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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    Was macht es mit dem Journalismus, wenn der Staat immer schärfer gegen unabhängige Medien vorgeht? In der zweiten Folge des Mediamasterskaja-Podcast diskutieren der russische Journalist Maxim Trudoljubow und sein belarussischer Kollege Alexander Klaskowski diese Frage.

    In Russland wie Belarus geraten unabhängige Medien derzeit unter immer stärkeren Druck – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Russland haben nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny im Januar/Februar 2021 und vor der Dumawahl im September die Maßnahmen gegen unabhängige Medien und Journalisten dramatisch zugenommen: Erst am vergangenen Freitag haben Behörden das Investigativmedium The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Zuvor waren der Chefredakteur und weitere Redakteure des Onlinemagazin Projekt ebenfalls auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Genauso wie das Onlinemagazin VTimes und das reichweitenstarke unabhängige Portal Meduza.
    Gegen Journalisten anderer unabhängiger Medien wurden mitunter Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redakteure des Studierendenmagazins Doxa – sie hatten zu Solidaritätsprotesten für Nawalny aufgerufen, die Staatsanwaltschaft wertet das als „Aufruf an Minderjährige, an rechtswidrigen Handlungen und illegalen Demonstrationen“ teilzunehmen. 

    Die Situation in Belarus ist noch zugespitzter als in Russland: Die belarussischen Machthaber gehen seit mehr als einem Jahr gezielt gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Auch in den vergangenen zwei Wochen hat es in ganz Belarus wieder Durchsuchungen gegeben, sowie zahlreiche Festnahmen. 27 Journalisten befinden sich derzeit noch in Haft oder unter Hausarrest. Viele Medienschaffende haben das Land bereits verlassen, weil es nahezu unmöglich geworden ist, in Belarus seiner Arbeit nachzugehen. Es ist zu befürchten, dass Alexander Lukaschenko die Strukturen des unabhängigen Journalismus vollständig zerschlagen will. 

    In unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) begleiten wir Medienprozesse in Russland und Belarus kritisch und erörtern sie mit unterschiedlichen Akteuren. In der ersten Folge diskutieren die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.

    In der zweiten Folge fragen wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.

    Alexander Klaskowski: Ich bin Alexander Klaskowski und arbeite bei der Nachrichtenagentur BelaPAN. Das ist eine unabhängige Nachrichtenagentur, was für Belarus untypisch ist, weil man den nichtstaatlichen Medien bei uns, offen gesagt, bereits den Todesstoß versetzt. Bei BelaPAN leite ich die analytischen Projekte, außerdem gelte ich als Medienexperte. Seinerzeit habe ich an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius unterrichtet und Workshops unter der Schirmherrschaft des Belarussischen Journalistenverbands geleitet. Manchmal gebe ich Kommentare zu Themen, die mit Medien zusammenhängen. 

    Maxim Trudoljubow: Mein Name ist Maxim Trudoljubow. Ich habe viele Jahre für die Zeitung Vedomosti gearbeitet. Das ist ein Wirtschaftsblatt, das wir 1999 gegründet haben. Vor ein paar Jahren habe ich wegen des Gesetzes, das im Wesentlichen ausländischen Verlegern und Konzernen verbietet, Eigentümer von Medienunternehmen in Russland zu sein, dort gekündigt. Ich habe für ausländische Verlage, unter anderem für die New York Times, geschrieben. Später fing ich an, mit Meduza zusammenzuarbeiten, wo ich seit über einem Jahr das Projekt Idei [dt. Ideen] leite. Als Redakteur des Projekts The Russia File arbeite ich außerdem mit dem amerikanischen Kennan Institute zusammen. 

    Einerseits ist der Bereich der unabhängigen Medien in Russland ziemlich aktiv und entwickelt sich selbst heute noch weiter, aber er ist nicht sehr groß. Unabhängige Medien überleben zum Großteil dank privater Spenden, das gilt auch für das unabhängige Onlinemedium Meduza, mit dem ich zusammenarbeite. Als Meduza zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, war das ein harter Schlag für das Budget [Meduza waren damit unter anderem wichtige russische Werbekunden weggebrochen – dek]. Die Verleger haben darüber nachgedacht, die Zeitung zuzumachen, aber dann gingen sie das Risiko ein und veranstalteten eine Spendenkampagne. Kurzum, bislang konnte das Medium überleben.

    Mediamasterskaja: Unser heutiges Thema ist Objektivität im Journalismus, die nächste Frage richtet sich vermutlich vor allem an Alexander: Alexander, wie ist Ihre Einschätzung, kann der Journalismus unter den derzeit gegebenen Umständen in Belarus objektiv bleiben?

    Alexander: Wenn ich mir einen Schlenker in die Theorie erlauben darf: Ich denke, Objektivität im Journalismus ist ein Mythos. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, aber völlig objektiven Journalismus gibt es nicht. Außerdem gibt es sehr unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Journalismus der Fakten und einen Journalismus der Meinungen. Wenn wir von einem Reporter sprechen, dann ja, aber er sollte meiner Meinung nach weniger objektiv, sondern vor allem unvoreingenommen sein. Also keine Fakten verschweigen, nichts verfälschen und so weiter. Das ist eine etwas anders gelagerte Forderung. Ein Reporter sollte sich also bemühen, unvoreingenommen zu sein. Meinetwegen, objektiv zu sein. Einigen wir uns auf diesen Begriff. 
    Wenn es sich aber um einen Kolumnisten handelt, dann versteht es sich von selbst, dass es lächerlich wäre, von ihm Objektivität zu verlangen. Der Clou seiner Texte ist ja gerade der subjektive Blick, die Meinung eines Menschen, der den Nagel auf den Kopf trifft. Und die Menschen, seine Leser schätzen gerade das – wie er die Dinge wahrnimmt, beurteilt, Prognosen für gesellschaftliche Ereignisse stellt.

    Was den Einfluss der politischen Situation betrifft: Ja, sie hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht. Es ist allgemein bekannt, dass Journalisten freiheitsliebende Menschen sind, und wenn man sie in die Ecke treibt … Wenn das Regime sie, umgangssprachlich ausgedrückt, fertigmacht, dann ist klar, dass sie dieses Regime nicht gerade lieben werden. Und das schlägt sich natürlich auch in den Texten nieder. 

    Ja, die politische Situation hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht

    Ich sehe in einer Reihe von Medien eindeutig expressive Überschriften, die in Hinsicht auf die Regierung klar negativ aufgeladen sind. Obwohl das im Idealfall nicht so sein sollte. Aber Menschen, die Tag für Tag fertiggemacht werden – kurzum, rein menschlich kann ich es verstehen. Der professionelle Anspruch verlangt, dass man sich unbefangen verhält, aber das klappt nicht.

    Maxim, verfolgen Sie die Situation in Belarus? Halten Sie es für möglich, unter dem Regime, unter dem Ihre Kollegen gerade arbeiten, unbefangen zu bleiben?

    Maxim: Als erstes möchte ich im Namen der russischen Medien unser Mitgefühl und generell unser allgemeines Verständnis ausdrücken. Wir machen uns natürlich große Sorgen wegen all dem, was in Belarus passiert. Ich verfolge es mit, soweit es mir möglich ist.

