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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Spasibo, Herr Biden!

    Spasibo, Herr Biden!

    Massive Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze haben in den vergangenen Tagen wiederholt Kriegsängste geschürt. Doch nun heißt es aufatmen, zumindest vorerst: Am Dienstag hat der US-Präsident Joe Biden Wladimir Putin angerufen und ihm ein Treffen in einem neutralen Land vorgeschlagen. 

    Bidens Angebot ist laut Andrej Sinizyn genau das, was der Kreml mit der Eskalation an der Grenze zur Ukraine angestrebt hat – ein Dialog „auf Augenhöhe“. Nachdem Biden den russischen Präsidenten als „Killer“ bezeichnet hat und zahlreiche westliche Politiker einen Tiefpunkt der Beziehungen zu Russland bescheinigt haben, bringt sich der Kreml offenbar zurück an den Verhandlungstisch. Gleichzeitig haben die USA am gestrigen Donnerstag, 15. April, neue Sanktionen gegen Russland verhängt – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs.
    Was kann bei so einem Gipfel also überhaupt rauskommen? Diese Frage stellt Sinizyn auf Republic.  

    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0
    Biden schlägt Putin ein Treffen vor – aber welche Ergebnisse sind von diesem Gipfel zu erwarten? / Foto © Matt Johnson/Flickr CC BY SA-2.0

    Biden ist in diesem Spiel vorgeprescht – mit einem sehr guten Zug. Zumindest bis zu einem Gipfel wird es keinen Krieg geben, und der amerikanische Präsident ist in den Augen progressiver Kräfte ein Friedensstifter. 

    Völlig unklar ist, welche Ergebnisse von diesem Gipfel zu erwarten sind. Gemeinsame Themen außer Rüstungskontrolle gibt es zwischen den USA und Russland schon lange nicht mehr. Im Laufe der Vorbereitung wird der Kreml wahrscheinlich demonstrative Schritte Richtung „Entspannung“ (vielleicht die Entlassung von Alexej Nawalny?) einleiten. Aber natürlich wird er im Gegenzug verlangen, dass die Sanktionen gelockert werden, die technische Zusammenarbeit wieder aufgenommen wird et cetera. Washington wird darauf nicht eingehen, „nach allem, was war“.  

    Putin wird natürlich darauf bestehen, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt ohne jegliche Anpassungen (wie sie zuvor Wolodymyr Selensky vorgeschlagen hatte). Hier wird Putin wohl kaum mit der Unterstützung Bidens rechnen können, doch der Kreml wird bemüht sein, schon vor dem Gipfel Druck auf Selensky auszuüben – damit der „von sich aus um Verzeihung bittet“.

    Insgesamt wird es keinen Durchbruch geben, wie es ihn auch bei den Treffen von Putin mit Trump nicht gegeben hat. Die große Frage ist: Wie lange hält der Friedenseffekt von Bidens Anruf und dem geplanten Gipfel? Das traurige Fazit aus dem aktuellen Geschehen ist, dass Russland keine Hebel mehr hat, um sich in die Weltpolitik einzubringen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – außer durch Androhung eines Krieges.  

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  • Sputnik V und die Werte des Westens

    Sputnik V und die Werte des Westens

    Propagandistische Finte Moskaus oder ein ganz normaler Impfstoff: Sputnik V sorgt besonders im Westen immer wieder für neue Diskussionen. Nachdem bekannt wurde, dass auch Deutschland einen bilateralen Vertrag für den Ankauf des russischen Impfstoffs aushandeln will, gewinnt das Thema an zusätzlicher Brisanz. 

    Rund 50 Staaten verimpfen Sputnik V bereits. In der EU befindet sich das Vakzin seit Anfang März in einem beschleunigten Prüfungsverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Laut dem Fachmagazin The Lancet verfügt der Impfstoff über eine hohe Wirksamkeit, allerdings bestehen weiterhin Zweifel und Unklarheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen. EMA-Mitarbeiter beklagen dabei mangelnde Transparenz und Kooperation des Herstellers.

