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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wir waren Wölfe und Fisch

    Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.  

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation. 

    Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.  

    Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.  

    Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr. 

    Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.  

    Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen. 

    Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen. 

    Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten. 

    Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen. 

    Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus. 

    Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.  

    Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.  

    Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden …“ 

    Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.  

    Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es. 

    Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.  

    Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren. 

    Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“. 

    Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen? 

    Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.  

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.  

    Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails Scholochows Stiller Don mit dieser Legende beginnt. 

    Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen. 

    Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben. 

    Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.  

    Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten? 

    Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen. 

    Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.  

    Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen. 

    MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.  

    Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.  

    Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete. 

    Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus. 

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“ 

    Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein. 

    Minsk, April 2025 

     


     

    Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara. 

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION  

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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  • Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

    Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

    Taciana Niadbaj, 1982 in Polazk geboren, ist eine belarussische Lyrikerin und Übersetzerin. 2014 debütierte sie mit dem Gedichtband Sirenen singen Jazz (belarus. Sireny spjawajuz dshas), für den sie mit dem Maxim Bahdanowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Der Einsatz für Menschenrechte und die belarusische Kultur ist immanenter Teil ihres Lebens und Schaffens, genau wie die Auseinandersetzung mit den Folgen russischer imperialer Politik für ihre Heimat. Aktuell steht Taciana Niadbaj dem PEN Belarus als Präsidentin vor, der mit Verfolgung und Repressionen aus dem Land getrieben wurde. Auch sie selbst musste ihre Heimat verlassen und lebt nun in Polen. 

    In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, was die belarusische Identität für sie und ihr Leben bedeutet und was getan werden kann, um die belarusische Kultur für die Zukunft zu erhalten.

    Беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    In diesem Text versuche ich zu verstehen, was mich zu der gemacht hat, die ich heute bin. Ich möchte nachvollziehen, woher dieses Gefühl des Belarusischseins kommt, wie es mich trägt und mich vorwärtskommen lässt. Nicht zuletzt möchte ich in meinen Erfahrungen Elemente ausmachen, die anderen bei der Suche und Entfaltung ihrer Identität helfen können. Es sind nicht nur Überlegungen, sondern der Versuch, etwas Größeres zu finden, das für den Aufbau der Kultur und Bildung der Zukunft inspiriert. 

     

    Anthropologische Grabungen im Gedächtnis: Der Ursprung  

    Wenn ich höre, unsere Gesellschaft sei durch und durch russifiziert und alles sei „verloren“, weise ich darauf hin, dass auch ich nicht zwangsläufig hätte Belarusin werden müssen. Ich wuchs nicht in einer belarusischsprachigen Familie auf, wusste unerhört wenig über die Geschichte des Landes, meine Familie pflegte keine explizit belarusischen Traditionen. Man hätte mich ohne Not eine Mankurtin und Renegatin nennen können – und einen Schlussstrich setzen. Was hat mich also zur Belarusin gemacht? Was nährte in meiner Kindheit und Jugend in mir ein Gefühl des Belarusischseins? 

    In der fünften Klasse wurden an meiner Schule zwei Klassen mit Belarusisch als Unterrichtssprache gebildet – die c und die d. Die Klassen a und b blieben russischsprachig. Ich erinnere mich kaum an die damaligen Diskussionen in der Familie, mit den Kindern wurde ohnehin nichts besprochen, aber aus den herumfliegenden Argumenten blieb bei mir hängen, dass man mit einem solchen Schulabschluss nicht an der Universität studieren könne, da es keine Universitäten mit Belarusisch als Unterrichtssprache gab. 

    Überhaupt kann ich mich nicht entsinnen, dass in unserer Familie über Nationalitäten gesprochen wurde. Wie fern mir dieses Konzept lag, zeigte sich gleich in mehreren Situationen. 

    In der Musikschule wurde ich einmal gefragt (es musste wohl in einem Formular eingetragen werden), welche Nationalität ich habe. Ich war verwirrt – ich wusste die Antwort nicht.  

    Die zweite Situation trug sich in der Sonntagsschule zu, die meine Klassenkameraden besuchten. Sie hatten mich eingeladen mitzukommen: Man lernte eine Sprache (Hebräisch, warum auch nicht), Tänze und Lieder. Manchmal wurde ich dort gefragt, ob es in meiner Familie Juden gäbe, und ich verneinte unsicher. Bei der Aufführung zum Purim-Fest gab man mir die Rolle des Haman: Im entscheidenden Moment musste ich betrunken wirken und mit dem Gesicht in den Salat fallen. Ich erfüllte den Auftrag gewissenhaft, obwohl ich die Bedeutung dieser Szene damals nicht verstand. Erst Jahre später wurde mir die Komik der Situation bewusst. 

    Nationalität war für mich lange Zeit keine Kategorie von Bedeutung.   

    Gleichzeitig drängte das Nationale aus den Lehrbüchern für belarusische Literatur ungestüm in den Raum. Und überzeugte nicht. Man hatte das Gefühl, es sei salonfähig und korrekt, Belarus zu lieben … Die 1990er waren voll mit der Rhetorik von „Wiedergeburt“ und „bewussten Belarusen“, aber das fand keine Resonanz. Das aus den Narrativen der Literaturlehrpläne hervorschwellende Pathos, „das harte Leid des Bauern“ und „die Arbeit auf der Scholle“, war mir fremd. Die erhabenen Worte von der Heimat flogen hoch oben vorbei, setzten sich kurz – wie Zugvögel auf Stromleitungen – auf die Zeilen der Schulaufsätze, nur um sofort wieder aus dem Blick zu verschwinden, sobald eine gute Note erteilt worden war. Dann kam die Zeit der Rebellion, in der wir unsere Lehrer fragten: Warum ist Belarusisch unsere Muttersprache, wo wir doch unsere ersten Worte auf Russisch gesagt haben? Die Schule bewirkte also eher eine Ablehnung des Belarusischen. 

    Wie bereits erwähnt, gab mir auch meine Familie keinen Rahmen für die Herausbildung einer nationalen Identität vor, obwohl in den Pässen meiner Eltern (und auch ihrer Eltern) formal eine Nationalität eingetragen war – Russen und Ukrainer. Weiter östlich als Brjansk und Smolensk sind meine Vorfahren meines Wissens aber nie gekommen. Die Situation mit den ukrainischen Verwandten ist klarer (sie waren auf ukrainischem Territorium verwurzelt), die „Russischen“ bleiben – für mich jedenfalls – ein Rätsel. 

    Ich bin indes in Polazk geboren. Diese Stadt lockt und leitet einen natürlich in ein spezielles Koordinatensystem, aber mein Lokalpatriotismus war nicht sonderlich mit der nationalen Identität verbunden. Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann weiß ich: Weder der geografische Geburtsort meiner Vorfahren noch mein eigener haben große Bedeutung, solange ich sie ihnen nicht selbst gebe. Zudem gibt es genügend Beweise für das Gegenteil: Menschen, die „hier geboren“ sind, können sich als Subjekte anderer Ideen und Projekte betrachten. 

    Nichts schien also auf meine belarusische Vorbestimmung hinzudeuten – weder die Familie, noch die Schule, noch der Geist der ersten Hälfte der 1990er und die Belarusifizierung. Und doch wählte ich Ende der 1990er (als es schon gar nicht mehr im Trend lag) ganz bewusst das Belarusische. 

    Belarusischsein als bewusste Entscheidung 

    Irgendwann habe ich einmal gesagt, dass mich die Freundschaft zu Belarus gebracht hat. Das ist einerseits wahr, andererseits auch eine gewisse Vereinfachung: Menschen kommen und gehen, und die Ideen, die mit ihnen verbunden sind, müssen sich nicht festsetzen. Es braucht auch eine Umgebung, die dich mit ihrer Metaphysik verführt, mit der du dich identifizieren willst, sie ist fraglos der Nährboden, der – wie in Maxim Bahdanowitschs Sonett – die „Lebenskraft spendet, die Ähren üppig sprießen lässt“, bis es schließlich schon „kein Halten mehr gibt“. Es ist wie an Heiligabend, wenn die Weihnachtssänger an dein Fenster klopfen, du mit ihnen gehst und mit jeder einzelnen Pore die Magie spürst. Als würde man Mietwohnungen, Hostels und Hotelzimmer endlich gegen einen konkreten Ort eintauschen, an dem man sich nicht nur zu Hause fühlt, sondern auch verantwortlich für die Ordnung (oder eben Unordnung), zu der man als Subjekt und Eigentümerin mit den eigenen Händen beiträgt. Die belarusische Identität entbrennt in dir wie ein Stern, zusammen mit diesem Gefühl der Verantwortung – für das Getane und das Nicht-Getane. 

    Mit dieser Entscheidung zu leben ist dann gar nicht so einfach. Du kommst an einen Punkt, an dem du dieses Belarusischsein einfach als stabilen und wichtigen Teil deiner Identität haben willst – nicht als Flagge oder Transparent, und schon gar nicht als etwas, das verteidigt werden muss (für das Eigene einzustehen ist nicht schlimm – aber warum muss man dieses Recht denn erst erkämpfen, kann man nicht einfach sein, wer man will?). Du willst deine Sprache einfach als Kommunikationsmittel nutzen, ohne in der Kleinstadt zu einer Figur zu werden, der immer irgendjemand sagt, „wie schön du Belarusisch sprichst“, ein anderer wiederum sagt „sprich normal“, und noch ein anderer deine Fehler korrigiert und dir rät, erst einmal die Sprache richtig zu lernen, bevor du beginnst sie zu sprechen. Ich träume davon, dass eine Zeit kommt, in der Belarusisch auf unseren Straßen kein Aufsehen mehr erregt.   

    Weiter oben habe ich mir närrische Aussagen über das Pathos der belarusischen Literatur erlaubt – heute weiß ich natürlich, dass die Menschen für die Möglichkeit, Belarusen sein zu können, gestorben sind. Heute schätze und ehre ich die Erfahrung und die Errungenschaften der vorangegangenen Generationen, als deren Fortführung ich mich verstehe. Aber ich weiß auch, dass mich nicht der Lehrplan für belarusische Literatur (in dem genügend ehrenvolle Autoren und Werke vertreten sind) zu dieser Erkenntnis gebracht hat, sondern Freunde, Mitstreiter und Kollegen, die eine Matrix geschaffen haben. Schließt man sich ihr an, begreift man auch das unansehnliche schulische Literaturprogramm als etwas Eigenes, ebenso wie das, was nicht darin vorkommt. Man lernt dazu, begeistert sich und aktiviert in sich diese Möglichkeit – Belarusin zu sein. Du wirst Teil dessen, was vor dir da war, was es dir ermöglicht hat, heute so zu sein, wie du bist, und es das Eigene zu nennen. Du beginnst, in diesem Spiegel dein Abbild zu sehen, das du vorher nicht wahrgenommen hast.   

    Wir registrieren aktuell eine hohe Zahl an Verletzungen der kulturellen Rechte: die Vernichtung der belarusischen Kultur, die Einengung des Raumes, in dem die belarusische Sprache genutzt werden kann, sogar zusätzliche Repressionen und Folter für Belarusischsprechende. Dieser Zustand ist furchtbar und inakzeptabel. Aber ich blicke optimistisch in die Zukunft und bin sicher, dass wir auch unter den heutigen, ungünstigen Bedingungen überleben werden. Nicht nur deshalb, weil man uns bislang nicht erschießt (das könnte ein trauriger Witz sein, würden in den Gefängnissen nicht unsere Mitstreiter an den Repressionen sterben). Unsere Sache mag manchmal hoffnungslos erscheinen, aber tatsächlich sollten wir sie als Erfahrung der Unzerstörbarkeit und des unwahrscheinlichen Überlebens betrachten: Es scheint uns nicht zu geben, und doch – hier sind wir. Was uns nicht tötet, macht uns unsterblich. 

    Von Zeit zu Zeit beginnt ein neuer Zyklus, neue Anhänger kommen dazu. Diese Anfangszeit des Belarusischseins hat ohne Frage auch Nachteile: Wo man sich auf die Erfahrung der Vorgänger hätte stützen und das Wachstum schon auf einer bestimmten Höhe fortführen könnte, begreifen sich die Neulinge als Indexpatienten und beschreiten den Weg von Anfang an, holen sich Beulen, die mit dem Wissen der Vorgänger hätten vermieden werden können. Andererseits hat auch das Vorteile: Die Gewissheit verleiht der Entscheidung Sinn, stärkt die Beharrlichkeit. Nichts von den Niederlagen und Misserfolgen zu wissen, befördert Mut und Kühnheit – und das ist sehr hilfreich für das Fortkommen der Bewegung (vor allem, nicht zu denken, die Situation sei kompliziert und aussichtslos).  

    Wenn ich sage, dass das Belarusischsein unter unseren Gegebenheiten oft eine bewusste Entscheidung ist, erzähle ich gern die Geschichte von den Volkszählungen. Im Jahr 2019 bezeichneten 54 Prozent das Belarusische als ihre Muttersprache, 26 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen (zum Vergleich: bei den Erhebungen 1999 und 2009 nannten 73 Prozent resp. 53 Prozent Belarusisch ihre Muttersprache, und 37 Prozent resp. 23 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass 2019 jeder Vierte in unserem Land Belarusisch gesprochen hat – wenn es doch nur so wäre! Aber ich kann mir gut vorstellen, wie diese Konstruktion der Wirklichkeit zustande kommt: Die bewusst gewählten Antworten bei der Volkszählung sind Ausdruck der zivilgesellschaftlichen Position, eine Erklärung urbi et orbi, worauf es ankommt.  

    Wenn ich von der Aussichtslosigkeit der Sache spreche, weise ich darauf hin, dass 2020 nicht aus heiterem Himmel geschah, es wäre nicht möglich gewesen ohne die stete Vorarbeit der Zivilgesellschaft, darunter auch der kulturellen Projekte und Initiativen (selbst wenn die Neulinge von 2020 den Eindruck haben mögen, dass vorher alles falsch gemacht wurde). Ich erinnere mich gut an die Aktionen für Unabhängigkeit Ende 2019, als einige Dutzend Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen durch Minsk zogen. Ich erinnere mich an den Unwillen der demokratischen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020, die weiß-rot-weiße Flagge zu benutzen. Und ich erinnere mich an den 16. August 2020, als ganz Minsk in Weiß-rot-weiß erstrahlte. Was das Regime heute mit unserer Flagge (und ihren Anhängern) macht, verstärkt nur das symbolische Gewicht und die Bedeutung der Flagge in der Zukunft. Bis dahin werden wir unsere tägliche Arbeit weiterführen. 

    Mein persönlicher Weg zur belarusischen Identität zeigt, wie wichtig es ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen diese Entscheidung bewusst und rational treffen, und sie dann auch beibehalten und festigen können. 

    Oft ergeben sich Diskussionen darüber, ob die Belarusifizierung in den 1990ern erzwungen war – oder ob das nur ein Mythos ist, der zur Abschreckung dient. Ohne Gespräche darüber fallen auch Überlegungen schwer, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn in Belarus demokratische Änderungen anstehen. Die Geschichte von der weiß-rot-weißen Flagge beweist meiner Ansicht nach eines: Der Staat muss einfach nur die Zügel lockern und nicht eingreifen – dann richtet sich alles mit der Zeit von selbst ein.   

    Die Förderung und Entwicklung der belarusischen Kultur muss natürlich auch durch die staatliche Politik erfolgen, und so denke ich mit Schrecken an unser Bildungssystem und die Ideologisierung der Kultursphäre. Ich vertraue nur in geringem Maße auf die Fähigkeit der aktuellen Beamten im Bildungs- und Kulturbereich, attraktive Lehrpläne gestalten zu können, die die Schülerinnen und Schüler nicht von der nationalen Kultur abschrecken. Das Problem liegt nicht darin, dass es keine entsprechenden Materialien gäbe (die gibt es), sondern in der Verknöcherung des Behördendenkens und überhaupt im niedrigen Niveau der humanistischen Bildung, das nicht so schnell zu beheben sein wird. 

    Als Ausweg für die Zukunft – auf diese Weise wird kein Zwang notwendig sein – sehe ich die finanzielle Unterstützung (Projektförderung) unabhängiger Kultur- und Bildungsinitiativen durch den Staat. Der Kulturhaushalt sollte also weniger in die Programme des Kultusministeriums fließen, sondern stärker an nichtstaatliche Initiativen gehen, denen es auch vor 2020 den Bedingungen zum Trotz gelang, das Feld der belarusischen Kultur reichhaltig, spannend, attraktiv und inspirierend für alle zu gestalten, die sich dieser Matrix anschließen wollten. Meiner Ansicht nach sollten dabei Projekte priorisiert werden, die auf die Bildung von Gemeinschaft und horizontalen Netzwerken abzielen und eine starke Werteorientierung aufweisen. 

    Zwei Beispiele 

    Ich möchte an dieser Stelle zwei positive Beispiele beschreiben, die konkret für meine persönliche und professionelle Entwicklung und meine Integration in die Berufswelt nicht weniger wichtig waren als die schulische und universitäre Bildung: Im Bereich der Literatur waren das die Werkstätten (Wettbewerbe) für junge Literaten. Im Bereich der Menschenrechtsarbeit – und weiter gefasst, eines Ansatzes, der auf den Menschenrechten als handlungsleitender Maxime beruht – war es die Belarusische Menschenrechtsschule. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute eine zentrale Rolle in der belarusischen Bewegung spielen, ähnliche Seminare, Kurse und Projekte nennen können, die sie in den Orbit zogen und Wachstum und Aktivität ermöglichten. Ich beschreibe hier also zwei Beispiele unter vielen, weil sie für mich persönlich eine Schlüsselrolle spielten. 

    Die Wettbewerbe für junge Literaten waren drei- bis fünftägige Werkstätten, die der PEN Belarus zwischen 2000 und 2010 ausrichtete. Man stelle sich vor: Aus dem ganzen Land kamen zwei Dutzend junge Autoren und Autorinnen zusammen, die einander in der Regel noch nicht kannten und die älteren Kollegen auch nur vom Namen her. Für ein paar Tage vertiefen sich diese zwanzig Anfänger und die Riege der Meister völlig in die Literatur – Lyrik, Prosa, Übersetzung. Sie besprechen die vorab geschriebenen und für den Wettbewerb eingereichten Werke, geben einander praktische Ratschläge, es gibt Vorträge über Literaturgeschichte und die aktuelle Situation, es werden praktische Aufgaben gestellt, deren Ergebnisse ebenfalls präsentiert und diskutiert werden. Dieser Cocktail (andere Cocktails gibt es übrigens auch) gemischt mit dem informellen Austausch an den Abenden bis zum Morgengrauen, gibt nicht nur einen riesigen Schaffensimpuls, sondern integriert die Nachwuchsautoren auch in die literarischen Kreise, macht sie miteinander bekannt, schafft kreative, professionelle und freundschaftliche Verbindungen. Ich glaube, es ist vergleichbar mit einer Gruppe Absolventen einer guten Universität nach Jahren des gemeinsamen, anspruchsvollen Studiums. 

    Die Belarusische Menschenrechtsschule ist eine seit 2006 bestehende Bildungs- und Aufklärungsinitiative. Sie legt ein Wertefundament und vermittelt praktisches Wissen im Bereich der Menschenrechte. Mehrere Stufen der Ausbildung – Anfänger bis Fortgeschrittene – fördern mit einem Mix aus verschiedenen Formaten und Methoden, den Grundbestandteilen des nonformalen Lernens und der Kommunikation, nicht nur die Bildung der Teilnehmenden, sondern auch die Integration neuer Aktivisten und Aktivistinnen in die Zivilgesellschaft, ihr Kennenlernen untereinander und den Austausch mit erfahrenen Menschenrechtsaktivisten und Experten. Das Programm beruht auf einer soliden Wertebasis, vermittelt Wissen, das mit einem praxisorientierten Ansatz auf Schutz und Verteidigung der Rechte abzielt. Die Experten der Schule sind Vertreter der wichtigsten belarusischen Menschenrechtsorganisationen, was das Projekt und seine Erfolge zu einer gemeinschaftlichen Errungenschaft macht. Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist nicht nur für Menschenrechtsschützer verpflichtend, sondern muss allen demokratisch orientierten Aktivitäten zugrunde liegen. Die Absolvent:innen dieser Intensivkurse werden also zu Trägern von Wissen, Kompetenzen und eines Wertegerüstes, die in allen Bereichen des gesellschaftlichen Engagements nützlich sind. 

    Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass meine Tätigkeit beim PEN Belarus heute in weiten Teilen der Teilnahme an den PEN-Seminaren für Literaten zu verdanken ist. Die Menschenrechtsschule gab mir einen starken Start in die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin. Die zukünftige Kultur- und Bildungspolitik muss daher meiner Überzeugung nach auf die Unterstützung solcher Projekte hinarbeiten, um Interesse für die belarusische Kultur zu wecken und ein menschenrechtsbasiertes Wertegerüst für jede Form des Engagements zu schaffen. Bis dahin müssen diese und andere Initiativen für die belarusische Zivilgesellschaft mit Unterstützung externer Geldgeber aufrechterhalten werden. 

    Schlussbetrachtung 

    Natürlich gibt es Familien, in denen die Kinder von Geburt an mit dem Belarusischsein aufwachsen, aber das ist nicht der einzige Weg. Wenn man keine belarusischsprachige Familie hat, kann das Umfeld die Möglichkeit geben, bezüglich der Sprache eine Entscheidung zu treffen, sie beizubehalten und auszubauen. Belarusischsein – das ist nicht nur etwas, das weitergegeben wird, sondern auch etwas, das bewusst gewählt wird, um Teil von etwas Größerem als man selbst zu sein. Es ist eine Entscheidung, die die Zukunft prägt. 

    Jeder neue Mensch, der das Belarusischsein wählt, macht sich zum Teil einer großen Geschichte, die auch unter den schwierigsten Bedingungen nicht abbricht. Diese Entscheidung kann er aber nur treffen, wenn es Unterstützung und Nährboden für Wachstum und Entwicklung gibt. Wir schaffen diesen Boden durch unsere tägliche Arbeit: durch Kultur, Bildung, Gemeinschaft. Diese Arbeit geschieht vielleicht unauffällig, aber sie sichert eine Zukunft, in der das Belarusischsein keine Ausnahme mehr sein wird, sondern die Norm. 

    Belarusischsein bedeutet heute nicht nur eine Entscheidung, sondern auch eine Verantwortung. Dafür, dass das vor uns Erreichte nicht verlorengeht, dass unsere Bemühungen zum Fundament für die nachfolgenden Generationen werden. Belarusischsein – das ist wie ein Feuer, das man nicht nur entzünden, sondern auch weitergeben muss. Und es ist kein Feuer der Auflehnung, sondern des Aufbaus, das selbst dann noch brennen wird, wenn ringsum nur noch Dunkelheit zu herrschen scheint. 