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann. Ich denke auch, dass es psychologisch wirklich schwer ist. Allein schon aufgrund des großen Drucks auf alles, was im weitesten Sinne unabhängig ist: Sei es politischer Aktivismus, Medien oder irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit, die nicht unmittelbar vom Staat genehmigt wurde. Im Prinzip ist es in existentieller Hinsicht eine sehr schwierige Situation, deswegen kann man auch keine überragende Objektivität fordern. 

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann

    Zur Objektivität als solcher würde ich gern noch sagen, dass sie in der Form, wie wir sie heute überwiegend aus den westlichen Medien kennen, noch nicht lange existiert. Als die ersten Medien entstanden, die noch nicht so genannt wurden, konnten sie politische Pamphlete oder irgendwelche Blättchen sein – unabhängig und unvoreingenommen waren sie nie. Ganz im Gegenteil. Es waren immer sehr scharfe politische Statements. Und das zog sich über knapp 200, 300 Jahre lang so hin. Erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Mittelstand sehr schnell wuchs und die Wirtschaft sich entwickelte, entstand vor allem in den USA ein großer Markt an Menschen, denen objektive Information wichtig war.

    Es ist also eine ziemlich junge Tradition, die erst einige Jahrzehnte besteht. Deswegen lässt sich schwer behaupten, die Objektivität sei eine immanente Eigenschaft von Medien. Objektivität ist eine komplizierte Sache. Es ist eine philosophische Frage, ob es sie überhaupt geben kann. Wir sind alle Menschen mit eigenen Ansichten und Meinungen. 

    Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass ich mich der Tradition objektiver Medien verpflichtet fühle und bei dem, was ich mache, versuche, auf Quellen zu verweisen und alle zu Wort kommen zu lassen: Bei einem Konflikt müssen alle Parteien zu Wort kommen, bei einer Story verschiedene Blickwinkel aufgezeigt werden. Geht es um den Staat, wird auch der Blickwinkel des Staates erwähnt, und so weiter. Insgesamt pflegt man also auch in Russland weiterhin diese Arbeitstradition, die schon nach Objektivität strebt. Hauptsächlich in unabhängigen Medien. Auch wenn dieser Sektor sehr klein ist, wird diese Tradition im Großen und Ganzen bewahrt. Und sie wird weiterleben, wie mir scheint.

    Liebe Kollegen, wenn Sie vom Journalismus der Fakten und nicht der Meinungen sprechen, könnten Sie vielleicht eine Art Checkliste für Journalisten nennen, wie man objektiv bleibt, unabhängig von der Situation, die gerade entsteht? Wie schafft man es, dass die eigene politische Haltung die „trockenen“ Fakten nicht überwiegt?

    Alexander: Banal gesprochen, ist es eine Frage der Professionalität. Wir alle haben irgendwo irgendwas gelernt. Dort wurde uns aus professioneller Sicht erklärt, was Fakten sind, wie man mit ihnen umgeht, dass man sie nicht manipulieren darf und so weiter. Kurzum, es ist einfach wichtig, sich an diese Kriterien zu halten und seine Emotionen davon zu trennen.

    Etwas anderes ist es, wenn es – wie im heutigen Belarus – schon eine politische Haltung ist, die Wahrheit zu sagen. Beispielsweise ist das Berichten über die Proteste bereits eine politische Haltung , denn das geht mit Risiko einher. 

    Im heutigen Belarus ist es schon eine politische Haltung, die Wahrheit zu sagen

    Derzeit wird ein Beschluss vorbereitet, demzufolge das gesamte Material von tut.by – eines bereits zerschlagenen und gesperrten Portals, 15 Mitarbeiter sind bereits in Haft – als extremistisch eingestuft werden soll. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der vor zehn Jahren einen Artikel von tut.by abgetippt oder verlinkt hat, von heute auf morgen zum Extremisten erklärt werden kann. 

    Aber ich schweife ab. Worauf ich hinaus will, ist, dass es heute schon ein Risiko darstellt und von politischer Haltung zeugt, einfach nur ehrlich und objektiv zu berichten über das, was passiert, und an Themen zu rühren, die der Regierung nicht passen. 

    In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, den Kontext des Materials professionell darzustellen. Ein konkretes Beispiel ist die Pressekonferenz mit Roman Protassewitsch neulich. Hier kommt die Ethik mit ins Spiel – der Journalist der BBC ist gegangen. Einige westliche Diplomaten sind gegangen, weil sie fanden, dass da ein Gefangener vor laufender Kamera gefoltert werde. Demnach sei es unethisch, überhaupt etwas zu senden. BelaPAN, wo ich arbeite, hat das Material gesendet, wofür uns sowohl einige Kollegen als auch einfach ein politisiertes Publikum auf Facebook attackiert haben. 

    Es ist sehr wichtig, den Kontext professionell darzustellen

    Aber wir haben in unseren Berichten immer den Kontext betont: Wer ist Protassewitsch, wie ist er in diese Pressekonferenz hineingeraten? Wir haben Details wie die Meinung seines Vaters ergänzt, der erklärt, dass er einige Dinge, milde ausgedrückt, nicht aus freien Stücken sagt. Sprich, wir haben die Information gesendet, denn sie zu verschweigen, wenn es doch den Fakt, die Pressekonferenz vor unserer Nase, gibt – das wäre doch unprofessionell.

    Maxim: Da stimme ich Alexander zu. Es ist zweifellos eine sehr schwierige Situation, wenn so ein Druck vonseiten des Staates ausgeübt wird. In Russland ist es nicht ganz so schlimm, aber die Situation ist sehr dynamisch, und sie entwickelt sich im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung.

    Eigentlich hindert merkwürdigerweise die Regierung die Journalisten sehr oft selbst daran, objektiv zu berichten. Indem sie beispielsweise ein Medium zum ausländischen Agenten erklärt, hindert sie es einfach daran, seine Arbeit zu machen. Das ist ja quasi auch ihr Ziel. Das leuchtet ein. Aber das Medium wird weniger objektiv, weil es viel schwieriger wird, Kommentare von Staatsbeamten zu bekommen oder sogar von Wirtschaftsvertretern, die Angst haben, mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht zu werden. Im Endeffekt wird die journalistische Arbeit erschwert. 

    Es wird immer schwieriger professionelle Standards zu befolgen

    In dieser Situation war beispielsweise die Zeitung VTimes. Das sind meine Kollegen, die früher bei Vedomosti gearbeitet haben. Nachdem Vedomosti von einem kremlnahen Verleger aufgekauft wurde, hatten sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt, die Leute haben gekündigt, angefangen wieder zu arbeiten und „wurden kürzlich zu ausländischen Agenten“. Sie haben zugemacht. Nicht nur, weil sie kein Geld verdienen konnten, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie nicht objektiv sein konnten. Das sind alles Menschen, die in der Tradition eines objektiven, faktenbasierten Journalismus stehen, der zwingend voraussetzt, dass man bei jeder Story mit allen Seiten spricht. Deswegen haben sie zugemacht. Diese Standards, diese Regeln zu befolgen, wird immer schwieriger. 