    Auch wenn die Zulassung schnell über die Bühne gehen sollte, werde Sputnik V in der EU kaum eine Rolle spielen können. Das hatte zuletzt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bekräftigt: Bis entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut sind, dürften die bisherigen vertraglichen Hersteller schon genug Vakzin geliefert haben.

    In der politisierten Impfstoffdebatte kann Russland gegenüber dem Westen derzeit punkten, argumentiert Alexander Baunow. Russland, so der Chefredakteur von Carnegie.ru, sei durchaus erfolgreich dabei, „die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit kollidieren zu lassen“. Im Runet wurde sein zuspitzendes Meinungsstück kontrovers diskutiert: Kritiker bemängeln unter anderem ein zu rosiges Bild der Corona-Situation in Russland, wo die Übersterblichkeit aktuell so hoch ist wie in kaum einem anderen Land auf der Welt. Andere halten Baunow zugute, dass er dem Westen durchaus den Spiegel vorhalte. 

    Die neuen Wellen der Pandemie unterscheiden sich stark von der ersten. Die Menschen horten keine Lebensmittel, Seife oder Toilettenpapier mehr. Niemand beschwert sich darüber, dass Masken oder Desinfektionsmittel fehlen. Der anfängliche Mangel ist längst behoben: Weder gewöhnliche Bürger noch Ärzte müssen, wie wir es in Reportagen sahen, improvisierte Masken nähen oder waschen, um sie wiederzuverwenden.

    Nur Moskauer mit besonders selektiver Wahrnehmung behaupten noch, die Regierung und die Stadtverwaltung drangsaliere die Bürger mit Polizeikontrollen und mit Verboten für Reisen ins Ausland. Wie ein exotisches Märchen klingen anderswo auf der Welt die Berichte über das Land, in dem man zu Konzerten und ins Theater gehen, auf die Datscha, in die Berge oder ins Ausland fahren kann. Genau wie die Erzählungen über die Großstadt, in der sich Impfwillige unabhängig von Geschlecht, Alter und ihrer Staatsangehörigkeit in Einkaufszentren impfen lassen können.

    Genau diese Gerüchte aus Moskau werden zu einem politischen Problem – in einer Zeit, in der man nicht nur Gebiete und Armeen, sondern auch Fernsehsender, Twitter-Accounts und Impfstoffe in Kategorien von Freund und Feind unterteilt. 

    In den ersten Monaten der Pandemie waren strenge Maßnahmen und außerordentliche finanzielle Hilfen ein Symbol für verantwortungsvolles Handeln und Fürsorge einer Regierung für ihre Bürger. In dieser Phase gewannen die disziplinierten und wohlhabenden westlichen Gesellschaften, die über ein hohes Maß an Vertrauen zueinander und zu ihrer Regierung verfügen.

    Neues Symbol der Fürsorge ab der zweiten Welle: der Impfstoff

    Doch in und nach der zweiten Welle wurde die Impfung und eine ausreichende Versorgung mit Impfstoff, also die Fähigkeit, mit den minimal notwendigen Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, zu einem solchen Symbol von Fürsorge.

    Auch wenn Russland nicht beweisen konnte, dass es mit der Pandemie besser fertig wurde, konnten Europa und die USA auch nicht das Gegenteil beweisen. Das aber wäre ausgesprochen wichtig gewesen, weil die Demokratie auf dem Prinzip der Überlegenheit gründet, wegen der man ihr nacheifern soll. Der russische Autoritarismus hingegen will als ebenbürtig gelten, und das erfordert nicht unbedingt Nachahmung. 

    Das wird besonders deutlich an der Haltung zu den Impfstoffen des jeweils anderen. Für Russland ist es wichtig, dass sein Impfstoff gleichrangig zu den westlichen zugelassen wird, damit der Westen und insbesondere Drittländer ihn ohne diplomatische Schwierigkeiten nutzen können. Für den Westen ist es notwendig, dass seine und im Idealfall auch Drittländer die westlichen Impfstoffe, nicht aber Sputnik V nutzen. Am Umgang mit dem Impfstoff offenbart sich: Im Konflikt des Westens mit Russland haben wir einen klaren Fall vom Kampf um Überlegenheit gegen den Kampf um Gleichheit.