    Stark können wir nur zusammen werden. Belarusischsein ist keine Sache einer Einzelperson, sondern die einer Gemeinschaft, die den Menschen hilft, sich in dieser Welt zu finden. Wir brauchen einander, die Unterstützung und die Mitarbeit, damit jedes Jahr mehr Menschen fühlen, dass Belarus nicht nur ein Land ist, sondern ein Zuhause, das wir alle gemeinsam bauen. 

    Die aktuellen Rahmenbedingungen mögen ungünstig erscheinen, aber ich glaube daran, dass die Zukunft der belarusischen Kultur von uns abhängt. Von unserer Fähigkeit zu träumen, zu arbeiten und uns treu zu bleiben. Die Geschichte hat mehr als nur einmal gezeigt: Was wahrhaftig und lebendig ist, findet immer einen Weg zu bestehen. Und so wird Belarus seinen Weg finden, dank uns und allen, die nach uns kommen werden. 

     

    Anmerkung der Redaktion 

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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    Anka Upala ist eine bekannte zeitgenössische belarussische Schriftstellerin. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf Janka Kupala, einen klassischen Autor der belarussischen Literatur.   

    Auch Anka Upala musste Belarus wegen der Repressionen verlassen, das Lukaschenko-Regime verfolgt Autoren und verbietet Literatur. „Ich will eine andere Zukunft”, schreibt sie. „Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit.” In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft fragt sie sich, was von dem Wandlungsprozess, der 2020 angestoßen wurde, geblieben ist. 

    Die deutsche Übersetzung und belarussische Originalversion des Essays werden zeitgleich mit der schwedischen und englischen Übersetzung veröffentlicht, die der Svenska PEN möglich gemacht hat. 

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Wundersame Tiefseefische mit Laternen über den Köpfen steigen nach einer Unterwasserkatastrophe vom Meeresboden auf und werden ans Ufer gespült. Man findet sie plötzlich überall auf der Welt. So betrachte ich das Auftauchen der großen Menge meiner Landsleute im Ausland in den letzten Jahren, das durch die politische Krise in Belarus hervorgerufen wurde. 

    „Gestern habe ich Leute aus Belarus getroffen!“, sagt mein Berliner WG-Mitbewohner Matze, als ich morgens in die Küche komme, um mir einen Kaffee zu machen. 

    Matze hatte gestern Abend mit Freunden zu Hause Schnaps getrunken, danach gingen sie in eine Bar. Dort machte er dann diese anthropologische Entdeckung. 

    „Da waren zwei Frauen, sie saßen in einer Ecke. Ich ging hin und fragte sie: ‚Warum sitzt ihr hier so in der Ecke?‘ Sie sahen aus wie zwei Spioninnen!“ 

    „Wieso hattest du diesen Eindruck?“ 

    Matze überlegt. Dann antwortet er: 

    „Sie waren viel zu perfekt!“ 

    „Eine litauische Bekannte, die seit zehn Jahren mit einer Belarusin zusammen ist, sagte mir mal, dass die Belarusen sehr kontrolliert sind.“ 

    „Ja, genau. Sie waren irgendwie so unentspannt.“ 

    „Sie sind es so gewöhnt. Ich glaube, sie können im Ausland nicht so schnell entspannen. Aber sie waren schon aufgeschlossen und haben mit dir geredet, oder?“ 

    „Ja!“ 

     

    Längst Vergangenes empfinde ich heute oft, als sei es gestern gewesen, und die Gegenwart als sei sie eine Wiederholung. Seit der Siegeserklärung des Usurpators nach den letzten Wahlen hat ein neuer Durchlauf begonnen. Und es war schwerer als bei den vorangegangenen Malen. Sicher auch, weil es im Vorfeld diesen Hoffnungsschimmer auf Veränderungen gab. Und der ist verloschen.  

    Ich habe aufgehört, einen Ausweg aus der Zeit zu sehen. Wissen über die Vergangenheit scheint es irgendwie zu geben, irgendwie aber auch nicht. Die Menschen von heute scheinen nichts von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zu wissen. Wir stehen einfach da und beobachten, wie sich die Mauer der Zukunft über uns schiebt, die wir aus uralten Büchern kennen, sie bedeckt den halben Himmel: die Repressionen, der Krieg, die pathologische Herrschaft, die Unmöglichkeit heimzukehren. 

    Erst war ich in Litauen, danach in Deutschland. Meine litauischen und deutschen Bekannten sagen, dass bald wieder ein neuer Weltkrieg beginnt. Meine Freundinnen in Belarus sagen nichts. Wenn wir uns zu Videogesprächen treffen, reden wir nicht mehr über das Furchtbare. In unseren Gesprächen gibt es fast keinen Krieg und kein Gefängnis. Die Haut ist zu dünn, man darf sie nicht berühren. Erwähne nichts, worauf du keinen Einfluss hast. Wie beim Briefeschreiben an politische Gefangene, als ich immer das Thema Essen vermied und nur über Alltagsdinge schreiben konnte. 

     

    Am Abend ist meine Stimmung mies, gerade habe ich in der S-Bahn Online-Nachrichten gelesen, darunter auch eine Prognose der Zukunft unserer Region. Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir: „Lasst uns lesen.“ Unser Minsker Freundinnenkreis hat ein Ritual: Wir lesen uns gegenseitig vor. Weil wir das auch weiterhin per Video machen, lässt sich alles, was um uns herum passiert, besser aushalten. Gleichzeitig bekommt man noch eine kleine Impfung Vergangenheit. Eine Freundin schlägt ein Buch aus der Bibliothek auf, ich höre in Berlin zu. Herbstanfang 1915. Maxim Harezki, Die Kommunarden von Wilna:  

    Sie entlassen anscheinend die Verbrecher aus den Gefängnissen. Die Politischen bringen sie alle weg, niemand weiß, wie und wohin. Sehr geheim wird das erledigt, schrittweise und im Dunkel der Nacht. Irgendwohin fern der Front, ins tiefe Russland, vielleicht Sibirien, damit mein Vater mehr fröhliche Gesellschaft hat. 

    Kommt man zum Bahnhof, sieht man Berge von Sachen: Kisten, Körbe, Koffer, Pflanzen, russische Ikonen … Die gewichtige Obrigkeit und die reichen Leute nehmen in Privatabteilen Platz. Fressen und trinken wie vor dem großen Hunger. Fröhlich rufen sie: 

    „Nicht für lang!“ 

    „Bald kommen wir wieder!“ 

    „Wir werden wieder im schönen Wilna spazieren!“ 

    Dabei sind nachts schon dumpf die Kanonen zu hören … Das sind die Deutschen, sagte man, sie nehmen Kaunas ein … 

     

    Wenn alles schon einmal aufgeschrieben wurde, warum kann man dann nichts ändern? Ich will eine andere Zukunft. Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit. Meine belarusische Großmutter überlebte den Zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil sie durch ein Loch in der Scheunenwand entkam. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass jede Person meiner Generation in Belarus eine solche Großmutter hat, die wie durch ein Wunder überlebt hatte. Das ist meine Norm. 

    Ich habe Belarus Ende letzten Jahres verlassen, ich hatte Glück. Großmutter, ich bin nach Deutschland geflüchtet! Bin dem Staat durch die Finger geschlüpft, die er nach mir ausgestreckt hat. Sie können mir nichts mehr tun. Aber die Menschen in Belarus haben keinerlei Schutz. Über jedem hängt ein Schwert, auch wenn das für die seltenen Gäste aus dem Ausland unsichtbar ist. Man sagt, sie staunen über Belarus, von dem sie – wenn überhaupt, dann nur Schreckliches gehört haben. Es gibt Restaurants, in den Geschäften mangelt es nicht an Lebensmitteln, die Menschen sind gut gekleidet, sie können lächeln und sogar lachen. Ringsum läuft scheinbar das Leben eines europäischen Landes weiter – denn das ist Belarus ja, auch wenn viele keine Ahnung von seiner Existenz haben. Nur auf der Ebene der Macht gibt es einen Bruch. In jedem Moment kann der Staat jeden beliebigen Menschen aus seinem Leben reißen und ihn zerstören, unter unmenschlichen Bedingungen festhalten, ihn und seine Angehörigen quälen, Arbeitsstelle, Besitz, Freiheit, Kontakte, Gesundheit und sogar das Leben nehmen. Die Person verschwindet und über ihr schließt sich das Wasser. Niemand in Belarus ist sicher. Die ausländischen Touristen sind keine Ausnahme. Ich erinnere mich noch daran. Man lebt mit einem Stein auf dem Herzen.  

    Die Tür ist zu. Wenn etwas passiert, kann die Mehrheit nicht fliehen. Es ist fast unmöglich, mit einem belarusischen Pass ein Schengen-Visum zu bekommen. Bislang stellen Deutschland und Italien noch Mehrfachvisa aus. Deutschland und Italien. Aber um ein deutsches Visum zu beantragen, muss man fast ein Jahr vorab einen Termin machen. Die Menschen stehen in einer endlosen Warteschlange, um sich in das Terminheft für die Beantragung eines italienischen Visums einzuschreiben. Es wird „Alehs Heft“ genannt, nach dem Namen des Botschaftsmitarbeiters, der es führt. Wie in einem Fantasyroman. 

    In furchtbaren Zeiten gibt es furchtbar viel Literatur. Früher habe ich häufig darüber nachgedacht, wie die belarusischen Schriftsteller, die in den 1930er Jahren während der stalinistischen Repressionen erschossen wurden, so viele herausragende Werke schreiben konnten, obwohl sie so jung gestorben sind. Mein Lieblingsprosaautor, Lukasch Kaljuha, bekannt für seine besondere, außergewöhnlich reiche Sprache, wurde verhaftet und in die Verbannung geschickt, als er gerade 23 Jahre alt war, erschossen wurde er mit 28. Wenn ich an ihn denke, könnte ich weinen wie um jemanden, den ich persönlich kannte. Es war so lustig mit ihm, als wir seine Texte lasen. Maxim Harezki war 37, als er verhaftet wurde, mit 45 wurde er erschossen. Harezki zu lesen ist wie eine Zeitreise. 

    „Ich habe die Theorie“, sagte meine polnische Freundin und Dichterin Natalia, „dass Autoren, die früh im Leben harte Erfahrungen machen, auch früh als Schriftsteller reifen.“ 

    Mir wäre das nicht in den Kopf gekommen. 

     

    Eine Woche bevor der litauische Migrationsdienst mich nach Deutschland abschob, ging ich auf die Suche nach dem Ort, an dem im Jahre 1864 die Führung des Russischen Imperiums den Revolutionär Kastus Kalinouski erhängte, der für die Belarusen die Idee der nationalen Unabhängigkeit personifiziert. An dem Platz im Vilniuser Stadtteil Lukiškės, wo damals der Galgen stand, stehen heute das Konservatorium und, im Gebäude, das ehemals den KGB beherbergte, das Genozid-Museum. Ich setze mich auf eine Bank und schaue über den Platz. Wenn keine Veränderungen kommen, dann trennt die Zeit gar nichts, vor 160 Jahren ist gleich gestern. Als man Kalinouski vor der Hinrichtung einen Adeligen nannte, widersprach er: „Bei uns gibt es keinen Adel, alle sind gleich!“ Ein Idealist. Zum Zeitpunkt seines Todes war er gerade sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte früh harte Erfahrungen gemacht. 

    Vor Kurzem kam ich hierher nach Lukiškės zu einem Konzert, um den litauischen Sänger Silvester Belt zu sehen und zu hören. Nach meinem Geschmack hatte Litauen dieses Jahr den elegantesten Beitrag zum Eurovision Song Contest. Mir gefällt, wie Silvester sich kleidet, wie er seine Schultern bewegt, ich mag sein feines Gesicht und besonders seine litauische Sprache. Sie klingt wunderschön. Er singt vom aufgeschobenen Leben. Sein lyrischer Held wird gebeten, ein wenig zu warten, und noch ein wenig, immer „morgen, morgen, morgen“. Ein Tag vergeht, und noch einer, und nichts ändert sich.  

    Silvester Belt ist der erste offene LGBTQ+Sänger in der litauischen Geschichte, der im nationalen Vorentscheid für den ESC ausgewählt wurde, aber er hat auch Mobbing erfahren. „Ich bin ein Beispiel für das progressive Litauen“, wandte er ein, als ihm in einem Interview gesagt wurde, seine Heimat sei nicht das progressivste Land in Europa. „Ich bin hier, um euch zu unterstützen“, sagte er zu den Menschen in Litauen, die er repräsentiert, „denkt nicht, dass ihr schlechtere Menschen seid als die anderen.“ Ich schaue im Internet nach, wie alt er ist. Der Typ ist 26. In seinem roten Anzug brennt er auf der Bühne, wie das Feuer seines Mutes. 

    Klassische Musik dringt aus dem Fenster des Vilniuser Konservatoriums. Von klassischer Musik zu Protesten „Für unsere und eure Freiheit!“ ist es nur ein Schritt. 

     

    2017 fanden litauische Archäologen die sterblichen Überreste der Aufständischen von 1863, darunter auch Kalinouskis. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, der Körper mit Kalk bedeckt. Die russischen Machthaber hatten beschlossen, die Leichen nicht weit zu transportieren, und vergruben sie mitten im Herzen von Vilnius, auf dem Gedyminas-Hügel. Man fand sie zufällig, nach einem Erdrutsch am Hang des Hügels. Die Umbettung fand zwei Jahre später statt. Alle Staaten, für die der Aufstand von Bedeutung ist, sandten offizielle Vertreter, aus Polen und Litauen waren die Präsidenten anwesend. Aus Belarus kam der stellvertretende Premierminister, mit anderen Worten: Niemand. Die Grabsteine der Aufständischen sollten in polnischer und litauischer Sprache beschriftet werden, nicht auf Belarusisch, denn der belarusische Staat hatte keine offizielle Anfrage gestellt. So läuft das. Belarusische Aktivisten, deren weiß-rot-weiße Flaggen auf dem Begräbnis dominierten, erreichten schließlich Inschriften in belarusischer Sprache. „Wir haben Briefe geschrieben!“, bestätigt mein Vilniuser Kollege Uladsislau. Der litauische Staat hatte sie ernstgenommen. Der belarusische hingegen machte keinerlei Ansprüche auf den Aufstand für nationale Unabhängigkeit geltend, dessen Geschichte wir mit unseren Nachbarn teilen. Idealerweise sollten sich belarusische Politiker mit Diplomatie beschäftigen und gemeinsam mit den litauischen Kollegen ein für beide Seiten akzeptables Narrativ unserer gemeinsamen Vergangenheit entwickeln, damit wir wie gute Nachbarn und Freunde in gegenseitigem Respekt nebeneinander leben können. Das Problem ist nur, dass es im belarusischen Staat keine belarusischen Politiker gibt. 

     

    Wenn ich außerhalb von Belarus bin, ist eine meiner stärksten Empfindungen das Gefühl der nationalen Verwaisung. 

    „Was weißt du über Belarus?“, fragt der slowakische Schriftsteller Pavel die österreichische Dramaturgin Miriam. 

    Pavel und Miriam habe ich während eines Stipendiums am Literarischen Colloquium Berlin kennengelernt, wir verbringen viel Zeit mit Gesprächen. 

    „Tut mir leid, aber eigentlich nur, dass dort Diktatur herrscht. Ich habe vorher noch nie jemanden aus Belarus getroffen“, antwortet Miriam. 

    „Kennt ihr diese Europakarten im Internet, die sich über die verschiedenen Länder lustig machen“, sage ich. „Früher sind mir immer wieder welche aufgefallen, die einen Witz zu jedem Land hatten, nur über Belarus gab es nichts. Manchmal war es einfach grau schraffiert. Im Ausland war über das Land also so wenig bekannt, dass man sich nicht mal Witze darüber ausdenken konnte. Wir sind die Waisen Europas. Wir haben keine nationalen, probelarusischen Staatsvertreter, die unser Land in der Welt repräsentieren und ein belarusisches Narrativ verbreiten könnten. Ich sehe keine andere Erklärung dafür, dass das Land auf der Welt so wenig bekannt ist.“ 

    Der Hauptgrund dafür, dass Belarus global eine terra incognita bleibt, ist aus meiner Sicht die Dysfunktionalität des Staates als nationale Vertretung. Staaten unterhalten als Institutionen Beziehungen, tauschen offizielle Anfragen aus, verteidigen ihre Kultur und Geschichte, machen das Land präsent und sichtbar auf dem internationalen Parkett. Findet all das nicht statt – ist das Land nicht „lokalisierbar“. 

     

    Im Museum der Wannseekonferenz in Berlin, dem Gebäude, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Entscheidung über die „Endlösung der Judenfrage“ trafen, hatte ich die subjektive Empfindung, dass Belarus dort nur als Territorium präsent ist. Ich konnte die „Stimme“ Israels, Polens, Deutschlands hören, aber nicht Belarus. Und das kommt mir seltsam vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wir einen enorm hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung. Jiddisch war eine der Amtssprachen in Belarus. Die belarusischen Kleinstädte sind gefüllt mit Geschichten von ermordeten Juden. Ich erinnere mich, wie ich an einem der Massengräber stand. Ein Einwohner erzählte, dass einmal ein Fundament für ein Denkmal für die Ermordeten gesetzt werden sollte. Als man zu graben begann, kündigten die Bauarbeiter vor Schreck, weil man gar nicht graben konnte, Jahrzehnte nach den Verbrechen hob der Bagger anstelle von Erde unverweste Leichen aus. Man entschloss sich, kein Fundament zu setzen, und legte einfach Betonplatten auf die Fläche. 

    Wer wird in dieser Geschichte für Belarus sprechen? Ohne offizielle Vertretung ist das schwer. Das Tsichanouskaja-Team, eine probelarusische, protostaatliche Struktur, befindet sich im Exil in Litauen, in einem Schwebezustand. Die Zivilgesellschaft ist in Geiselhaft einer „bewaffneten, kriminellen Vereinigung“, die auf finanzielle, militärische und ideologische Unterstützung von Putins Staat zählen kann. 

    Die Geschichte der letzten Jahre hat gezeigt, dass die belarusische Gesellschaft weit entfernt ist von Infantilität. In Zeiten von COVID und den Protesten 2020 bewiesen die Menschen eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation. Auf der Makroebene werden die Interessen eines Landes aber nicht von Aktivisten vertreten. 

    Nationale Verwaisung empfinde ich auch deshalb, weil beim kürzlichen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen Belarus vergessen wurde. Bei vielen von uns löste das einen Schock aus. Belarusische politische Gefangene leiden und sterben in Isolation. Wir sind durchsichtig. Tsichanouskajas Team wurde ignoriert. Für die Akteure der internationalen Politik ist eine Regierung im Exil keine ausreichende Vertretung, ein vom Nachbarland abhängiger Diktator ebenso. Deshalb gerät alles ins Stocken. Für andere Staaten ist nicht klar, wohin sie Anfragen bezüglich einer Zusammenarbeit mit unserem Land richten sollen. 

     

    Ich denke, ein bislang unreflektiertes Ergebnis der belarusischen Proteste 2020 ist, dass das Land, als es sich für eine kurze Zeit im Zentrum der Weltöffentlichkeit wiederfand, plötzlich mit anderen Augen auf sich blicken konnte, wie ein Beobachter von außen. „Wer seid ihr?“ – diese Frage stand im Raum. 

    Und wir begannen, Antworten zu suchen. Nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. Um uns selbst dadurch besser zu verstehen. Bis heute beantworten die Belarusen diese Frage, als politische Geflüchtete und Arbeitsmigranten über die Welt verteilt, vergleichen sie sich mit den Kulturen, in denen sie gestrandet sind. Und bis heute beantworten sie diese Frage, wenn sie in Belarus geblieben sind. 

    Eine Freundin beobachtete kürzlich in Minsk folgende Szene: Eine Gruppe junger Menschen steht an einem Fußgängerüberweg, keine Autos in Sicht. Zwei von ihnen halten es nicht aus und gehen bei Rot über die Straße. „Jungs, ihr seid keine Belarusen!“, rufen ihnen die anderen zu, die auf Grün warten. 

    Noch vor Kurzem wussten die Belarusen nicht so recht, worin sie sich von anderen unterscheiden, welche Verhaltensmuster typisch für sie sind. Jetzt haben sie es herausgefunden. 

    Ein bekannter, aber aus meiner Sicht bislang unterschätzter Fakt ist, dass Maryja Kalesnikawa, eine der Anführerinnen der Proteste gegen die Diktatur, 2020 zum ersten Mal in der Geschichte sagte: „Belarusen, ihr seid unglaublich!“ Später begegnete mir eine sarkastische Kritik dieser Aussage, sie sei selbstverliebt, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich halte diese Äußerung und die Reaktion darauf für einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Menschen in Belarus haben sich nie für großartig gehalten, nun haben sie sich zum ersten Mal in der Geschichte so gesehen. Ist das etwa nicht bedeutend? 

     

    Mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern sitzen wir auf der Terrasse des Literarischen Colloquiums in Berlin. Wir schauen auf den Wannsee, über den sich schon ein Streifen Sonnenuntergang gelegt hat. Bald werde ich in meine Berliner Bleibe zurückkehren müssen. 

    „Was sagt man auf Belarusisch, wenn man anstößt?“, fragt mich Bojana aus Serbien. 

    „Häufig sagt man Budzma!, aber mir gefällt eine andere Variante, Šanujmasja!“ 

    „Und was bedeutet das jeweils?“ 

    „Das erste heißt „Seien wir!“, das zweite „Respektieren wir uns!““ 

    „Gefällt mir beides!“ 

    Klingt nach einem Plan. 

     

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION: 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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    Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil. 

    In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“

     

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?

    Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.

    Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten. 

    Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.

    Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.

    Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.

    Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.

    Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden. 

    Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)

    Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.

    Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte. 

    Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind. 

    In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“

    Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges. 

    Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“

    „Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen. 

    Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen. 

    Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.

    Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“ 

    Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?

    Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“. 

    Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.

    Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.

    Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.

    Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.

    Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“

    Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.

    Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung. 

    „Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …

    Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde). 

    Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.

    Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.

    Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?

    In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“

    Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?

    Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:

    MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);

    NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);

    UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter. 

    Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“

    Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.

    Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden. 

    Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.

    Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.

    Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.

    „Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen. 

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    Hanna Yankuta, 1984 geboren in der westbelarussischen Stadt Hrodna, hat sich als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören Essays, zahlreiche Kinderbücher sowie Romanübersetzungen von Jane Austen oder Sally Rooney ins Belarussische. 2023 hat sie ihren Debütroman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) im Verlag Januškevič veröffentlicht, der von der Kritik vielfach gelobt wurde.