    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Alexander: Genau, ich würde Maxims Gedanken gern noch weiterführen. Rein technisch oder technologisch läuft es folgendermaßen: Wenn in Belarus Webseiten gesperrt oder andere Medien dicht gemacht werden, wandert die journalistische Arbeit, der Content, zu anderen Plattformen. Insbesondere zu Telegram (der beliebtesten Plattform unter diesen Umständen), weil man es nicht nicht einfach dichtmachen kann. Aber auf Telegram herrscht ein ganz anderer Stil. Ein viel schärferer. Und weniger Faktencheck. Ich möchte den Gedanken, den Maxim schon formuliert hat, nochmal betonen: Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden. Sie wollen die professionellen Webseiten nicht haben und bekommen dafür Telegram, was überhaupt keine Diplomatie kennt und grob gesagt, das Regime einfach kurz und klein hackt, es von vorn bis hinten zerlegt. 

    Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden

    Maxim: Ja, die sozialen Medien sind noch ein Thema für sich.

    Die Statements in den sozialen Medien, ein aufgenommenes Video, ein Podcast – das alles verlagert den Schwerpunkt auf eine möglichst große Reichweite, auf die Idee, die Fakten dem Publikum – einem großen Publikum – möglichst zugänglich zu präsentieren. Dafür muss vereinfacht werden, müssen Ecken und Kanten abgeschliffen werden, Dinge eher attraktiv und anziehend, statt scharfsinnig und genau dargestellt werden. Die Entwicklung geht, objektiv betrachtet, auf der ganzen Welt in diese Richtung. Bei Weitem nicht nur in Russland oder Belarus. 

    Aber vor dem Hintergrund der Ereignisse bei uns bekommen wir gewissermaßen eine Verdopplung aller Effekte, weil wir nämlich noch den staatlichen Druck haben, neben dem Marktdruck, der Veränderung des Publikumsgeschmacks, dem Auftauchen neuer Plattformen, die ausgesprochen verlockend sind, auch für Journalisten. Das steht außer Frage. Weil sie nämlich einen sehr schnellen und wirkungsvollen Auftritt bieten. Aber all diese Dinge schaden den ursprünglichen Standards. Deswegen verwischen die Standards, leider. 

    Alexander: Ich möchte noch Folgendes sagen: Wenn wir mit einer gewissen Skepsis über die Objektivität und andere Standards sprechen, bedeutet das nicht, dass diese nicht wichtig wären. Ich würde folgende Parallele ziehen: Es gibt die Normen der Moral, aber wir befolgen sie nie zu hundert Prozent, ansonsten wären uns allen längst Engelsflügelchen gewachsen. Wir sündigen, wir verstoßen immer gegen irgendwelche Regeln. Aber das bedeutet nicht, dass man die moralischen Normen in die Tonne treten kann. Es existieren trotzdem Begriffe wie „ein anständiger Mensch“ oder ein „niederträchtiger Mensch“, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Genauso ist es mit dem Journalismus. Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest. 

    Soziale Netzwerke, Blogs, Telegram-Kanäle – das alles senkt einerseits die journalistischen Standards. Andererseits könnte man sie doch auch als Quellen glaubwürdiger Information betrachten, gerade vor dem Hintergrund, dass die Redaktionen der unabhängigen Medien schließen und die Menschen trotzdem irgendwoher ihre Information beziehen, Nachrichten lesen müssen. Können die neuen Medien die Redaktionen ersetzen, die uns in den vergangenen 10, 20 Jahren auf dem Laufenden gehalten, Analysen und nicht nur Nachrichten geliefert haben?

    Maxim: Qualitativ hochwertige Information wird immer mehr zu einer „Luxusware“. Wirklich gute Qualität kostet. Menschen, für die sie lebenswichtig ist, sind bereit zu zahlen. Menschen, für die sie nicht wichtig ist, werden nie dafür zahlen. Und dann gibt es noch die Menschen, die aus Prinzip sagen, sie würden nie für Inhalte aus dem Internet zahlen. In diesem Bereich ist es wirklich die persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen.

    Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest

    In der modernen Welt, wo es keine großen Zeitungen mehr gibt, naja, es gibt sie natürlich schon, aber ihr Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem von früher. Nirgendwo. Nicht nur in Russland. Nicht nur in Belarus. Das ist überall so. Die Welt ist sozusagen in Stückchen zerfallen und jeder entscheidet selbst, wie er leben möchte, wie er mit Information umgehen möchte. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen. Ich habe aber den Verdacht, dass die meisten es nicht tun werden. Im Endeffekt finden sich die Menschen umgeben von qualitativ immer schlechterer Information wieder, immer weiter von der Welt der Fakten entfernt, in der wir mehr oder weniger existieren. Und dann wundern wir uns noch, warum sich Menschen beispielsweise nicht impfen lassen wollen. Warum sie irgendwelche komischen Geschichten, Verschwörungstheorien und so weiter glauben. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen

    So ist die moderne Welt. In ihr gibt es zum einen harte Fakten und Analysen, Information von höchster Qualität, die nur wenigen zugänglich sind. Und dann geht es immer weiter nach unten. Außerdem gibt es noch die Propaganda, die auf Hochtouren läuft. Ganz unterschiedliche Propaganda. Nicht nur bei uns im Land, das ist eine sehr verbreitete Erscheinung auf der ganzen Welt. 

    Das Bild, das wir bekommen: Von der höchsten bis zur niedrigsten Qualität gibt es alles in ein und derselben Welt, in ein und derselben Stadt, bis ins Private hinein. Einer konsumiert das eine, der andere das andere. Kurzum, jeder entscheidet für sich selbst.

    Alexander: Ich möchte sagen, dass ich ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus bin und überzeugt, dass er unersetzlich ist. Und zwar nicht aus beruflichen Ambitionen oder Stolz, sondern aufgrund dessen, was ich beispielsweise bei der Arbeit sehe. 

    Ich ergreife nochmal die Gelegenheit für die Nachrichtenagentur BelaPAN zu werben. Kollegen aus anderen Häusern haben in den letzten Jahren angefangen, von einer Monetarisierung des Contents zu sprechen. Darüber können wir nur lachen, weil wir vom ersten Tag an Information verkaufen – wir leben davon. Andere Medien hatten uns abonniert, solange es sie in Belarus noch gab, jetzt sind es vor allem ausländische Botschaften. Wenn ich mit den Diplomaten spreche, sagen sie: „BelaPAN – das ist verifizierte Information, das schätzen wir, und dafür zahlen wir.“ Es gibt also Blogger wie Sand am Meer, aber sie entscheiden sich für BelaPAN, weil ihnen diese Blogger gestohlen bleiben können. 

    Ich bin ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus und überzeugt, dass er unersetzlich ist

    Ich breche es natürlich etwas herunter, weil es eine Reihe von Bloggern gibt, die eigentlich professionelle Journalisten sind, aber das Leben zwingt sie einfach dazu, sich als Blogger „auszugeben“, bei Telegram oder in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Aber dort produzieren sie exakt dasselbe, was sie gewohnt sind und gelernt haben zu produzieren.