    Westen versus Russland – Kampf um Überlegenheit versus Kampf um Gleichheit

    Während der Westen gewinnen muss, genügt Russland ein Gleichstand, um die Partie für sich zu entscheiden. Unter diesen Vorzeichen könnte die Zulassung von Sputnik V ein fragiles Gleichgewicht stören. 

    Es ist für den Westen schon ein ernsthaftes Problem, dass sich Sputnik V von einer „propagandistischen Finte Moskaus“ in einen gleichrangigen Impfstoff verwandelt hat. Denn ein Argument für die Überlegenheit von Demokratien besteht darin, dass sie – im Unterschied zu Autokratien – ihre Bürger nicht belügen und die Lügen der Diktatoren entlarven. Würde Sputnik V zugelassen, wäre es ein Eingeständnis, dass Putin die Wahrheit gesagt hat, seine Gegner ihn aber der Lüge bezichtigten. Und das wäre eine für viele nicht zulässige Normalisierung der Verhältnisse.

    Hatte es Putin aus politischen Überlegungen sehr eilig zu erklären, Russland habe einen Impfstoff entwickelt, so hatten es die westlichen Sprecher genau so eilig, diese Aussage als Propaganda abzutun – damit manövrierten sie sich in eine schwierige Lage. Man kann Putin nach wie vor einen Fehlstart vorwerfen. Die Verkündung der Zulassung des weltweit ersten Impfstoffes, als noch nicht alle Studien abgeschlossen waren, war überstürzt. Aber ihm einen Fehl-Finish vorzuwerfen, ist ohne jeden Sinn und Zweck.

    Insgesamt kein unfaires Rennen bei der Impfstoffentwicklung

    Das erschüttert das stabile Konstrukt, jede unbequeme Information aus Russland könne als Lüge deklariert werden. Außerdem sät es Zweifel bei den Bürgern der Demokratien. Mit einer Zulassung von Sputnik V für den Westen würden die Staats- und Regierungschefs quasi für Putin und gegen sich selbst arbeiten. Wobei die Impfgeschwindigkeit in den westlichen Ländern jene in Russland sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual übersteigt. Sogar in der EU (die hinter den USA und Großbritannien liegt) waren Mitte März etwa zehn Prozent der Bevölkerung geimpft – in Russland knapp fünf Prozent. Doch in Europa wird nach Altersgruppen geimpft, während sich in Russland jeder sofort impfen lassen kann, der es möchte. Das erzeugt zusätzlich den Eindruck, Sputnik V wäre in ausreichender Menge vorhanden, während in Europa ein Mangel herrscht.

    Der gemächliche Impfprozess in Russland findet vor dem Hintergrund sinkender Fallzahlen statt, während in vielen europäischen Ländern die Ansteckungen steigen. In Moskau wird sogar in Einkaufszentren und Theatern geimpft, wohingegen die europäischen Länder darüber klagen, dass nicht einmal für die Risikogruppen genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. 

    In Russland herrscht Impfstoffüberfluss, in Europa Mangel und Rückstand

    Die Möglichkeit der Impfung für alle erzeugt den Eindruck von Überfluss und Erfolg, gemessen am europäischen Mangel und Impfrückstand. Russland für eine Lüge zu kritisieren, ist schwieriger geworden. Nachdem sich die Kritik an Sputnik V als unberechtigt erwiesen hat, glauben westliche Bürger ihren Repräsentanten nicht mehr vorbehaltlos, wenn sie Russland der Lüge bezichtigen.