    „Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden“, schreibt sie in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. Gerade die, die heute im Exil sind, können sich zwar vermeintlich frei über die Vorgänge in Belarus äußern. Allerdings muss ihnen dabei klar sein, dass sie keine Namen derjenigen nennen, die in Belarus geblieben sind, um sie so möglicherweise nicht zu gefährden. Die neue Mauer zwischen Belarus und den Belarussen, die ins Exil geflohen sind, ist das zentrale Thema dieses Textes. Wie können die Belarussen wieder zusammenfinden, wenn diejenigen, die draußen sind, nur noch das Belarus ihrer Vergangenheit erinnern und gleichzeitig nicht mehr am täglichen Leben in Belarus teilhaben können und damit an der Zukunft des Landes und seiner Gesellschaft? 

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mich fasziniert schon seit langer Zeit, dass Karten nicht das wiedergeben, was ich um mich herum sehe. Nicht nur die auf Papier gedruckten, die einen bestimmten Moment festhalten und genau einen Moment später schon ungenau geworden sind, sondern auch Online-Apps, die sich ständig erneuern und der unsteten Realität anpassen. Karten, die eigentlich eine Art schematische Kopie der Welt sein müssten, bleiben in Wahrheit immer hinter ihr zurück. Auf ihnen abgebildete Objekte sind längst wieder verschwunden, und neue, bereits existierende, Objekte erscheinen noch nicht auf der Karte, obwohl wir sie auf unseren Streifzügen schon finden. Da ist ein Laden – auf der Karte gibt es ihn, in Wirklichkeit ist er schon weg. Ist er pleite? Oder umgezogen? Dort ein Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert – wurde es abgerissen? Da eine ukrainische Stadt an der Frontlinie – dem Erdboden gleichgemacht? Klickt man Marjinka auf Google Maps an, sieht man Fotos von Häusern, Kirchen und Parks. Aber bereits im März 2023 war ein Video im Internet mit endlosen schwarzen Ruinenfeldern aufgetaucht, dem heutigen Antlitz von Marjinka. Karten sind ein Fenster in die Vergangenheit. Unsere Welt ist eine Welt der Karten, auf denen verschiedene Zeiten koexistieren. 
            Mit Voraussagen über die Zukunft ist es dasselbe.


           ***
           Bald wird es drei Jahre her sein, dass ich Belarus verlassen habe, und schon anderthalb Jahre, dass ich zum letzten Mal dort war. Aktuell lebe ich in Polen. Noch 2022 ist es mir gelungen, zwei Mal die polnisch-belarussische Grenze zu passieren, um Verwandte zu treffen, Dinge zu erledigen und zu sehen, wie es meinem Land geht. Damals gelangte ich über den Grenzübergang Bobrowniki – Berastawiza nach Belarus, den man leicht auf der Karte findet. Seit dem 10. Februar 2023 ist er geschlossen. Die Grenzübergänge werden immer weniger, Reisen nach Belarus immer riskanter, Menschen werden direkt an der Grenze festgenommen, oder zu Hause, einige Tage nach der Rückkehr ins Land. Und ich weiß nicht, wie lange es noch riskant sein wird, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis ich wieder hinfahren kann. 
            Belarus stelle ich mir jetzt so vor, wie ich es vor anderthalb Jahren gesehen habe, auch wenn sich dort seit dieser Zeit sicher viel verändert hat. Das Land hat sich verändert, meine Sicht darauf – doch mein Bild von ihm nicht. Wenn ich mir eine Rückkehr vorstelle, dann sehe ich veraltete Bilder – wie ich früher in Minsk lebte. Belarus lebt schon in der Zukunft, ich lebe in seiner Vergangenheit. Ich meine nicht, was die Nachrichten melden, sondern was wirklich passiert. Wir können nicht mehr in derselben Zeit leben, zumindest für eine gewisse Dauer gehen unsere Zukünfte getrennte Wege. Ich gehe meinen, Belarus seinen. Eine Zukunft, die wir nicht miteinander teilen können – ich darf nicht in Belarus‘ Zukunft hinein, und Belarus interessiert sich nicht für meine. 
            Wir haben nur eine sehr kleine Auswahl an Mitteln, um auf die jeweils andere Zukunft Einfluss zu nehmen. 2023 wurde beispielsweise ein Gesetz erlassen, dass belarussische Pässe nicht mehr in den Auslandsvertretungen erneuert werden können, sondern nur noch persönlich im Land. Wenn die Gültigkeit meines Reisepasses abläuft, kann ich also keinen neuen mehr erhalten. So versucht der Staat, Einfluss auf mich zu nehmen, mir etwas zu beweisen. Es verkompliziert mein Leben, aber irgendwie werde ich damit zurechtkommen. Meine Art, mit Belarus zu interagieren, sind Bücher. Wenngleich sie derzeit, wenn überhaupt, dann nur noch als geheime Schmuggelware ins Land gelangen. Es ist viel leichter, Bücher aus Belarus herauszubringen, als welche hinein. Und ich kann nicht mehr Teil ihres Lebens sein, meine Teilhabe wird gefiltert, diejenigen, die an der Macht sind, nehmen meine Bücher als schädlich wahr. 
            Auch zu diesem Zweck existieren Grenzen.


           ***
           Vielleicht sind Landkarten aber auch ein Fenster in die Zukunft?
           Belarus grenzt an fünf Länder, die längste Grenze teilen wir mit Russland, darauf folgt, etwas kürzer, die zur Ukraine. Dann kommen Litauen, Polen und – mit der kürzesten gemeinsamen Grenze – Lettland. Diese Grenzen sind sehr aufschlussreich. Belarus – das sind 1283 Kilometer Russlands, 1084 Kilometer der Ukraine, etwa 679 Kilometer Litauens, etwas mehr als 398 Kilometer Polens und fast 173 Kilometer Lettlands (gemäß Informationen des Belarussischen Grenzschutzkomitees und Wikipedia). Wir haben also 1250 Kilometer Europäische Union, etwas weniger als Russland, aber sobald sich die Ukraine der EU anschließt, wird das Übergewicht offensichtlich sein. Die Grenze hat natürlich zwei Seiten. Polen verbinden etwas mehr als 398 Kilometer mit Belarus (etwa elf Prozent der Gesamtlänge der polnischen Staatsgrenze), Russland 1283 Kilometer. Prozentual gesehen ist die belarussische Grenze mit Russland länger als die russische Grenze mit Belarus. Geografie ist gnadenlos. 
            Die Funktionen von Grenzen: sich selbst abgrenzen und sich von anderen abgrenzen. Die eigenen Konturen genau umreißen, kein Eindringen und Durchdringen zulassen – von Menschen, Ideen, Einflüssen. Das Innere zum Monolithen machen, zu einer eigenen Angelegenheit. Zu einer Art Gefängnis. Belarus ist ein Ort mit sehr deutlich umrissenen Grenzen, nicht jede Person darf dort leben, selbst die Staatsbürgerschaft bietet keine Garantie. Viele finden sich jenseits der Grenzen wieder: die Grenzen betreffen nicht nur Staaten, sie zerteilen auch unsere Gemeinschaften. Die belarussische Welt ist jetzt in Teile zerlegt, und über die Grenzen hinweg den Kontakt zu halten – mit Familie, Freunden, Kollegen – ist aktuell unsere Aufgabe.
            Die Grenze zwischen Belarus und Russland ist, mit einigen Ausnahmen, offen und wird kaum kontrolliert. Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist vermint. An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Litauen ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Lettland ein Zaun. Und doch sind wir noch nicht vollkommen isoliert, auch wenn alles in diese Richtung führt. Bis zur völligen Isolation braucht es viel mehr.

     
            ***
            Es gibt eine Zukunft, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Diese Zukunft ist jedoch sehr fern und wird von den exakten Wissenschaften prognostiziert. In 24.000 Jahren wird sich in der Zone um Tschernobyl die Anzahl des radioaktiven Elements Plutonium-239 um die Hälfte verringert haben. In 100.000 Jahren wird sich die Karte der Sternbilder am Himmel bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. In 250 Millionen Jahren wird sich alles Festland auf der Erde zu einem Superkontinent vereint haben, den wir heute, in seiner fernen Vergangenheit, Pangaea Proxima nennen. In etwa einer Milliarde Jahre wird die Sonne heller werden, die Ozeane auf unserem Planeten verdampfen, und noch einige Milliarden Jahre später bläst sie sich zu einem Roten Riesen auf, um dann zu einem Weißen Zwerg zusammenzuschrumpfen. Und wenn die Erde bis dahin noch nicht in den höllischen Sonnenstrahlen zu Asche zerfallen ist, beginnt sie schrittweise abzukühlen und wird schließlich zu einem kalten, von Finsternis umgebenen Stück Materie, auf dem niemals wieder Leben in einer uns bekannten Form entstehen können wird. 


            ***
            Die Sprache weiß auch etwas über die Zukunft. „Nie wieder soll Krieg sein“ ist eine in Belarus wohlbekannte Phrase. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je jemand auf Russisch gesagt hätte. Eine weitere: „Wollt ihr ukrainische Verhältnisse?“ Wenn über etwas viel gesprochen wird, dann geschieht das nicht grundlos, die Sprache ebnet der Zukunft den Weg. Man muss nur aufmerksam hinhören. 


            ***
            In letzter Zeit schreiben Soziologen und Politologen immer häufiger, die Zukunft der belarussischen Proteste sei bereits angebrochen, es existiere eine neue Norm. Die Welt habe sich verändert, sei schon eine andere. Aber wenn man Google Maps öffnet und eines der Minsker Stadtviertel anklickt, kann man noch ein Foto der in Belarus verbotenen weiß-rot-weißen Flagge finden, die über einem Gebäude weht, als hätte 2020 nie geendet. Damals schien es, man könne nun für immer solche Symbole aus dem Fenster hängen, wider jegliche Repression.
            Die Zukunft zerfällt in Fragmente, wie dieser Text. Sie schreibt sich wie ein Gedicht – denn manchmal kann nur die Poesie dieser Wirklichkeit beikommen. 
            Was ist Zukunft für politische Emigranten, für Geflüchtete? Entweder Kopf voran in den Strudel des neuen Lebens springen, oder mit aller Kraft, den Umständen zum Trotz, am Alten festhalten. Viele wählen immer wieder die zweite Variante, leben in der Vergangenheit, in Erwartung einer Möglichkeit zur Rückkehr. „Die Epoche hat uns im Griff“, sagen wir. Aber sie ist es nicht, die uns im Griff hat, sondern wir sind es, die sich an ihr festklammern. Wir wollen im Jahr 2020 bleiben, Realität und Zeitrechnung zum Trotz. Denn das, was wir um uns herum sehen, entspricht nicht dem, wie wir in unserem Inneren leben. Und dafür gibt es eine Erklärung – die Trägheit der Psyche, die nur schlecht mit Veränderung zurechtkommt. 
            Um nach Belarus zurückkehren zu können, dürfte ich diesen Text nicht schreiben. Immer wenn ich öffentlich etwas sage, bezahle ich dafür mit meinem Recht auf Heimkehr. Letztlich ist das aktuell kein allzu hoher Preis, die Einsätze steigen täglich. Ich muss jeden Tag die Entscheidung treffen: Lebe ich, als gäbe es Belarus nicht, und füge mich in den Alltag des neuen Landes ein, oder aber entsage ich einem normalen, privaten Leben. Und bislang entsage ich noch, denn ich will dieses normale, private Leben nicht, das die Realität mir anbietet. Und wenigstens bislang hat es mir seine spezifischen Verpflichtungen noch nicht auferlegt. 


            ***
            Selbst am Rande einer Diktatur (und so könnte ich das Leben politischer Emigranten beschreiben) erfordert das Leben Disziplin, selbst bei Kleinigkeiten. Ich treffe ständig auf sie. Ich kaufe Weihnachtspostkarten, um sie nach Belarus zu schicken, auf vielen sind weiße und rote Details, wie die weiß-rot-weiße Flagge. Ich schaue mir die Postkarten mit der Lupe an und überlege: ist das erlaubt oder nicht? Wenn ich jemandem in Belarus eine Nachricht schreibe, überlege ich mir jedes Wort, besonders, wenn es entferntere Bekannte sind, mit denen ich nicht regelmäßig in Kontakt bin. Ist es sicher oder nicht? Ich weiß nicht, wer in diesem Moment ihr Mobiltelefon in den Händen hält. „Kann ich dir gerade schreiben?“ In der Korrespondenz erinnere ich immer wieder daran: nach dem Lesen löschen. In den Sozialen Medien schreibe ich immer dazu: Wenn ihr in Belarus seid, liked das nicht. Bevor ich darüber nachdenke, was erlaubt ist, denke ich darüber nach, was verboten ist. Ich bin ein Mensch der Diktatur und auch meine Ängste (sowohl die eigenen, als auch die von den Vorfahren geerbten) sind in der Diktatur geboren. 


            ***
            Wenn ich jetzt Google Maps öffne, sehe ich alle Namen auf Polnisch, entsprechend meinem Standort. Es ist durchaus bedeutsam, in welcher Sprache die Ortsnamen auf einer Karte stehen. Sonst hätten die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten die Wegweiser und Ortsschilder nicht ausgetauscht – von ukrainischen in russische. In der Minsker Metro würden die Beschriftungen in belarussischer Lacinka nicht mit den russischen, kyrillischen Bezeichnungen überschrieben. Sogar das Alphabet hat eine Bedeutung. 


            ***
            Wir leben in einer Situation, in der wir aktiv kolonisiert werden. Unser Nachbarstaat Russland (1283 Kilometer Zukunft mit Russland) gibt Unmengen an Ressourcen dafür aus, dass wir unter seinem Einfluss bleiben. Diesem Prozess können wir uns nicht entziehen, denn unsere Ressourcen – egal welcher belarussischen Community oder gar des gesamten Staates Belarus – reichen dafür nicht aus. Die Möglichkeiten Russlands, des Russischen Imperiums, waren immer unvergleichlich größer als unsere. Und wenn jemand will, dass es dich – so, wie du dich selbst siehst – nicht geben soll, und viel Kraft und Ressourcen in dieses Ziel investiert, dann ist Widerstand sehr schwer.
            Russifizierung ist nicht nur Sprache und Kultur, es ist auch die Art zu Denken. In einer solchen Situation wächst die Sprache stets über sich hinaus. Es ist nicht nur die Sprache Belarussisch oder Russisch. Es ist auch die Sprache der Liebe, zum Eigenen und zum Fremden, oder die des Hasses, auch auf das Eigene und das Fremde. Am 13. Februar 2023 sprach der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki bei seinem Gerichtsprozess über nationale Aussöhnung – auch dazu ist Sprache fähig. Er wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Aber die Sprache kartografiert auch die Unmöglichkeit dieser Versöhnung, den Unwillen, wie die „andere Seite“ zu sein, das Verlangen, alles von sich abzuwaschen, was irgendwie mit dem anderen verbinden könnte. Da sind sie, da sind wir (Wos jany, a wos my) – so heißt ein Gedicht von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2020. Dieses Gedicht ist auch heute noch aktuell. 
            Sprache legitimiert und spaltet, und diese Spaltung ist schwer zu überwinden.
            Wenn die Realität zerbricht, in tausend Scherben zersplittert, wie soll man diese dann benennen? Worte werden gleichzeitig bedeutungsvoll und bedeutungslos, Wörterbücher neu zusammengestellt. Ein Gefängniswörterbuch, ein Kriegswörterbuch. Manchmal denke ich, wenn man alles korrekt beschreibt, allem eine sinnhafte Bezeichnung gibt, hat unsere Sicht eine Chance, an Klarheit zu gewinnen. Vielleicht würden wir dann auch sehen, in welcher Welt wir leben und wo die Wege sind, die irgendwohin führen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, immer wieder bleibt etwas nicht greifbar, bleibt blind voranzugehen eine unserer heutigen Herausforderungen. Wir wissen nicht einmal, welche Sprache(n) wir und unsere Kinder in zehn Jahren sprechen werden. Vielleicht werden viele schon die Sprachen der Länder sprechen, in die wir heute flüchten: polnisch, litauisch, deutsch und andere. Doch uns steht bevor, über uns zu sprechen, unter anderem, um uns und unsere Zukunft auf Worten aufzubauen.
            Wenn ich versuche, meine Welt zu beschreiben, dann feilsche ich scheinbar mit der Sprache, bitte sie darum, mir ein wenig mehr zu erlauben, als ich vermag.


            ***
            Es ist bereits unmöglich zu erinnern, was 2020 wirklich geschehen ist. Die Erinnerung verzerrt diese Zeit, wie auch Karten die Realität verfremden, und später wird uns nur noch übrigbleiben, dokumentarische Zeugenaussagen zu sammeln und den eigenen Erinnerungen die fremden gegenüberzustellen. Später – wann wird das sein? Die Zukunft der Proteste – wann werden wir uns erlauben, uns an sie zu erinnern? Wann wird man das ohne Leerzeichen tun können, ohne Namen auszulassen und ohne Fotos unkenntlich zu machen? Die Leerzeichen verfestigen sich im Gedächtnis, bleiben als weiße Flecken darin zurück, unbezwingbar. Im besten Fall kann man vielleicht die Karte dieser weißen Flecken etwas verändern. Das ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, darunter Propaganda und Lügen. Sie wachsen in unser Leben, als würden wir uns nicht widersetzen und uns nicht von ihnen abgrenzen. Und wir müssen auch das berücksichtigen: Wir verändern uns unter ihrem Einfluss, oft unbemerkt für uns selbst. Eine Korrektur daran sollte man überall vornehmen – in der Emigration, innerer wie äußerer, in Belarus und jenseits der Landesgrenzen. Denn für Lügen, wie auch für Gewalt, ist jeder Raum zu eng, sie streben nach draußen, wollen immer neue Territorien erobern. Sie sind fähig, sogar aus Entfernung Einfluss auszuüben. Doch dasselbe kann man auch über die Freiheit sagen, so, wie wir sie sehen. Und in diesem Sinne erleiden Grenzen – und die, die sie bauen, auf beiden Seiten – eine Niederlage. 


            ***
            Ich kann nichts über Belarus erzählen, nur über die Belarussen, die im Ausland leben. Über mich selbst. Denn über Belarus weiß ich nichts mehr, und wenn ich etwas weiß, muss ich die Zunge im Zaum halten. Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden. Oft überprüfe ich, bevor ich etwas ausspreche, und sei es nur ein unschuldiger Fakt, ob jemand diese Information schon einmal öffentlich geteilt hat. Bestenfalls in einem Bericht von Menschenrechtsorganisationen, denn ihnen traue ich: Wenn sie etwas veröffentlichen, heißt das, dass man darüber sprechen kann. Bei öffentlichen Auftritten wähle ich meine Formulierungen sorgfältig, aus Angst, etwas preiszugeben, unnötig Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – Namen, Bücher, Ereignisse, oder irgendwelche Tricks und Kniffe, die im Land helfen. 
            Ich kann nur mit Pausen sprechen, wäge jeden Satz ab. Manchmal ist das Wichtigste die Pause selbst.
            Jedes ENTER in diesem Text ist eine Pause, drei Sternchen sind eine lange Pause.
            Ich muss langsam sprechen.
            Das Schweigen betrifft nicht nur jene, die in Belarus geblieben sind, es überschreitet auch die Grenzen und wird zum charakteristischen Zug der Zeit der Diktatur.
            Das Schweigen hat viele Gesichter.
            Es gibt das Schweigen von den einstigen Opfern der sowjetischen Repressionen und das Schweigen von den anderen Völkern, die auf unserem Gebiet lebten. Geschlossene Archive. Verborgene Statistiken. Durchgestrichene Erinnerungen an die ersten Tage nach den Wahlen 2020, als tausende Menschen Folter und Qualen durchlebten. Die Vernichtung der unabhängigen Medien und ihre Abstempelung als „extremistisch“ (einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben, einfach nur etwas zu sagen – ist schon ein Verbrechen). Augenzeugen werden weggesperrt. Incommunicado – das gewaltsame Blockieren jeglicher Kontakte der politischen Gefangenen mit der Außenwelt und das Fernhalten jeglicher Nachrichten und Informationen.
            Wir wissen nichts: Nicht, wie viele Menschen an Covid gestorben sind, nicht, wie viele das Land verlassen haben, nicht, wie viele im Gefängnis sitzen. Wir haben keine genauen Zahlen, wir haben nur Dunkelziffern, die anhand von geschätzten Angaben gemessen werden, mathematisch oder intuitiv.
            Jemand in Belarus schweigt aus Sprachlosigkeit. Weil es ihm an Worten fehlt, das zu beschreiben, was vor sich geht, weil es nicht in Worte zu fassen ist.
            Jemand erlegt sich ein Tabu auf, über Gefängnisse und Repressionen zu sprechen, weil das eine direkte Erfahrung unendlichen Leids ist, über die zu theoretisieren wie Blasphemie erscheint.
            Jemand entscheidet sich zu schweigen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, um so den ukrainischen Stimmen mehr Raum zu geben.
            Schweigen ist aktives Handeln.


            ***
            Das Schweigen hat Zukunft.
            In dieser Zukunft kommen alle belarussischen politischen Häftlinge aus den Gefängnissen frei und erzählen, was man mit ihnen all diese Zeit über gemacht hat. Es gibt offene Gesprächsrunden über die Gewalt während und nach den Wahlen im Jahr 2020. Die Archive werden geöffnet, man kann sich ein vollständiges Bild von den Repressionen der Sowjetzeit machen, ebenso von allen anderen Zeiten, die bei uns Spuren hinterlassen haben. 
            Das Schweigen ist vielschichtig, früher oder später holt es jeden ein.
            Und wir müssen bereit sein für das Grauen, wenn wir erfahren, was das Schweigen vor uns verbirgt, wenn es endlich gebrochen wird. 


            ***
            Außerdem gibt es noch die Unsichtbarkeit, sie hat zwei Formen. Die erste besteht darin, wenn du dich versteckst, dich in ein Chamäleon verwandelst, dich unsichtbar machst, absichtlich unerreichbar für fremde Augen. Das ist eine Art Macht über die Welt, manchmal die einzige, die man sich erkämpfen kann. Die zweite Form ergibt sich daraus, dass man dich nicht sehen will, dich von den Karten und aus der Geschichte streicht. Wenn jemand sich weigert, dich zu sehen, dann gibt es dich scheinbar nicht. Auch das sind aktive Handlungen – sowohl das Unsichtbarsein, als auch das Nicht-sehen-Wollen. Das Nicht-sehen-Wollen ist der erste Schritt zur Isolation.
            Es ist sehr leicht, nicht zu sehen, was hinter der Mauer passiert. 


