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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gulag-Literatur

    Gulag-Literatur

    Im November 1962 erscheint in der sowjetischen Literaturzeitschrift Nowy Mir die Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Ein bis dahin völlig unbekannter Autor hatte sie geschrieben – Alexander Solschenizyn. Der Text schildert auf 65 Seiten einen typischen Tag eines typischen Lagerhäftlings im Jahr 1951: vom morgendlichen Wecksignal bis zum abendlichen Zählappell. 

    Die mit ausdrücklicher Genehmigung Nikita Chruschtschows erfolgte Veröffentlichung war eine Sensation: Erstmals durfte in der Sowjetunion verhältnismäßig offen über das harte Leben im Gulag zur Herrschaftszeit Josef Stalins berichtet werden. Zeitgenössische Leserbriefe zeigen, dass die Erzählung nur wenige Leser gleichgültig ließ. Neben Zuschriften, die dem Autor vorwerfen, Lügen zu verbreiten und der Sowjetunion zu schaden, finden sich vor allem enthusiastische Stimmen, die der Redaktion und dem Autor überschwänglich dafür danken, das Thema aufgegriffen zu haben.1 Auch der ehemalige Gulag-Häftling Warlam Schalamow schreibt an Solschenizyn und lobt ihn überschwänglich: „Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen – ich habe ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie ein Gedicht, alles daran ist vollkommen, alles ist schlüssig.“2

    Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch legte den Grundstein für den Ruhm Alexander Solschenizyns, der sich in den Folgejahren zu dem Autor der Gulag-Literatur entwickeln sollte. Der Text unterbrach das staatlich verordnete, fast 30 Jahre währende Schweigen über das sowjetische Repressionssystem. Er wurde zu einem Initiationstext, der viele ehemalige Lagerhäftlinge nicht nur dazu ermutigte, ihre eigenen Erlebnisse aufzuschreiben, sondern sie zur Publikation in Zeitungen und Zeitschriften einzureichen. Auch Warlam Schalamow hoffte darauf, endlich etwas veröffentlichen zu können. In seinem Brief an Solschenizyn heißt es: „Ich habe tausend Gedichte und hundert Erzählungen geschrieben und in sechs Jahren mit Mühe einen Band verkrüppelter Gedichte veröffentlicht, wo jedes Gedicht beschnitten, verstümmelt ist.“3 

    Entstehungsgeschichte des Repressionssystems

    Die Anfänge der sowjetischen Gulag-Literatur gehen indes bis in die 1920er Jahre zurück.4 Damals erschienen im Ausland erste Texte von russischen Emigranten, die von den Repressionen nach der Revolution handeln und von den chaotischen Zuständen in den ersten Lagern der Sowjetunion, etwa in dem Lagerkomplex auf Solowki. Die Texte, meist Memoiren und häufig in der Sprache des Aufnahmelandes veröffentlicht, wollten über die Herrschaft der Bolschewiki informieren und ihre Leserschaft aufrütteln. Ihren Weg zurück in die Sowjetunion fanden sie nicht, auch nach der Perestroika blieben sie einem russischsprachigen Publikum meistens verschlossen.

    Neben den Memoiren und Zeugnissen, die von Repressierten verfasst wurden, entstanden bis Mitte der 1930er Jahre auch literarische Texte, deren Veröffentlichung in der noch jungen Sowjetunion erlaubt und sogar gefördert wurde. In der sogenannten Tschekistenliteratur, die unmittelbar nach der Oktoberrevolution zu entstehen begann, avancierten die Mitarbeiter der staatlichen Sicherheitsorgane zu literarischen Helden. Zwar wird das Lager in diesen Texten nur am Rande erwähnt, sie geben aber einen aufschlussreichen Einblick in die Entstehungsgeschichte des sowjetischen Repressionssystems und in die Mentalität der Exekutive.5 

    Umerziehung zu aufrichtigen Sowjetmenschen

    Außerdem kamen Texte heraus, die die sogenannten Arbeitsbesserungslager in den Fokus rücken. Berühmtheit erlangte das Kollektivprojekt Der Weißmeer-Ostsee-Kanal »Stalin«. Eine Baugeschichte 1931–1934. Dieses entstand 1934 im Anschluss der Reise einer Schriftstellerdelegation rund um Maxim Gorki an den Weißmeer-Ostsee-Kanal. Der Text vermittelt den Eindruck, dass die sowjetischen Lager erforderliche und gesellschaftlich nutzbringende Einrichtungen seien, in denen „gesellschaftsferne Elemente“ zu aufrichtigen Sowjetmenschen umerzogen werden. Nur so lässt sich erklären, warum sich in dem Buch Details über das junge Gulag-System finden, die mit dem Beginn des Großen Terrors eigentlich streng geheim waren. Bis zum Jahr 1937, in dem die sowjetischen Behörden Der Weißmeer-Ostsee-Kanal aus dem Verkehr zogen, diente der Band anderen Autoren als Prototyp für ähnliche Texte. 

    Schreibverbote

    Ab Mitte der 1930er Jahre konnten in der Sowjetunion keine Texte mehr erscheinen, die die Lager oder die staatlichen Repressionen thematisierten. Verfasst wurden sie dennoch. Allerdings ist wohl nur ein Bruchteil von ihnen erhalten geblieben und zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden. 

    Die bekannt gewordenen Texte sind zumeist Aufzeichnungen, die Aufschluss über Details des Lageralltags geben, ihr literarischer Gehalt gilt als gering bis nicht vorhanden. Auch Briefe, die Lagerhäftlinge an ihre Angehörigen schrieben, ermöglichen heute – trotz der Zensurbedingungen, unter denen sie verfasst wurden – einen Einblick in das Lagerleben. Größere Bekanntheit erlangten die Briefe des Priesters, Religionsphilosophen und Wissenschaftlers Pawel Florenski. Von seiner Verhaftung 1933 bis zu seiner Erschießung im Jahr 1937 hatte dieser seiner Familie von verschiedenen Etappen seiner Lagerhaft geschrieben. 1998 wurden die Briefe Florenskis erstmals komplett veröffentlicht.6 

    Die literarischsten Texte, die in den Lagern selbst entstanden, waren Gedichte. Sie hatten den Vorteil, dass sie auf kleinstem Raum verfasst, gut versteckt und durch ihre Form leicht auswendig gelernt werden konnten. Unter Umständen konnten sie so – wie auch Lieder – die Haftzeit ihrer Verfasser überdauern und zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgeschrieben und publiziert werden. Die bekannt gewordenen Gedichte, die im Lager entstanden, umfassen ein weites Spektrum: Neben tiefgründigen Reflektionen über das Lagerleben und das eigene Schicksal finden sich hier auch Beschwerden und Spottverse.7 

    Verschmolzen zu einem einzigen Hypertext

    Nach Stalins Tod und der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag im Jahr 1956 begannen viele Menschen, ihre Erinnerungen an die Lager aufzuschreiben. Dabei mag es den meisten weniger darum gegangen sein, Memoiren zu veröffentlichen, sondern vielmehr darum, ihre Erinnerungen an das erlittene Unrecht überhaupt zu Papier zu bringen. Das Ablegen eines Zeugnisses (auch gegenüber sich selbst) wurde zum wesentlichen Motivationsmoment des Schreibprozesses. Diese Texte sind nach einem nahezu identischen Muster angelegt, das auf der Chronologie der Ereignisse beruht: Die Autoren schildern ihr Leben vor der Verhaftung, die aufkommende Angst vor einer Festnahme und schließlich die (von einigen fast als Erlösung von ihrem angstvollen Warten empfundene) Verhaftung selbst. Dem folgen Erinnerungen an die Untersuchungshaft, die Verurteilung, die Überführung ins Lager und in unterschiedlicher Ausführlichkeit an das Lagerleben selbst. Schließlich schildern die Autoren ihre Entlassung und die Rückkehr ins zivile Leben. Durch ihre Ähnlichkeit scheinen diese Texte, wie die russische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Irina Schtscherbakowa treffend feststellte, zu einem „einzigen Hypertext zu verschmelzen“.8

    Die Tauwetterperiode währte nur kurz. Solschenizyns Folgewerke, Im ersten Kreis der Hölle, Die Krebsstation und natürlich sein Monumentalwerk Archipel Gulag, erschienen bereits im Samisdat beziehungsweise im Ausland. Ähnlich erging es Warlam Schalamow und Jewgenija Ginsburg, deren Werke durch ihre literarische Qualität aus der Vielzahl der Lagertexte herausstechen. Erst während der Perestroika konnten Schalamows Erzählungen aus Kolyma und Ginsburgs Marschroute eines Lebens in der Sowjetunion frei zugänglich erscheinen, beide erlebten das nicht mehr. 

    Neben diesen heute zum Kanon der Gulag-Literatur zählenden Texten erschien zu dieser Zeit eine Vielzahl von Zeugnistexten, die Betroffene zu einem früheren Zeitpunkt verfasst und dann jahrzehntelang aufbewahrt hatten oder die erst während der Perestroika niedergeschrieben worden waren. Bis heute werden neue Gedächtnistexte publiziert, meist durch die Nachfahren der Repressierten, die etwa beim Aufräumen auf die Manuskripte stießen.9 Keiner dieser Texte hat jedoch die Bekanntheit und die Bedeutung von Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erreicht. Der Wegbereiter der sowjetischen Gulag-Literatur ist bis heute Pflichtlektüre für russische Schulklassen – trotz der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die Stalins Herrschaft zunehmend in ein besseres Licht zu rücken sucht.