    Für manche ist das sicher zugänglicher und es imponiert ihnen mehr, wie Maxim schon sagte. Aber ich sehe auch, dass eigenverantwortliche, selbstständige Menschen, die es gewohnt sind, die Wirklichkeit kritisch zu durchdringen und selbst Entscheidungen zu treffen – dass sie zu den klassischen Medien tendieren, oder zu Bloggern, die in Wirklichkeit professionelle Journalisten sind.

    Lassen Sie uns ein Jahr nach vorn springen und uns vorstellen, was mit dem belarussischen und dem russischen Journalismus sein wird, wenn man die Krisen berücksichtigt, die sie gerade durchleben. Lassen sich Prognosen machen? Und wenn ja, welche?

    Alexander: Was Belarus betrifft, sind die Prognosen leider nicht sehr erfreulich. Denn die Repressionen dauern an, die Gerichtsprozesse dauern an, knapp 30 Journalisten befinden sich gerade in Haft. 

    Vieles hängt von der Entwicklung der politischen Lage ab. Wenn die Regierung doch noch versucht, mit der EU und Washington das Gespräch zu suchen, wird es vielleicht ein kleines bisschen leichter, obwohl mit einer Liberalisierung natürlich nicht zu rechnen ist. Deswegen werden die Medien – ich rede von den unabhängigen Medien (den staatlichen Journalismus klammere ich gleich aus, denn ich würde ihn nicht als Journalismus bezeichnen, es ist die reinste Propaganda, die immer tiefer sinkt, sodass sie überhaupt nicht mehr Gegenstand einer professionellen Diskussion sein kann), also die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem aggressiven, hochaggressiven Umfeld zu überleben, irgendwelche neuen Kanäle zur Informationsvermittlung erfinden, weil das in der Gesellschaft gefragt ist. 

    Die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem hochaggressiven Umfeld zu überleben

    Die Belarussen haben bewiesen, dass sie eine, wenn auch noch nicht gänzlich so doch zunehmend politische Nation sind. Und Bürger brauchen keine Propaganda, sondern professionelle, durchdachte, vielseitige Information. Das ist gefragt, und deswegen werden die belarussischen Medien weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form. 

    Positive Aussichten sind nur bei einem Regimewechsel denkbar, bei einem Wandel des gegenwärtigen Systems, das sich mittlerweile schlicht in einen Polizeistaat verwandelt hat.

    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto ©  tut.by
    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto © tut.by

    Alexander, was denken Sie, wenn wir die positiven politischen Szenarien annehmen – wird tut.by in irgendeiner Form wieder zum Leben erwachen?

    Alexander: Die Regierung tut gerade alles, um die Plattform zu vernichten, sie verpassen ihr gerade den Todesstoß. Deswegen wird die Regierung erstmal versuchen tut.by vollends zu erwürgen, die waren ein zu großer Reizfaktor für sie. 

    Die belarussischen Medien werden weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form

    Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass dieses Portal teilweise, natürlich nicht ganz, im Ausland wiederentstehen wird. Denn jetzt wurde tut.by ja lahmgelegt, weil sich der Content, soweit ich weiß, rein physisch auf einem Server in Belarus befand, den man ganz plump ausschalten konnte. Aber wenn der Server im Ausland wäre, wenn die Leute – und die Belarussen haben in dieser Hinsicht im vergangenen halben Jahr einen enormen Fortschritt gemacht – mit VPN, Psiphon und all diesem Schnickschnack umgehen können, dann werden sie, wie die Erfahrung Chinas, des Irans und anderer repressiver Regimes beweist, die Information finden. Das lässt sich nicht mehr unterbinden. 

    Maxim, vielleicht könnten Sie abschließend noch ein paar Prognosen über die Entwicklung des objektiven Journalismus in Belarus und Russland geben?

    Maxim: Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen. Das war’s. Das ist nicht besonders interessant. 

    Ich mache mir eher Gedanken über das Schicksal des faktenbasierten Weltbildes. Eines Weltbildes, das die Analytik ernstnimmt, das auf dem fußt, was man beweisen, und nicht auf dem, was man erfinden kann. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass Fakten existieren. Aber in den vergangenen 10, 15 Jahren beobachten wir, wie diese Überzeugung schwindet. Es ist seltsam, das zu sehen, aber es passiert vor unseren Augen, die Menschen finden es zuweilen viel interessanter, die Welt ganz anders zu sehen, als wir es früher mal, teils in der sowjetischen Schule, gelernt haben. 

    Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen

    Das ist ein globaler Prozess. Er hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: dem politischen Populismus, der Demokratisierung des Zugangs zu jeglicher Information, der Entwicklung der sozialen Medien, wo jeder Mensch längst selbst Autor, Journalist und Verfasser von Texten, Statements, Bildern und Tönen ist.

    Qualitativ hochwertige Information – das, was wir gewohnt sind als Standard zu setzen, als das einzig Wichtige zu betrachten, nennen wir es provisorisch „objektiver“, faktenbasierter Journalismus – wird heutzutage zu einem Gut für ein sehr kleines Segment der Gesellschaft.
    Wir leben in einer Welt, in der darüber gestritten wird, ob es überhaupt Fakten gibt, ob es überhaupt Objektivität gibt. In Wirklichkeit ist das das fundamentale Problem – weitaus mehr als das Schicksal der Medien in autoritären Staaten. Die autoritären Staaten sind in diesem Fall einfach ein Teil des Weltgeschehens und der Veränderungen auf der Welt.

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  • Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. 

    Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.

    Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt. 

    Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.

    Warum dieser Text?

    Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage.
    Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.

    „Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt

    Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt. 

    Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.

    Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien

    Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘.
    Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden.
    Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.

    Er denkt, er habe alle gewarnt

    Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.

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  • Bystro #25: Warum sind deutsche NGOs in Russland „unerwünscht“?

    Bystro #25: Warum sind deutsche NGOs in Russland „unerwünscht“?

    Drei deutsche NGOs gefährden laut russischer Generalstaatsanwaltschaft „die Grundlagen der Verfassungsordnung und die Sicherheit der russischen Föderation“. Aus diesem Grund wurden sie Ende Mai 2021 zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt. Warum ausgerechnet diese drei? Wird es noch weitere treffen? Und was sind die Hintergründe? Ein Bystro in neun Fragen und Antworten von Fabian Burkhardt.

    1. Was bedeutet der Status „unerwünschte Organisation“ überhaupt? Welche Verbote oder Regularien beinhaltet er? 

    2. Ende Mai 2021 wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt: DRA, Libmod und das Forum der russischsprachigen Europäer. Was für Organisationen sind das? Welche Projekte haben sie in Russland realisiert?

    3. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen Organisationen?

    4. Es gab bisher schon rund 30 NGOs, die in Russland als „unerwünscht“ galten, bisher war darunter nur eine deutsche. Ist diese Entscheidung, nun auch weitere deutsche Organisationen als „unerwünscht“ zu erklären, mit irgendwelchen Problemen in den deutsch-russischen Beziehungen verbunden?

    5. Warum wurden aus den zahlreichen deutschen NGOs, die in Russland tätig sind, ausgerechnet diese drei ausgewählt?

    6. Bleibt es nur bei diesen „Unerwünschten“? Oder kommen noch weitere deutsche NGOs auf die Liste?

    7. Alles nur Willkür, oder lassen sich gewisse Muster ableiten?

    8. Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die deutsch-russischen Beziehungen?