            ***
            Aber es ist unsere Zeit, es ist unsere Geschichte, und wir müssen sie durchleben, unsere Träume mit den Karten abgleichen. Bei uns wird es nicht wie in Warschau. Wir werden nicht wie die in Berlin. Wenn wir eine Chance kriegen und es schaffen sie zu nutzen, dann werden wir vielleicht nicht wie die im „Moskauer Umland“. Und wie wird es dann? Wie in Minsk, wie in Slonim, wie in Shabinka. Wenn nicht für mich, so doch für jemanden, der nach mir kommt. Das kann mir die Zukunft nicht wegnehmen. Denn das Wichtigste, was ich als Belarussin seit 2020 habe, ist das Vertrauen in die Menschen. Ich glaube wirklich an die Belarussen, an die drinnen wie draußen. Ich glaube, dass wir alles nur Mögliche tun, uns vorantasten auf der Suche nach unserem weiteren Weg. Wir gehen, wie wir es vermögen und wie wir es uns ausmalen, selbst wenn wir manchmal einander nicht verstehen oder unterschiedliche Routen wählen, auf unser Ziel zu. 

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  • Belarus und die Geister der „wilden Jagd“

    Belarus und die Geister der „wilden Jagd“

    Andrej Chadanowitsch, 1973 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter zeitgenössischer belarussischer Lyrik. Seine Dichtkunst zeichnet sich durch Wortspiele, Humor, ihre stilistische Experimentierfreude und sensorische Tiefenschärfe aus. Auch hat er Gedichte und Werke von englischen, französischen oder polnischen sowie ukrainischen Lyrikern wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch ins Belarussische übersetzt. Er betreibt zudem einen populären YouTube-Kanal, in dem er Klassiker der belarussischen Literatur und Kultur vorstellt, aber auch gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Dieser Kanal wurde von den Machthabern in Belarus im Oktober 2023 als „extremistisch“ klassifiziert, also quasi verboten.

    Chadanowitsch hat wie viele belarussische Kulturschaffende seine Heimat infolge der Repressionen verlassen müssen und lebt nun im Ausland. In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft beschäftigt er sich mit Literatur und Schriftstellern, die in Belarus verboten wurden. Dabei stößt er auf geradezu unheimliche Hinweise darauf, wie nahe sich Literatur und Realität kommen können.

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Warum werden heutzutage in Belarus Bücher und Autorenlesungen, Kunstausstellungen und Musikkonzerte verboten? Warum landen Dichter und Denker wieder und wieder hinter Gittern? Warum besteht ein Großteil unseres heutigen Schrifttums – genau wie der der hundertjährigen Klassiker – aus Gefängnisliteratur? Warum wird die belarussische Sprache diskriminiert, marginalisiert und letztlich noch konsequenter vernichtet, als zu Sowjetzeiten – und das in einem Land, das immerhin Belarus heißt?

    Manche sagen: Weil bei uns ein ewiger und gnadenloser Kulturkampf herrscht, in dem sich eine der beiden Kulturen für überlegen hält und die andere zu unterwerfen und zu zerstören versucht. Andere sagen, man müsse eher von einem Krieg sprechen, den etwas gegen unsere Kultur führt, das der Kultur völlig entledigt ist. Ich möchte hier keine endgültigen Schlüsse ziehen, sondern beschränke mich darauf, zwei Leitgedanken zu entfalten. Zum einen, wohin die Angst vor Kultur und der Hass auf Bücher führen können. Zum anderen, wozu diese Kultur und diese Bücher manchmal fähig sind. 

    1) Calibanismus

    Nein, diese Zwischenüberschrift ist kein Tippfehler. 
    Oscar Wildes Aphorismus, die Kunst würde nicht das Leben, sondern den Betrachter spiegeln, fand ich immer hübsch, aber auf paradoxe Weise überspitzt. So spricht der Schriftsteller in diesem Zusammenhang von der Wut des shakespeare’schen Caliban, der im Spiegel sein Abbild erkennt (oder eben nicht). 

    Heute weiß ich, dass der Meister des Paradoxen keineswegs übertrieben hat. Denn jetzt haben die Belarussen diesen Caliban mit eigenen Augen gesehen, mehr noch – wir haben es mit dem Phänomen eines Staats-Calibanismus zu tun: Eine aus lauter Calibans bestehende Minsker Staatsanwaltschaft hat im August eine Reihe von literarischen Werken als „extremistisch“ verurteilt.

    Auf der Liste landeten sowohl zeitgenössische Werke als auch Klassiker des 20. und sogar des 19. Jahrhunderts. Es kommt selten vor, dass längst verstorbene Autoren verurteilt werden; darunter beispielsweise der bekannte Dramaturg Winzent Dunin-Marzinkewitsch (1808-1884), nach dem zahlreiche Straßen in Belarus benannt sind und dessen Denkmäler die Stadtzentren zieren. Bislang musste das nicht einmal geändert werden – man fand eine elegantere Lösung für das Problem: Nicht das ganze Buch wurde als verbrecherisch eingestuft, sondern nur ein Fragment daraus, nämlich zwei Gedichte und das Vorwort zum Buch, das von einem zeitgenössischen Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Fast wie im Club der toten Dichter: Und jetzt, liebe Studenten, reißen Sie alle zusammen die Seiten dieses Vorwortes aus Ihren Büchern, los, nicht so schüchtern, und vergessen Sie auch diese zwei Gedichte nicht, schön sauber entfernen!

    Manchmal ist das Motiv, nämlich der Hass des Regimes auf den Autor, offensichtlich. Wie bei unserem Zeitgenossen Uladsimir Njakljajeu, der nicht nur als Dichter bekannt ist, sondern auch als politische Person, die 2010 für das Präsidentenamt kandidierte. Just am Wahltag wurde er von vermummten Geheimdienstmitarbeitern überfallen und musste in der Notaufnahme versorgt werden, von wo er dann entführt wurde; seine Angehörigen wussten tagelang nicht, ob er am Leben war. Njakljajeu saß derweil im Gefängnis des KGB; nach 40 Tagen Haft stand er noch mehrere Monate unter Hausarrest. Obwohl der Dichter an der Wahlkampagne 2020 nicht direkt beteiligt war, wurde er mehrfach zu Verhören abgeholt und faktisch aus dem Land getrieben. Jetzt lebt er bereits seit zwei Jahren in der Emigration (und das nicht zum ersten Mal in seiner Biografie). Ganz klar, ein Extremist!

    Ebenfalls für „extremistisch“ erklärt wurde ein Buch von Laryssa Henijusch, einer Schriftstellerin und Emigrantin, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus der Tschechoslowakei in die UdSSR zurückgeholt und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, von denen sie achteinhalb tatsächlich verbüßte. Doch sie ließ sich nicht brechen, schrieb Gedichte zur Unterstützung anderer Häftlinge, die diese als „Glukose“ bezeichneten, so sehr halfen sie. Nach ihrer Freilassung weigerte sie sich, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und verbrachte ihr gesamtes Leben unter geheimdienstlicher Aufsicht. Bis heute wurde sie nicht rehabilitiert, das Urteil wurde lediglich auf die Haftstrafe reduziert, die sie tatsächlich abgesessen hat. Kein Zweifel, eine Extremistin!

    Oder das Buch der Exil-Poetin Natallja Arsennewa, deren patriotisches Gedichtgebet Mahutny Bosha (dt. O mächtiger Gott) zur inoffiziellen Hymne mehrerer Generationen der belarussischen Opposition wurde, seinen größten Ruhm aber während der belarussischen Straßenmärsche 2020 erlangte. Es war dieses Gedicht, das bei Protestauftritten von maskierten Musikern und Sängern an belebten Plätzen vorgetragen wurde, dem Vorläufer des berühmten Wolny chor (dt. „Freier Chor“). Selbstverständlich muss die Autorin dieses durch und durch extremistischen Werks auch selbst eine Extremistin sein!

    Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020

    Als man mit denen fertig war, begann der interessanteste Teil: Der Staatsanwalts-Caliban trat selbst vor den Spiegel. Denn an fünfter Stelle in der Liste der extremistischen Literatur erscheint eine Sammlung von Werken der, so möchte man meinen, für das Regime absolut harmlosen Schriftstellerin Lidsija Arabei. Als ich das las, fiel ich fast vom Stuhl, denn ich war seinerzeit mit ihren Kinderbüchern aufgewachsen und konnte darin beim besten Willen nichts Anstößiges erkennen. Ein paar Tage später fiel mir das „verurteilte“ Buch in die Hände, ich blätterte es aufmerksam durch – und wäre wieder fast vom Stuhl gekippt, denn ich entdeckte eine Erzählung namens Der weiße Spitz

    Hier sei mir ein kleiner Exkurs in die Hundewissenschaft erlaubt. Es ist nämlich so, dass das drittbeliebteste Motiv für Witze und Memes in Belarus ein weißer Spitz ist, gleich nach dem illegitimen Präsidenten und seinem unehelichen Sohn. Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020 als Haustier und – wie es schien – einziger treuer Freund Lukaschenkas. Wenige Monate vor der jüngsten Wahlfälschung und dem Ausbruch der Proteste und Repressionen und auf dem Höhepunkt der Pandemie. 

    Der Diktator, der als einer von wenigen Politikern weltweit offen die Existenz des Coronavirus leugnete, pflanzte im April 2020 vor laufenden Fernsehkameras friedlich Kiefernbäumchen und hielt dabei ein Körbchen mit einem kleinen weißen Hund. Sofort fanden sich Verschwörungstheoretiker, die behaupteten, diese beiden – Hündchen und Diktator – wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Problem der Epidemie ablenken. 

    In einem anderen Fernsehbeitrag hackte Lukaschenka Holz, und neben ihm lief wieder fröhlich bellend der weiße Spitz herum. Später saß er (der Spitz, nicht Lukaschenka) herrschaftlich auf dem Tisch und naschte von Tellerchen, während sein Freund ausländischen Journalisten ein Interview gab. Am Dreikönigstag bot der Politiker dem Hündchen gar an, gemeinsam mit ihm vom geweihten Wasser zu trinken. Doch der weiße Spitz lehnte zu seinem großen Bedauern ab. Kurzum, Belarus hatte nun neben „Koljas Papa“ und „Kolja“ selbst einen dritten gehypten Medienstar.

    Und hier kommt Lidsija Arabeis Erzählung ins Spiel. Stellen wir uns einmal die Reaktion der Calibans aus der Staatsanwaltschaft vor, als sie im Inhaltsverzeichnis des Buches diesen furchtbaren Titel entdecken. Sie schlagen den Band an der entsprechenden Seite auf und überzeugen sich davon, dass es keine Halluzination war, sondern der Text tatsächlich mit den Worten „Der weiße Spitz“ beginnt und zudem noch viel schrecklicher endet, nämlich mit den Worten: „Verrecken soll er“. Dass dieser Fluch nicht dem Spitz und auch nicht seinem Herrchen gilt, interessiert da niemanden mehr …

    Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten!

    Der Text stammt von 1975 und versetzt uns nach Minsk im Winter 1943, unter Nazibesatzung und Hungersnot, wo der Schwarzmarkt die einzige Überlebenschance ist. Eine Frau bringt eine große Kasserolle mit heißen, dampfenden Kartoffelpuffern … Das belarussische Zensorenherz beginnt freudig zu schlagen, beruhigt sich fast, doch dann taucht leider der vermaledeite weiße Spitz auf, und dann heißt es auch noch, er habe sein Herrchen verloren. 

    Wie kann das sein – das Herrchen verlieren? Das hieße ja, auch sie, die Staatsbeamten, die als Einzige das Unerlaubte suchen und ihn beschützen können, blieben ohne Arbeitgeber? Was sollten sie dann tun? Ihre Empathie mit dem Protagonisten der Erzählung wächst ins Unermessliche, doch was geschieht dann mit dem Spitz? Ich zitiere besser die „Extremistin“ Lidsija Arabei: 

    „Da wandte sich der Hund der Frau zu, der Herrscherin über die Kartoffelpuffer, und als würde er sich an etwas erinnern, stellte er sich auf die Hinterpfoten und machte Männchen.

    Er tat es lange und ausdauernd, gleichsam stolz, es so lange in einer so unbequemen Haltung auszuhalten. Seine Augen blickten unterwürfig und ehrlich, voller Freude und Hoffnung …
    Seine Pfoten hingen schlaff herunter und zitterten, genau wie seine rosige Zunge; aus dem Maul tropfte Speichel, der Hund hielt sich tapfer, sein ganzer Anblick sagte: Schaut her, wie ich mich anstrenge, wie ich es euch recht machen will, habe ich dafür etwa keine Belohnung verdient?
    ‚Verschwinde!‘, rief die Frau schließlich und drohte mit der Gabel.“

    Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten! Aber dann lesen die Staatsbeamten das Finale: Das Hündchen kennt offenbar ein Gefühl, das stärker ist als Hunger. Als plötzlich ein Besatzer vorbeiläuft, beginnt das Hündchen ihn aus voller Kehle anzukläffen. Schließlich bekommt der Soldat in der Feindesuniform Angst und zieht von dannen. Das gefällt den Belarussen auf dem Markt so sehr, dass das Hündchen eine unerwartete (und doch so lang ersehnte!) Belohnung erhält:

    „Das Hündchen stand noch lange da und kläffte ihm nach, bellte mit all seinem Hundezorn, bis zur Heiserkeit, bis zur Verzweiflung. Als es sich ein wenig beruhigt hatte, hörte es hinter sich eine unbekannte Stimme:
    ‚Hier hast du, Hündchen …‘
    Da landete neben ihm im Schnee ein Stückchen warmer, duftender Puffer.
    Und die Stimme fügte hinzu:
    ‚Was für ein kluges Hündchen! Verrecken sollst du …‘“

    Die echten Kenner von Lidsija Arabeis Werk mögen vielleicht eine andere Erklärung für ihren „Extremismus“ vorschlagen. Sie mögen darauf hinweisen, dass es im Buch Erzählungen über die Epoche des Stalinismus und die Repressionen gibt, über die Verurteilungen der „Volksfeinde“ und die Trennung von Familien, als Kindern entweder befohlen wurde, sich von den „Verbrechereltern“ loszusagen oder sie neue Namen und Familiengeschichten bekamen, damit die Eltern sie nach ihrer Rehabilitierung nicht wiederfinden konnten. Es gibt die Erzählung Der kalte Mai, in dem die Arbeit der Geheimdienste beschrieben wird, die die Menschen zwingen, ihre eigenen Verwandten auszuspionieren und sie zu verraten. Ich stimme ihnen zu und ergänze, dass sich die heutigen Diener des diktatorischen Regimes als Nachfolger und Stammhalter der stalinschen Henker verstehen, weshalb Repressionen wieder zum Tabuthema geworden sind. 

    Und doch stelle ich mir lieber vor, wie unsere Calibans gerade an der Erzählung vom weißen Spitz hängenbleiben, an dem Gedanken, dass jedes Herrchen unausweichlich stirbt und seine Diener dann brotlos zurückbleiben, dass ihr Männchenmachen mit dem Ausruf „Verschwinde!“ enden kann. Und dass es schon lange an der Zeit ist zu entscheiden, ob man weiter Männchen machen soll oder doch den Besatzer anbellen. Vermutlich kam ihnen genau bei diesem Gedanken der Zorn auf die Autorin. Und er wird sie nie mehr verlassen. 

    2) Briefe der Hoffnung

    Die Werke des großen belarussischen Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch (1930-1984) brennen noch nicht auf dem Scheiterhaufen, werden noch nicht in Speziallager der Bibliotheken verbannt und sind auch noch nicht als „extremistisch“ eingestuft. Doch sein wichtigster Roman, Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) verschwand dieses Jahr plötzlich vom Schullehrplan. Vielleicht, weil sich die belarussischen Staatscalibans in seinem Spiegel zweifelsfrei erkannten und die Gefahr sahen. Denn das Werk ist der geistigen und intellektuellen Abhärtung der belarussischen Elite gewidmet, jener jungen Generation, die am antirussischen Aufstand von 1863 beteiligt war. Ein Aufstand, der von den imperialen Truppen brutal niedergeschlagen und dessen Anführer – darunter auch Kastus Kalinouski, den der Schriftsteller in seinem Roman auftreten lässt – vernichtet wurden. Vielleicht hat Karatkewitsch keinen dritten Band verfasst, um den Mord an seinen geliebten Helden nicht beschreiben zu müssen. 
     
    Der Roman erlangte Kultstatus, genau wie die anderen Werke des Schriftstellers – zu Sowjetzeiten standen die Menschen in langen Schlangen nach jedem neuen Werk Karatkewitschs an. (Er selbst sagte einmal: „Man muss so schreiben, dass die Leute deine Bücher aus den Bibliotheken klauen. Das habe ich geschafft.“) Die Leserinnen und Leser, besonders Jugendliche, waren so stark beeindruckt, dass sie sich für die belarussische Geschichte und Kultur zu interessieren begannen und oft – auch wenn sie in russischsprachigen Familien aufwuchsen – ins Belarussische wechselten. 

    Im Jahr 2020, im Vorfeld der Wahlfälschungen, Massenproteste und brutalen Repressionen, zitierten die belarussischen Internetnutzer besonders gerne eine Stelle aus dem Roman, in der die reaktionäre Epoche des russischen Imperiums in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen charakterisiert wird: 

    „Es war eine furchtbare und schwere Zeit. Das ganze unermessliche Imperium erstarrte und verknöcherte unter dem schrecklichen politischen Frost, der es schon im sechsundzwanzigsten Jahr fest im Griff hatte. Jedem, der versuchte, aus voller Brust zu atmen, fror die Lunge ein. […] Glücklich war niemand. Alles wurde dem Abgott der Staatsmacht geopfert.“

    Der Schlüsselbegriff hier ist „im sechsundzwanzigsten Jahr“, denn genau so lange herrschte zu diesem Zeitpunkt der illegitime Präsident über Belarus. Nach der erneuten Wahlfälschung und der Niederschlagung des Aufstands 2020 durch das Regime nahmen die Repressionen in ungesehenem Ausmaß zu, die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit hörten auf zu funktionieren, und die Präsenz des russischen Imperiums in Belarus wurde immer offensichtlicher. 

    Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden.

    Der Beginn von Putins Krieg in der Ukraine zeigte, dass es kein politisch unabhängiges Belarus mehr gab, und die Diktatorenmarionette, fast gänzlich dem russischen Aggressor unterstehend, nur noch eine einzige Freiheit besaß: das eigene Volk uneingeschränkt zu terrorisieren. Tausende politische Gefangene, von denen einige unter ungeklärten Umständen in Haft starben; Hunderttausende Belarussen, die ihr Land verlassen mussten, während der Rest zu innerer Emigration verdammt wurde. Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden. Und immer öfter ist zu hören, in Belarus herrsche „die wilde Jagd“. 

    Dieses Bild führt uns wieder zu Karatkewisch und seinem historischen Thriller König Stachs wilde Jagd (Dsikaje palawannje Karalja Stacha). Warum sich Literatur und Realität immer wieder so nah kommen, könnte man ewig diskutieren. Liegt es an der Hellsichtigkeit des Schriftstellers oder seiner Fähigkeit, universell zu formulieren und dadurch nie an Dringlichkeit zu verlieren? Oder an der Geschichte selbst, die sich im Kreis dreht und keinen Ausweg aus dem ewigen Albtraum bietet? So oder so, jeder Belarusse, der bei klarem Verstand ist, spürt, dass Karatkewitschs Geschichte wieder aktuell geworden ist. Der koloniale Druck; der Verfall der „Elite“, die das eigene Volk unterjocht und dabei einem fremden Herren dient; die Mechanismen der Angst, die lähmt und unfrei macht; aber auch die kulturelle Rolle der Intellektuellen, die uns die von den Aggressoren und Besatzern schon fast ausgelöschte Erinnerung zurückgeben. Die Macht der Machtlosen, der gewaltfreie Widerstand, der eines Tages vielleicht nicht mehr genügen und keinen anderen Ausweg zulassen wird, als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Die „sanfte Macht“ von Liebe und Freundschaft, die im tiefsten Dunkel vor dem Wahnsinn bewahren. Die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller, die unter demselben Feind leiden. In Karatkewitschs Geschichte geht es, genau wie heute, um die Belarussen und die Ukrainer. 

    Als junger Mann kam Karatkewitsch aus Belarus an die Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität, wo er sich unter dem Einfluss befreundeter Kyjiwer Intellektueller, die sich für die ukrainische Kultur begeisterten, für die belarussische Kultur zu interessieren begann. In dieser Zeit reifte sein Roman heran, durch den sich das Motiv der belarussisch-ukrainischen Einheit zieht, und dessen Schlüsselfigur, der junge Intellektuelle Andrej Swezilowitsch, ein ehemaliger Student der Kyjiwer Universität, autobiografische Züge trägt. Hier ein Dialog zwischen Swezilowitsch und dem Protagonisten des Romans, Andrej Belarezki:

    „Weswegen hat man Sie exmatrikuliert, Pan Swezilowitsch?“
    „[…] Es begann damit, dass wir beschlossen, das Andenken Schewtschenkos zu ehren. Wir Studenten waren, wie bekannt, unter den ersten. Man drohte uns, dass die Polizei in die Universität einziehen würde.“ Ihm stieg die Röte ins Gesicht. „Wir meuterten. Ich rief, wenn sie das in unseren heiligen Mauern wagen, würden wir diese Schande mit Blut abwaschen, und die erste Kugel werde dem gelten, der den Befehl dazu erteilte. Dann strömten wir aus dem Gebäude, es gab einen Aufruhr, ich wurde festgenommen. Als die Polizei nach meiner Nationalität fragte, antwortete ich: ‚Schreib auf: Ukrainer‘.“
    „Sehr gut gesagt.“
    „Ich weiß, das war sehr unvorsichtig gegenüber denjenigen, die sich zum Kampf erhoben hatten.“
    „Nein, das ist auch gut für sie. Eine solche Antwort ist ein Dutzend Kugeln wert. Und es bedeutet, dass wir alle einen gemeinsamen Feind haben.“
    1

    In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung?

    Die jungen Belarussinnen und Belarussen, die 2006, inspiriert vom ukrainischen Maidan, ihre Zelte auf dem Minsker Oktoberplatz aufstellten und ihn in Kalinouski-Platz umbenannten, hatten zweifellos Karatkewitsch gelesen. Und auch jene haben ihn gelesen, die heute für die Ukraine im Kalinouski-Regiment kämpfen.