     

    Zum Weiterlesen:
    Toker, Leona (2000): Return from the Archipelago: Narratives of Gulag Survivors, Bloomington und Indianapolis
    Frieß, Nina (2017): „Inwiefern ist das heute interessant?“ Erinnerungen an den stalinistischen Gualg im 21. Jahrhundert, Berlin 
    Für russischsprachige Leser bietet die Internetseite Wospominanija na Gulage eine große Auswahl an Texten, die an den Gulag erinnern, und die dazugehörigen Autorenbiografien. 

    1. Anlässlich des 50. Jubiläums der Veröffentlichung erschien eine Sammlung von Leserbriefen: Tjurina, Galina (2012): «Dorogoj Ivan Denisovič!..» Pisʼma čitatelej 1962–1964: K 50-letiju publikacii rasskaza Aleksandra Solženicyna‚ Odin denʼ Ivana Denisoviča‘, Moskva ↩︎
    2. Šalamov,Varlam (2007): Šalamov an Aleksandr Solženicyn, in: Osteuropa: Das Lager schreiben, Berlin 6/2007, S. 125-136, hier S. 125 ↩︎
    3. ebd., S. 136 ↩︎
    4. Texte über die Zwangsarbeit unter den russischen Zaren wie Fjodor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860-62) und Anton Čechovs Die Insel Sachalin (1893) sind streng genommen nicht Teil der Gulag-Literatur, bilden aber wichtige Prätexte für diese. ↩︎
    5. siehe dazu ausführlich Heller, Michel (1975): Stacheldraht der Revolution: Die Welt der Konzentrationslager in der sowjetischen Literatur, Stuttgart, S. 93 ff. ↩︎
    6. Florenskij, Pavel (1998): Sočinenija v četyrech tomach: Tom 4: Pisʼma s Dalʼnego Vostoka i Solovkov, Moskva ↩︎
    7. Eine beeindruckende Sammlung der „Poesie der Gefangenen des Gulags“ findet sich in der russischsprachigen Anthologie Poezija Uznikov GULAGa, die Gedichte von über 300 politischen Häftlingen enthält. Vilenskij,Semen (Hrsg., 2005): Poėzija uznikov GULAGA: Antologija, Moskva ↩︎
    8. Shcherbakova,Irina (2003): Remembering the Gulag: Memoirs and Oral Testimonies by Former Inmates, in: Dundovich, Elena et al. (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Milano, S. 187-207, hier S. 198 ↩︎
    9. So wie es Vorläufer der sowjetischen Gulag-Literatur gab, gibt es auch Nachfolger, etwa Michail Chodorkowskis Briefe aus dem Gefängnis, München, 2011 ↩︎

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  • „Je weiter weg von Russland, desto besser“

    „Je weiter weg von Russland, desto besser“

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow war fünf Jahre in russischer Haft. Im September 2019 kam er frei durch einen Gefangenenaustausch. In einem der wenigen Interviews bisher spricht der ukrainische Filmemacher mit Dimitri Bykow über die Krim, über Putins Perspektiven und darüber, was Russland und die Ukraine ganz grundlegend unterscheidet. 

    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0
    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0

    Dimitri Bykow: Oleg, was hat Putin gegen Sie persönlich?

    Oleg Senzow: Ich halte mich nicht für so wichtig. Er hat ja nicht nur mich festgehalten, viele andere hält er bis heute fest. Ich glaube nicht, dass persönliche Abneigung eine Rolle spielt. Vielleicht, wenn er alle freigelassen hätte außer mir …

    Aber er kann Sie trotzdem überhaupt nicht leiden.

    Das beruht auf Gegenseitigkeit.

    Aber Sie würden ihn leben lassen?

    Er hat mich ja nicht umgebracht. Aber ich träume davon, ihn in Den Haag zu sehen, hinter so einer, wie sagt man … 

    Hinter Gittern?

    Nein, hinter der Glasscheibe. Das würde ich gerne sehen.

    Denken Sie, das wird bei uns [in Russland – dek] noch lange so weitergehen? Hat er noch viel Zeit?

    Es gibt eine einfache Zahl: 2024. Sie schien mal sehr weit weg, aber mit jedem Jahr rückt sie näher. Das ist praktisch übermorgen.

    Ich träume davon, Putin in Den Haag zu sehen

    Wann genau war die Krim verloren? Das Militär sagt, hätte es einen Befehl gegeben, dann hätte es Widerstand geleistet.

    Das hätte gar nichts gebracht. Selbst wenn es einen Befehl gegeben hätte – hätte das Militär denn Widerstand leisten können? Hätte ich die militärischen Einheiten dort nicht gesehen, hätte ich mir vielleicht Illusionen gemacht. Aber da konnte von Kampfbereitschaft keine Rede sein. Und das war allen wohl bewusst.
    Kein Kommando, kein noch so fester Wille, keine politische Entscheidung hätte bei diesem Zustand der Armee was ausrichten können. Also war das [der ausbleibende militärische Widerstand – dek] keine Absage ans Blutvergießen. Vielmehr hatte Janukowitsch die Armee schon vorher ruiniert … Schon da war alles verloren. Dass man etwas hätte tun können – dieses Gefühl gab es höchstens in den ersten paar Tagen.

    Gut, aber wenn die neue Regierung sofort Abgesandte auf die Krim geschickt, das zur obersten Priorität erhoben und sich darauf konzentriert hätte …

    Nein. Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. In den Stabsquartieren liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung: Putin schnippt mit den Fingern, und man bringt ihm eine Karte. Nichts Besonderes – Kriegsspiele sind das tägliche Brot der Stabsoffiziere des Generalstabs und des FSB … Ich bin sicher, dass da auch Pläne für Charkiw liegen … ach was, für die ganze Ukraine.

    Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. Es liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung

    Die Krim gehörte zu den Zielen, aber die politische Entscheidung ist gefallen, als Janukowitsch geflohen war. Putin war überzeugt, dass hinter allem die Amerikaner stecken. Das ist sein verzerrtes Weltbild: Alles geschieht nur, um ihm persönlich zu schaden. In diesem Fall – um die Olympischen Spiele zu ruinieren. Also hat er sich gesagt: Wenn ihr mir so kommt, dann komm ich euch so.

    Warum wurden Sie überhaupt verhaftet? War das möglicherweise auch von langer Hand geplant?

    Das war reiner Zufall. Die Jungs, die sie da gefasst hatten, haben einfach alle Namen genannt, die sie kannten; und ich war immerhin erwachsen, ein Regisseur, ich war auf dem Maidan …
    Zuerst hat die Polizei wegen Rowdytums gegen mich ermittelt, dann hat sich der FSB eingeschaltet und sich diese bescheuerte Formulierung ausgedacht: „ … mit dem Ziel, Druck auf die Machtorgane auszuüben und den Austritt der Krim aus der Russischen Föderation zu organisieren“.

    Fangen die sofort an zu foltern?

    Man nennt das „heißes Verhör“. Ein Standardverfahren, damit der Gefangene keine Chance hat, den Schock zu überwinden. Keinerlei Anwälte, versteht sich.

    Wurden damals auf der Krim die [russischen] Pässe zwangsweise ausgestellt?

    Es hieß: Wer nicht innerhalb eines Monats schriftlich Einspruch erhebt, wird automatisch russischer Staatsbürger. Ich bin nicht hingegangen und hatte es auch nicht vor, weil das für mich eine Okkupation war: Was soll ich mit einem Dokument des Besatzungsregimes? Warum soll ich in meinem Land, der Ukraine, gegen irgendwas Einspruch erheben? Ich brauche keine Abmachungen mit Okkupanten.

    Haben Sie immer noch den ukrainischen Pass?

    Ja, klar, wo soll er denn hingekommen sein? Sie haben versucht, mir den russischen anzudrehen. Selbst im Gefängnis haben sie versucht, dass ich quasi zufällig eine Bestätigung unterschreibe. Aber ohne Erfolg.

    Mein Eindruck war, dass Sie sich irgendwann aufs Sterben vorbereitet haben. Vielleicht am zwanzigsten oder dreißigsten Tag des Hungerstreiks

    Das war Ihr Eindruck. Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben. Das war eine Art Berufsrisiko: Wenn man zum Angriff übergeht, rechnet man mit der Möglichkeit, getötet zu werden. Aber man will zum Ziel kommen. Das war eine kalkulierte, in gewissem Sinn sogar eine künstlerische Aktion: Ich habe das [den Beginn des Hungerstreiks – dek] bewusst mit dem Beginn der Fußball-WM abgestimmt, damit es wahrgenommen wird. 

    Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben

    Ich wusste, dass ich mindestens einen Monat durchhalten würde und der Höhepunkt auf das Finalspiel fallen muss. Etwa 20 Tage vorher habe ich angefangen, meine Nahrungsaufnahme zu reduzieren.