    Ein politisches Problem für den Westen ist auch, dass Russland seinen Impfstoff Drittländern anbieten möchte, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Damit wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten auf einem Feld, auf dem sich der Westen stillschweigend als Sieger wähnte: auf dem Feld der Werte – des menschlichen Lebens, des Humanismus und des Wohlwollens von Privilegierten gegenüber weniger Privilegierten.

    Ein Beweis für die Überlegenheit der Demokratie ist die Tatsache, dass eine Demokratie das Leben ihrer Bürger nicht für politische Zwecke gefährdet. Brüssel, das zu Beginn der Pandemie zaghaft agiert und zugelassen hatte, dass Europa im Kampf gegen das Virus in nationale Fronten zerfällt, gewann in der Phase der Impfungen die Führung zurück. Die europäischen Länder haben sich darauf geeinigt, dass gemeinsame Organe in Brüssel für den Einkauf und die Verteilung des Impfstoffes zuständig sein sollen. Diese Entscheidung wurde getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden, denn je größer der Absatzmarkt, desto bessere Preise können bei den Verhandlungen mit den Herstellerfirmen ausgehandelt werden. Die westlichen Regierungen haben alle Urheber- und Marktrechte bei den Entwicklerfirmen belassen. Das gilt als eine Art Gerechtigkeit: Wer in die rettenden Präparate investiert, soll profitieren. Das führt aber auch dazu, dass während einer Pandemie tausende geheime Verhandlungen geführt und hunderte undurchsichtige Verträge mit willkürlichen Preisen abgeschlossen werden.

    Weder die Preise noch die weltweite Verteilung des Impfstoffes haben etwas mit den Ideen des Humanismus, der Gleichheit und der Unterstützung von historisch benachteiligten Ländern zu tun. Zwar hat die EU Maßnahmen ergriffen, um nicht intern zu konkurrieren, aber das gilt nicht für den Rest der Welt. Da konkurrieren die Reichsten mit den Armen, und erwartungsgemäß gewinnen die Reichen.

    Erwartungsgemäß gewinnen die Reichen

    Derzeit bestehen weltweit Verträge für etwa zehn Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffe. Das würde genügen, um fast die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Dosen sind ungleich verteilt. Führend sind bei der Zahl der Verträge und Einkäufe die USA; bei den Einkäufen pro Kopf liegt Kanada vorn, das Verträge für Impfdosen abgeschlossen hat, mit denen es seine Bevölkerung sechsmal impfen könnte. In Kanada hat die Epidemie relativ gefährliche Ausmaße erreicht, aber auch Australien, wo es nach der weltweiten Definition keine Epidemie gibt, hat seine Bürger zu 247 Prozent mit Impfdosen versorgt. Eine hohe vertraglich vereinbarte Versorgung sehen wir auch in der EU mit mehr als 200 Prozent und in Großbritannien mit mehr als 400 Prozent. Doch Europa gehört zu den am stärksten von der Pandemie Betroffenen. 

    Nicht mit Impfstoff versorgt sind erwartungsgemäß arme Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und sogar des Balkans (beispielsweise der Kosovo und Bosnien). 

    Ein großes Chaos herrscht bei den Preisen. Die EU zahlt für eine Portion AstraZeneca 3,5 US-Dollar, Südafrika 5,25 US-Dollar und das für die Hersteller unattraktive Uganda 8 US-Dollar. Die Initiative COVAX, die von der WHO mitentwickelt wurde, um durch Sammelkäufe die armen Länder zu versorgen, kommt ins Stocken und greift nicht: Noch reicht es nicht mal für die Reichen. 

    Entscheidung für den Westen zahlt sich nicht aus

    Besonders schwierig ist die Lage für die Nachbarstaaten der EU und Russlands, die sich für die westliche Variante entschieden haben: die Ukraine, Georgien, Moldawien. Sie schließen einen Kauf und die Produktion des russischen Impfstoffs aus Prinzip aus. Doch wegen der harten Konkurrenz innerhalb der EU-Länder bekommen sie auch keinen westlichen Impfstoff. Ihre Entscheidung für den Westen wurde also in dieser brisanten Frage nicht gewürdigt.