    Als man in der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges nachvollziehbarerweise begann, Straßen umzubenennen, startete Wjatscheslaw Lewyzki, ein ukrainischer Lyriker, Übersetzer und Karatkewitsch-Experte, eine Initiative, mit der er schließlich erreichte, dass die Dobroljubow-Straße in Kyjiw in Karatkewitsch-Straße umbenannt wurde.

    „Ich hoffe“, so schrieb der Dichter, „dass dieses Toponym wenigstens etwas dazu beiträgt, die Missverständnisse zwischen Ukrainern und Belarussen, die sich den Diktaturen in ihrem Land widersetzen, zu nivellieren. Ich möchte, dass diese Umbenennung ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Kalinouski-Korps und dessen Mut ist, gegenüber den belarussischen Partisanen und allen freiheitlich denkenden Belarussen, die die Möglichkeit finden, den Ukrainern zu helfen.“ 

    In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung? Dafür gibt es jetzt gleich zwei Opern auf der Grundlage von Karatkewitschs Erzählung König Stachs wilde Jagd. Die erste stammt aus der Feder des Komponisten Uladsimir Soltan und feierte bereits 1989 im Minsker Opernhaus Premiere. 2021 kehrte sie nach einer Pause auf die Bühne zurück, erweitert um Archivmaterial des Komponisten, mit neuem Bühnenbild und Spezialeffekten im klassischen Horror-Stil. Den wichtigsten Gruseleffekt trug allerdings das Leben selbst bei, als die Operninszenierung von der calibanistischen Zensur getroffen wurde. 
    Aus dem Libretto verschwand ein zentraler Satz, der Ruf, mit dem die Reiter der wilden Jagd die Palastherrin erschrecken: „Raman im zwanzigsten Glied, komm heraus!“ Vielleicht, weil am 11. November 2020, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, „Unbekannte“ Raman Bandarenka getötet hatten, der in den Innenhof seines Hauses gekommen war, nachdem er im Telegram-Chat geschrieben hatte: „Ich gehe raus!“ Seine maskierten Mörder erinnerten auffällig an die Antihelden aus Karatkewitschs Buch. 

    Die zweite Version der Oper entstand 2023, und ich hatte das Glück, an der Entstehung des Libretto mitzuwirken. Die Musik komponierte Volha Padhajskaja, Regie führten Mikalaj Chalesin und Natallja Kaljada, es dirigierte Wital Aleksjajonak. Die Uraufführung fand im Londoner Barbican Centre statt, und man hätte sich nur schwer ein besseres Ensemble für die heutige Zeit ausdenken können: belarussische Schauspielerinnen und Schauspieler des Belarus Free Theatre, das in der erzwungenen Emigration weitermacht, standen gemeinsam mit Opernsängern und -sängerinnen aus der Ukraine auf der Bühne. 
     
    Die belarussischen Theaterschauspieler sprachen den Text, die Ukrainer sangen – in belarussischer Sprache. In einer Zeit der Herausforderungen, Traumata, Verletzungen und künstlichen Spaltungen war es für die Belarussen sehr wichtig, das zu hören. Und ich denke, auch für die Ukrainer war es gut zu sehen, dass die Ukraine dem beliebten belarussischen Schriftsteller so viel bedeutete. 
     
    Der Autor des Librettos hatte die Freude und Ehre, mit den Ukrainern an der belarussischen Aussprache zu arbeiten. Unsere Sprachen ähneln sich in der Lexik stark, phonetisch sind sie aber völlig unterschiedlich, so dass man leicht ausmachen kann, wenn ein Ausländer spricht. Doch das musische Gespür der ukrainischen Künstler wirkte Wunder – und um ihre Aussprache auf der Bühne hätten sie selbst viele Belarussen beneidet. 

    Ich weiß nicht, welchen Anteil die hervorragende Komponistin und welchen die brillanten Sängerinnen Tamara Kalinkina und Alena Arbusawa daran hatten, aber die Figur der Nadseja Janouskaja wirkte auf der Opernbühne stärker, emanzipierter und strahlender als es die eher blasse Figur der Heldin in der Buchvorlage tut. Ihre Partien waren für meinen bescheidenen Geschmack die unvergesslichsten des Abends. Vielleicht war es nach den Protesten von 2020 und der Rolle, die die Frauen dabei spielten, auch gar nicht anders möglich. 

    Zur Premiere reisten Belarussen aus verschiedenen Städten, Ländern und gar Kontinenten an, es kamen Belarussen und Ukrainer aus London. Den Großteil des Publikums machten aber dennoch die Briten aus. Alle vier Spieltermine waren ausverkauft. Am Ende jedes Mal die Rufe: „Slawa Ukraini!“ und „Shywe Belarus!“ Und natürlich die Antworten: „Ruhm den Helden!“ und „Ewig lebe es!“ Ein paar Mal fand auch ein gewisses Kriegsschiff eines anderen Landes Erwähnung. 

    Jeden Zuschauer erwartete auf seinem Sitz ein Brief der Hoffnung – eine Postkarte, gestaltet und beschrieben von ukrainischen Kindern, die der Krieg getroffen hatte. Das eine hatte sein Haus verloren, das andere seinen Vater an der Front, das dritte beide Eltern bei einem Raketenangriff. Doch die Briefe beklagten nicht den Schmerz, sondern wurden vielmehr von dem Wunsch getragen, dem Lesenden Hoffnung zu geben – vielleicht hatte auch er es nicht leicht. Es waren Briefe voller Herzlichkeit, hier und da sogar mit einer Prise Humor. 

    „Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas Neues zu finden.“ – Lew, 14 Jahre. 
    „Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da!“ – Sascha. 
    „Tu Gutes, und es kehrt zu dir zurück.“ – Walik, 9. 
    Und Artjom aus dem Gebiet Cherson schrieb: „Gib niemals auf. Respektiere deine Familie. Wenn du sie nicht respektierst, komme ich und reiße dir ein Ohr ab.“

    Der Saal des Barbican hat 1.500 Plätze, das macht bei vier Vorstellungen also insgesamt 6.000 Briefe. 
    Ich habe vier davon und bewahre sie gut auf. 


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1.Übersetzung in Anlehnung an die deutsche Ausgabe, übersetzt aus dem Russischen von Ingeborg und Oleg Kolinko, Verlag Neues Leben, Berlin 1985 

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  • Auf der Schattenseite der Geschichte

    Auf der Schattenseite der Geschichte

    Sviatlana Kurs, geboren 1972, hat als Schriftstellerin zuletzt auch international mit ihrem Roman Was suchst du, Wolf? für Aufsehen gesorgt, den sie unter ihrem Pseudonym Eva Viežnaviec veröffentlichte. Das Buch erzählt die gewaltvolle und düstere Geschichte der Menschen und vor allem der Frauen in der Region, aus der Kurs’ Familie selbst stammt: Polessje, diese mystische Sumpflandschaft im Süden von Belarus. Für den Roman erhielt sie 2021 den renommierten belarussischen Jerzy-Giedroyc-Preis, als erste Frau. 

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung geht es um die gewaltvolle Geschichte von Belarus und letztlich um die Frage, wie die Belarussen ihre Identität und damit ihre Zukunft bewahren können. In einer Zeit, in der Russland einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der auch Auswirkungen auf Belarus selbst hat. Kurs´ Argumentation erinnert in mancher Hinsicht auch an die Narrative der nationalen Wiedergeburtsbewegung, für die sich die Belarussische Volksfront seit Ende der 1980er Jahre einsetzte.

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Man nennt uns eine Nation mit weitgehend ausgelöschter Identität, denn wir haben unsere Sprache und Kultur, unsere Architektur und das bauliche Erbe unserer Städte fast verloren. Selbst unsere Gotteshäuser wurden nach russischer Art umgebaut, statt Kreuzen tragen sie russische Kuppeln, im Volksmund Zwiebeltürme genannt. Seit 229 Jahren leben wir Belarussen unter russischer Besatzung. Von uns selbst ist hier bei uns kaum etwas übriggeblieben. 

    Auch ich dachte so, bis sich im Jahr 2020 die Schlinge um den Hals ein wenig lockerte, als die Belarussen in Millionenstärke demonstrierten und zeigten, was sie wollen. Selbst in kleinen Städtchen und Dörfern, wo man keine lebendigen Menschen mehr vermutet hätte, fanden Kundgebungen und Märsche statt.

    Doch dann erklärte Putin, er würde die Armee schicken, und mit dieser Unterstützung und hunderttausenden Silowiki erstickte Lukaschenka den Protest, indem er Menschen einfach auf der Straße erschießen ließ.

    Seit 2020 dauern die gnadenlosen Repressionen nun schon an, schon drei Jahre. Im Land wurde ein Gefängnissystem geschaffen, das in seiner Brutalität den Lagern Stalins und Hitlers in nichts nachsteht, abgesehen von den Massenmorden. 

    Schon seit über drei Monaten erhalten die Angehörigen der politischen Gefangenen keine Nachrichten mehr von ihnen. Bekannt ist, dass einige, wie Ihar Lossik, Selbstmordversuche verübt haben. Andere wie der herzkranke 61-jährige Iwan Klimowitsch starben, weil ihnen die medizinische Versorgung verwehrt wurde. 

    Iwan war für eine Lukaschenka-Karikatur in den sozialen Netzwerken inhaftiert worden. Vor Gericht sagte der ältere Mann dem Staatsanwalt und dem Richter, zwei pausbäckigen Mittdreißigern: „Sperren Sie mich nicht ein, die Ärzte sagen, in Haft werde ich sterben.“ Und doch steckten sie ihn ins Gefängnis. 

    Den 50-jährigen Witold Aschurak brachten sie einfach um, indem sie ihm alle Knochen brachen und ihn der Familie mit folgenden Worten übergaben: „Er ist unglücklich gestürzt.“

    Der 11. Juli 2023 war wieder ein tiefschwarzer Tag für Belarus: Während der Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe kam Ales Puschkin zu Tode. Er war nicht nur ein politischer Gefangener, er war ein Künstler, der uns das Land so malte, wie wir es uns träumten  mit einer schönen Vergangenheit und einer lichten Zukunft. Mit ihm raubten sie uns die Träume. 

    Zehntausende solcher Geschichten sind uns bekannt. Ihre Dokumentation ist kompliziert, da auch Menschenrechtler und Anwälte zu zigdutzend Jahren Haftstrafen verurteilt wurden und hinter Schloss und Riegel verschwunden sind. 

    Das wirft die Frage auf: Sind nur die Russen an dem Schuld, was bei uns vor sich geht?

    Um zehntausende Menschen zu erschießen, zu unterdrücken und zu töten, braucht man zehntausende andere Menschen, Landsleute, die bereit sind, ihre Mitmenschen brutal zu bestrafen. Woher kommen diese Menschen, wer sind sie?

    Ethnozid als Form des Genozids

    Das 500-jährige Russische Imperium, das in unterschiedlicher Gestalt auftritt (mal als Zarenreich, mal als UdSSR, mal als Putins Monster), verfügt über ein effizientes Instrumentarium zur Eroberung fremder Gebiete. Deshalb nimmt es auch ein Siebtel der Erdoberfläche ein. Die angewandten Methoden sind eine Kombination aus physischer Vernichtung der Eliten des eroberten Gebietes und der Auslöschung der Identität der anderen, ihrer Umerziehung zu Russen. Diese Taktik kann man hervorragend in der Ukraine beobachten: Die Eltern werden ermordet, zehntausende Kinder in die Tiefen Russlands gebracht, in Waisenlager oder Familien, wo sie indoktriniert werden, die eigene Heimat und Familie zu hassen. 

    Dasselbe ist in den vergangenen 229 Jahren mit den Belarussen passiert. Ihren Gipfel erreichte diese Politik im Jahr 1937, als die belarussische intellektuelle Elite ermordet wurde: Wissenschaftler, Künstler, Ärzte, Ingenieure. Allein am 29. Oktober 1937 wurden mehr als 100 Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler erschossen. Man verscharrte sie in Wäldern. Neben jedem Städtchen in Belarus gab es einen Erschießungsplatz, die Namen dieser Orte sind bekannt, die Erinnerung wird von der lokalen Bevölkerung und Aktivisten bewahrt. Erde vergisst nicht. 

    Der zweite Schritt des Genozids war die Zerstörung der belarussischen Sprache, Kultur und Bildung. Heute lernen Kinder in Belarus Russisch, belarussische Sprache und Literatur wird in einer Reihe von Fällen nur eine Stunde pro Woche unterrichtet. Auch eine belarussischsprachige Hochschulbildung ist nicht möglich, alle Universitäten sind russischsprachig. Menschen, die im Schoß der russischen Mentalität aufgewachsen sind, nehmen alles Belarussische als rückständige Dorfmacke oder feindseliges Attribut wahr.

    Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine, so ist auch bei uns eine Quasi-Besatzerverwaltung damit beschäftigt, die nationale Selbstidentifikation durch Beeinflussung ihrer Träger zu zerschlagen und zu zermalmen. Wer nicht aus dem Land geflüchtet ist, wird im Gefängnis sitzen. Und wer nicht im Gefängnis sitzt, wird stillhalten, aus Angst, seinen Besitz, die Kinder und die Arbeit zu verlieren. Denn das sind die Methoden. Die Kinder kommen in Heime oder Pflegefamilien, der Besitz wird durch die Forderung horrender Strafzahlungen aufgezehrt. So zwingt man die Menschen zu werden, wie Russland sie sehen will: Zu Menschen, wie sie in Luhansk, Donezk, in allen besetzten Gebieten leben. Zu einer Art Als-ob-Russen, zu Trägern der russischen Idee, aber in der Metropole doch nicht ganz akzeptiert. Die etwas schlechteren Russen, um die es nicht schade ist, aber die dennoch die Russische Welt vertreten, die den Zweck einer Pufferzone zwischen dem russischen Stammland und dem „verdammten Westen“ erfüllen. 

    Zu solchen wollen sie uns machen, wenn sie aktiv die ukrainische und die belarussische Identität vernichten. Bei uns ist derzeit ein so genannter „kalter Genozid“ im Gange – durch Druck und Repression–, bei den Ukrainern ein „heißer“, durch physische Vernichtung in ihren eigenen Häusern. Dieser Ethnozid ist mal kühl und berechnend, mal karikaturartig und dumm. Doch der Prozess unserer Ausradierung von der Erdoberfläche ist im Gange. 

    Wie leisten wir Widerstand?

    Aktive und sichtbare Formen des Widerstandes sind im Moment nur in der Diaspora möglich. Die Belarussen bilden Militäreinheiten, um auf der Seite der Ukraine zu kämpfen. Sehr bekannte Formationen sind das Kalinouski-Regiment, das Belarussische Freiwilligenkorps Pahonja. Unsere Bücher und Lehrbücher verlegen wir im Ausland, bilden dort unsere Kinder aus, sammeln Spenden für die Familien der politischen Gefangenen, die ohne Existenzgrundlage zurückgeblieben sind, ohne Einkommen droht ihnen der Entzug der Kinder. Wir sammeln Geld für diejenigen, die während der Proteste oder im Krieg verkrüppelt wurden. Wir haben unsere eigene Exil-Regierung und Strukturen in der Emigration. 

    Doch wie sieht es zu Hause aus? Durch die präzedenzlosen Repressionen ist offener Protest dort unmöglich. Für ein Like auf Facebook wird man zu mehreren Jahren Haft verurteilt, für das Abonnement eines Telegramkanals, für ein einzelnes Wort, oder auch einfach so, auf Basis einer Verleumdung. 

    Doch die Menschen haben verstanden, dass sie sich unter diesen Bedingungen vereinen müssen, zusammenstehen, einander helfen. Egal, in welcher Form. Es gibt Lesetreffs, Handarbeitsklubs, Vereinigungen junger Eltern, Gruppen von Tierfreunden oder Sportlern. Die Gesellschaft trägt die Erinnerung an 2020 in sich und strebt danach, sie zu bewahren. Die Menschen sind sich bewusst, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte stehen, und sind jederzeit bereit, wieder auszubrechen, um uns unser Land und unser Leben zurückzuholen. 

    Das Gericht der Zukunft

    Und eine weitere äußerst wichtige Arbeit ist im Gange: Für die Gerichte der Zukunft, zum Zweck der Lustrationsprozesse, werden die Namen der Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter, Gefängnisaufseher, Lehrer, Propagandisten und Denunzianten gesammelt, die die Schicksale von Menschen gebrochen, sie getötet, gepeinigt, erniedrigt und die Wahlen gefälscht haben. Nach der Befreiung von Belarus wird es einen großen Prozess zur Bestrafung des Bösen geben, wozu wir nach dem Zerfall der Sowjetunion weder die historische Zeit noch die historische Chance hatten. 

    Im Untergrund und in der Emigration wird an Gesetzen gearbeitet, auf deren Grundlage das prorussische, quasibesatzerische Regime Aljaxandr Lukaschenkas, die Autoren und Ausführenden der verbrecherischen Befehle, verurteilt werden. Auch für die Normalisierung des Lebens im Land werden Gesetze geschrieben: für ein repressionsfreies, weltliches Bildungssystem, für die Belarusifizierung des Bildungswesens und der öffentlichen Verwaltung, für normale Bedingungen der Presse- und Unternehmerfreiheit.


    In der kurzen Zeit der Freiheit von 1991 bis 1994, als nach dem Zusammenbruch der UdSSR das unabhängige Belarus entstand und der prorussische Diktator Aljaxandr Lukaschenka noch nicht an die Macht gekommen war, machte Belarus einen solchen Sprung nach vorn zur Freiheit, dass wir selbst aus dem Wundern nicht mehr herauskamen. Damals traten die jungen, hellgrünen Triebe unserer zukünftigen Freiheit und Blüte hervor. Vor unseren Augen entwickelten sich Kultur, Unternehmertum, freie Presse, eine gesunde Wirtschaft und Bildung. Jeder Mensch erkannte plötzlich für sich selbst die Möglichkeit und die Chance, das Leben nicht so zu leben, wie es Partei, Staat und Ideologie vorgaben, sondern so, wie man es selbst will. 

    Warum wählte die Gesellschaft damals Aljaxandr Lukaschenka?

    Es gibt ein Sprichwort: Der erste Blin misslingt. Und das war der erste und der letzte Blin, den wir selbständig einrühren und backen durften. In den rund 200 Jahren russischer Besatzung (mit kurzen Unterbrechungen durch andere Okkupanten, die Deutschen und die Polen) kannten die Belarussen weder freie Wahlen noch freie Presse. Es ist schlicht ein Wunder, dass wir überhaupt noch irgendetwas wollen, einen eigenen Lebenswillen und Wünsche haben, und uns selber Bliny backen wollen, anstatt aus fremden Händen gefüttert zu werden. 

    Im Jahr 1994, als bei den einzigen freien Wahlen Aljaxandr Lukaschenka an die Macht kam, herrschte in Belarus noch eine schwere Wirtschaftskrise, die Bevölkerung bestand zu 25 Prozent aus alten Menschen, denen keine Rente mehr ausbezahlt wurde. Der Staat hielt über 90 Prozent der Arbeitsplätze im Land und konnte die Löhne nicht mehr bezahlen. Und das, was noch ausgezahlt wurde, fraß die Inflation auf. Es war absehbar, dass die Krise in kurzer Zeit durch unternehmerische Initiative und kreative Arbeit der Menschen überwunden werden könnte. Doch die älteren und armen Wähler konnten nicht so lange warten. Als dann der Kandidat Lukaschenka auftauchte, der versprach, die postsowjetische Korruption zu besiegen, die Betrüger hinter Gitter zu bringen, die gigantischen sowjetischen Betriebe wiederzubeleben, Arbeitsplätze, Ordnung und Stabilität zu schaffen, stimmten sie begeistert für ihn. Den Menschen gefiel die Idee der starken Hand, die alles im Land für sie übernimmt und Ordnung schafft. Sie wussten noch nicht, dass ihnen die starke Hand mit der Zeit auch an die Kehle gehen würde. 

    Wie wir uns in einem totalitären Staat wiederfanden

    Lukaschenka erfüllte sein Versprechen, den Hungrigen Essen zu geben. Er ging sofort eine Union mit Russland ein, deren Bedingungen im Großen und Ganzen so aussahen: Belarus wird zum Vasallen Russlands, zum Bestandteil des Russki Mir, mit einer Dominanz der russischen Ideologie und Kultur, und Russland bezahlt den ganzen Spaß. Lukaschenka erhält dafür die uneingeschränkte Macht. So funktioniert es seit 1994. Bald 30 Jahre also. 

    Alle paar Jahre standen die Belarussen gegen das Regime auf, wofür es Zeugen und Belege gibt, Chroniken wurden geschrieben, Monitorings durchgeführt. Unermüdlich führten sie den täglichen Kampf. Doch es gelang nicht, das Regime loszuwerden oder wenigstens ins Schwanken zu bringen.

    Einige beschuldigen die freie Welt, die internationale Gemeinschaft, sie habe uns nicht genügend unterstützt. Diesen Gedanken teile ich nicht. Die westlichen Länder unterstützten unsere Opposition und unsere Kulturarbeit mit Geld, Beratung, Bildung und Öffentlichkeit. Diese Unterstützung war riesig.

    Gegen unsere Freiheit aber stand Russland, das all die Jahre, in denen seine Rohstoffe Hochkonjunktur hatten, darauf verwendete, in allen Teilen der Welt seine imperialen Projekte zu finanzieren. Allein in den letzten 29 Jahren gab Russland für die Unterstützung des belarussischen Regimes viele Milliarden Euro aus. Riesige Summen flossen in die Bestechung der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Westen – zum Beispiel für bekannte Agenten des russischen Einflusses in London, Berlin, Paris, Warschau, Prag oder in den Hauptstädten der Balkanstaaten. Diese Menschen und Organisationen sind öffentlich sichtbar und laut zu vernehmen. Darüber hinaus wurde russisches Geld zur Anwerbung von Agenten auf der ganzen Welt über die gewaltige und einflussreiche Struktur Rossotrudnitschestwo umgesetzt.

    All das hätte man vermutlich irgendwie überwinden können, wäre es nicht auch innerhalb der belarussischen Nation zu einer Spaltung gekommen. Denn während der Jahrhunderte der militärischen, kulturellen, wirtschaftlichen, mentalen und ideologischen Dominanz hat ein großer Teil unserer Nation die Mentalität des Russki Mir angenommen. Tatsächlich gibt es viele, denen es gefällt, in einem Imperium unmenschlicher Größe und alltäglicher Gewalt, Feindseligkeit und Bosheit zu leben.

    Deshalb haben wir verloren. Und für diese Niederlage haben wir mit dem abrupten Übergang vom autoritären zum totalitären Staat bezahlt.