    Ich habe mir gerade Losnitzas Spielfilm Donbass noch einmal angeschaut, der auf dokumentarischem Material basiert, Sie haben ihn bestimmt gesehen …

    Nein, noch nicht, aber ich habe viel gehört.

    Hier [in der Ukraine – dek] wirkt er ganz anders als in Russland. Ich verstehe nicht, wie jemand, der diesen Film gesehen hat oder einfach mit der Realität im Donbass einigermaßen vertraut ist, nicht mit Fäusten auf die Moskauer losgeht. Auf mich, zum Beispiel.

    Die Menschen hier sind eben anders, das ist unsere Schwäche und unsere Stärke. Manche würden sicher gern auf Sie losgehen. Andere empfangen Sie mit offenen Armen, als Freund, der dort drüben auch kämpft … Die Ukraine ist keine homogene Gesellschaft. Das ist gut, weil uns niemals ein Diktator unterwerfen wird, ein Putin ist bei uns undenkbar. Aber es ist auch schlecht, weil wir uns ständig untereinander bekriegen. Das spielt Putin in die Hände.

    Sie denken also, es kann keinen ukrainischen Putin geben? Einen stillen Silowik

    Nein, unmöglich. Die Menschen hier sind ganz anders. So etwas wird es hier nicht geben, nicht annähernd.

    Das haben wir auch gedacht, bis ungefähr 1996

    Ihr habt die Befreiung 1991 erlebt, so wie wir 2004. 1993 habt ihr eure internen Auseinandersetzungen gehabt, einen Putsch, danach ging es bergab: Tschetschenien, das hätte die Gesellschaft wachrütteln sollen, aber stattdessen hat es sie nur tiefer reingeritten. Das, was euch hätte verändern sollen, hat euch auf einen schlechten Weg geführt. Der Putsch von 1993 und zwei Tschetschenien-Kriege – daraus ist Putin entstanden. Bei uns war alles anders.

    Könnte Putin einen großen Krieg beginnen, wenn es ganz schlecht für ihn läuft?

    Es läuft doch gut für ihn. Zum Glück ist er kein Irrer und auch kein Führer, der Millionen im Namen einer Idee vernichten will. Er will einfach mit möglichst geringen Verlusten alles rausholen, was geht. Aber für diese Ambitionen bezahlen wir mit Tausenden von ukrainischen Leben. Das ist die Tragödie.

    Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst

    Ihr habt einfach ein völlig anderes Verhältnis zu diesem Krieg. Ich war fünf Jahre lang in Russland: Man hat dort nicht das Gefühl, dass Putin diesen Krieg entfacht und bis heute 13.000 Ukrainer umgebracht hat. Und das geht jeden Tag so weiter. Dabei mimt er noch den Friedensstifter – das ist das Zynische. Und viele Russen glauben ihm, das macht mich fertig. Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst.

    Ich habe das Gefühl, viele hier haben Russland schon abgeschrieben. Sie denken, dass sich bei uns nie etwas ändern könnte.

    Das heutige Russland ist sicher nicht zu ändern. Über das Russland von morgen vermag ich nicht zu urteilen. Es müsste dort eine rational denkende Minderheit siegen. Die heutige Mehrheit ist völlig passiv: Man sagt ihnen „Demokratie“ – dann gibt es Demokratie. Man sagt ihnen „Monokratie“ – dann gibt es eben Monokratie.

    Aber es gibt auch Stimmen, die sagen, genau das sei das wahre Russland. Das Russland unter Putin.

    Das wäre sehr traurig. Ich kann bloß eine Parallele ziehen, auch wenn die nicht ganz sauber ist, weil sich in der Geschichte nie etwas eins zu eins wiederholt: Das Dritte Reich. Der Zweite Weltkrieg war eine Fortsetzung des Ersten, der Samen des Faschismus fiel auf fruchtbaren Boden, ein blutrünstiger Führer kam an die Macht. Die Nation muss verstehen, wie weit sie von ihrem Weg abgekommen ist. Sie hat den Verstand verloren. Wenn sie sich besinnt, die fremden Gebiete zurückgibt, die Zerstörungen wiedergutmacht – dann können wir über zukünftige Beziehungen nachdenken. Wenn nicht – dann eben nicht.

    Es gibt Erkrankungen des nationalen Geistes, die man nicht überlebt. Die deutsche Nation war an Krebs erkrankt und hat ihn überlebt. Das Deutschland, das wir heute sehen, ist ein anderes Land.

    Russland leidet auch an Krebs. Aber das Dritte Reich ist das vierte Stadium, und ihr seid im dritten. Macht euch nichts vor – vielleicht ist es viel schlimmer. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es das auch. Ich glaube nicht daran, dass eine Nation aus dem Nichts heraus wiedergeboren wird. Es braucht einen Bruch, eine Zäsur. Wie die aussehen wird, weiß ich nicht, ich bin kein Hellseher.

    Und was Sie selbst angeht – wussten Sie, dass Sie vorzeitig entlassen werden, dass Sie nicht 20 Jahre sitzen würden?

    Eindeutig.

    Aus irgendeinem Grund wusste ich das auch.

    Russland könnte auch vorzeitig freikommen, aber ich sage ganz ehrlich – damit bin ich hier in der Minderheit, die Mehrheit sieht das anders. Dass Putin nicht freiwillig geht, weiß ich auch. Die Möglichkeit „Ich bin müde, ich trete ab“ gibt es nicht.

    Lebenslänglich also?

    Die Deutschen haben eine nationale Katastrophe gebraucht.

    Vielleicht wird er irgendwann auch zum Teufel gejagt …

    Ich würde laut applaudieren! Aber das wird kein Maidan. Der Maidan ist nicht euer Genre. Der russische Aufstand, schrieb Puschkin einmal, ist sinnlos und erbarmungslos.

    Denken Sie, die Krim wird irgendwann wieder ukrainisch sein?

    Ganz sicher.

    Welchen Eindruck haben Sie bislang von Selensky?

    Schwer zu sagen. Innen drin ist er aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs. Dass ihm Fehler unterlaufen – ich habe ihn ja kritisiert für den Ton im Gespräch mit den Freiwilligen, das war meines Erachtens kein Ton eines Oberbefehlshabers – aber das sind Einzelheiten. Dass was er zur Beendigung des Kriegs unternimmt, unterstütze ich im Großen und Ganzen, aber hier ist die Hauptsache, nicht die rote Linien zu übertreten. Nicht zu verraten, wofür unsere Leute gestorben sind.

    Innen drin ist Selensky aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs

    Selensky hat es sehr schwer. Er bekommt viel Druck von seinen Leuten, von Deutschland und Frankreich, Putin ködert ihn, an Putins gütige Absichten glaube ich nicht. Die Leute um Selensky sind teilweise gut, teilweise undurchsichtig. Dass er Gefangene zurückholt, ist gut. Den Donbass zurückzuholen ist bislang nicht möglich. 

    Wäre die Unabhängigkeit nicht vielleicht besser?

    Auf keinen Fall. Die Krim ist ukrainisch – Punkt. Die Ukraine hat seit der Unabhängigkeit wenig gemacht, um sie zu integrieren, das sehen wir ein. Das Problem ist, dass man erst jetzt darüber nachdenkt. Das hätte man früher tun sollen. Aber sie muss zurück.

    Die Brücke steht schon …

    Gut so! Dann geht’s schneller runter, wenn die Zeit gekommen ist, für die Tränen der ukrainischen Mütter zu bezahlen.

    Was halten Sie von Nawalny? Hat er Perspektiven, und was denken Sie von ihm als Mensch?

    Mein Kriterium, um Leute zu beurteilen, ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben, für ihn ist sie so was wie ein Butterbrot. Nicht, dass euch das Butterbrot im Hals stecken bleibt.

    Das ist leicht gesagt.

    Nehmen war einfach, zurückgeben dagegen ist schwer? Ihr habt euch lange vorbereitet und schnell zugegriffen. 

    Mein Kriterium ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben

    Umgekehrt geht das genauso – lange vorbereiten und schnell zurückgeben.

    Sie glauben also nicht an eine Union mit Russland?

    Niemals. Und die große Mehrheit der Ukrainer glaubt auch nicht daran, will keine. Die Zeiten der Union mit Moskau sind vorbei! Je weiter weg von Russland desto besser. Mag sein, dass Russland einmal anders war und irgendwann anders sein wird, aber in seinem Inneren hat sich der Eiter angestaut, und der ist jetzt ausgetreten. Putin ist das wahre Gesicht des heutigen Russland. Heute trägt Russland das Gesicht Putins. So gesehen ist die Unterstützung für ihn echt und die Popularität verdient.

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  • Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen Film Kolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.

    Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.  

    Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.

    Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur

    Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:

    [bilingbox]Es ist ein guter Aufklärungsfilm. Davon sollte es viele geben, und das wäre übrigens auch möglich. […] Er füllt eine Leerstelle, eine Leerstelle an der Stelle des Wortes „Stalin“. Stalin kennen alle, 100 Prozent. Aber was ist das bitteschön, was steht hinter dem Wort? Nicht alle wissen doch, dass es eine besondere Bestialität war, derer sich die Staatsmacht bediente, und zwar – ich würde sogar sagen – unter persönlichem Druck von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dass er der Autor des Ganzen war, dass er persönlich wie am Fließband Dokumente durchsah und entschied: „Plattmachen!“ Wer weiß diese Dinge?~~~Это хороший просветительский фильм, я думаю. Таких должно быть много, между прочим, и могло быть много <…>.
    [Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit

    In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:

    [bilingbox]Juri Dud hat mit Kolyma einen grandiosen Film gemacht. Auf dieser Feststellung bestehe ich. Juri Dud hat ein Filmereignis geschaffen. 70 Prozent der Russen heißen die Taten Stalins gut. Die Intelligenzija sagt dazu Ach! und Oh!. Und Dud dreht einen Film. Einen klugen Film. Sehenswert. Ernst.
    Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt. 
    Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. […]
    Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System. ~~~Юрий Дудь снял выдающийся фильм „Колыма“. Я настаиваю на этом определении. Юрий Дудь снял картину-событие. 70% россиян одобряют деятельность Сталина. Интеллигенция заахала. Дудь снял кино. Талантливое. Зримое. Серьезное. 
    Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. […] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.

    […]
    … автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: „Колыма“ – это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм – о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.[/bilingbox]

    erschienen am 05.05.2019, Original

    Livejournal/Arkadi Babtschenko: Hipper Jüngling in teuren Klamotten

    Der oppositionelle Journalist Arkadi Babtschenko sieht auf Livejournal ein Authentizitätsproblem der Doku:

    [bilingbox]Sieh an: in Kolyma ist es kalt. Wer hätte das gedacht. Moskau hat für sich den Einfluss der Kälte entdeckt: als das Vernichtende all des Menschlichen im Menschen. Eine übersättigte Community, die es fertiggebracht hat, sich aus allen Erschütterungen, Kriegen, Naturkatastrophen herauszuhalten, die das Land in den letzten 30 Jahren umfänglich mitgemacht hat, hört jetzt zu, wie ein hipper Jüngling in teuren Klamotten ihnen etwas über die Kälte erzählt. […]
    Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos.
    Nehmt eure Kinder mit.
    Und lest.~~~На Колыме, оказывается, холодно. Кто бы мог подумать. Москва открыла для себя уничтожающее в человеке все человеческое влияние холода. Сытая тусовка, умудрившаяся остаться в стороне от всех потрясений, войн, катаклизмов, которые последние тридцать лет несла их страна по всему периметру, слушают, как им про холод рассказывает модный мальчик в дорогой одежде. <…>
    Идите в библиотеки, инфантилы. 
    Детей своих ведите. 
    Читайте.[/bilingbox]

    erschienen am 03.05.2019, Original

    Swobodnaja Pressa: Wir klauen euch eure Zukunft

    Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:

    [bilingbox]Der Sinn des Films ist so banal, dass einem leicht übel wird. Der Autor sagt: Kinder, jetzt erzähle ich euch, warum ihr diesem fiesen Land nichts schuldig seid, in dem in vergangenen Zeiten solche wie ihr, nämlich Kinder, für’s Eisessen ins Lager gesteckt wurden. […]
    Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke.
    ~~~Смысл фильма банален до легкой тошноты. Автор говорит: дети, сейчас я вам расскажу, почему вы ничего не должны этой мерзкой стране, где в былые времена таких же, как вы, детей сажали за съеденное мороженое. <…>
    Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    The New Times: Guter Grund für Optimismus!

    Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden: 

    [bilingbox]Der Streit zwischen Prilepin und Dud ist grundlegend: Es geht darum, wer die Jugendlichen in die Zukunft führt und wie diese Zukunft einst werden wird. […]
    Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!~~~Спор Прилепина и Дудя принципиален, и он о том, кто поведет молодежь в будущее и каким это будущее станет. <…>
    Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма![/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2019, Original

    Spektr: Wenn man lange in einen Abgrund schaut …

    Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:

    [bilingbox]Kolyma ist in Duds Film ein Gebiet von schönster Natur und absoluter Hoffnungslosigkeit, was das Leben angeht. So kann man nicht leben. Hier kann man nicht leben. Hier herrscht ewiges Eis. Ewiges Eis und die ewige Scheußlichkeit der Verwüstung in den Seelen von Millionen Russen. Dieser Film und die Reaktion darauf ergeben ein Blutbild – es ist der Versuch der Russen, öffentlich über ihre schlimmste Tragödie zu sprechen. 
    In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.~~~Колыма в фильме Дудя предстает территорией красоты природы и абсолютной безнадежности уклада жизни. Так жить нельзя. Здесь жить нельзя. Это вечная мерзлота. Но мерзлота и мерзость запустения в душах миллионов россиян. Этот фильм и реакция на него дают «общий анализ крови» — становятся попыткой россиян публично проговаривать свою самую главную трагедию. В российской истории всегда лилось много крови. Власть всегда считала людей «человеческим материалом», «личным составом», теперь вот еще «электоратом». Этот фильм, вроде бы почти развлекательный, спокойный, с элементами обычной нормальной жизни, оказался способом для нации заглянуть в бездну. И увидеть там свое отражение.[/bilingbox]

    erschienen am 07.05.2019, Original

    dekoder-Redaktion

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  • Perm-36

    Perm-36

    Als der Permer Geschichtsstudent Andrej Kalich und seine Freunde auf einer Paddeltour im Sommer 1988 die zum großen Teil noch erhaltenen Gebäude eines ehemaligen Arbeitslagers entdeckten, ahnten sie kaum, welche Bedeutung jenem Ort zukam. Doch Andrejs Vater, der Permer Journalist und Mitbegründer der örtlichen Memorial-Gruppe Alexander Kalich, konnte der Erzählung seines Sohnes entnehmen, dass es sich um das „Besserungs-Arbeitslager für politische Gefangene VS-389/36“ handeln musste, im Gefangenen-Jargon schlicht als Perm-361 bezeichnet.

    Vornehmlich als Graswurzelinitiative entstand dort in den 1990er Jahren eine Gedenkstätte mit einem Museum. Sie entwickelte sich – nicht zuletzt dank dem lokalen Bürgerfestival – in den 2000er Jahren zu einem bedeutenden Zentrum der russischen Zivilgesellschaft. Die aktuellen Entwicklungen im und um das Museum gelten der russischen Opposition als Musterbeispiel für die Neuausrichtung der russischen Geschichtspolitik und für den Umgang des Staates mit unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

    „Perm-36“, in der Sowjetzeit ein Arbeitslager für politische Häftlinge, ist heute Gedenkstätte und Museum / Foto © Max Sher
    „Perm-36“, in der Sowjetzeit ein Arbeitslager für politische Häftlinge, ist heute Gedenkstätte und Museum / Foto © Max Sher

    Gemeinsam mit örtlichen Historikern suchte der Permer Memorial-Mitarbeiter Alexander Kalich im Jahr 1988 das ehemalige Arbeitslager im Dorf Kutschino auf, auf das sein Sohn zufällig bei einer Paddeltour gestoßen war. Schnell erkannten sie dessen welthistorischen Wert: Etwa 150 Kilometer von Perm entfernt, steht dort die einzige nahezu vollständig erhaltene Anlage mit den typischen Holzbaracken eines Straflagers aus der Stalinzeit.

    Lager von welthistorischem Wert

    1946 als eines der zahlreichen stalinschen Arbeitslager errichtet, sollte es der Holzbeschaffung für die Industrie und für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg dienen. Wegen seiner günstigen Lage am Flussufer blieb das Lager jedoch auch nach Stalins Tod noch in Betrieb und trägt so auch bauliche Spuren späterer Sowjetepochen. Ende der 1950er Jahre erhielt es verstärkte Sicherungsanlagen für die Unterbringung krimineller Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Von 1972 bis 1987 diente die Anlage unter strenger Geheimhaltung als Speziallager für politische Gefangene. Eine etwas abgelegene Scheune wurde zu einer zweiten Abteilung umgebaut, in der überzeugte Gegner der Sowjetmacht im „Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter“ ihre mehrjährigen Strafen verbüßten. Dissidenten saßen in einer Zelle mit Nazikollaborateuren. Der ukrainische Dichter Wassyl Stus, der 1985 für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, kam hier im selben Jahr unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.

    Wegen des außerordentlichen historischen Werts des Geländes setzte sich in den 1990er Jahren insbesondere Viktor Schmyrow, Dekan an der Permer Pädagogischen Hochschule, gemeinsam mit einigen ehemaligen Insassen aus dem Dissidentenkreis und örtlichen Aktivisten aus dem Umfeld von Memorial, für dessen Erhalt als Gedenkstätte ein.
    Am 5. September 1995 war es dann soweit: Die Baracke des „Sonderregimes“ konnte erstmals für den Besucherverkehr geöffnet werden. Viktor Schmyrow und seine Frau, die Permer Historikerin Tatjana Kursina, übernahmen die Leitung der Gedenkstätte. Sie kündigten ihre Stellen an der Pädagogischen Hochschule und widmeten sich ganz der Weiterentwicklung des Museums und Gedenkzentrums für die Geschichte der politischen Repressionen Perm-36 – so der Name der Trägerorganisation. Dank ihrem Engagement erhielt das erste und bis heute einzige Museum in Russland, das sich am Ort eines ehemaligen Arbeitslagers stalinistischen Typs befindet, bald regelmäßige Zuwendungen aus dem Permer Regionalhaushalt. 
    2001 konnten schließlich auch die in den 1940er Jahren errichteten Gebäude für den regulären Besucherverkehr geöffnet werden. Auf der Grundlage der Forschung zu den sowjetischen Repressionen in den Archiven der Region konzipierte das Museum Ausstellungen, die nicht nur in Russland, sondern auch in den USA, Großbritannien und Italien gezeigt wurden.2 Für Schüler, Studierende, Lehrer und Museumsfachleute wurden Bildungsprogramme entwickelt. Dabei bemühten sich die Verantwortlichen stets, sowohl die Epoche der Säuberungen und des Gulags als auch die der Repressionen gegen das spätere Dissidententum in den Blick zu nehmen.

    Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft

    In den 2000er Jahren entwickelte sich das Museum schließlich zu einem Anziehungspunkt für all jene, die sich in Russland zu einer liberalen Bürgergesellschaft zählten. Besonders deutlich wurde das beim Bürgerfestival Pilorama: ein Festival mit Konzerten, Kunstausstellungen, Theateraufführungen und zahlreichen Diskussionsforen, das jährlich tausende Teilnehmer für ein Juliwochenende nach Kutschino lockte. Auf dem Festival diskutierten Vertreter der liberalen Parteien mit ehemaligen politischen Gefangenen über die brennenden Fragen der Zeit. Musiker wie Andrej Makarewitsch gaben Konzerte, 2010 inszenierte ein internationales Künstlerteam auf dem Lagergelände die Oper Fidelio von Beethoven. 

    Das Pilorama, aber auch die vielfältigen Permer Bürgerinitiativen, verschafften der Stadt den Ruf als „Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft“. Dies passte perfekt in das Entwicklungskonzept, das der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow für die Region hegte. Er lud wichtige Vertreter der russischen liberalen Kulturelite nach Perm ein – wie den Galeristen Marat Gelman, den Dirigenten Teodor Currentzis und den Regisseur Boris Milgram, die mit avantgardistischen Ausstellungen, Ballett- und Theateraufführungen eine „kulturelle Revolution“ entfachten. So brachte er Perm kurzzeitig auf die Liste der interessantesten kulturellen Zentren Europas.

    Politische Kehrtwende

    Die Wende zeichnete sich aber schon im Jahr 2012 ab. Kurz vor der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt reichte Tschirkunow ein Gesuch auf seine vorzeitige Abberufung ein. Der neu eingesetzte Gouverneur Viktor Bassargin, der zuvor den Posten des föderalen Ministers für regionale Entwicklung bekleidete, entledigte sich zügig der „Mannschaft“ seines Vorgängers und berief den Schauspieler Igor Gladnew als regionalen Kulturminister. Dieser wiederum entließ umgehend Marat Gelman als Leiter des örtlichen Museums für moderne Kunst und strich die Fördergelder für dessen avantgardistische Projekte. 

    Diese politische Kehrtwende konnte auch an dem Museum und seinem Festival nicht spurlos vorübergehen. Einen ersten Hinweis erhielten seine Betreiber bereits im selben Jahr, als in einer regionalen Zeitschrift ein Interview mit einem ehemaligen Wärter des Straflagers Perm-36 abgedruckt wurde: „Im Gulag kamen tausende Leute um […] Das waren die 1930–50er Jahre. Was hat Perm-36 damit zu tun – mit seinen sauberen, satten Häftlingen, die sich auf Werkbänkchen mit der Herstellung von Anschlussklemmen für Bügeleisen beschäftigten?“3 Dieser Vorwurf der Geschichtsfälschung gegenüber den Betreibern des Museums war der Auftakt einer breiten Kampagne gegen das Museum, an der sich sowohl andere ehemalige Mitarbeiter des Lagerwesens als auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die neostalinistische Organisation Sut Wremeni (in Europa unter dem Namen Essence of Time bekannt) beteiligten. 

    Im folgenden Jahr warfen einzelne Vertreter dieser Gruppen den Museumsbetreibern wiederholt vor, dass sie weder die Haftbedingungen der ehemaligen Insassen noch die Zusammensetzung des Lagers korrekt darstellen würden. Insgesamt schade das Museum der jungen Generation in der Ausbildung einer patriotischen Gesinnung. Die Teilfinanzierung der NGO über US-amerikanische Stiftungsgelder galt als Beleg dafür, dass es sich bei dem Museum um eine feindliche, aus dem Ausland gesteuerte Struktur handele. Auf dieser „NATO-Basis“4 werde das Ziel verfolgt, Russland von innen heraus zu zerstören.

    Perm-36 als ausländischer Agent

    Die Attacken boten der neuen Regionalregierung zunächst den Anlass, dem Pilorama im Sommer 2013 die Fördergelder zu streichen, sodass es nicht mehr stattfinden konnte. Der Museumsleitung wurde „zu ihrer Absicherung“ die Verstaatlichung angeboten.
    Doch die vorgeblich zum Schutz der inzwischen weltweit bekannten Institution initiierte Verstaatlichung stellte sich bald als eigentliche Gefährdung heraus: Durch das Abschalten von Strom, Gas und Wasser wurden die Betreiber gezwungen, das Museum kurz nach der Verstaatlichung im Frühjahr 2014 für den Besucherverkehr zu schließen. Dies war zudem ein willkommener Anlass für den örtlichen Kulturminister, Tatjana Kursina als Direktorin zu entlassen. Im Anschluss wurden Bibliothek, Archiv und Bestände des vorherigen Trägers konfisziert und die Ausstellung an das heroische Geschichtsnarrativ angepasst: Der Raum mit den Biographien ehemaliger dissidentischer Insassen wurde geschlossen, hingegen der Beitrag der Gulag-Häftlinge zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg auf Schautafeln dokumentiert.
    Während die ehemaligen Wächter des Arbeitslagers in den Beirat drängten, distanzierten sich die ehemaligen Insassen von der Institution. Der frühere Trägerverein wurde als ausländischer Agent gelistet und mit Gerichtsverfahren überzogen. Zermürbt gaben dessen Akteure im März 2015 auf.

    An diesem Vorgang vermochten weder die mit zahlreichen Unterschriften versehene Petition an den Gouverneur und den russischen Präsidenten noch Proteste seitens russischer Prominenter, nationaler und internationaler Organisationen etwas zu ändern – genauso wenig wie die Interventionen des russischen Präsidialen Menschenrechtsrats. Die lang andauernde Skandalisierung in der russischen und internationalen Presse sowie diplomatische Bemühungen scheinen aber zumindest eines erzielt zu haben: 2016 berief man Julia Kantor, die ehemalige Beraterin des Direktors der St. Petersburger Eremitage, zur Kuratorin. Zumindest die ehemaligen dissidentischen Insassen des „Sonderregimes“ erfahren durch Kantors Einflussnahme wieder eine Würdigung am Ort ihrer langjährigen Haftstrafen. Bibliothek, Archiv und Museumsbestände der Museumsgründer gelten jedoch bis heute als „verschollen“.


    1. Im Permer Gebiet existierten in den 1970er und 1980er Jahren unter den Jargon-Bezeichnungen „Perm-35“ und „Perm-37“ noch zwei andere Speziallager für politische Gefangene. Alle drei Lager wurden unter der Bezeichnung „Permer Dreieck“ zusammengefasst. ↩︎
    2. So wurde zum Beispiel die Ausstellung „GULag: The Story of one Camp“, über die bekanntesten dissidentischen Insassen des Lagers, 2003 in mehreren Städten der USA, Großbritanniens und Italiens gezeigt. Die Ausstellung „Russia, the Hard Way out of the Gulag“ über Russlands Auseinandersetzung mit seiner Gulag-Vergangenheit wurde 2005 in mehreren amerikanischen Städten gezeigt, vgl. Abzalova, Ekaterina, The Memorial Center for the History of Political Repression “Perm-36“, S. 8 ↩︎
    3. vgl. Perm.aif.ru: Byvšij nadziratel‘ „Permi-36“ uličil „Piloramu“ v fal’sifikacii istorii ↩︎
    4. vgl. Kprf.perm.ru: Prodolžaetsja serija piketov „Net baze NATO v Perm’-36“ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Warlam Schalamow

    Warlam Schalamow

    Im heutigen Russland ist Warlam Schalamows Name nicht mehr wegzudenken aus der Erinnerung an das von Kriegen, Revolution, Terror und Gewalt zerrissene 20. Jahrhundert russischer Geschichte. 
    Die Menschenrechtsorganisation Memorial machte seinen Namen auch im Moskauer Stadtraum sichtbar: Sie organisierte Straßenausstellungen und Vorträge, gab einen Stadtführer zu Schalamows Moskau heraus, und richtete im Online-Projekt Topographie des Terrors eine Schalamow-Themenseite ein. 
    Mittlerweile finden sich Zitate aus seinen Werken neben denen von Alexander Solschenizyn – in großen historischen Ausstellungen. Und dies nicht nur im Moskauer Gulag-Museum, sondern auch in propagandistischen Ausstellungen, wie etwa der multimedialen Schau Von großen Erschütterungen zum Großen Sieg. 1914–1945, die vom Kulturrat des Patriarchats der Orthodoxen Kirche mit Unterstützung der Stadt Moskau in der Manege organisiert und später auf dem WDNCh-Gelände stationiert wurde. 
    Eine derartige Präsenz von Schalamow im öffentlichen Raum war lange nicht selbstverständlich, sagt allerdings nur wenig darüber aus, ob und wie seine Werke im gegenwärtigen Russland gelesen werden.