    9. Es geht dabei also auch um eine Wirkung nach außen?


    1. Was bedeutet der Status „unerwünschte Organisation“ überhaupt? Welche Verbote oder Regularien beinhaltet er? 

    Die Einführung des Status „unerwünschte Organisation“ im Jahr 2015 ist im Kontext der Krim-Annexion 2014 zu sehen. Das Gesetz wurde von den Abgeordneten Alexander Tarnawski (Gerechtes Russland) und Anton Ischtschenko (LDPR) initiiert als Reaktion auf westliche Wirtschaftssanktionen. Offiziell war das Gesetz gegen transnationale Wirtschaftsunternehmen gerichtet. In der Praxis wurde es aber ausschließlich gegen internationale NGOs angewandt. Derzeit befinden sich 40 Organisationen im Verzeichnis des Justizministeriums, die vor allem aus den USA, aber auch aus EU-Ländern wie Belgien und Tschechien stammen. Mit dem Bard College und dem Oxford Russia Fund wurden im Juni und Juli 2021 zum ersten Mal auch wissenschaftliche Organisationen gelistet. Formal entscheiden federführend das Außenministerium und die Staatsanwaltschaft, welche Organisationen in das Verzeichnis aufgenommen werden. Informell dürfte vor allem das Votum des Inlandsgeheimdienstes FSB entscheidend sein. Eine offizielle Begründung oder gar ein Gerichtsentscheid sind nicht notwendig. Wird eine internationale Organisation als „unerwünscht“ verzeichnet, so muss sie umgehend jegliche Geschäftstätigkeit in und mit Russland einstellen. Bei Zuwiderhandlung sieht das Ordnungs- und Strafrecht hohe Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu sechs Jahren vor. In einem Gutachten vom Juni 2016 stellt die Venedig-Kommission des Europarats fest, dass die Gesetzgebung mehrfach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Auch das Europäische Parlament hat Russland in einer Resolution aufgerufen, die Gesetzgebung wieder rückgängig zu machen. Tatsächlich wurden die Strafen in den vergangenen Jahren verschärft und der Gültigkeitsbereich des Gesetzes ausgeweitet: Inzwischen dürfen russische Staatsbürger auch im Ausland nicht mehr mit „unerwünschten Organisationen“ kooperieren.

    2. Ende Mai 2021 wurden drei deutsche NGO’s zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt: DRA, Libmod und das Forum der russischsprachigen Europäer. Was für Organisationen sind das? Welche Projekte haben sie in Russland realisiert?

    Der Deutsch-Russische Austausch (DRA) ist die älteste der drei NGOs und wurde 1992 mit dem Ziel gegründet, die demokratische Entwicklung in Russland zu unterstützen. Seither führte der Verein eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Projekten in Russland sowie in Mittel- und Osteuropa durch, um die Völkerverständigung zu fördern. Seit 2014 widmet sich der DRA auch der friedlichen Überwindung des Konflikts in der Ostukraine, insbesondere durch den Aufbau der zivilgesellschaftlichen Plattform CivilM+
    Das Forum der russischsprachigen Europäer in Deutschland wurde im Jahr 2017 von dem Politologen und Soziologen Igor Eidman gegründet, dem Cousin des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Wie der Name des Vereins schon sagt, richtet er sich vor allem an russischsprachige Menschen in Deutschland. Das Forum wehrt sich dagegen, dass „Putins Russland“ stellvertretend für alle Russen spricht, es will den „Vormarsch des Putinismus nach Europa“ stoppen. 
    Das Zentrum Liberale Moderne (Libmod) wurde 2017 vom ehemaligen Ko-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks und der langjährigen Osteuropapolitikerin der Grünen im Bundestag Marieluise Beck gegründet. Libmod versteht sich als „unabhängige Denkwerkstatt, ein Debattenforum und ein Projektbüro“, das sich der Krise der liberalen Demokratie annimmt. Russland ist zwar nur einer der Schwerpunkte des Zentrums, aber sicherlich ein zentraler, da der „Kreml als Hauptquartier der antiliberalen Internationalen“ angesehen wird. Projekte mit russischen zivilgesellschaftlichen Akteuren widmen sich Themen wie Freiheit im Internet, dem Erbe von Andrej Sacharow, dem Klimawandel und der Abhängigkeit Russlands von fossilen Rohstoffen, Menschenrechten und den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. 

    3. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen Organisationen?

    Vor allem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Zum einen ist dies eine klare Werteorientierung hinsichtlich liberaler Demokratie, Menschenrechten und dem Völkerrecht. Zweitens ist dies eine Haltung, die den zivilgesellschaftlichen Akteuren das Primat zuspricht, selbstbestimmt und unabhängig von Wirtschaft und Staat zu entscheiden, mit wem kooperiert wird. Die Organisationen weigern sich also, Russland mit Putins Russland gleichzusetzen. Drittens weigern sich alle drei NGOs, das deutsch-russische Verhältnis als Sonderbeziehung zu betrachten, das auf dem Rücken der mittel- und osteuropäischen Staaten ausgetragen werden kann. Seit der Krim-Annexion spielt hier das Verhältnis zur Ukraine eine herausragende Rolle. Viertens waren alle drei deutschen NGOs in Projekten mit russischen Organisationen involviert, die in Russland als „ausländische Agenten“ eingestuft sind. Und fünftens haben alle drei in unterschiedlichem Ausmaß Fördergelder des Auswärtigen Amts für die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland bezogen. 
    Zu den Unterschieden: Das Forum sticht etwas heraus, da es am wenigsten Projekte durchführt und vor allem auf die Vernetzung und Kommunikation von russischsprachigen Menschen in Deutschland – etwa auf Facebook – abzielt. Zudem setzen sich das Forum und Libmod vom DRA ab, indem sie deutlich politischer agieren und auch russische Oppositionspolitiker in Veranstaltungen mit einbeziehen. So traten etwa bei einer Veranstaltung des Forums Sergej Dawidis und Wladimir Kara-Mursa auf. Libmod kooperiert mit Michail Chodorkowski und Open Russia, auch Wladimir Kara-Mursa tritt als Sprecher bei Diskussionen auf. 

    4. Es gab bisher schon rund 30 NGO’s, die in Russland als „unerwünscht“ galten, bisher war darunter nur eine deutsche. Ist diese Entscheidung, nun auch weitere deutsche Organisationen als „unerwünscht“ zu erklären, mit irgendwelchen Problemen in den deutsch-russischen Beziehungen verbunden?