    Der Unterschied zwischen einem autoritären und einem totalitären Regime ist bekanntermaßen kolossal. Während das autoritäre Regime seinen Untertanen sagt: „Macht in eurem Privatleben, was ihr wollt, Hauptsache, ihr mischt euch nicht in die Politik ein“, kriecht das totalitäre Regime den Menschen ins Bett, an den Tisch, ins Badezimmer. Wenn nötig, entzieht es dem Menschen den letzten Zipfel Privatheit und Intimität, um ihn am Ende auch um das Recht am eigenen Körper zu bringen. Den Tiefpunkt markierte wohl das totalitäre Kambodscha, in dessen Gefängnissen den Menschen verboten war, sich ohne Erlaubnis zu bewegen. Für eine unerlaubte Bewegung wurde man sofort getötet. Von zehntausenden Inhaftierten überlebten nur zwei Menschen diese Gefängnisse.

    Die belarussische Gesellschaft ist am letzten Ende des Totalitarismus angekommen, mit seinen höllischen Bedingungen. 

    Doch uns steht noch ein kleines Schlupfloch offen: Wir können in die Freie Welt fliehen. Natürlich nicht alle. Manche sind krank oder arm, manche in Haft, manche haben alte Eltern. Doch die Regierungen Litauens und Polens – Länder, die uns kulturell und historisch nahestehen – bestätigen, dass die Immigration aus Belarus seit 2020 um ein Mehrfaches angestiegen ist und weiterhin steigt. 

    Die belarussischen Machthaber schauten dabei bewusst weg und hofften, die aktiven, oppositionell eingestellten Menschen loszuwerden, den Gärstoff potenziellen Aufruhrs. Doch auch Fachleute, ohne die der Staat nicht mehr funktionieren konnte, begannen das Land zu verlassen. Einige Tausend Ärzte sind geflohen, ebenso Techniker und Wissenschaftler. Gestern traf ich in Warschau einen jungen Ingenieur, den sein Betriebsleiter nicht gehen lassen wollte. Man sagte ihm: Nein, du wirst hier arbeiten, nicht in Polen. Er ließ seine Dokumente zurück, wurde auf Grundlage des Arbeitsrechtskodex entlassen (was ihm einen Aktenvermerk einbringt, mit dem er in Belarus nie wieder in seinem Beruf eingestellt werden kann). Er sagte mir: „Ich will zum Fernfahrer umschulen und meine Familie herholen. In fünf Jahren bin ich schon zu alt, die Gesundheit lässt nach und ich komme nicht mehr weg, und die Kinder auch nicht.“

    Auch Programmierer verlassen das Land, auf die das belarussische Regime so stolz war, ihnen einen Technologiepark gebaut und vor der ganzen Welt mit ihrer Innovationskraft geprahlt hatte. Einer von ihnen kehrte nach Belarus zurück, um seinen Vater zu beerdigen. Er wurde an der Grenze festgehalten, sein Reisepass, die Karta Polaka und die Arbeitsgenehmigung geschreddert, damit er Belarus nicht mehr verlassen konnte. 

    Wird ein neuer Eiserner Vorhang an der Grenze zum Westen entstehen?

    Elemente davon gibt es bereits. Die Machthaber schaffen künstlich eine mentale und physische Kluft zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn – den Polen, mit denen wir einige Jahrhunderte in einem Staat gelebt haben. Um nach Polen zu gelangen, warten die Menschen 8 bis 24 Stunden an den Grenzübergängen, ihre Arbeitserlaubnis wird überprüft, oft wird ihnen die Ausreise verweigert. Selbst die Uhrzeit wurde auf die Moskauer Zeitzone umgestellt, der Unterschied zu Polen beträgt nun zwei Stunden. Wenn es zum Beispiel in Brest 11 Uhr morgens ist, dann ist es in Terespol nach 15-minütiger Fahrt entfernt, erst 9 Uhr. 

    Der gekochte Frosch

    Zu den Folgen des Lebens in einem totalitären Staat gehört nicht nur erlernte Hilflosigkeit, sondern auch Deprivation, die Verkümmerung der Fähigkeit, die psychischen, physischen und sozialen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch verliert das Gefühl für sich selbst, für seine Bedürfnisse. Wie in dem russischen Märchenfilm, den sie uns jahrzehntelang im Fernsehen gezeigt haben: „Frei oder nicht frei – ist doch einerlei“. Selbst die mutigsten, energischsten und brilliantesten Menschen lassen den Kopf hängen, kehren dem Engagement den Rücken, wenden sich ins Private, in eine andere Kultur oder versinken in Depression und Alkohol. 

    Ein Sänger, der während der Proteste in Belarus öffentliche Chorgesänge mit tausenden Menschen organisierte, sagte mir am 7. Mai 2023 in Warschau: „Ich organisiere keine Straßenchöre mehr. Es ist sinnlos. Unser Gesang hat überhaupt nichts gebracht.“ Dieser aufrechte, motivierte, starke Mensch hat sich nicht unterkriegen lassen, er hilft heute dutzenden belarussischen politischen Flüchtlingen, in Polen Fuß zu fassen. Ohne ihn wüssten ganze Familien nicht, an wen sie sich wenden können, wie sie eine Wohnung, eine Beschäftigung, eine Schule für die Kinder finden. Doch manche Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, essen und trinken viel, als wollten sie ihr Leben mit einem schleichenden Selbstmord beenden. Das tun viele, die die Hoffnung verloren haben oder sie Schritt für Schritt verlieren.

    Ich schreibe diesen Text im Wissen darum, dass Pawel Belawus, Inhaber eines auf die Nationalsymbolik ausgerichteten Souvenir- und Buchshops, der lange in Untersuchungshaft saß und auf seine Anklage wartete, schließlich beschuldigt wurde wegen „Verbreitung belarussischen Nationalismus“. Der Staat hat damit unterschrieben, dass er schon lange kein Staat mehr ist. Er ist eine antibelarussische, antinationale Besatzerverwaltung. 

    Ist das das Ende? Nein.

    Was kann uns also retten, abgesehen von den ukrainischen Streitkräften und ihren belarussischen Einheiten, die unseren gemeinsamen Feind vernichten, der seit Jahrhunderten unser Leben, unsere Freiheit und unser Glück vernichtet? 

    Einzig die Liebe. Es liegt in unserer Macht, unsere Identität zu bewahren. Wer keine Kraft hat, etwas zu tun, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, kann sie einfach in sich selbst erhalten, wie eine Flamme – die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu den eigenen Leuten. Aus diesem Flämmchen kann bei günstigen Bedingungen ein hohes, gleichmäßiges und starkes Feuer bis zum Himmel entbrennen – so, wie wir es 2020 gesehen haben, als sich zeigte, dass jedes Haus, jede Familie eine weiß-rot-weiße Flagge besitzt, für die man nun im Gefängnis landet, aus dem man vielleicht nie wieder heimkehrt. Die Liebe zur Freiheit, zum Schaffen, zur Selbstverwirklichung gibt einen starken Impuls. Wie ein belarussisches Sprichwort sagt: „Vom Geliebten bringen dich keine zehn Pferde weg.“ Wie die Seele eines Menschen zu seinem Kind fliegt, zum geliebten Menschen, zu den Eltern, zum heimatlichen Haus, so fliegt sie zum Belarussentum. Besonders, wenn es in Not und Unfreiheit ist. Das Wichtigste ist, die Hoffnung nicht zu verlieren. Und selbst in Schmerz, Deprivation, Hilflosigkeit und Leid muss man das Belarussische lieben und pflegen. Ohne groß nachzudenken, ohne Perfektionismus – denn das ist nur ein weiterer Ausdruck von Unfreiheit. „Ich werde der beste Belarusse von allen sein, ich werde alles retten, alle besiegen, ich werde ein Held und Aktivist sein, werde die Pflicht und die Erinnerung in mir tragen, und die superschwere Energie des Martyriums“ – das ist zu nichts nütze. Man muss lieben, ein fröhlicher Mensch sein. 

    Eines Tages wird es vorbei sein. Der Totalitarismus bricht immer unvermittelt zusammen, da er ein Feind der Liebe, der Freiheit, des Hedonismus und der Freude ist – all dieser leuchtenden Äußerungen der Menschlichkeit. Und dann, nach dieser schmerzhaften Impfung gegen Totalitarismus und fremde Ideologien à la Russki Mir, schaffen wir eine Partei, zum Beispiel zur Säuberung dieser ewig grauen Steinblöcke, die mit dummen Losungen bemalt wurden, renovieren in jeder Stadt die Rathäuser, die Märkte und Plätze, die unter der Moskauer Herrschaft abgetragen wurden, und kommt, lasst uns die Zwiebeln von unseren Kirchtürmen werfen. Wir machen Belarus wieder so, wie Gott es geschaffen hat, denn ohne es ist die Welt unvollkommen. Und wir nennen diese freie Partei nach Michal Aniempadystau – dem Künstler und Poeten, der Belarus wie kein anderer verstand. 

    Auch dann wird es nicht leicht werden, aber, wie ich schon weiter oben gesagt habe: Für das, was man liebt, kann man Berge versetzen und die Himmel neigen.

    Es lebe Belarus.

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  • Nebel und Utopie

    Nebel und Utopie

    Aliaxey Talstou, 1984 in der belarussischen Hauptstadt Minsk geboren, hat sich in seiner Heimat als Künstler, Kurator von Ausstellungen und als Autor einen Namen gemacht. In seinen künstlerischen Arbeiten beschäftigt er sich mit sozialen und politischen Themen sowie mit den Herausforderungen, die sich durch die Digitalisierung der Kommunikation ergeben. Seit 2009 hat Talstou, der mittlerweile in Deutschland lebt, zudem vier Romane geschrieben sowie Texte und Essays in belarussischen Literaturzeitschriften veröffentlicht.

    In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung rauscht Talstou durch verschiedene Etappen der belarussischen Geschichte, um herauszufinden, warum es zu den Protesten des Jahres 2020 kommen musste und warum sie letztlich doch nicht die alte Ordnung beseitigen konnten. Und er fragt sich: Wie kann es nach so viel Gewalt, Leid und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine weitergehen für Belarus? Welches politische System wäre denkbar? Welche Zukunft ist überhaupt möglich? Lässt sich dies in einer Zeit der Zerrüttung überhaupt beantworten?

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Ich habe kaum mehr ein Gefühl für Belarus, es ist sehr weit weg. Als stünde ich morgens auf einer Wiese und versuche, im Nebel etwas zu erkennen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und im feuchten Morgengrauen erahne ich nur seine Umrisse, bilde Erinnerungen daran nach. Das ist nicht leicht, und manchmal scheint mir, ich hätte all das nur in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen. Ohne neue Nachrichten, ohne Aktualisierung der gespeicherten Informationen verbirgt sich die Erinnerung im Nebel.

    Als nächstes frage ich mich, was ich dort überhaupt zu entdecken versuche. Worum geht es eigentlich? Um ein abstraktes Land aus Dokumenten und Normen, um eine Ansammlung von kulturellem Erbe, um ein Territorium, das nie ein Selbstbestimmungsrecht haben wird, oder um eine Nation, die irgendetwas zwischen einem Umschlagplatz von Werten ist und dem verzweifelten Versuch, die Einsamkeit des individuellen menschlichen Lebens zu überwinden? Ich versuche, meine Vergangenheit zu erkennen, meine Verbindung zu anderen Menschen, zu Orten, in diesem Nebel mein früheres Selbst.

    Und doch steckt etwas Vulgäres in dem Versuch, seine persönliche Biografie mit der Geschichte zu vermischen. Vielleicht ist es auch spannend, in der Kunst gibt es durchaus brillante Beispiele, in denen der Krieg von nur einem kleinen Menschen erlebt wird. Aber der Mensch ist stets mehr als Geschichte oder Geografie, mehr als Ideologie … Schaut man genau hin, wird man im selben Nebel statt der Geister der Vergangenheit die Geister der Zukunft finden. Doch inwieweit sich meine Zukunft mit der Zukunft irgendeines konkreten Landes deckt – da bin ich mir nicht sicher. Der Nebel der Zeit ist unsere gemeinsame Vorsehung, unabhängig vom Pass.

    Es ist rührend und tragisch, wie die Menschen mit ihrer Nationalität umgehen – was soll das Ganze. Rührend, weil man selten so eine Ehrlichkeit, so eine Besessenheit sieht, wie wenn jemand sich bemüht, uneingeweihte Gesprächspartner in Sachen Belarus weiterzubilden: wo es sich befindet, wie schlimm es dort ist, dass es die Revolution gab, die aber verloren wurde, und über die Menschenrechte und die politischen Gefangenen. Ich versuche mich zusammenzunehmen und nicht aufzugeben. Sonst wird daraus ein Free Theatre mit nur einem Darsteller. Darin steckt eine Tragik, denn für die Mehrheit der normalen Weltbewohner bleibt das Weiße Russland ein kaum bekanntes und nicht allzu interessantes Abstraktum.

    Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen

    Ein noch größeres Abstraktum ist allerdings Russland selbst. Einem populären Scherz Putins zufolge hat das Land keine Grenzen, und das entspricht seltsamerweise den recht allgemeinen Vorstellungen des Durchschnittseuropäers oder überhaupt Erdbewohners, denn kaum einer interessiert sich für Details. Belarus oder ein ähnliches Gebilde wird erst dann Gestalt annehmen, wenn das Imperium zu bröckeln beginnt. Wenn das Zentrum seine Anziehungskraft, seine Macht und seine Fähigkeit verliert, die Abstraktion aufrechtzuerhalten. Wenn die Geopolitik und die großen Narrative ins Schlingern geraten, tauchen neue Akteure auf, schwarze Schwäne. So war es 1918, als während des Ersten Weltkrieges unter deutscher Okkupation die BNR [Belarussische Volksrepublik] proklamiert wurde, so war es 1991, als die Sowjetunion zerbrach. Der heutige Krieg kann ebenfalls in diese Kategorie fallen.

    Doch momentan scheint die Zeit stillzustehen, und der Planungshorizont ist auf Wochen verkürzt. Zwei Jahre Überlebenskampf, die letzten neun Monate rabenschwarze Finsternis. In solchen Zeiten zu versuchen, etwas im Nebel zu erkennen, ist ein mutiges Unterfangen. Vor einem Jahr konnte man Diskussionen über das Belarus der Zukunft noch mit vollem Ernst und ohne Konjunktiv führen. Heute sind die Stimmen verhaltener, weil klar ist, dass nicht alle in die Zukunft mitgenommen werden. „Ins Pionierlager der Schule fahren im Sommer nur diejenigen, die es verdient haben. Die anderen bleiben hier“, so schreibt der Künstler Ilya Kabakov in seinem bekannten Text über den sowjetischen Schuldirektor und die Vorgesetzten, die entscheiden, wer eine Zukunft verdient hat und wer nicht. Wer entscheidet das heute?

    Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen, niemand schien mehr so recht an sie zu glauben und wir dachten, in wenigen Tagen wäre alles zu Ende. Etwas wie Freiheit lag in der Luft. Im Affekt hofften einige hunderttausend Menschen nicht nur auf Veränderung, sondern sie wussten, dass er da ist, der Point of no return, dass sie selbst diese Veränderung waren. Damals und kurz danach wurden viele Texte über den Sieg geschrieben, wurde über vieles gesprochen. Aber dann begann der Krieg, und das Wort „Sieg“ erhielt eine andere Bedeutung.

    Welche Alternativen gab es damals? Die Wahl zwischen einer unendlichen Sowjetzeit und einer national-liberalen Ungewissheit. Für das allgemeine Volk war es eher die Wahl zwischen Altem und Neuem, zwischen Autoritarismus und Demokratie, diesen einfachen, bewährten Dingen. Mir war es dennoch nicht gelungen, mein Herz und meine Stimme rückhaltlos einer der angebotenen Alternativen zu geben. So gern ich auch flammend geglaubt hätte, war es doch nur …, aber es wurde nur ein Kompromiss mit mir selbst, denn die Forderung nach Veränderungen kollidierte sofort mit der Option der regionalen Geopolitik: Russisches Imperium oder Empire nach Hardt und Negri, noch dazu mit einer Vorliebe für Realia aus den postsowjetischen Neunzigern.

    Schade, dass diese ganze Geschichte den traditionellen Werten des zwanzigsten Jahrhunderts verhaftet bleibt und die Gegenwart eher unwillig annimmt. Letztlich ist das aber heute auf der ganzen Welt so. In Belarus überdauert das 20. Jahrhundert in den sowjetischen Elementen des Offiziösen. Diese Tradition spricht also die ältere Generation an, die in den 1990ern drastische Veränderungen fürchtete und in angelernter Angst aufwuchs, indem sie vor dem Fernseher saß und alles für bare Münze nahm. Mir hat schon immer gefallen, wie beiläufig die Staatsideologie die Nachfolge der BSSR antritt, eines kolonialen Gebildes der Bolschewiki als Antwort auf Volksrepubliken wie die BNR und auf das Erstarken der osteuropäischen Nationen während des Ersten Weltkriegs. Diese Selbstkolonisierung fast direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, dieses Spiel mit der künstlich zurückgedrehten Zeit, mit der Restauration verdient eindeutig den ersten Preis in der Kategorie Erinnerungspolitik. Man könnte es fast als Kunstströmung betrachten, als tragisches Museumsdorf, oder einen Vergnügungspark wie in der Serie Westworld. Allerdings ist das Leben in der Fiktion unbequem, und noch viel unbequemer ist es, in ihrem Remake zu leben, in einer Fiktion zweiter Klasse.

    Als Viktar Babaryka im Wahlkampf 2020 vorschlug, die Verfassung in der Version von 1994 wieder einzuführen, war das auch schön. Einen neuen Start wagen, die postsowjetische Periode noch einmal von vorn beginnen, und nun die Sache wirklich zu Ende bringen. Formal war das gar keine so schlechte Idee, aber die Symbolik darin wirkte recht performativ, was wohl auch Absicht war. Für viele war 2020 eine Offenbarung, etwas Neues. Die Menschen hielten sich physisch im öffentlichen Raum auf, gemeinsam, sie sahen einander, und das war eine Überraschung. Andererseits folgte 2020 einer Tradition, die in der belarussischen Gesellschaft nicht minder verankert ist als das Narrativ der staatlichen Fernsehsender. Das ist die Tradierung einer (Art) Volksrepublik, die dem klassischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entsprang und über viele Jahrzehnte im Untergrund oder Halbuntergrund existierte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätte sie sich schnell wieder erheben und zum vollwertigen Nationalstaat werden müssen, aber etwas ging schief, und die Form blieb unvollendet. Die letzten zwanzig Jahre erfuhr diese Idee eine Evolution, erlebte Abenteuer, zeigte sich in Straßenprotesten, aber hauptsächlich sammelte sie ihre Kräfte in alternativen Kulturräumen, sozialen Initiativen, Medien und Trends. Dennoch ist sie ihrem Wesen nach eher diesem klaren und bekannten national-liberalen Modell verhaftet geblieben, das aus der Jugendzeit der oppositionellen Leitfiguren, die in der Mitte und zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Straßen rockten.

    Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt

    Als Teenager durfte ich die letzte Phase dieser Welt noch miterleben, 2000–2001 in Minsk. Für die subkulturelle Jugend war das eine Verquickung aus belarussischer Rockmusik, Partys und Straßenprotesten, eine Zeit der kulturellen Revolte gegen das alte System, die sowjetischen Überreste, die absolut idiotisch und sinnlos erschienen. Es war eine gute Zeit, um erwachsen zu werden und die erste politische Skepsis zu entwickeln. 2020 war diese Generation zwischen 35 und 45 Jahre alt, und mir scheint, dass in ihrem Protest auch ein nostalgisches Element steckt, eine leichte Trauer um die Hoffnungen, die doch nie wahr geworden sind. Die Zukunft, nach der sie sich damals sehnten, die sie auch tatsächlich lebten, die mit der Unabhängigkeit gekommen war – sie erhielt dreißig Jahre später eine zweite Chance. 

    Im vergangenen Jahr weckte ein Kommentar der Philosophin Tatiana Shchyttsova zu einer öffentlichen Diskussion zum Thema „Wirtschaftliche Reformen im neuen Belarus“ mein Interesse. Eine Frage, die sie sich nach dem Gespräch stellte – Welchen Typ des Kapitalismus wollen wir aufbauen? – klingt auch heute überaus aktuell. In ihrem Beitrag macht Shchyttsova auf die heftige Reaktion der anderen Podiumsteilnehmer auf das von ihr verwendete Wort „Kapitalismus“ aufmerksam. An der Verbindung der Wirtschaft mit Marktreformen und Privatisierung wird man nicht vorbeikommen. Viele der ersten Mitglieder des Koordinierungsrates repräsentierten die alte Wirtschaft, die paradoxerweise Arbeiter zum politischen Streik aufriefen. Das Problem ist nicht so sehr die Irrationalität solcher Aufrufe – in Momenten der Krise sind Analytik und Scharfsicht ein Luxus. Die zentrale Frage ist, ob der Protest 2020 im ideologischen Sinn radikale Transformationen angeboten hat oder doch nur die Rückkehr in eine alternative Vergangenheit, eine Änderung des Drehbuchs und eine Normalisierung der Geschichte?

    In diesem Gegensatz zwischen „Gut und Böse“, den ich immer noch im Nebel zu erkennen versuche, sehe ich trotzdem Kabakovs Schule mit ihren archetypischen Charakteren. Mit dem dauerstörenden Fünferkandidaten und dem fleißigen Lieblingsschüler. Wer wird mitgenommen in die Zukunft? Keiner. Erstens – sie haben es nicht verdient. Zweitens ist das Sommerpionierlager hier Teil einer pädagogischen Methode, wie die Möhre für den Esel. Und drittens, weil alle beide an die Existenz der Schule und des Direktors glauben, mitsamt ihren Regeln, die man befolgen oder auch brechen kann. Von der Schule hat uns vor fünfzig Jahren auch Foucault sehr detailliert erzählt. Interessanterweise kamen vor fünfzig Jahren auch die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten der Chicagoer Schule in Mode und riefen das neoliberale Modell ins Leben. In den Neunzigern „endete“ die Geschichte genau in dieser Tonlage, doch gerade die postsowjetische Privatisierung und Schocktherapie funktionierten in Belarus nicht im selben Maße wie in der Ukraine oder Russland, weil die lokale Zeit zurückgedreht wurde. Natürlich nicht ganz zurückgedreht, denn statt multinationale Konzerne anzusiedeln, wurde das Land selbst zum Konzern. 

    Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt. Das Russische Imperium zerfällt weiterhin, daher verschieben sich die Grenzen der Einflusssphären. Hier wiederholt sich der Zerfall früherer Imperien, doch das Imperium als Schuldirektor, als globales gesellschaftspolitisches Beziehungsmodell, in dem die Staatsmacht alles bis ins Letzte durchdringt, wird nicht abgeschafft. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass Belarus oder Osteuropa 2020 beziehungsweise auch jetzt keine Wahl hatten oder haben. Die freiwillige Unterordnung unter einen Aggressor und Ethnozid kann wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Diese Option ist nur in einer von der Wirklichkeit abgekoppelten, rituellen Kritik der westlichen Linken denkbar, die sich in völliger Ignoranz der eigenen Privilegien gegen die Erweiterung der NATO und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen aussprechen. Als hätte die Ukraine oder jemand hier [in Belarus – dek] gerade eine andere Wahl.

    Deshalb ist noch lange nicht garantiert, dass die Einserschüler mit ins Sommerlager fahren dürfen. Das Tempo der Waffenlieferungen in die Ukraine, das Hinauszögern von Terminen, die Unwilligkeit des Westens, auf einen schnellen Sieg zu setzen, erinnern mich ein wenig an Naomi Kleins Katastrophen-Kapitalismus. Eine maximal kontrollierte Schwächung von Russland und Belarus einerseits und die vorhersehbare Schwächung der Ukraine infolge des Krieges andererseits machen sie zukünftig alle abhängig von Investitionen von außen, binden ihnen die Hände und führen in gewissem Sinne zu einem Reload der Neunziger.

    Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten

    Eine der wahrscheinlich am wenigsten verstandenen Lehren des Jahres 2020 ist die netzwerkartige Struktur der zivilgesellschaftlichen Bewegung und ihr Streben nach Selbstkoordination. Die Menge an Selbstorganisation, Telegram-Chats und vielfältigen Unterstützungsinitiativen deckte wirklich ein sehr breites Spektrum ab, von eher zentralisierten Plattformen wie Golos bis hin zu den Innenhofchatgruppen von eher spontaner Natur. Die Wahlkampfteams der Kandidaten und die traditionelle Opposition waren darauf nicht vorbereitet und handelten daher halb nach Plan, halb aufs Geratewohl, ließen sich eher von der Erfahrung als vom Augenblick leiten. Denn auch wenn es um einen neuen Präsidenten und den Sturz des Regimes ging, sprach der August 2020 die Sprache der Dezentralisierung, der Nichtnotwendigkeit einer Autorität oder repräsentativen Figur. Wenn bei den Präsidentschaftswahlen eine absolut zufällige Person gewinnen kann, dann steht die Institution des Präsidentenamtes an sich in Frage. Wenn sich die Schüler ihr Pionierlager selbst organisieren können, wozu dann der Direktor? Und im Umkehrschluss: Solange der Schuldirektor existiert, existiert auch die infantile Masse, die unfähig ist, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

    Die Selbstorganisation des Jahres 2020 war die Reaktion auf eine Krise, speiste sich aber auch aus der Vision der Veränderungen, die die Wahlkampfteams und die Initiativen um sie herum vermittelten. Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten. Im Jahr 2020 war niemand bereit zu etwas Größerem, zu wirklich bedeutenden Veränderungen, weil es eben keine Visionäre gab: Die belarussische Opposition ist überwiegend im neoliberalen Modell ausgebildet und entstammt überwiegend dem neoliberalen Modell …, sie ist mit westlichen Stiftungen und Strukturen verbunden, die ihre Grundlage darstellen. Zwei Jahre später lässt der Krieg in der Ukraine der Region keine Wahl mehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der Faktor der Ermüdung von der Krise, vom Terror, von Diktatur und Krieg. Im Schockzustand ist jede Normalisierung und Stabilität besser als unbekannte Luftschlösser. Nichtsdestotrotz ist eine reale Zukunft nur durch utopisches Denken und politische Vision möglich, nur durch den ewigen Traum von der idealen Welt.

    Kann man aus der Diktatur direkt zu einer anarchistischen Konföderation wechseln? Es gibt solche Fälle, doch dem Direktor gefällt so etwas nicht. Die Utopie kann man als Methode einsetzen, um neuen Formen der sozialen Organisation Impulse zu geben. Es gibt recht detailliert ausgearbeitete Prinzipien für die Arbeit von Generalversammlungen, Konsenssystemen, zahlreiche Beispiele für Selbstverwaltung. Kombiniert mit den Möglichkeiten digitaler Technologien, dezentraler Netze und Automatisierung können sie durchaus für den Aufbau einer alternativen Zukunft genutzt werden, die von konkreten Autoritäten und Vorgesetzten unabhängig ist. Oder wenigstens in geringerem Maße abhängig. Jegliches System der personifizierten Macht oder der bürokratisch-oligarchischen Führung ist ein Erbe der Vergangenheit, die noch immer nicht enden will, ein Produkt dieses Schlafes der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, dieser erlernten Hilflosigkeit, die in der Familie beginnt und auf dem Friedhof endet. Aber die Zukunft liegt jenseits dieser disziplinierten Ordnung. Sie liegt in der Fantasie, in der Vision, in einem gewissen Mut, alles Alte kritisch zu betrachten, Prioritäten umzuformulieren und einander wahrhaftig zu treffen, einander endlich kennenzulernen, übereinander zu staunen, wie es im August 2020 geschah. Die Zukunft beginnt vermutlich dann, wenn sich der Nebel lichtet.

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  • Ich werde euch gleich zeigen, woher die belarussische Zukunft kommt!

    Ich werde euch gleich zeigen, woher die belarussische Zukunft kommt!

    Siarhej Kalenda, geboren 1985, ist ein belarussischer Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, er ist zudem Herausgeber der Zeitschrift Makulatura, deren Ziel nach eigener Aussage die Entwicklung der belarussischen Kultur unter Überwindung sprachlicher Grenzen ist. Kalenda gründete die Zeitschrift im Jahr 2012. Seit 2018 heißt sie Minkult. 
    Wie tausende Belarussen hat Kalenda seine Heimat im Zuge der Repressionen nach 2020 und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verlassen. Aktuell lebt er im litauischen Vilnius, wo er als Friseur sein Geld verdient. Für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung spürt Kalenda in seinem Essay den Ereignissen nach, die Belarus nach 2020 durchgeschüttelt und in eine tiefe Krise gestürzt haben: dem Aufschrei in den Protesten, der Gewalt durch Polizei und Staat, den Repressionen, schließlich dem Krieg im Nachbarland. Wie lässt sich aus all dem und aus der historischen Erfahrung, die die Belarussen geprägt hat, ein Gedankengang in die Zukunft entwickeln?

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Belarussische Realität, Politik und Weltanschauung, das heißt: angegriffen, angeklagt, bedroht, beschimpft werden als Terrorist, als Faschist, als Fünfte Kolonne und Nationalist. Die Begriffe sind in diesem Land so verzerrt, alles ist so auf den Kopf gestellt, dass aus Frauen mit Blumen in einer Solidaritätskette Terroristinnen werden, die sich dem Westen anbiedern und der blühenden Republik Belarus den Tod wünschen. Die Institution, die eigentlich Verbrecher fassen und Straftaten, Diebstähle und häusliche Gewalt aufklären soll, schlägt jetzt Fensterscheiben von Kaffeehäusern ein, in denen sich Jugendliche mit weißen und roten Ballons verstecken, und stürmt nachts die Wohnungen einfacher Bürger, um sie aus den Betten zu reißen. Es ist ein Land der Rache und des Bösen, und das nehmen auch meine Kinder wahr, die sich umschauen und mich fragen: Warum schlägt die Polizei die Menschen, sind sie etwa schlecht?

    Bedarus – das ist kein Tippfehler, beda heißt Not – hat in diesem Zustand und bei der gegenwärtigen Entwicklung der Ereignisse keine Zukunft. Der Diktator hat sich innerhalb von dreißig Jahren in einen furchtbaren, blutrünstigen Clown verwandelt, einen boshaften alten Mann, der so verlogen, so korrupt und so zynisch ist, dass er der Ukraine nonchalant zum Unabhängigkeitstag gratuliert, während die Raschisten (so nennen wir sie jetzt) täglich von belarussischem Territorium aus Raketen auf die Ukraine abfeuern.

    Vor längerer Zeit habe ich begonnen, Geschichten von gewöhnlichen Belarussen zu sammeln, von Beamten und Werksleitern, und ich habe begriffen, dass das Land in diese allumfassende Krise geraten ist durch Menschen, die nach folgenden Prinzipien leben: sich bloß nicht hinauslehnen, tun, was einem gesagt wird, mein Name ist Hase, besser Befehle ausführen als selbst denken, keine Initiative zeigen, was werden sonst die Nachbarn sagen?  Mit all diesen Volksweisheiten wuchs auch ich auf, meine Großmütter lehrten mich das, aber schon meine Mutter stellte all diese Thesen in Frage, und durch solche wie sie entstand eine neue Generation, die mutig und frei ist. Diese neue Jugend entwickelte sich parallel zu einem anderen Teil der Gesellschaft, der den sowjetischen Lebensstil mitsamt seinen sklavischen Prinzipien fortführte.
    „Bloß keinen Krieg“ – das war für alle das zentrale Mantra, es flößte Furcht ein, wollte Unterordnung und hielt einen davor zurück, sich zu weit hinauszulehnen.
    Das Buch mit den Geschichten über gewöhnliche Belarussen habe ich nie geschrieben, nur einen Titel hätte ich schon: „Wie wir alles in die Sch*ße geritten haben“.

    Eine neue, vernünftige Generation ist herangewachsen. Die Hälfte von ihnen hat das Land verlassen – Menschen, die dieses furchtbare und schwere Schicksal, in einem unterjochten Land zu leben, ändern wollten. Die andere Hälfte ist verstummt, doch hoffentlich nicht für immer. Man darf nicht vergessen, dass diese neue Generation parallel zu einer anderen neuen Generation entstanden ist, die alle diktatorischen Tendenzen und Sichtweisen unterstützt. Wir haben also zwei Belarus: eines von Zichanouskaja und eines von Lukaschenka, und eigentlich sollte unserem Land eine schöne Zukunft blühen, denn es gibt eine Entwicklung, die wieder einmal gezeigt hat, dass die belarussische Kultur genauso wenig auszulöschen ist wie unser „Ihr haltet uns nicht auf! Ihr unterdrückt uns nicht!“
     
    Doch ich möchte ganz am Anfang beginnen, mit dem, was ich aus meiner Kindheit mitgenommen habe, als mein Vater dem Streikkomitee beitrat und sich am Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft im MAZ-Werk beteiligte, als er mit Massen von Arbeitern demonstrierte, bewaffnet mit Brechstangen und  Schraubenschlüsseln, und sich unterwegs weitere Gruppen ihren Reihen anschlossen: vom MTS-Werk, aus der Kugellagerfabrik … Die Arbeiter drängten ins Zentrum, zur Roten Kirche. Plötzlich war es möglich, sich frei zu äußern, die Sowjetunion war vorbei, es gab nur noch uns, lebendige Menschen, die glücklich sein wollten anstatt dahinzuvegetieren. Doch auf die Straßen zu gehen, war nicht genug, denn die Menschen, die die Entscheidungen trafen, waren nicht da, sondern saßen in ihren Amtsstuben …

    Ergebnis dieser ersten Kundgebungen der 1990er Jahre war: Clinton kam zu Besuch, schüttelte demonstrierenden Hauptstadtbewohnern die Hand und reiste wieder ab. Dann kam Lukaschenka, ließ schon damals die Luft erzittern mit seinen Ankündigungen, er werde allen zeigen, wer den Staat bestiehlt, wer Schuld ist, dass die Löhne so niedrig sind, und wedelte sogar mit irgendwelchen Akten, als hätte er Beweise. Alle hörten ihm zu, sahen im Hintergrund die weiß-rot-weiße Flagge und beruhigten sich. Dieser junge, schnurrbärtige Kerl im zu großen Anzug versprach den Belarussen damals noch das Blaue vom Himmel. Und die Belarussen schliefen getrost ein, um schließlich in der BSSR-2 zu erwachen, einer Version aus Kommunismus, verrührt mit Kolchosgewäsch und Schizophrenie.

    Ich hatte in meiner Kindheit und auch in der Schule mit lauter freien jungen Menschen zu tun, die von den besten Lehrern unterrichtet wurden. Wir durften streiten und Gedanken äußern, die allgemein anerkannten Ansichten zuwider liefen. Meine Mutter sagte zuhause immer, dass man eine eigene Meinung und eine eigene Sicht auf alles in der Welt haben soll und besser allem mit Skepsis begegnet, besonders, wenn es von einer Bühne, einem Lehrerpult oder einer Tribüne herab verkündet wird, und dass man den eigenen Kopf zum Denken hat. 

    Die Generation meiner Eltern wuchs mit einem kaputten Ego auf, denn in der UdSSR gab es nicht nur keinen Sex, sondern auch kein Ich. Vielleicht erzogen sie uns deshalb zu freiheitsliebenden Menschen, die als Erwachsene nicht in einer Sklavenwelt leben wollen und das Böse bekämpfen. Belarus ist das Land der Partisanen, freier Menschen, die bereit sind, sich im Wald zu verstecken, bis ihre Zeit gekommen ist, in der sie sich rächen und die einfachsten Dinge für sich beanspruchen: ein besseres Schicksal, Brot und ihr eigenes Land. Daher übernahmen wir ab der Oberstufe den Protest unserer Eltern, schlossen uns den Menschenketten auf dem Bahuschewitsch-Platz an, als es schwierig wurde, den Bullen über die Anhöhen zu entkommen – so kriegten sie uns, Sechzehnjährige, dennoch nicht. Während des Studiums demonstrierten wir auf dem Platz, schlugen Zelte auf, um zu zeigen, dass das unser Hier und Jetzt ist, dass die Stadt und das ganze Land uns gehören – und wir wurden alle verhaftet, geschlagen, eingebuchtet. Wir wurden von der Uni exmatrikuliert, aber nicht so öffentlich und grausam, wie es seit 2020 geschieht. Man muss auch sagen, dass damals die Dozenten und Professoren die Studenten noch beschützten, indem sie uns Alibi-Bestätigungen ausstellten, laut denen wir zur Zeit der Proteste Prüfungen absolviert oder an Konferenzen teilgenommen haben …
     
    Ich durfte selbst eine Zeit erleben, in der Europa sich für Belarus zu interessieren begann, in der Touristen nach Minsk kamen, in der die Infrastruktur entwickelt und verbessert wurde. Im Stadion begrüßten wir die englische, die schottische und die deutsche Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft BATE spielte in der Europa League. Britische Franchise Stores wurden aufgemacht: Mothercare, Fashion Bar, Toni&Guy. Deutsche Investoren und Bauunternehmen kamen zu uns. Belarus war nicht mehr nur für Russland und eine Handvoll arabischer Staaten interessant. Es gab einen unausgesprochenen Konsens mit den Machthabern, dass kulturelle Entwicklung sein darf, nicht nur populäre Unterhaltungsinfrastruktur, sondern auch Ausstellungen, Konzerte und Literatur.
    Unglaublich schnell, innerhalb weniger Tage und Monate, entstand bei uns ein richtiges, vollwertiges Leben – im eigenen Land. Aber … aber nur bis zu den nächsten Demonstrationen, bis zu neuerlichen Protesten, und schon wurden wir wieder in die Vergangenheit gedrängt und wunderten uns, wie kann das sein?! Wie kann man im 21. Jahrhundert Menschen so foltern und töten, wie kann man Sprache und Bücher verbieten? Ganz einfach: Gebt einem Menschen das Machtmonopol über die Industrie, über das ganze Land, gebt ihm Zeit, sein Umfeld aufzubauen mit kastrierten Beamten und dummen Militärs, und ihr werdet niemals frei sein, sondern immer nur abhängig vom furchtbaren, blutrünstigen russischen Nachbarn, in Geiselhaft eines einzelnen kranken alten Mannes.

    Jedes einzelne Jahr trägt für die Belarussen eine Markierung. Sie durchleben scheinbar mehrere Jahre in einem, denn es gelingt ihnen sich aufzurappeln, Mut zu fassen, Leben und Arbeit aufzunehmen, nur um dann wieder aus der Bahn geworfen zu werden und alles von vorn zu beginnen – und hier liegt die zentrale Erkenntnis: Belarus hat eine Zukunft, eine starke, mutige und vor allem erfahrungsreiche Zukunft: Beim nächsten Präsidenten wird sich das Land nicht so leicht hinters Licht führen lassen. Das Wichtigste ist, dass das Volk selbst über sein Leben und seine Regierung bestimmen kann. 
    Die Belarussen schwingen auf ihrer eigenen geografischen und geopolitischen Schaukel, und bislang hat es noch niemand geschafft, uns herunterzustoßen. Ja, wir pendeln zwischen Terror und Wiedergeburt hin und her, doch irgendwann wird die Schaukel sanfter schwingen und nicht so weit ausschlagen, dann werden wir um die Wahlen ringen, ruhig und mit Bedacht, und Straßenmusiker werden singen und Schaulustige auf dem Pflaster versammeln, das endlich unter dem festgefahrenen Asphalt hervorgeholt wurde, den allzu oft Paradepanzer zerfurchten.
     
    Während des Großfürstentums Litauen, der Polnischen Adelsrepublik, des Russischen Imperiums und der Sowjetunion blieben Belarus und die Belarussen stets mit ihrer Sprache und ihrer Tracht bestehen, sie überlebten inmitten von anderen Sprachen und Kulturen. Dank ihrer Einzigartigkeit überstanden die Belarussen das alles, ihr nationaler Code bahnte sich seinen Weg durch andere Wurzeln, und jedes Mal, wenn wieder ein Tyrann alles ringsum niedergebrannt hatte, keimten die Sprossen mit der Zeit wieder von Neuem.

    Im Moment sieht alles wieder nach Terror aus, nach Unterdrückung alles Belarussischen, Nationalen, Kulturellen. Viele, die auf Lukaschenkas Seite stehen, betrachten Kultur als nachrangig – andere Dinge seien wichtiger – und verhängen munter weiter Gefängnisstrafen wegen „Präsidentenbeleidigung“ gegen Künstler, Musiker, Bergarbeiter, Journalisten und Schriftsteller. Ohne Kinos und Museen kann man leben, Galerien brauchen wir auch nicht, Hauptsache, alle haben ihre fünfhundert Dollar Mindesteinkommen und was zu essen.
    Eine düstere, furchtbare und hoffnungslose Zeit ist angebrochen, doch alles, was war – Kundgebungen, Märsche, Hofinitiativen, unser Kampf mit Blumen und Umarmungen gegen das Böse –, zeugt von einer neuen Generation, die dieses Chaos und diese Banditen ablösen wird, die hier alles auf den Kopf gestellt und verbogen haben: Wir retten hier zusammen mit dem illegitim gewählten Präsidenten das Land vor euch Faschisten und Terroristen! „Sprich normal mit mir, Missgeburt!“

    Um die aktuelle Situation einzuschätzen, reicht die Feststellung, dass im Land ein furchtbarer Genozid passiert – eine Verfolgung von Sprache und Kultur, Gedankenfreiheit und Lebensweisen … Doch andererseits gibt es in allen Ländern der Welt eine belarussische Diaspora, es gibt finanzielle Unterstützung für Kulturprojekte im Ausland, Hilfe für alle Menschen. Für den Preis der Kundgebungen und des Staatsterrors haben wir unseren Zusammenhalt und unsere Würde, und die werden uns und unserer Kultur für immer erhalten bleiben.

    Wir Belarussen tragen eine schwere Last, wir mussten oft in anderen Kulturen, Zivilisationen und Imperien überleben, doch wir haben uns selbst, unsere Sprache und unsere Wurzeln nie vergessen. Und wenn wir von Identität sprechen, so leben überall auf der Welt Menschen, die sich liebevoll an ihr Leben in Belarus erinnern, an den Himmel, die Wälder, Felder und Flüsse, und die jederzeit gern bereit sind zurückzukehren und ihr Land neu zu bauen, ohne Tränen und verkrampfte Finger.

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  • In Belarus leben

    In Belarus leben

    In der Sowjetunion wurde über den Terror der Stalin-Zeit so gut wie nicht gesprochen, selbst in Familien wurden die schrecklichen Geschichten über ermordete und verschwundene Angehörige wie ein Tabu behandelt. Die Autorin unseres neuen Essays in unserem Projekt Spurensuche in der Zukunft, die unter dem Pseudonym Wolha Waloschkina schreibt, beschäftigt sich in ihrem aufrüttelnden Text mit der Frage, was die verdrängte Gewalterfahrung auch mit der Gesellschaft in ihrer Heimat, in Belarus, gemacht hat und macht. Denn auch die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko nutzen Gewalt und Repression, um Andersdenkende zu bekämpfen und letztlich ihre eigene Macht zu bewahren. Vor allem seit den Protesten des Jahres 2020 hat sich diese Staatsgewalt und damit ihre Unterdrückungsmethoden nochmals radikalisiert. Dazu kommt der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine auch von belarussischem Territorium aus führt.
    Wolha Waloschkina beschreibt, wie es ist, mit dieser Gewalterfahrung zu leben, und sie fragt sich, wie diese Gewalt und damit die postsowjetischen Diktaturen überwunden werden können, um eine andere Zukunft zu ermöglichen.

    Russisches Original
     

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Dieser Text gehört für mich zu den schwierigsten, die ich je geschrieben habe. Ich habe damit mehrere Monate verbracht, im Sommer 2022. Einige Bilder erschienen mir im Traum, ich schrieb und löschte ganze Absätze, öffnete und schloss die Datei, las bereits Geschriebenes wieder und wieder, ich tauchte in politischen Nachrichten ab, eine Stunde am Tag lag ich nur auf dem Sofa und starrte an die weiße Zimmerdecke. 

    Ich trug den Essay über das Leben in Belarus stückchenweise zusammen. Wie auch mich selbst.

    Warum sträubte sich alles in mir gegen diese Aufgabe? Es ist schwer, aus der Diktatur heraus mit der eigenen Stimme zu sprechen. Zudem wehrte sich meine Psyche hartnäckig gegen die Erfahrung existenziellen Horrors: In einer zerrissenen Welt kann man nicht leben, die zweigeteilte Realität ist unerträglich, die Ungewissheit der Zukunft zermürbt. Als pulsierte in mir ein schwarzer, sehniger Knoten, in dem all das Entsetzen und die Wut komprimiert und meine persönlichen Traumata für immer mit den (geo)politischen verwoben sind. Doch auf paradoxe Weise kristallisieren sich dort auch meine Werte heraus und konzentriert sich meine schöpferische Energie. In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel geschrieben, auf Russisch und auf Belarussisch, und ganz anders als vorher. Und ich konnte in mich gehen und stundenlang zeichnen.