    Zu seinen Lebzeiten (1907–1982) litt Schalamow sehr darunter, dass seine Lyrik bis auf wenige, schmale Bändchen unveröffentlicht blieb und seine Prosa nur in den informellen Kommunikationskreisen des Samisdat kursierte. Sein Hauptwerk, die sechs Zyklen der Kolymskije rasskasy (dt. Erzählungen aus Kolyma), an dem er zwischen 1954 und Anfang der 1970er Jahre arbeitete, konnte in der Sowjetunion erst nach seinem Tod, Ende der 1980er Jahre erscheinen. Er selbst sprach früh von deren grundlegendem literarischen Neuwert. All seine Schilderungen des buchstäblich am eigenen Leibe Durchlebten führen auf die Frage hin, mit der er eine ethische und eine ästhetische Herausforderung verband: Wie konnten Menschen, die über Generationen in den Traditionen der humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts erzogen worden waren, Auschwitz, Kolyma, Hiroshima hervorbringen?

    Den Himmel erstürmen

    Dabei hatte der junge Schalamow einen anderen Traum von seiner Zukunft als Dichter. In einem Brief vom 1964 vermerkte er „Ich schreibe Gedichte seit meiner Kindheit, in meiner Jugend wollte ich Shakespeare werden oder, zumindest, Lermontow, und ich war überzeugt, die Kraft dafür zu besitzen“. Der 17-jährige, als Sohn eines orthodoxen Geistlichen in der nordrussischen Provinzstadt Wologda aufgewachsene Schalamow, bricht 1924 nach Moskau auf, um, wie er Jahrzehnte später schrieb, „den Himmel zu erstürmen“. Moskau scheint ihm alle Wege zu öffnen, um am revolutionären Aufbruch in eine neue Welt teilhaben zu können. Sei es durch die, wie er hoffte, bei Dichtern der linken Avantgarde erlernbare Schärfung des eigenen poetischen Wortes, sei es durch politisches Handeln.

    Auf die Euphorie folgte schon bald die Ernüchterung: Führende Vertreter der Linken Front der Künste (LEF) wie Wladimir Majakowski, Ossip Brik oder Sergej Tretjakow, denen er sich in ihrer politischen Parteinahme verbunden fühlte, schürten jedoch durch ihre rigorose Abkehr vom herkömmlichen Dichten und Erzählen zunächst Zweifel an der Notwendigkeit von Dichtung in Zeiten des revolutionären Umbruchs. Auch seine politischen Aktivitäten, die ihn in die Reihen der linken studentischen Opposition führten, hatten für den Studenten des „sowjetischen Rechts“ an der Moskauer Universität ein gänzlich anderes, als das ersehnte Ergebnis: Erst wurde er wegen Verbergens seiner sozialen Herkunft aus der Universität ausgeschlossen, dann 1929 in einer illegalen Druckerei verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Agitation und Propaganda“ als „sozial schädliches Element“ zu drei Jahren Haft im „Konzentrationslager“ verurteilt. Dies war auch seine erste Begegnung mit dem Gulag-System.

    Überleben als Zufall

    1932 kehrte er nach Moskau zurück, arbeitete als Journalist, erlebte erste literarische Publikationen. Der Neuanfang währte nur kurz: Im Januar 1937 wurde er zum zweiten Mal verhaftet. Wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ verurteilte man Schalamow zu fünf Jahren Haft und verbannte ihn in die Zwangsarbeitslager am Kältepol der Erde, in die fernöstliche Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss. Da die Region damals einzig mit dem Schiff von Wladiwostok aus erreichbar war, wurde sie im allgemeinen Sprachgebrauch einer Insel gleichgesetzt und dem übrigen Territorium als dem ‚Festland‘ gegenübergestellt. Schalamow wurde noch im Lager (Mai 1943) denunziert, der „konterrevolutionär-trotzkistischen defätistischen Agitation“ angeklagt und durch ein Militärtribunal zu weiteren zehn Jahren Lagerhaft verurteilt.

    Sein Überleben im Lager hielt der Schriftsteller Warlam Schalamow für das Ergebnis glücklicher Zufälle / Foto © gemeinfrei
    Sein Überleben im Lager hielt der Schriftsteller Warlam Schalamow für das Ergebnis glücklicher Zufälle / Foto © gemeinfrei

    Sein Überleben unter extremen Bedingungen im Lager hielt er für das Ergebnis glücklicher Zufälle. Ein solcher Zufall bildet den Hintergrund der Erzählung Die Juristenverschwörung: Im Dezember 1938 verhaftete man ihn im Zusammenhang mit einer angeblichen Verschwörung und brachte ihn ins Untersuchungsgefängnis nach Magadan. Die Anklage platzte, da jene, die sie angestrengt hatten, selbst in die Mühlen des Großen Terrors gerieten.

    Als Glücksfall bezeichnete Schalamow später auch seine Einweisung ins Lagerkrankenhaus. Dort konnte er sich nicht nur etwas erholen, sondern lernte auch Ärzte bzw. Arzthelfer (meist Häftlinge) kennen, die ihn fortan unterstützten. Einer der Ärzte schickte ihn 1946 auf einen Arzthelferlehrgang. Der Lehrgang bedeutete einen Wendepunkt, denn danach verbesserten sich seine Lebensbedingungen.1 Die Lagerhaft endete 1951, im November 1953 durfte er die Region an der Kolyma verlassen. Aber erst ab 1956 war es ihm erlaubt, wieder nach Moskau zurückkehren.2

    Schreiben als Teilhabe am Leben

    Der (Wieder-)Eintritt ins Leben war ein Schritt hin zum Schreiben. Jorge Semprúns grundsätzliche Frage „Schreiben oder Leben“ stellte sich Schalamow nie in der gleichen Weise. Leben war für ihn identisch mit Schreiben. Und Schreiben bedeutete unmittelbare Teilhabe am Leben. Er setzte sein bezeugendes literarisches Wort wider das staatlich verordnete Vergessen.

    Alles, was er in den 14 Jahren Haft in den Straflagern der Kolyma-Region durchleben musste, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt und seiner bisherigen Sicht auf den Menschen und die Welt für immer den Boden entzogen. Inhumane Bedingungen (eisige Kälte, schwere physische Arbeit bei bis zu minus 55 Grad, Hunger und Schläge) reduzierten den Menschen binnen weniger Wochen auf ein animalisches, biologisches Wesen. Die Errungenschaften unserer in Jahrhunderten gewachsenen Kultur und Zivilisation erwiesen sich als äußerst fragil.

    Eingedenk dieser existentiellen Erfahrungen bedeutete für ihn jeder Versuch, das Grauen in den Lagern sprachlich zu fassen, ein doppeltes Wagnis. Einerseits hieß Schreiben über die Kolyma, sich selbst gleichsam noch einmal dem Tod auszuliefern und dem Leser die extremen negativen Erfahrungen aufzubürden, von denen dieser eigentlich überhaupt nichts wissen sollte. Andererseits ging Schreiben nach der Kolyma mit der Gefahr einher, den eigenen Authentizitätsanspruch durch literarisches „Wortgerassel“ (Schalamow) aufs Spiel zu setzen.

    In der Konsequenz forderte er eine Abkehr von gewohnten Sujets und literarischen Charakteren. Darstellungsverfahren der klassischen realistischen Erzählliteratur – vor allem der russischen mit ihrem Hang zum Moralisieren – versagten aus seiner Sicht angesichts dieser Aufgabe.3

    Erzählungen aus Kolyma

    In seinen autobiographisch grundierten Erzählungen aus Kolyma wandte er sich poetischen Verfahren der Avantgarde (wie dem Montageprinzip) zu, verzichtete auf psychologische Charakterstudien. So wird der Einzelfall überhöht und als einer von Tausenden erkennbar. Menschen tauchen wie aus dem Nichts auf und verschwinden wieder, die meisten von ihnen spurlos, einige treten unverhofft erneut ins Blickfeld des Erzählers, aber in einer anderen Erzählung, wobei auch die Erzählerfigur durchaus eine andere sein kann. Tritt ein Ich-Erzähler auf, so unter verschiedenen Namen, vereinzelt auch unter dem des Autors. Reales mischt sich mit Fiktivem. Motive wandern von einer Erzählung in eine andere, Episoden werden mehrfach erzählt, aber aus unterschiedlichen Perspektiven, oder sie betreffen verschiedene Personen. 

    Die Erzählungen aus Kolyma führen dem Leser jenen Raum der Willkür und Unberechenbarkeit vor Augen, in den der Einzelne in der Kolyma-Region geriet. Schalamow vertraute der Wirkmacht des literarischen Wortes. Erklärtes Ziel war „das Wiedererwecken des Gefühls“: Der Leser sollte nachempfinden, was geschieht, wenn sich der Mensch im Lager buchstäblich auflöst, wenn ihm Vergangenheit und Zukunft entgleiten und er sich nur noch im Jetzt an die schwächer werdende Hoffnung klammern kann, den Tag, die Stunde oder den Augenblick zu überleben. 

