich, dass sie gleich hier sein werden, um uns zu holen. Die Nachbarin im Nachthemd hat schon zweimal mit besorgtem Gesicht hereingeschaut. Auch ohne dies ist klar, dass wir verloren sind. Die Angst wächst. Ich gehe zur Nachbarin in die Gemeinschaftsküche. Dort ist es wie im Mittelalter. Kupfergeschirr, ein rußgeschwärzter Kessel hängt über dem Feuer am Haken. Auf dem Holzboden liegen Kohlköpfe, Rüben und Zwiebeln herum. Und da kommen sie. Glatzköpfige Brüder in schweigender Reihe, alle in Schwarz. Über das Gemüse stolpern sie direkt zu Papa. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre. Ich weiß, dass sie ihn dort drin schlagen, aber es ist nichts zu hören. Dann führen sie ihn an uns vorbei aus der Wohnung. Ich halte die Augen geschlossen, um zu sehen, wie sie Papa zusammengeschlagen haben. Mit Beinen wie Watte gehe ich in unser Zimmer zurück. Nirgends ein Fleck Blut. Wahrscheinlich haben sie extra so geschlagen, dass man nichts sieht. Von Papa ist der Bambusstock geblieben. Mich schmerzt der Gedanke, wie Papa ohne ihn laufen wird. Dabei hat Papa im realen Leben den Stock gar nicht benutzt. Dann begreife ich, dass er jetzt keinen Stock mehr braucht, weil er nirgendwohin mehr gehen wird. Sie haben ihn weggebracht, um ihn zu töten. Auf dem Klavier liegt noch ein Spielzeug. Irgendwas Struppiges. Ich schaue genauer hin: es ist ein kleiner Löwe. Mein Vater hat mir sich selbst als Plüschtier hinterlassen, Löwe ist sein Sternbild. Ich verstehe nicht, warum sie mich nicht auch mitgenommen haben. Ich bin ihm doch so ähnlich. Wahrscheinlich lautet der Befehl, Mädchen nicht mitzunehmen. Vorläufig.  

    Aus den Dokumenten, die ich bekommen habe, geht hervor, dass nur eine einzige junge Frau aus Perawosy die Reise nach Amerika angetreten hat. Ältere Frauen gab es auch, sie fuhren mit ihren Männern. Aber diese 18-jährige Anna fuhr allein. „Marital status: Ledig (Single) Departure.“ So steht es auf dem Formular. Sie verließ das Dorf 1912. Auf der Pennsylvania fuhr sie von Hamburg nach New York. Ziel war natürlich Massachusetts. Wie bei allen. Zum Glück reiste sie über Deutschland und nicht über Großbritannien, wo 1912 die Titanic ihre erste und letzte Fahrt nach New York antrat. Ich habe mir den gleichnamigen Film von James Cameron extra noch einmal angeschaut, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen die einfachen Leute auf den billigsten Plätzen über den blauen Ozean ihrem himmelblauen Ziel entgegenfuhren. Es waren nicht die besten. Ich stelle mir vor, dass gut und gerne Leute aus Perawosy auf der Titanic gewesen sein könnten. Und hoffe, dass sie zu den Geretteten gehörten. Man müsste die Passagierliste der Titanic auftreiben. Plötzlich sind mir diese Menschen nicht mehr egal.
    Ich frage meine Mutter: „Wie ist Dshan gestorben?“

    Mama:
    „Schlimm. Im Kolchos war ihm ein Auto gegen den Kopf gefahren. Die Dshanicha, also Julia, seine Frau, kümmerte sich nur leidlich um ihn. Gab ihm nichts zu trinken, damit er nicht auf den Topf musste, selbst gehen konnte er nicht mehr. Meine Eltern gingen mal zu Besuch und er bat um Wasser. Vater brachte welches, da flog die Dshanicha herbei und schimpfte ihn aus. Da hat sie von Vater aber was zu hören bekommen – und Dshan sein Wasser. Er war so klug, wohlerzogen und galant. Und wie er Maria mochte, meine mittlere Schwester, weil sie gerne mit ihm sprach. Über Englisch fragte sie ihn aus, aber er wusste nur noch wenig.“

    Wie wohl Dshans Leben verlaufen wäre, wenn er nicht zurückgekehrt wäre und das Englische nicht vergessen hätte? Wie wäre es John Jansson ergangen, wäre er hier geboren? In Amerika wurde John, trotz – oder vielleicht wegen – seiner heldenhaften Erscheinung, nur 30 Jahre alt. Dem Todesjahr und der Kriegsuniform auf dem Foto zufolge könnte er im Bürgerkrieg in El Salvador gestorben sein. Der wohl furchtbarste Film über diesen Krieg ist Salvador von Oliver Stone. In der 10. Klasse habe ich ihn mit einer Freundin im Kino angeschaut. Wir sind beide wegen der grausamen Terrorszenen völlig ausgeflippt: die Willkür der Todesschwadronen, die die schutzlose, unbewaffnete Bevölkerung traktieren, wie es ihnen die wahnsinnige Phantasie ungebildeter Menschen mit unbegrenzter Macht souffliert. Man konnte schon getötet werden, wenn man bei der Ausweiskontrolle seinen Pass nicht dabeihatte. Seitdem trage ich meinen Pass immer bei mir. Und habe sogar ein Gedicht darüber geschrieben:

    Ich habe immer meinen Pass dabei
    wer weiß

    wer weiß ob jemand kommt
    und streng befiehlt:

    „Dokumente her!
    Was zeige ich dann?