    Diese fehlende Würdigung kann zu einer Politisierung der Impfstoffzulassungen und zu Problemen bei Einreisebestimmungen führen: Wird Sputnik V nämlich für die EU zugelassen, stehen die ehemaligen Sowjetstaaten, die sich für den Westen entschieden, aber keinen Impfstoff erhalten haben, vor der Situation, dass die mit Sputnik V geimpften Russen noch vor ihnen nach Europa reisen können. 

    Das gilt es zu vermeiden, deswegen sind die Nachrichten über die Zulassung des russischen Impfstoffes für Europa auch so widersprüchlich. Einerseits wird er diskutiert, andererseits, so verkünden hohe EU-Funktionäre, brauche die EU ihn nicht. Man könnte versuchen, die Zulassung von Sputnik V zu verzögern, bis ein wesentlicher Teil der Bevölkerung der verbündeten Länder mit westlichen Impfstoffen geimpft ist. So wäre eine Zulassung von Sputnik V durch Brüssel kein Eingeständnis der Schwäche und kein Verrat an den Verbündeten in der Eindämmungspolitik gegen Russland. Doch einige Länder der EU wehren sich gegen diese Verzögerung, weil sie nicht genügend westlichen Impfstoff erhalten und außerdem Einbußen durch das Ausbleiben der russischen Touristen haben. 

    Sputnik V könnte westlichen Regierungen in ihrer Abwehrpolitik schaden

    Wegen bevorstehender Wahlkämpfe kann es sich kaum eine westliche Regierung erlauben, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, solange die eigene Wählerschaft nicht geimpft und der Lockdown nicht aufgehoben ist. Die russische (und auch die chinesische) Regierung dagegen bleiben verschont vor kompetitiven Wahlen und können den Impfstoff Drittländern anbieten, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Diese ist obendrein nicht zu Hause eingesperrt und hat es deswegen gar nicht eilig, sich impfen zu lassen. Der Westen kann das als einen unfairen Wettbewerbsvorteil betrachten. 

    In den Augen derjeniger, die den Westen und seine Verbündeten vor russischer Einmischung bewahren wollen, wäre schon die Zulassung des russischen Impfstoffs eine Schwächung der Abwehrbereitschaft. Die Dankbarkeit für die durch Sputnik V geretteten Leben und Unternehmen könnte sich schlecht auf die Abwehrbereitschaft auswirken. Alles zusammen erklärt, warum die westlichen Regierungen, die ihre Vorrangstellung hochhalten, und Russlands Nachbarn, die sich als Grenzland der westlichen Kultur begreifen, einen normalen Umgang mit dem russischen Impfstoff ablehnen.

    Der Westen hat nicht nur den Anspruch, Reichtum und Effizienz zu demonstrieren, sondern auch einen Anspruch auf die globale Verantwortung. Die Ambitionen, faire Regeln für die Welt aufzustellen, werden dadurch untermauert, dass das menschliche Leben in westlichen Demokratien mehr wert ist als in allen anderen Gesellschaften.

    Der Impfprozess und die Politisierung des feindlichen Impfstoffes zeigen, dass es in erster Linie um das Leben der Bürger der Demokratien selbst geht. Ja, westliche Wissenschaftler haben den Großteil des Impfstoffs entwickelt und westliche Unternehmen produzieren ihn. Der Verpflichtung, diesen Impfstoff mit Ärmeren zu teilen, kommen sie bislang eher symbolisch nach. Es gibt keinerlei Versuche, künstliche Gleichberechtigung zu konstruieren, Quoten oder eine positive Diskriminierung einzuführen: Setzen Sie erst sich eine Maske auf. Danach helfen Sie dem Kind.