    Es ist unbestritten, auch für Schalamow selbst, dass ihm in den Erzählungen aus Kolyma die konsequenteste Umsetzung seiner ästhetischen Maximen gelang. „Jede meiner Erzählungen“, notierte er 1971, „ist eine Ohrfeige für den Stalinismus, und wie jede Ohrfeige gehorcht sie reinen Muskelgesetzen …“

    Schalamows Werk auf eine politische Abrechnung mit dem stalinistischen Terrorsystem zu reduzieren, hieße aber, die philosophische Tiefe seines Nachdenkens über den Menschen zu verkennen. Hierin liegt seine – bisweilen erschreckende – Aktualität: Und diese darf man angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht verkennen.

    Aus der Erinnerung an Krieg und Terror in Russland ist sein Name nicht wegzudenken - heute ist Warlam Schalamow auch im städtischen Raum sichtbar / Foto © Alexander Spiridonow/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Aus der Erinnerung an Krieg und Terror in Russland ist sein Name nicht wegzudenken – heute ist Warlam Schalamow auch im städtischen Raum sichtbar / Foto © Alexander Spiridonow/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Schalamow heute

    Wie aber wird Schalamow heute in Russland gelesen, und vor allem, wer liest ihn? Das lässt sich nur schwer sagen. Seine Werke werden verlegt. In Vorbereitung ist eine zweibändige Ausgabe seiner Gedichte, die viele bisher unveröffentlichte enthält. Für Abiturienten, die sich 2018 an der Philologischen Fakultät der MGU bewerben, zählen immerhin drei Erzählungen Schalamows zur Pflichtlektüre. Dennoch sind junge Menschen bei Veranstaltungen meist kaum anwesend. Auch die anhaltenden Kontroversen um Schalamow werden eher von Vertretern älterer Generationen ausgefochten. Sie betreffen nicht nur weiterhin Schalamows literarischen wie menschlichen Streit mit Solschenizyn oder etwa seine Religiosität. In jüngster Zeit gibt es Tendenzen, Schalamows Treue zu den revolutionären Idealen seiner Jugend als Argument für eine neue Heroisierung der Sowjetepoche zu instrumentalisieren und damit ins Fahrwasser der neuen patriotischen Propaganda zu geraten.

    Umso wichtiger sind alle Initiativen, die die Menschen veranlassen könnten, selber zum Buch zu greifen und seine ebenso lakonische wie berührende Prosa der Erzählungen aus Kolyma, seine Gedichte und autobiographischen Werke zu lesen.


    1. vgl. den Band Schalamow, Warlam (2018): Über die Kolyma: Erinnerungen, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, Berlin ↩︎
    2. in: Schalamow, Warlam (2007): Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, Berlin ↩︎
    3. vgl.: Thun-Hohenstein, Franziska (2011): Überleben und Schreiben: Varlam Šalamov, Alkesanr Solženicyn, Jorge Semprún, in: Schmieder, Falko (Hrsg.): Überleben: Historische und aktuelle Konstellationen, München, S. 123-145 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.

    Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.

    Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:

    Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.

    KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?

    Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …

    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)
    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)

    Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.

    Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.

    Kaputtgelacht?

    Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.

    Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen

    Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.

    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)
    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)

    Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrusteten Sichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.

    Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.

    Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt

    Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?

    Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …

    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)
    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)

    Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.

    Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet

    Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.

    Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?

    Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.

    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)
    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)

    Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.

    Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen

    Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?

    Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabei sind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.

    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)

    Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.

    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)
    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)

    Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?

    Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.

     

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)
    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)

    Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?

    Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun

    Ist das ein Privileg?

    Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.

    Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.

    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)
    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.

    Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon

    Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?

    Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.

    Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine? Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.

    Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.

    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)
    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?

    Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld

    Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?

     

    Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.

    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)
    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)

    Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.

    Wie alt ist ihr Sohn jetzt?

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.

    Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.

    Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen

    Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?

    Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.

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    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)

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  • Gulag

    Gulag

    Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. Der westlichen Öffentlichkeit ist der Gulag seit den 1970er Jahren durch Solschenizyns Buch breiter bekannt geworden: Der Archipel Gulag war die grausame Seite des erklärten ruhmreichen Aufbaus der lichten Zukunft im Kommunismus. Gulag ist die Abkürzung für Glawnoe Uprawlenie isprawitelno-trudowych Lagerei (dt. Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager). Das Lagersystem unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst OGPU, seit 1934 NKWD. Es existierte von 1922 bis 1956.

    Die Bolschewiki verfolgten schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg sogenannte Klassenfeinde und Gegner des Regimes. Auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer entstand der erste Lagerkomplex, dessen Insassen Zwangsarbeit leisten mussten. Während der forcierten Industrialisierung der UdSSR im Rahmen des ersten Fünfjahrplans 1928–1932 wurde das Lagersystem ausgebaut. Die Zahl der Häftlinge stieg in dieser Zeit von 30.000 auf 300.000. Die Lagerhaft zielte offiziell auf wirtschaftlichen Nutzen sowie die Umerziehung der Inhaftierten durch Arbeit. Bekannte Schriftsteller und Künstler wie Maxim Gorki oder El Lissitzky setzten die ersten Großbaustellen mit Zwangsarbeitern propagandistisch in Szene. Zur Erschließung von Rohstoffen sowie zum Aufbau von Industrie und Infrastruktur entstanden Lagerkomplexe in klimatisch unwirtlichen Gegenden Sibiriens und des Fernen Ostens. Neben den Insassen der Lager mussten in diesen Regionen sogenannte Sondersiedler schwere Arbeit leisten. Viele von ihnen waren als Kulaken bezeichnete Bauern, die im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1930/31 deportiert worden waren.

    Nach dem bis heute ungeklärten Mord am Leningrader Parteichef Kirow im Jahr 1934 kam eine Repressionswelle in Gang, die in den sogenannten Großen Terror der Jahre 1936 bis 1938 einmündete. Etwa 1,7 Millionen Menschen wurden vom NKWD als Volksfeinde verhaftet, 700.000 von ihnen erschossen. Besonders betrafen die Verhaftungen die Spitze von Partei und Armee, aber ebenso die wissenschaftliche, künstlerische und technische Elite. Da vorgegebene Quoten erfüllt werden mussten, es also pro Gebietseinheit eine vorgegebene Mindestzahl von Verhaftungen geben sollte, konnte es jeden Bürger treffen. Verschwörungen und Beweise wurden erdacht, Schauprozesse inszeniert, Geständnisse unter Folter erpresst. Die Vernichtungsmaschine erfasste selbst den Apparat des NKWD. Nachdem der Geheimdienstchef Jagoda 1936 und sein Nachfolger Jeschow 1938 erschossen worden waren, übernahm Berija bis 1953 die Leitung der Hauptverwaltung der Lager.

    In den Jahren nach Beginn des Zweiten Weltkriegs setzten sich Vernichtungs- und Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung fort. Sie betrafen nun auch Polen, Ukrainer, Belarussen und Balten, die durch den Hitler-Stalin-Pakt unter sowjetische Herrschaft gekommen waren. Nach Ende des Krieges wurden ehemalige sowjetische Armeeangehörige, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, und der Kollaboration verdächtigte Zivilpersonen in den Lagern interniert.

    Als Stalin 1953 starb, saßen circa 2,5 Millionen Menschen in sowjetischen Lagern. Insgesamt waren bis zu 20 Millionen Menschen durch den Gulag gegangen. Nach Schätzungen sollen etwa 2,7 Millionen Menschen im Lager ums Leben gekommen sein. Mehr als eine Million kam 1953 durch eine Amnestie frei. Der Großteil der politischen Häftlinge erlangte nach Chruschtschows Geheimrede 1956 die Freiheit zurück. Die Lagerhauptverwaltung wurde aufgelöst. Die wenigen verbliebenen Lager dienten auch weiterhin als Haftanstalten für politische Häftlinge, deren Zahl mit 8000 bis 20.000 zwischen 1957 und 1989 aber deutlich niedriger blieb als in den Jahrzehnten zuvor.

    Das Thema Gulag konnte seit der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990er Jahren gut erforscht werden. Über die Fakten besteht unter HistorikerInnen weitgehend Einigkeit. Strittig ist in der russischen Fachwelt und Öffentlichkeit jedoch die Frage, welchen Stellenwert dem Thema in der Vaterländischen Geschichte eingeräumt werden soll. Während die einen im staatlichen Terror den Kern des sowjetischen Herrschaftssystems sehen, versuchen die anderen, ihn als möglicherweise unumgängliche Begleiterscheinung des forcierten Aufbaus der Sowjetunion zur modernen Großmacht zu legitimieren.