    Die deutsch-russischen Beziehungen haben sich im vergangenen Jahrzehnt rapide verschlechtert. Die Krim-Annexion und Russlands Krieg in der Ostukraine markierten nach der Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im Jahr 2012 und der damit endgültig gescheiterten Modernisierungspartnerschaft einen Wendepunkt und das Ende der Sonderbeziehungen. Deutschland setzte sich für Sanktionen gegen Russland ein, zeigte sich mit dem Normandie-Format aber auch bemüht um Dialog und Konfliktlösung, und der Ausbau der zivilgesellschaftlichen Kontakte blieb weiterhin ein wichtiger Pfeiler der bilateralen Beziehungen. Mit der Zeit wurde es aber immer schwieriger, Konflikt und Kooperation auseinanderzuhalten. 
    2017 forderten einige Duma-Abgeordnete im Zusammenhang mit der Gedenkrede eines russischen Jungen im Bundestag, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung zur „unerwünschten Organisation“ erklärt werden sollte. 2018 wurde im Vorfeld der Präsidentschaftswahl die von der Berliner NGO Europäischer Austausch geführte European Platform for Democratic Elections (EPDE) als erste deutsche NGO zur „unerwünschten Organisation“ in Russland erklärt. Dies geschah offensichtlich für die Kooperation mit der unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisation Golos, die in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet ist. 2019 forderte der Duma-Ausschuss für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, dass der Deutschen Welle die russische Lizenz für angebliche „Aufrufe zu nicht genehmigten Demonstrationen“ auf Twitter und für die „Rechtfertigung von Extremismus“ entzogen werden sollte. 
    Die Behandlung von Alexej Nawalny in der Berliner Charité nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok im Jahr 2020 markierte einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen. Außenminister Lawrow behauptete sogar, dass Nawalny möglicherweise in Deutschland oder auf dem Weg dorthin im Flugzeug vergiftet worden sein könnte. Im April 2021 belegte Moskau den Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft Jörg Raupach mit einer Einreisesperre. Die offizielle Sicht des russischen Außenministeriums: Deutschland nutze Nawalny, um sich in die „inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen“ und um „seine außenpolitischen Ambitionen innerhalb der NATO und der EU“ zu realisieren. Insbesondere vor der Dumawahl im September 2021 wolle Deutschland einen „destabilisierenden Einfluss auf die innenpolitische Lage in Russland“ nehmen. 

    5. Warum wurden aus den zahlreichen deutschen NGO’s, die in Russland tätig sind, ausgerechnet diese drei ausgewählt?

    Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Vertreter der deutschen Organisationen können selbst nur spekulieren, was der Grund gewesen sein mag, wirkliche Anzeichen gab es dafür nicht. Vermutlich ist diese Verunsicherung über den Anlass gerade eine der wichtigsten Absichten: Andere zivilgesellschaftliche Organisationen sollen abgeschreckt werden mit dem Ziel, dass diese sich selbst zensieren oder ihr Verhalten konformer gestalten. Die offizielle Begründung der russischen Staatsanwaltschaft ist, dass diese Organisationen eine „Gefahr für die Verfassungsordnung und die Sicherheit“ Russlands darstellen. Wassili Piskarjow, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, warf den drei deutschen NGOs sowie der Heinrich-Böll-Stiftung bei einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Géza Andreas von Geyr im April 2021 vor, dass diese unter Beobachtung des Ausschusses stünden, weil sie terroristische Tätigkeiten rechtfertigten, sich russischen Projekten im Rohstoff- und Energiesektor entgegenstellten, nationalistische und separatistische Stimmungen beförderten, „nichttraditionelle Werte“ in der Jugend propagierten, Russlands Kampf gegen das Coronavirus diskreditierten und die russische Geschichte verzerrten, insbesondere die Ereignisse im Großen Vaterländischen Krieg
    Da die russische Staatsanwaltschaft keine Begründung für die Einstufung der NGOs gibt, kann erstens keine sichere Aussage getroffen werden, welcher der genannten Gründe für die einzelnen NGOs ausschlaggebend war und zweitens, warum die Heinrich-Böll-Stiftung als einzige der genannten nicht als „unerwünschte Organisation“ eingestuft wurde. 

    6. Bleibt es nur bei diesen „Unerwünschten“? Oder kommen noch weitere deutsche NGO’s auf die Liste?

    Aus mehreren Gründen ist zu befürchten, dass diese NGOs nicht die einzigen deutschen „unerwünschten Organisationen“ bleiben werden. Dies hat zum einen mit den sich sukzessive verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen zu tun, hier ist in nächster Zeit keine Trendwende in Sicht. Zum anderen liegt dies auch in der bürokratischen Logik des Regimes begründet. Die Rolle des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ist in den letzten Jahren gewachsen, sowohl im Föderationsrat als auch in der Staatsduma gibt es Ausschüsse, die sich mit ausländischer Einflussnahme in innere Angelegenheiten befassen. Ist diese Maschinerie erst einmal in Gang gebracht, so ist sie nicht nur schwer zu bremsen, sie muss auch immer neue Gefahren „produzieren“, die sie „neutralisieren“ kann. Dies ist auch der Grund, warum die Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ verschärft wurde. Im Umkehrschluss heißt dies, dass das, was deutsche NGOs tun und mit wem sie kooperieren, kein hinreichender Grund ist, um als „unerwünscht“ erklärt zu werden: Kalkulierte Willkür der russischen Behörden spielt hier eine entscheidende Rolle. 

    7. Alles nur Willkür, oder lassen sich gewisse Muster ableiten?

    Ja, Muster gibt es. Diese sind erstens Perioden vor und während Wahlen – wie die Präsidentschaftswahl 2018, die Moskauer Stadtdumawahl 2019 oder die Dumawahl 2021 –, die besonders riskant sind. Zweitens sind offenbar insbesondere solche zivilgesellschaftlichen Organisationen gefährdet, die mit anderen Organisationen kooperieren, die in Russland als „unerwünscht“ gelten oder in der Liste der „ausländischen Agenten“ geführt werden. 
    Drittens scheinen (zumindest bisher noch) deutsche politische Stiftungen (wie die Böll-Stiftung) besser geschützt als zivilgesellschaftliche Organisationen. Wie eine Sendung im russischen Militärkanal Swesda vom Mai 2021 zeigt, werden diese aber von Hardlinern als Handlanger der deutschen Geheimdienste gesehen, und es wird außerdem darauf verwiesen, dass sie in Ländern wie Belarus keine Länderbüros mehr haben. Zudem scheint es, viertens, bestimmte Themen zu geben, die von den russischen Sicherheitsorganen als besonders heikel betrachtet werden. Hierzu gehören etwa Wahlen und Wahlbeobachtung, Proteste und nicht-systemische Opposition, Menschenrechte, Sanktionen, oder auch Energiepolitik wie etwa Gas (Nord Stream 2) . Zu weiteren heiklen Themenfeldern gehören auch Gender, der Nordkaukasus, die Ukraine (insbesondere die Krim), als „terroristisch“ oder „extremistisch“ eingestuften Organisationen sowie Geschichtspolitik. 

    8. Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die deutsch-russischen Beziehungen?

    Konkret hatte dies erst einmal zwei Folgen: Zum einen waren die drei NGOs gezwungen, jegliche bilateralen Projekte und formalen Geschäftsbeziehungen zu beenden, um die russischen Partner keiner strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Zum anderen wurde eine Vorstandssitzung des Petersburger Dialogs abgesagt, die für den 8. und 9. Juli in Moskau angesetzt war. Sollten insbesondere der Deutsch-Russische Austausch und das Zentrum Liberale Moderne „unerwünscht“ bleiben, – beide sind Mitglieder des Petersburger Dialogs – so ist eine Fortführung des Petersburger Dialogs in derzeitiger Form nicht mehr denkbar, da für die deutsche Seite eine Trennung in „erwünschte“ und „unerwünschte“ Organisationen nicht akzeptabel ist. Möglich ist auch, dass Mitglieder der NGOs mit Einreisesperren nach Russland belegt werden, wie etwa im Fall der Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs Stefanie Schiffer, die nach der Listung der European Platform for Democratic Elections seit 2018 kein Visum mehr bekommt. 