    Weltweiter Pathos von Gleichberechtigung wird aufgeweicht

    Black Lives Matter ist de facto nur auf die privilegierten Gesellschaften wie die USA und Europa begrenzt – und das weicht das Pathos der weltweiten Kampagne für Gleichberechtigung etwas auf. Die erklärten und die tatsächlichen Ziele werden noch viel widersprüchlicher, wenn wir erfahren, dass das Gesundheitsministerium der USA es als Erfolg verbucht, Brasilien daran gehindert zu haben, den russischen Impfstoff einzukaufen – als Abwehr gegen den schädlichen Einfluss von Russland, Kuba und Venezuela. Es wirkt ganz so, als würden westliche Regierungen die linke Kritik an kapitalistischen Staaten bewusst bestätigen, derzufolge sie nur bestünden, um die Interessen von Großkonzernen zu vertreten.

    Moskaus Strategie besteht nicht zum ersten Mal darin, ein Bündnis zu erzwingen, das nicht auf gemeinsamen Werten gründet, sondern gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet ist – sei es der Terrorismus, die Piraten vor Somalia, der sogenannte Islamische Staat oder das Coronavirus. 

    Momentan gelingt es Russland durchaus, die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander kollidieren zu lassen. Indem westliche Demokratien ihr Handeln ausschließlich danach ausrichten, nicht in die Falle eines Bündnisses mit autoritären Staaten zu geraten, verlieren sie genau die Werte aus dem Blick, die sie diesen Staaten vor Augen halten. Das deutet auf den Verlust jener Überlegenheit hin, die sie eigentlich festigen wollen, indem sie den russischen Impfstoff nicht zulassen.

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  • Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    Vom Säbelrasseln zum Krieg?

    Im Osten der Ukraine bahnt sich eine neue Krise an: Seit dem Frühjahr gibt es vermehrt Schusswechsel, trotz einer vereinbarten Waffenruhe sind 2021 schon rund 50 Menschen gestorben. Während der Kreml Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze anordnet, läuft die Propaganda des russischen Staatsfernsehens auf Hochtouren: Die Ukraine bereite einen Angriff vor, Russlands „Friedenstruppen“ seien bereit, im Donbass einzumarschieren und dort für Ordnung zu sorgen, so der Tenor. 

    Die Ukraine versetzt Truppen in Bereitschaft und sucht Beistand im Ausland: In einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky sagte Joe Biden, dass die Ukraine auf die „unerschütterliche Unterstützung“ Amerikas zählen könne. 

    Die Einschätzungen der Lage gehen in Russland weit auseinander: Der russische Militärexperte Pawel Felgengauer glaubt etwa, dass die Krise sich im Extremfall sogar zu einem Weltkrieg auswachsen könne. Für Felgengauers Mitstreiter Alexander Golz ist sie vor allem Säbelrasseln, das dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber dem Westen dient. 

    Auch Fjodor Krascheninnikow argumentiert, dass Putin wohl keinen neuen Krieg will. Auf Republic kommentiert der Journalist, was der Kreml mit der aktuellen Eskalation beabsichtigt und warum die Situation trotz allem brandgefährlich ist.

    Im Internet häufen sich Aufnahmen von Militärfahrzeugen entlang der ukrainischen Grenze – laut „The Insider“ die größte Konzentration russischer Truppen dort seit 2015 / Screenshot © The Insider

    Warum braucht Putin einen Krieg? Die Frage mag denen idiotisch erscheinen, die schon alle Argumente rauf und runtergenudelt haben: Die Beliebtheitswerte sinken, der Westen will nur über Nawalny reden, und überhaupt – die weltumspannende Figur des Dr. Evil verlangt nach Aggression. Beständiges Geheul im Sumpf der Propaganda. Irgendwas hat das doch zu bedeuten. Gerade mit dem ganzen Militärgerät vor Augen.

    Die Staffeln von Militärgerät wirken besonders beunruhigend. Das geflügelte Wort, dass auch eine ungeladene Pistole einmal im Jahr losgeht, lässt Bedenken aufkommen, ob Riesenmengen an schweren Waffen und Soldaten, die sich am selben Ort befinden, nicht unweigerlich mit einer Schießerei enden. 