    Weiterführende Literatur:
    Afanas’ev, Jurij u. a. (Hrsg.) (2004): Istorija Stalinskogo Gulaga, 2. Bd., Moskau
    Applebaum, Anne (2003): Der Gulag, Berlin
    Ivanova, Galina M. (2001): Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin
    Khlevniuk, Oleg (2004): The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror, New Haven, London
    Landau, Julia/Scherbakowa, Irina (Hrsg.) (2014): GULAG: Texte und Dokumente 1929–1956, Göttingen
    Memo.ru: SSSR. Istorija repressij: 1917-1991 (wichtigste Sammlung von Materialien online)
    Gulagmap.ru: Karte des Lagersystems

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  • Archipel Gulag

    Archipel Gulag

    Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

    Der Archipel Gulag gehört zu den wichtigsten und bekanntesten literarischen Werken der sowjetischen Dissidentenbewegung. In der Sowjetunion verboten, wurde es 1973 in Paris erstveröffentlicht. Die deutsche Übersetzung erschien wenig später und der erste Band brach alle deutschsprachigen Buchverkaufsrekorde. Kurz nach dem Erscheinen des Buchs wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen, man sprach damals von der Solschenizyn-Affäre. In der Sowjetunion erschien das Buch erst Ende der 1980er Jahre; inzwischen zählt es zur Pflichtlektüre an russischen Schulen.

    Das Werk

    Die drei Bände des Archipel Gulag sind in sieben Teile und zahlreiche Unterkapitel unterteilt. Den Plot des Buches bilden die Massenverhaftungen in der Sowjetunion: Verhör, Gericht, Zwangsarbeit und Verbannung. Zahlreiche Erzählstimmen sind eng verflochten: Sie präsentieren Solschenizyns eigene Haftgeschichte und die von vielen anderen Mitbürgern, aber auch die ideologischen Sichtweisen des Autors über andere Häftlinge, über Stalin und die Sowjetunion. Als Ganzes zielt das Werk auf eine Delegitimierung der sowjetischen Ideologie durch die Darstellung von staatlicher Ungerechtigkeit ab. Das Werk trägt auch den Charakter eines moralischen Appells.

    Die Rezeption

    „Kaum ein literarisches Werk des Dissens ist […] so einhellig begrüßt worden wie Solschenizyns Archipel.“ (Karl Schlögel).1 Die überaus positive Rezeption des Buchs in westlichen Ländern entsprang insbesondere aus dem Bedürfnis der Leser, sich vom sowjetischen Kommunismus als Ideologie abgrenzen zu wollen. So wurde das Buch zu einem Symbol des Kalten Krieges.

    Die Frage der literarischen Gattung: Wie kann man „Gulag“ heute lesen?

    Archipel Gulag wird vom Autor selbst als eine „künstlerische Untersuchung“ bezeichnet. Die literarische Gattung des Archipel Gulag ist jedoch schwer festzulegen. Der Autor behauptet, neben seiner eigenen Erfahrung auch die Hafterlebnisse von 227 anderen Personen niederzuschreiben und auf nichts Fiktives zurückzugreifen. Das Werk wird daher häufig als Geschichte gelesen, was jedoch problematisch ist, da es viele unbelegte Fakten und zahlreiche subjektive Einschätzungen enthält. Archipel Gulag beschreibt Begebenheiten, die sich nicht belegen lassen: So werden beispielsweise geheime Gespräche zwischen Dritten ohne Quellenhinweise wörtlich wiedergegeben.

    Das Werk lässt sich nicht einfach als generelle Anklage gegen das Unrecht in der UdSSR lesen, da Solschenizyn die Bestrafung von manchen Opfern des Stalinismus rechtfertigt und die Haft als eine Art „Schulung für die Seele“ betrachtet.2Auch seine Darstellung von Frauen oder Minderheiten ist unzeitgemäß. Beispielsweise werden lesbische Beziehungen als Krankheit eingestuft (Band 2, S. 236)3 und homosexuelle Männer durchgehend als „Schlampen“ (russ. suka, wörtl. Hündin) beschimpft. Massenvergewaltigung wird in einer Passage als etwas präsentiert, das bei nicht betroffenen Frauen Neid hervorruft (Band 2, S. 221–222)4. Heute erfordert das Werk die kritische Distanz des Lesers, es bleibt aber dennoch ein epochales Beispiel politischer Literatur.


    1. Schlögel, Karl (1982): Literatur der Dissidenz als Ansatz einer Theorienbildung zur sowjetischen Gesellschaft, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 31 ↩︎
    2. Toker, Leona (2000): Return from the Archipelago: Narratives of Gulag Survivors, Bloomington ↩︎
    3. Solschenizyn, Alexander (1974): Der Archipel Gulag, Bde. 1–3, Bern ↩︎
    4. ebd. ↩︎

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  • Alexander Solschenizyn

    Alexander Solschenizyn

    Im Westen ist Alexander Solschenizyn als einer der bedeutendsten Oppositionellen der Sowjetära bekannt. Solschenizyn selbst verbrachte acht Jahre seines Lebens in Straflagern und seine Werke über die Lagerhaft waren langjährige Bestseller in den 1960er und 1970er Jahren. 1974 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen und lebte bis 1994 im Exil. Heute wird er aufgrund seiner moralischen und politischen Vorstellungen hauptsächlich in konservativen und christlichen Kreisen in Russland und im Westen gelesen und wurde im Zuge des Ukraine-Konflikts wieder populärer.

    Solschenizyn (1918–2008) studierte Mathematik in Rostow am Don, wo er 1940 seine Frau Natalja heiratete. 1941 wurde er in die Rote Armee eingezogen und 1945 wegen staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet. Er verbrachte die ersten Jahre seiner Haft in einem Lager, in dem er  als Wissenschaftler intellektuelle Zwangsarbeit zu leisten hatte. Die Bedingungen dort waren wesentlich leichter als später im Sonderlager Ekibastus, wo er zu physischer Arbeit gezwungen wurde und bis 1953 inhaftiert war. Nach seiner Entlassung durfte er zunächst seinen Wohnort nicht frei wählen und konnte nur in Randgebieten der Sowjetunion leben. 1956 wurde das ursprüngliche Urteil gegen ihn für gegenstandlos erklärt. Solschenizyn arbeitete fortan als Lehrer und begann, abends zu schreiben. Seine Frau Natalja zog zu ihm nach Rjasan.

    Sein erstes Werk Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch erschien 1962 mit der Unterstützung des kommunistischen Parteichefs Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion. Der erste in der Sowjetunion publizierte Roman eines Nichtkommunisten über das Leben im Gefangenenlager wurde zur Sensation: Solschenizyn erlangte schlagartig weltweite Berühmtheit, sein Roman entwickelte sich zu einem Bestseller. Er wurde in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen, von dem man ihn jedoch 1969 mit der Begründung, er habe ohne Genehmigung im Ausland publiziert, wieder ausschloss. Unterstützt von einer Solidaritätskampagne im Westen erhielt er im Jahr 1970 den Literaturnobelpreis. Im gleichen Jahr ließ sich Solschenizyn scheiden und heiratete seine zweite Frau, die ebenfalls Natalja hieß.  

    Als 1973 sein Hauptwerk Archipel Gulag im Westen erschien, beschloss die Sowjetregierung, den unbequemen Schriftsteller auszubürgern, weil sie das Buch als Verleumdung betrachtete. Archipel Gulag wurde zur bekanntesten literarischen Anklage gegen die sowjetische Ungerechtigkeit. 1974 wurde Solschenizyn in den Westen abgeschoben, seine Familie durfte ihm folgen. Er ließ sich auf einem Anwesen im Norden der USA nieder. Seine neuen Werke befassten sich mit der Geschichte Russlands am Anfang des 20. Jahrhunderts und wurden weniger erfolgreich. Er veröffentlichte Essays und hielt Reden, in denen er seine moralischen Ansichten äußerte. Dass das US-Publikum ihm kaum Gehör schenkte, enttäuschte ihn.1

    In der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion schrieb er programmatische Texte mit gesellschaftspolitischen Reformvorschlägen. 1994 kehrte er schließlich nach Russland zurück, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Seine letzten Werke umfassten historische Abhandlungen, Erinnerungen an die Zeit im Exil und Kurzgeschichten. Er starb 2008 und hinterließ seine Frau und drei Söhne.

    Immer wieder wird diskutiert, ob im Werk Solschenizyns nationalistische oder antisemitische Tendenzen zu finden sind. Er selbst wies derartige Vorwürfe von sich. Jedoch lässt eine Analyse seiner Werke auf der Grundlage wissenschaftlicher Definitionen von Nationalismus oder Antisemitismus keinen Zweifel mehr an der Berechtigung dieser Vorwürfe (s. Rowley; Luks; Kriza)2. Außerdem ist seine Vision eines christlichen Großrusslands insbesondere von Mitgliedern der politischen Elite in Russland im Ukraine-Konflikt wieder aufgegriffen worden.


    1. Solschenizyn, Alexander (2007): Meine amerikanischen Jahre, München ↩︎
    2. Kriza, Elisa (2014): Alexander Solzhenitsyn: Cold War lcon, Gulag Author, Russian Nationalist? A Study of the Western Reception of his Literary Writings, Historical Interpretations, and Political Ideas, in: Umland, Andreas (Hrsg.): Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Bd. 131, Stuttgart; Luks, Leonid (2008): Zweihundert Jahre zusammen, Bd. 2: Die Juden in der Sowjetunion, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2008 (56/4); Rowley, David G. (1997): Aleksandr Solzhenitsyn and Russian Nationalism, in: Journal of Contemporary History 1997 (32/3) ↩︎

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