    Nach diesem Film fing ich an, methodisch von Flucht zu träumen, von Festnahmen, Gefängniszellen, sogar einer Erschießung. Sie erschossen mich, aber ich starb nicht. An meinem Körper zeichneten sich nur ein paar Löcher ab, eingebrannt, wie beim Terminator, der auch ein Weltretter ist, wie Tom Cruise in Edge of Tomorrow, wie ich in meinem Traum vom Laut „Mu“. Die perfekte Clique.

    Traum Nr. 5
    Ich habe die Schlüssel zu den Hintertüren einiger Läden in der Stadt. Mit einer Freundin gehe ich nachts durch die leeren, hallenden Räume. Niemand da, wir mögen die Stille. Plötzlich eine Razzia. Die Polizei stürmt das Gebäude und direkt im Lager, zwischen Kisten, Fässern und Säcken, wird uns der Prozess gemacht. Gleich hier im Laden sollen wir in die Zelle gesteckt werden. Im Keller, hinter ein Holzgitter. Offenbar gibt es Ladengefängnisse. Sie verkünden das Urteil – 10 Jahre. Zusammen mit uns werden zwei Männer verurteilt. Sie protestieren, beginnen einen Kampf, dabei geht die Tür der größten Zelle zu Bruch. 
    „Zum Teufel!“, schreit der Richter. Er wirft sich gegen die Tür, durch die schon die Häftlinge drängen. Schüsse fallen, mehrere Polizisten fallen tot um. Der Richter flüstert uns zu:
    „Seht ihr, jetzt achtet niemand auf euch.“
    Und wir rennen weg. Doch ich lebe weiterhin in Angst. Um sie zu vertreiben, küsse ich im Hauseingang einen Fremden. In der Wohnung sind Gäste – da geht das schlecht. Uns wird klar, dass wir heiraten müssen. Er hat sich verliebt, ich habe ein pragmatisches Ziel. Es wird mich retten. Er ist rothaarig, unrasiert und fühlt sich heiß an. Krank scheint er nicht zu sein, es ist eher seine natürliche amerikanische Temperatur, er ist nämlich Amerikaner, spricht aber gut Russisch. Wir gehen in die Wohnung zurück, treten glücklich auf den Balkon, weil alles beschlossen ist. Wir schauen hinunter. Dort steht die Polizei.
    Das war’s, denke ich entsetzt, sie haben sich an unsere nächtlichen Streifzüge erinnert.
    Plötzlich tauchen aus der Dunkelheit weiße Figuren auf. Die roten Scheinwerfer lassen ihre schwarzen Augen wie Blutstropfen leuchten. Es sind Mumins. Es stellt sich heraus, in unserem Hof wird ein Film gedreht. Und die Polizei sichert das Set vor Passanten. Die Gefahr ist vorbei. Wir beschließen zu bleiben. Amerika kann warten.

    Mama:
    „Dshan hatte aus Amerika eine Geige mitgebracht. Immer wenn im Dorf ein Fest war, kam er und spielte, aber erst nach der Hausarbeit. Seine Frau half ihm nie. Alle naselang rief sie:
    „Dshan! Bring mir die Strohmatte! Ich fall in Ohnmacht!“
    Auf den Festen spielte Dshan mit seinen Söhnen, als sie herangewachsen waren. Ihr Ensemble nannten sie Dshandshyki. Wazik (Wazlau) spielte die Zimbel, Stach Klarinette und Ljonka-Streuner (weil er so zottelig war und sich nie kämmte) die Harmonika.“

    Die Mundharmonika spielt auch meine Lieblingsfigur aus den Mumin-Geschichten, der Schnupferich, der immer einen alten Staubmantel trägt. Geschrieben hat die Geschichten die bekannte finnlandschwedische Schriftstellerin Tove Jansson. Ich habe fast einen Luftsprung gemacht, als mir auffiel, dass ihr Familienname eine der Varianten unseres Familiennamens ist. Ich fühlte mich Tove sofort verbunden. Ohnehin war sie mir schon lange unendlich nah, durch diesen einen Satz der Muminmutter:

    „Die Muminmutter ist eine Mutter, die jedem immer alles erlaubt und niemandem je etwas verbietet.“ 

    Lasst doch zusammen mit den Märchenfiguren die Staatsoberhäupter so denken – die Staatsoberhäupter der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die es nicht gibt. Die es nicht gibt, solange wir auf unserem eigenen Land Fremde sind. Verzeih, Augustinus, dass ich widerspreche.


    1. Übersetzung ins Deutsche: Uli Aumüller, Rowohlt Verlag

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