    Alles andere ist bei genauerem Nachdenken bedeutungslos. Bereitet man sich auf einen echten Krieg vor, dann jault man darüber nicht von morgens bis abends. 

    Das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann

    Das Ergebnis ist irgendein Blödsinn: Putin hat beschlossen Krieg zu führen, hat dem Gegner aber einen Haufen Zeit gegeben sich vorzubereiten. Und damit der mehr Argumente zur Mobilisierung der Nachbarn zwecks Unterstützung hat – wird noch Angst geschürt und von morgens bis abends demonstriert, wie ernsthaft das Vorhaben ist. Es gibt natürlich alles Mögliche, aber das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann.

    Wie sehr sich Chauvinisten auch versichern, dass die Ukraine keine Armee hat, keine hatte und keine haben wird – das entspricht im Frühjahr 2021 nicht den Tatsachen: Es gibt dort eine Armee, und selbst wenn es nicht die beste auf der Welt ist, so kann sie dem Gegner doch Schaden zufügen. Schaden – das bedeutet, falls es jemand nicht verstanden hat, Leichen unter unseren Landsleuten. Hunderte, tausende, im schlimmsten Fall zehntausende Leichen.

    2021 ist nicht 2014

    Der Unterschied zwischen unserer Zeit und der jüngsten Vergangenheit besteht darin, dass Opfer in der Gesellschaft schon lange nicht mehr als etwas Selbstverständliches angesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die im letzten Ukrainekrieg und bei anderen geopolitischen Abenteuern Gefallenen ohne großen Pathos beerdigt werden und großer Aufwand betrieben wird, damit ihre Familien nicht vor aller Augen trauern. Das Krim-Epos brachte Putin einen so großen Erfolg ein, weil beim Normalbürger der Eindruck entstand, es wäre kein Blut geflossen.

    Ich wage zu behaupten, dass selbst der schwächste Widerstand der ukrainischen Armee unsere Falken verschrecken und überhaupt die ganze patriotische Messe vermiesen könnte: Höfliche Menschen, die von Krimbewohnern mit Blumen begrüßt werden, und ein ukrainischer Admiral, der in den russischen Dienst überläuft – das ist eine Sache. Aber Krieg, Leichen und Schusswechsel sind eine völlig andere Sache. Kommt mir nicht mit „Rückkehr in den Heimathafen“. Es ist völlig offensichtlich, dass die ukrainische Armee im Jahr 2021 bereit ist für einen Krieg. Schüsse und Opfer wird man da auf keinen Fall vermeiden können. 

    Das Rasseln mit den Säbeln ist weitaus wirkungsvoller als ihr Einsatz

    Der Krieg als Möglichkeit, um den Verhandlungen mit dem Westen einen anderen Dreh zu geben, scheint eine logische Variante zu sein. Doch auch hier scheint das Rasseln mit den Säbeln weitaus wirkungsvoller zu sein als ihr Einsatz. Denn wenn ein Krieg ausbricht, dann werden die Verhandlungen enden, und es ist unklar, wer in welcher Position ist, wenn erneut Verhandlungen aufgenommen werden. Darum ist eine Kriegsdrohung deutlich besser als ein Krieg, wenn es um Verhandlungstaktiken geht.   

    Auch die innenpolitischen Probleme Putins verlangen nicht nach einem handfesten Krieg. Diskussionen um innere Probleme kann man mit demonstrativen Kriegsvorbereitungen vermeiden, nicht mit einem Krieg. Um die Stammwählerschaft zu mobilisieren (auf alle anderen wird doch eh schon längst gepfiffen, falls das jemand noch nicht bemerkt hat) und rituellen Segen für weitere Gewalt gegen die Opposition zu bekommen – dafür braucht es sicher keinen Krieg als solchen, zumindest keinen realen. Die Leute wurden dazu erzogen, dem Fernseher zu vertrauen – und sie werden leicht daran glauben, Putin habe auch ohne Krieg alle überlistet, oder der Krieg habe schon stattgefunden und mit einem weiteren Sieg für uns geendet.