    1.

    „Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr im Kommunismus leben!“ – erklärt die betagte Lehrerin den Erstklässlern in der ersten Unterrichtsstunde feierlich. Ich bin sechseinhalb Jahre alt und sitze in Paradeuniform in der Schulbank. Große Augen, Zöpfe mit blauen Schleifen, adrette weiße Schürze und braunes Wollkleid (das heftig kratzt). Für jede Bestnote klebt die strenge und gerechte Lehrerin einen roten Sowjetstern auf den Deckel des Schulheftes. Ich war eine Einserschülerin, und meine Hefte sahen aus wie Breshnews Brust, voller Orden. 

    Dabei war zu Beginn der 1980er das Versprechen des Kommunismus bereits ein naiver Anachronismus, kaum einer glaubte an seinen Aufbau. Vor den Fenstern der Schule zog Breshnews real existierender Sozialismus vorbei. So hieß es offiziell, und das bedeutete: Die Partei macht sich die Hände nicht schmutzig, den Kommunismus sollen die nachfolgenden Generalsekretäre aufbauen, und Breshnew ist ewig. Bald würde ohnehin alles zusammenbrechen, doch das wusste damals noch niemand. 

    Die Schule war so neu wie das ganze Viertel am Minsker Stadtrand mit seiner komplexen Geometrie neun- und zwölfstöckiger Wohnblöcke. Im Mai war alles ringsum mit grünem Gras und gelbem Löwenzahn bedeckt. 

    Das Viertel war am Stadtrand anstelle einiger Dörfer errichtet worden, deren Einwohner in den neuen Häusern ebenfalls Wohnungen bekamen. Aus dem alten Wald rund um diese Dörfer wurde ein Park für Spaziergänge. Im Frühling war er voller weißer Schneeglöckchen. Und an den Maifeiertagen saßen ganze Familien in diesem Wald auf Decken, grillten am Lagerfeuer Fleisch und tranken. 

    Jenseits der Ringautobahn ging dieser Kiefernwald weiter – da war der Ort, an dem Ende der 1930er Jahre Massenerschießungen stattfanden. Heute kennt man ihn als Kuropaty. Auf Befehl des NKWD wurden nachts Gruben ausgehoben, die Tschekisten brachten in Transportern  die Verurteilten herbei, stellten oder legten sie reihenweise auf und schossen ihnen in den Hinterkopf. Und in der nächsten Nacht die nächste Fuhre … Noch heute liegen dort zehntausende namenlose Körper unter der Erde. Viele Jahre blühten auf ihnen im März die weißen Schneeglöckchen, die auf Belarussisch praleski heißen, hier aber kurapaty genannt werden. 

    Vor der Perestroika wurde über Kuropaty nicht laut gesprochen und schon gar nicht geschrieben. Und doch hatten die ehemaligen Dorfbewohner eine Ahnung, vielleicht hatten es  die Alten ihnen zugeflüstert. 

    Nach dem Unterricht wurden die Grundschüler auf die Waldlichtung geführt, wo wir alles machen durften, außer nach Hause laufen. Wir begannen, uns Gruselgeschichten auszudenken, setzten uns in einen Kreis und erzählten: An diesem Klettergerüst darf man nicht baumeln – da hat sich vor Kurzem einer erhängt. In dem schmutzigen Rohr unter der Autobahn liegt ein menschliches Herz (ich habe es mit eigenen Augen gesehen). Im Wald gab es viele Wege und Pfade, Gräben und Erdhügel, und wir munkelten, das sei ein Friedhof ohne Kreuze. Und die Schaschlik-Griller saßen auf Gräbern, direkt über den Schädeln. 

    Das Schaurige zeigte sich uns Kindern der späten „Stagnation“ in der Luft, in Gerüchten und Geflüster, es war immer und überall. Sowjetische Kinder liebten Schauermärchen. Von der Frikadelle in der Schulkantine, in der jemand einen Fingernagel gefunden habe, weil im Keller ein riesiger Fleischwolf stehe, der aus Menschen Hackfleisch mache, vom Pionierhalstuch, mit dem ein Mädchen erwürgt worden sei, vom Sarg auf Rädern (Gefangenentransporter?), der in der dunklen Nacht durch die Stadt fahre und sich langsam deinem Haus nähere … In einem Keller in meinem Viertel lebten Skelette, die Passanten bei lebendigem Leibe die Haut abzogen und sie in ebensolche Kellerbewohner verwandelten. Jemand habe unmenschliche Schreie gehört. Und hüte dich davor, dich nachts diesem Keller zu nähern – dort häuten sie dich!


    2.

    Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, meine Kindheit ist 40 Jahre her. Wir dachten, die Zeit sei vorangeschritten, hin zu Biotechnologie, Robotern, virtuellen Welten und neuen Problemen. Doch plötzlich erhob der Archipel GULAG seinen Rücken, überwuchs mit klebriger Haut und stieg aus den Tiefen, um alles umher zu vernichten und zu vergiften. All diese Jahre hatte das Monster, vom stalinschen Totalitarismus genährt, seine Zeit abgewartet. Nun zermalmt es wieder Menschen.

    Tatsächlich kam seine Wiederkehr gar nicht so unerwartet. Weder in Belarus noch in Russland hatte man das Monster je offiziell verabschiedet. Statt eines historischen Gedenkens an die Traumata der sowjetischen Vergangenheit nur Risse, Schweigen und schizophrenes Stückwerk.

    Ein Beispiel: In der Nähe von Minsk entstand im 21. Jahrhundert die Stalin-Linie, offiziell ein staatliches Museum für sowjetische Militärtechnik, ein sogenannter „historisch-kultureller Komplex“, aber auch eine touristische Attraktion. Hier kann man Selfies mit sowjetischen Panzern machen und in einen Panzerzug klettern. Es gibt auch eine steinerne Stalin-Büste, vor der Patrioten (so steht es auf der Webseite) Kränze und Blumen niederlegen.

    Am anderen Ende der Stadt liegt die Gedenkstätte Kuropaty. Nach Ausgrabungen, Publikationen, öffentlichen Aktionen und der dritten staatlichen Kommission seit Beginn der 1990er führte an der Anerkennung Kuropatys als Gedenkort für die stalinschen Repressionen  kein Weg mehr vorbei. Doch ständig passieren hier dubiose Geschichten. Zuerst wurde ganz in der Nähe ein Schnellrestaurant eröffnet (was in Belarus nie ohne behördliche Erlaubnis geschieht) – mit Blick auf eine Reihe hölzerner Gedenkkreuze am Waldrand. Dann wurde die Ausgestaltung des Geländes angeordnet, die mit der Entfernung der Kreuze begann, weil sie von den Aktivisten angeblich ohne Genehmigung aufgestellt worden waren. Das war 2019, eine symbolische Geste des Staates: Nur der Staat darf bestimmen, woran und wie sich die Belarussen erinnern.

    Kommen wir zu einem schönen, in zarter Pastellfarbe gestrichenen Gebäude mit Säulen und einer riesigen Eisentür im Stadtzentrum: der belarussischen KGB-Zentrale. Wie ein ehemaliger Häftling in einem öffentlichen Interview erzählt hat, finden sich dort in allen Verhörräumen Spuren des Kults um Felix Dsershinski – Porträts, Büsten, Zitate. Und gleich um die Ecke ist der Dsershinski-Klub, wo man laut Webseite ein Bankett bestellen kann.

    Im selben Stadtviertel steht der Pischtschalowski-Palast, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das auf dem Stadtplan des Online-Portals Yandex als historische Sehenswürdigkeit markiert ist. Manchmal interessieren sich Touristen, die mit belarussischen Realia nicht vertraut sind, für eine Besichtigung. 

    „Wie kann ich eine Führung im Pischtschalowski-Palast buchen?“, fragte kürzlich jemand im Chat.

    Die ehrliche Antwort von Belarussen:

    „Stellen Sie sich mit einer weiß-rot-weißen Flagge davor, und Sie werden sofort hereingebeten.“

    Dieses Gebäude wird seit mehr als 200 Jahren als Gefängnis genutzt, aktuell als Untersuchungshaftanstalt. Zudem werden dort, glaubt man Gerüchten, Todesurteile vollstreckt. Seit 2020 gehört die Mehrzahl der Gefangenen, die hier auf ihren Prozess warten, zu den „Politischen“. Also zu Menschen, denen eine Verurteilung wegen Andersdenken und Widerstand gegen das Regime droht. 
    Wenn es einen Touristen an diesen historischen Ort verschlägt, sieht er einen hohen Zaun, Stacheldraht, Sicherheitskräfte und eine lange Schlange von Menschen, die Päckchen übergeben möchten. Fotografieren ist hier verboten.


    3.

    Wie lebt man hier zwei Jahre nach der Revolution von 2020? Die Realität ist zweigeteilt.

    Einerseits die stickige Stadt, die Hitze, die sengende Sonne, die Sandalen bleiben am Asphalt kleben. Aus meinem Fenster sehe ich den Himmel, ein Konvoi aus Wohnblöcken und das Stadion. In dessen Mitte hat ein einsamer Belarusse sein Handtuch auf dem Gras ausgebreitet und liegt in Unterhose und Sonnenbrille da, holt sich seine Ration Bräune und Vitamin D, um das kommende Halbjahr mit grauem Himmel, Matsch und Nebel gesund zu überstehen. Es wirkt wie eine Geste belarussischer Dickköpfigkeit: kein Urlaub, kein Visum, zu heiß, um quer durch die ganze Stadt zum Strand zu fahren – also genießen wir den Sommer unter gegebenen Umständen und denken uns Meer, Wellen und Sand einfach dazu. 

    Das Leben sprudelt. Menschen erledigen Geschäfte und Einkäufe, in Unterführungen und an Metroausgängen breitet sich der urwüchsige Handel aus: Rentnerinnen, Kleingärtner und Kolchosbauern stehen reihenweise da und verkaufen den Städtern, was sie in ihren Gärten ernten. 

    Bei einer alten Frau kaufe ich einen Becher Blaubeeren, rühre sie in mein Eis und esse es genüsslich mit einem Teelöffel. 

    Andererseits werden jeden Tag Menschen festgenommen – für Likes in Sozialen Medien, für Stadtführungen, für das Abonnement von Telegram-Chats, dafür, dass sie 2020 schon einmal 15 Tage für die Teilnahme an Demos gesessen haben. Die Gerichte und andere Strafverfolgungsorgane übererfüllen den Plan. Einfach so nimmt man dir deine Lebenszeit und deine Gesundheit. Schrecklich, sich vorzustellen, wie stickig es damals in den vollgestopften Gefängniszellen war. Es gibt Strafkolonien, in denen die Wärter und ihre Führung sich bemühen, die „Politischen“ zu brechen, psychisch wie physisch. Briefe und Päckchen von Unterstützern werden nicht zugestellt. Für Renitenz gibt es Karzer. Oder man wird in Kolonien mit üblem Ruf und besonders strengem Regime überstellt. 

    Ein Mensch, der dort gesessen hat, berichtete, dass er mit seinem Löffel den Abort auskratzen musste. 


    4.

    „Wir haben alles und keinen Krieg!“, sagt eine Frau mit einem Einkaufswagen voller Essen laut in der Warteschlange an der Kasse, vielleicht zu jemand anderem, vielleicht zu sich selbst. 

    Der Krieg herrscht in der Ukraine, und auch von unserem Gebiet aus fliegt der Tod dort hin. Die Bilder und Spuren durchdringen auch unsere Wirklichkeit, deshalb ist auch bei uns Krieg.

    In der Nacht trete ich ans Fenster – gegenüber ein stiller, blockförmiger Ameisenhaufen, die Belarussen schlafen in ihren Mauselöchern. Da sehe ich plötzlich ein von Explosionen zerfetztes Gebäudeskelett, schwarze Betondecken, versengte Innereien von Wohnungen. 

    Krieg bedeutet schwarze tote Erde, verstümmelte Körper, tote Kinder, unwürdig verscharrte Leichen, die neunte Woge von Angst und Schrecken. Er ist eine Katastrophe der Entmenschlichung, stellt die Welt auf den Kopf. 

    Seit dem 24. Februar erhalte ich Nachrichten von ukrainischen und russischen Freunden. Eine ukrainische Kollegin fragte, warum ich in den sozialen Netzwerken nichts über den russischen Angriffskrieg schreibe, es sei die Hölle bei ihnen. Meine Kyjiwer Freundin antwortete auf meine besorgte Nachfrage, dass die erste Explosion bei Sonnenaufgang zu hören gewesen sei, der Flughafen in der Nähe ihres Viertels sei bombardiert worden, aber sie und ihr Sohn hätten noch eine Weile geschlafen. Seitdem schreibt sie nur noch in ukrainischer Sprache über ihren Alltag, mit einem erlesenen Sinn für schwarzen Humor. Auch eine russische Freundin schrieb mir damals. Sie fragte, wie es mir geht, und wir umarmten uns virtuell.

    Ich war wie gelähmt – genau wie damals, am 13. und 14. August 2020, als uns eine Welle von Beweisen für Folter und Misshandlungen im Okrestina-Gefängnis überrollte. Daraufhin brach es aus den Belarussen heraus, sie gingen auf die Straße, um NEIN zu Gewalt zu sagen. Gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten sie auch – jedoch nicht so viele wie 2020. Die Menschen, die noch hier sind, sind von der Diktatur zermürbt. Bei der Antikriegsdemonstration in Minsk wurden 800 Menschen festgenommen. 

    Ein halbes Jahr später steht fest, dass dieser Krieg die ganze Welt verändert. Unter anderem lässt er diverse Mehrheiten in ein Schwarz-Weiß-Denken zurückfallen, dessen Kreise überall divergieren. Die Propaganda übertrumpft die Realität und ersetzt Werte durch militante Klischees. Jetzt sind alle entweder „Unsere“ oder „Fremde“, und dein Pass ist dein Schicksal. 

    „Alle Belarussen sind Mit-Aggressoren“, „alle Russen sind von faschistoider Propaganda verseucht“, schließen wir die Grenzen, auch für jene, die mit ihrem toxischen Staat nichts gemein haben wollen, canceln wir die Russen samt ihrer Literatur und ihrem Ballett. Alle russischen Klassiker sind von imperialem Gedankengut durchsetzt, unsere Kinder sollen weder Puschkin noch Dostojewski lesen. 

    Ich bin überzeugt, dass Widerstand gegen den Krieg auch bedeutet, sich der Vereinfachung der Welt und der schwarz-weißen Sicht auf die Realität zu widersetzen. Kultur umfasst immer Komplexität, Bedeutungsschichten, Interpretationsfreiheit. Mensch zu sein in einer neuen Welt heißt, Solidarität auf Grundlage gemeinsamer Werte und über Grenzen hinweg herzustellen. 

    Ich werde dafür stimmen, dass im Neuen Belarus die klassische russische Literatur Teil des Lehrplans bleibt, im Fach „Weltliteratur“. Es soll gelehrt werden, wie man in der russischen Lyrik und Prosa Kontexte (auch imperialistische) erkennt und Ideen, Metaphern und Symbole frei interpretiert. Lesen kann man die Texte im Original oder in belarussischer Übersetzung – jeder, wie er will. 


    5.

    Mit Machtdiktaturen und Krieg ist die postsowjetische Periode vorbei, wir erleben ihren Niedergang. Vor zwei Jahren noch sah es aus, als wären wir in rasendem Tempo und unausweichlich unterwegs in die Zukunft. Neue Technologien, neue Generationen, neue Herausforderungen an die Menschheit. Doch heute sind wir mit der dunklen Seite der sterbenden Diktatur konfrontiert: In Belarus genauso wie in Russland hat sich die Macht endgültig in die gefährlichsten sowjetischen Phantasmen verstrickt: Paternalismus, antiwestliche Hetze, Kommandostil, Imperialismus, Militarismus, Expansionismus. Mit Gewalt und Propaganda flößt man das alles der Bevölkerung ein. „Die Liebste geben wir nicht her!“, sagte der ehemalige belarussische Präsident nach der verlorenen Wahl zu seinem Volk. Nein, wir vergewaltigen sie, nehmen ihr die Freiheit, ihre Rechte und Hoffnungen …

    Die Zukunft ist unausweichlich, auch wenn heute niemand sagen kann, wie lange die Agonie noch dauern und wie viele Leben sie noch kosten wird. 

    Irgendwann wird der Krieg enden, die russische Besatzung wird von der Ukraine ablassen, die postsowjetischen Diktaturen zerfallen. 
    Die Belarussen kommen aus den Gefängnissen frei. 

    Wir werden nach Hause zurückkehren.

    Die nationale Idee, auf der das Neue Belarus aufbauen muss, gibt unsere Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts vor: Nie wieder Diktatur, Repression, Missachtung von Würde und Menschenrechten in unserem Land. NIE WIEDER. 

    Für diese Idee wird niemand in Reih und Glied unter der weiß-rot-weißen Flagge marschieren. Zur Gewährleistung einer Zukunft ohne Diktatur werden alle politischen und sozialen Institutionen ihren Beitrag leisten – vom Parlament bis zur Bildungseinrichtung, angefangen beim Kindergarten. 

    Im Pischtschalowski-Palast wird endlich ein Museum für die Repressionen und Haftanstalten der Vergangenheit eröffnet. Wir werden die Todesstrafe abschaffen und das Rechtssystem  reformieren. Die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Neuen Belarus sollen die Würde des Menschen respektieren. Und dann stellen wir jene vor Gericht, die heute den Belarussen das Leben unerträglich machen. Jene, die ich heute Vertreter einer kriminellen Macht, Folterknechte, Propagandisten und Denunzianten nennen würde, werden nicht in stickigen Zellen um Luft ringen, auf Betonböden schlafen und Folter ertragen. Sie können gern Bücher lesen und sich selbst quälen. 

    Die belarussische Lubjanka wird ihre Archive und geheimen Kellerräume öffnen. Wir werden eine kollektive Erinnerung an die belarussische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wiederherstellen, mit all ihren Traumata und Opfern, mit verschiedenen Sichtweisen, was es heißt, Belarusse zu sein, mit verschiedenen Erfahrungen des Widerstands gegen den russozentristischen Imperialismus. 

    Das Neue Belarus wird wohl aus dem Chaos entstehen, es wird viele Diskussionen, Kränkungen und Machtkämpfe geben. Die Belarussen werden Parteien gründen und Politik erlernen. Doch das wird schon eine andere Geschichte sein, in der mein Weltbild, meine Werte und meine Professionalität in Forschung und Lehre einen Unterschied machen werden. Diese Zeiten möchte ich gern noch erleben.


    6.

    Nach dem Absatz über Belarus in der Zukunft bin ich eingeschlafen. Ich schlage die Augen wieder auf – und bin in meiner Wohnung, mit der allzeit gleichen Landschaft vor dem Fenster: langweilige Wohnblocks, Bäume, der Trampelpfad zum Laden. Ich koche mir Kaffee, setze mich wieder an den Computer und betrete Meta Universe Belarus 2.0. Dort lebe ich, ich habe einen digitalen Pass. Ich suche mir einen Avatar aus – heute bin ich unausgeschlafen, daher wähle ich die Belarussin mit Eulenkopf – und ab zum Arbeitsmeeting. Danach ins virtuelle College, an dem ich lehre (ich unterrichte schon so lange, dass ich sogar im Schlaf Vorlesungen halte). Dann noch zu einer digitalen Kundgebung vor dem virtuellen Parlament, ins Café mit Freunden und ins Kino in einen neuen Film. Dieses ganze erfüllte Leben verläuft vor dem realen Hintergrund des virtuellen Minsk, sogar die Wege sind vertraut.

    Doch ich brauche etwas Richtiges zu essen, nichts Virtuelles. Ich ziehe die Daunenjacke über, gehe hinaus, schlendere zum Laden Obst.Gemüse, der noch genauso aussieht wie in meiner sowjetischen Kindheit, das Körpergedächtnis reproduziert sogar den Geruch. Am Eingang stehen grau gekleidete Leute Schlange. Die grimmige Verkäuferin öffnet den Hebel einer Eisenkiste, die aussieht wie ein Müllschlucker, und aus seinem Schlund fallen drei Kilogramm Nahrung. Schweigend halte ich ihr mein Einkaufsnetz hin, bezahle, drehe mich um und gehe wieder nach Hause.

    Die virtuelle Welt kann dir nicht das Gefühl von Wärme und Unterstützung durch einen anderen geben. Deshalb gehen die digitalen Belarussen nachts in die Stadt hinaus und treffen sich an geheimen Orten – in Kellern, verlassenen Wohnungen, leerstehenden Fabrikhallen. Das sind natürlich extremistische Versammlungen – wie alle Menschenmengen, die weder Warteschlange noch Parade sind. 

    Auf uns werden Razzien angesetzt. 

    Doch wir treffen uns trotzdem, um einander schweigend zu umarmen. Und gehen genauso still wieder auseinander.


    7.

    Angeblich brennt im Zirkus während der Auftritte der Trapezkünstler immer ein rotes Lämpchen – irgendwo über den letzten Zuschauerreihen. Das Orchester spielt ohrenbetäubend, die Scheinwerfer blenden, du hängst mit dem Kopf nach unten, fliegst und überschlägst dich in schwindelnder Höhe ohne festen Halt unter den Füßen. Und behältst das rote Lämpchen im Blick, das dir Orientierung gibt: Hier ist oben, und dort, im Dunkeln, ist der Boden oder unten, bloß nicht verwechseln.

    Was für eine passende und aktuelle Metapher für das Überleben in ungewissen Übergangszeiten.

    Das rote Lämpchen – das sind unsere Werte, Hoffnungen und der unbedingte Wille, das Neue Belarus zu verwirklichen. Zudem steht es für unsere persönliche Entscheidung, was wir in diesen unendlichen trüben Zeiten tun möchten. Das Land verlassen und dort Belarusse bleiben oder uns selbst bewahren und hier etwas für die Zukunft tun. Mein rotes Lämpchen ist das Kind, das ich großziehe, das Buch, das ich schreibe und die Freunde und Gleichgesinnten, an denen ich Halt finde.

    Manchmal überwältigt mich auf paradoxe Weise ein akutes Gefühl für die Fülle und gleichzeitige Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Gefühl, leben zu müssen, jetzt, einfach leben. Weil der Mensch so verletzlich ist, weil man sich nicht allein an Automatismen durchs Leben hangeln darf, ohne wirklich zu sehen, wie schön unsere Welt und unsere Menschen sein können. 

    Die Belarussen und Belarussinnen, die 2020 im ganzen Land im vollkommen friedlichen Protest auf die Straße gegangen sind, waren unglaublich schön.

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