    Das Feiglingsspiel

    In der Mathematik gibt es den Bereich der Spieltheorie. Beachtenswert ist da das Chicken Game, das in einer einfachen Variante so aussieht: Zwei Autofahrer jagen aufeinander zu, und wer als erstes der Gefahr ausweicht, der ist ein Feigling. Und wer nicht ausweicht, der gewinnt. Falls keiner ausweicht, können beide beim Unfall umkommen.

    Damit der Gegenspieler garantiert als erstes ausweicht, ist es sinnvoll, vorab Leichtsinn oder gar Fatalismus zu demonstrieren: Der Gegner soll denken, dass dieser Dummkopf tatsächlich bereit ist zu sterben und den anderen mit ins Grab zu ziehen.

    Genau dieses Spiel spielt Putin nun mit dem Westen. Auf der einen Seite gibt es ihn, den Diktator, der mit allen Mitteln demonstriert, dass ihn die Meinung irgendwelcher Unzufriedener im eigenen Land überhaupt nicht interessiert, der nicht vorhat, sich in irgendwelchen Wahlkämpfen zu behaupten, und sich deswegen auch egal was erlauben kann – sei es, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich einen Krieg anzuzetteln, oder seien es Zugeständnisse. Auf der anderen Seite gibt es die Eliten des Westens und allen voran der USA, die sehr wohl abhängig sind von der öffentlichen Meinung im eigenen Land und voneinander.

    Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?

    Darin liegt anscheinend Putins größter Trumpf: Die gegenwärtige westliche Moral macht Krieg zu einer größeren Schmach als Feigheit. Das gibt den westlichen Herrschern die Möglichkeit, im letzten Moment vom Pfad der Konfrontation abzuspringen und den Wählern zu sagen: Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?

    Genau darauf spekuliert Putin, wie es scheint: dass der Westen im Augenblick der größten Anspannung einen Rückzieher macht und sich nicht nur damit abfindet, dass die Krim russisch ist, sondern auch damit, dass die Ukraine zur russischen Einflusssphäre gehört und man sich in innere Angelegenheiten Russlands eben keinesfalls einzumischen hat. 

    Drohender Kontrollverlust

    Wenn der Welt und uns allen etwas droht, dann, dass die massenhafte Konzentration von bewaffneten Menschen und Militärtechnik an einem Ort zu einer Entwicklung der Ereignisse führen kann, die von niemandem mehr beherrscht wird. Putin, Biden und Selensky versuchen vielleicht globale Probleme zu lösen. Aber dann sind da ja auch noch die Offiziere und Generäle der Armeen und Geheimdienste, für die Krieg ein absolut legitimes Mittel zum Aufstieg auf der Karriereleiter ist. Und schließlich gibt es einfach auch noch Abenteurer, Sadisten, Beutemacher und andere Halunken verschiedenster Couleur, denen der Krieg eine Chance bietet, ihre alles andere als globalen Probleme zu lösen.

    Der Krieg könnte wie zufällig beginnen – als Antwort auf eine weitere Provokation, als lokale Operation, als Ergebnis einer falschen Lageeinschätzung oder als bewusste Manipulation von jemandem, dem persönlich an einer Eskalation gelegen ist. Den ersten Schritt könnte auch die Ukraine machen, denn auch für deren Regierung wäre das eine völlig erklärbare Strategie: Auf einen Krieg kann man vieles abschieben und Probleme hat Selensky genug. Kurz gesagt, momentan könnte alles mögliche passieren, durch das Verschulden von einer beliebigen Seite. Aber wenn ein Krieg ausbricht, dann ist das nie zufällig, sondern die gesetzmäßige Folge dessen, was in den vergangenen Jahren passiert ist. 
    Und dennoch bleibt die Hoffnung, dass es nicht zu einem großen Krieg kommt. Moderne Kommunikationsmittel bieten die Chance, dass im letzten Moment trotz allem der Befehl ankommt, der heißt: Entwarnung.

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