    9. Es geht dabei also auch um eine Wirkung nach außen?

    Insgesamt richtet sich die Listung auch gegen die Bundesregierung und vor allem gegen das Auswärtige Amt, das seit 2014 mit seinem Programm zum Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland Projekte des DRA, Libmod und des Forums unterstützt. Die russische Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ trägt also nicht einfach zur weiteren Isolierung der russischen Zivilgesellschaft bei, sie hat auch extraterritoriale Wirkung: Sie durchkreuzt die deutsche Strategie, zivilgesellschaftliche Kooperation mit russischen Akteuren außerhalb von Russland zu fördern, etwa bei Seminaren in Berlin. Zudem wird es immer schwieriger, russische Partner in überregionale Projekte einzubinden, etwa mit NGOs aus den Ländern der östlichen Partnerschaft. Nicht zuletzt stellt die Gesetzgebung die deutsche Zivilgesellschaft vor die Wahl, inwieweit sie bereit ist, sich selbst zu zensieren, um weitere Projekte mit Russland durchführen zu können. 
    Letztendlich führt die russische Gesetzgebung der Bundesregierung die Widersprüchlichkeit der deutschen Russlandpolitik vor Augen: Russland mit Sanktionen zu belegen und die Resilienz der EU zu stärken, gleichzeitig aber den zivilgesellschaftlichen Austausch fördern zu wollen, wird immer schwieriger. Vor allem aber ist die vom Kreml unabhängige russische Zivilgesellschaft die Hauptleidtragende. Denn selbst wenn keine weiteren deutschen Organisationen mehr als „unerwünscht“ bezeichnet werden, wird die Luft für sie durch andere repressive Gesetzgebung über „ausländische Agenten“ oder die Einschränkung der Bildungstätigkeit immer dünner. 

    Autor: Fabian Burkhardt
    Veröffentlicht am 15.07.2021

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  • NATO-Russland Beziehungen

    NATO-Russland Beziehungen

    Die Beziehungen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte die Aufgabe der transatlantischen Militärallianz in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa schien es zunächst, die NATO habe ihre Existenzberechtigung verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass nach 1989 vor allem Polen und die baltischen Länder unter den Schutzschirm der NATO drängten. Zeitweise stand sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen innerhalb der NATO geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete.

    Immer mehr nahmen beide Seiten in den folgenden Jahren einander als Bedrohung wahr. Wie ein Refrain zog sich die Klage über die NATO-Osterweiterung durch die Reden führender russischer Politiker. Der Kreml hatte die NATO-Osterweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt.

    Auf dem NATO-Gipfel im Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das Verhältnis sei „auf dem tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg“. Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, wobei es um einen Stopp der NATO-Osterweiterung, um den Rückzug der USA aus Osteuropa und den Abzug von amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa ging. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Bündnis beantragt.

    Die Frage der NATO-Osterweiterung stellte sich zunächst im Kontext der deutschen Einheit. Am 26. Januar 1990 fiel im Kreml in einem Geheimtreffen die Entscheidung für die Ermöglichung der Wiedervereinigung. Zunächst ging der Westen davon aus, dass weder die neuen Bundesländer noch andere osteuropäische Staaten Teil der NATO sein würden. 

    „Not one inch eastward“ – die Frage der NATO-Osterweiterung

    Auf einer Pressekonferenz am 2. Februar 1990 bekräftigten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein US-Amtskollege James Baker diese Absicht. Allerdings revidierte James Baker schon eine Woche später seine Position und fragte Gorbatschow, ob er sich ein Gesamtdeutschland innerhalb der NATO vorstellen könne, wenn die NATO sich darüber hinaus „not one inch eastward“ bewegen würde. Hier stellte sich ein erstes Missverständnis ein: Bakers Aussage wurde von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst.1 

    Die Forschung ist sich einig, dass es bei den Verhandlungen über die deutsche Einheit nie schriftliche Zusagen gegenüber der sowjetischen Führung gegeben habe, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen werde. Helmut Kohl musste zwischen dem amerikanischen Insistieren auf der NATO und der sowjetischen Vision einer europäischen Friedensordnung vermitteln. Der Bundeskanzler wusste auch ganz genau, dass die deutsche Wiedervereinigung weder in Frankreich noch in Großbritannien Begeisterungsstürme auslösen würde. Die amerikanische Regierung befürchtete zudem, dass Bonn einen separaten Deal mit Moskau abschließen und dabei die eigene NATO-Mitgliedschaft in die Verhandlungsmasse einbringen könnte. Deshalb bekräftigte James Baker bei einem Gespräch am 18. Mai 1990 in Moskau die amerikanische Forderung nach einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft. Gorbatschow erwiderte darauf ironisch, in einem solchen Fall würde auch die Sowjetunion ein NATO-Beitrittsgesuch stellen. Im endgültigen 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit ist die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschland verbrieft. Letztlich wurde das Einverständnis des Kreml schlicht gekauft: Bonn und Moskau verständigten sich kurz vor der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags auf eine deutsche Zahlung von 15 Milliarden D-Mark für den Abzug der Roten Armee.2  Der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Robert Gates brachte die Methode später unverfroren auf den Punkt: „to bribe the Soviets out“.3 

    Jelzin: Russischer NATO-Beitritt als Ziel

    Auch Gorbatschows Rivale Boris Jelzin versuchte das NATO-Dossier aktiv zu gestalten. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion, am 20. Dezember 1991, weckte er hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Diese Vision hielt sich erstaunlich lange: Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Bezeichnend ist die Rede, die der tschechoslowakische Präsident Václav Havel im März 1991 im NATO-Hauptquartier in Brüssel hielt. Er wies darauf hin, dass er mit der offiziellen Botschaft aufgewachsen sei, die NATO stelle eine „Bastion des Imperialismus“ und die „Inkarnation des Teufels“ dar. Heute wisse er, dass die NATO auf demokratische Weise die Freiheit und die Werte der westlichen Zivilisation verteidige.4 

    „Partnership for Peace“

    Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine NATO-Osterweiterung, das Weiße Haus dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Am 22. Oktober 1993 löste US-Außenminister Christopher Warren bei Jelzin eine enthusiastische Reaktion aus, als er das „Partnership for Peace“-Programm vorstellte. Allerdings hatte Jelzin den NATO-Vorschlag so verstanden, dass „Partnership for Peace“ nicht eine Vorbereitung, sondern ein Ersatz für eine NATO-Osterweiterung sei.5 Präsident Clinton präzisierte bereits im Januar 1994, dass der Beitritt der osteuropäischen NATO-Kandidaten nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte. Man wusste um Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein separatistischer Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall.  

    Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern

    In der Frage der NATO-Osterweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse.6 

    Die sicherheitspolitischen Vorstellungen des Kremls gingen in eine andere Richtung. Schon im Oktober 1993 machte der russische Präsident Jelzin seinem Unmut Luft und wies Präsident Clinton in einem Brief darauf hin, dass der „Geist“ des 2+4-Vertrags, der explizit eine Stationierung fremder NATO-Truppen in den neuen Bundesländern verbiete, gleichzeitig eine NATO-Osterweiterung ausschließe. 

    NATO-Russland-Grundakte

    Im Januar 1994 schlug Jelzin seinem Amtskollegen Clinton „eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland“ vor, das die Weltsicherheit garantieren würde. Als eine mögliche Strategie schwebte ihm dabei eine Aufwertung der KSZE vor. Der Kreml fühlte sogar vor, ob für die Europäer ein Sicherheitssystem denkbar wäre, in dem die USA „nicht notwendigerweise“ vertreten sind. Russland kündigte an, in diesem Fall seine Streitkräfte zu reduzieren. Am Ende fiel die Entscheidung in einem kurzen Zeitfenster: Die NATO-Osterweiterung wurde nicht vor der russischen Präsidentschaftswahl im Juli 1996 publik gemacht, um Jelzins Bestätigung im Amt nicht zu gefährden. Umgekehrt wollte Clinton mit genau diesem Punkt seine eigene Wiederwahl im November 1996 stützen. Um Russland zu beschwichtigen, gab die NATO im Dezember 1996 ein Statement ab, dass die Allianz „keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund“ habe, Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren. 1997 unterzeichneten die NATO und Russland eine Grundakte zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens.7 Federführend war dabei der US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der sich eng mit dem NATO-Generalsekretär Javier Solana abstimmte. Allerdings gerieten dabei die europäischen Alliierten ins Hintertreffen. Solana versuchte die Situation zu entschärfen, indem er den amerikanischen Formulierungsvorschlag für die Grundakte als seinen eigenen ausgab. Allerdings merkte ein britischer Vertreter maliziös an, dass Solana wenigstens die Rechtschreibung anpassen müsse, wenn er seine transatlantischen Ghostwriter verbergen wolle.8

    1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. In der jüngsten Vergangenheit wurden noch Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) in die NATO aufgenommen. Georgien und der Ukraine wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zwar ein Beitritt versprochen, allerdings ohne jeglichen Zeitplan. Wegen der Kriege in Georgien (2008) und in der Ukraine (2014) ist die NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Länder allerdings in weite Ferne gerückt. 

    Der NATO-Russland-Rat

    Wie in der NATO-Russland Grundakte angekündigt, wurde 2002 ein NATO-Russland Rat eingerichtet, der aber zu wenig substanziellen Erfolgen führte. Im Gegenteil: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 formulierte Präsident Putin in harschen Worten seine Enttäuschung über das angebliche Nichteinhalten westlicher Sicherheitsgarantien. Er verwies dabei auf ein Votum des NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner, der am 17. Mai 1990 bestätigt hatte, dass keine NATO-Truppen östlich der Grenzen Deutschlands eingesetzt würden.9 

    Nach der Annexion der Krim und dem verdeckten russischen Angriffskrieg in der Ostukraine trug die NATO im Jahr 2016 den Sicherheitsbedenken Polens und der baltischen Länder Rechnung, indem sie im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“ je etwa 1000 Soldaten aus verschiedenen NATO-Mitgliedsländern auf Rotationsbasis in diesen vier Ländern einsetzte. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Bestimmungen der NATO-Russland Grundakte nicht verletzt werden. In diesem Abkommen wurde bekräftigt, es solle keine permanente Stationierung von ausländischen NATO-Truppen in den osteuropäischen Mitgliedstaaten geben. 

    Moskau schloss 2021 seine NATO-Vertretung in Brüssel. Das Militärbündnis betonte dennoch, offen für einen Austausch zu bleiben. Allerdings bleibt das Verhältnis höchst angespannt, auch weil die USA als NATO-Führungsmacht zuoberst auf der offiziellen russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten standen.10

    Im Dezember 2021 trat Russland mit Maximalforderungen an die NATO heran, in denen es nicht nur einen Stopp der NATO-Osterweiterung forderte, sondern auch den militärischen Rückzug aus osteuropäischen Bündnisstaaten. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wollte Russland offiziell auch gegen die Ausdehnung der NATO vorgehen. Erreicht hat es damit allerdings das Gegenteil: Mitte Mai haben auch Schweden und Finnland die Mitgliedschaft in dem Militärbündnis beantragt. Dem voran ging nicht nur die russische Invasion in die Ukraine, sondern auch eine noch vor dem Angriffskrieg begonnene russische Politik der Nadelstiche mit gezielten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen der NATO-Staaten.

    Aktualisiert am 19.05.2022


    1. National Security Archive: NATO Expansion: What Gorbachev Heard ↩︎
    2. Lozo, Ignaz (2021): Gorbatschow: Der Weltveränderer, Darmstadt, S. 293-305 ↩︎
    3. Sarotte, Mary Elise (2010): Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to “Bribe the Soviets Out” and Move NATO In, in: International Security 35/ 2010, S. 110–137 ↩︎
    4. Schimmelfennig, Frank (2003): The EU, NATO and the Integration of Europe: Rules and Rhetoric. Cambridge, S. 232 ↩︎
    5. National Security Archive: NATO Expansion: What Yeltsin Heard ↩︎
    6. Liviu Horovitz, Liviu (2021): A “Great Prize,” But Not the Main Prize: British Internal Deliberations on Not-Losing Russia, 1993–1995, in Schmies, Oxana (Hrsg..): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 85-112, hier S. 92 ↩︎
    7. nato.int: Founding Act ↩︎
    8. Pifer, Steven (2021): The Clinton Administration and Reshaping Europe, in: Oxana Schmies (Hrsg.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future With a Foreword by Vladimir Kara-Murza, Stuttgart, S. 113-142, hier S. 131 ↩︎
    9. kremlin.ru: Speech and the Following Discussion at the Munich Conference on Security Policy und nato.int: The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s ↩︎
    10. publication.pravo.gov.ru: Rasporjaženie Pravitel’stva Rossijskoj Federazii ot 13.05.2021 № 1230-r ↩︎

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    Stalin, der „Dshingis Khan mit Telefon“ habe nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg einen Mythos begründet, der noch das Russland von heute prägt – den Mythos „vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus“, so der Sheffield-Historiker Jewgeni Dobrenko.

    Unlängst hat Putin den Hitler-Stalin-Pakt verteidigt und Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben. Nun hat die Staatsduma Anfang Juni einen Gesetzentwurf angenommen, wonach es künftig strafbar ist, die Sowjetunion mit NS-Deutschland zu vergleichen sowie die „entscheidende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über NS-Deutschland“ zu leugnen. Schon im Vorfeld wurde Kritik laut, dass der historische Diskurs so noch weiter verengt werde.  

    Inwiefern der Kriegsmythos unter Stalin die neue sowjetische Nation schuf, wie stark deren Traumata und Phobien Russland bis heute noch prägen und die politische Führung Produkt dieser Traumata und Phobien ist – das diskutiert Olga Timofejewa, Kulturredakteurin der Novaya Gazeta, im Interview mit Jewgeni Dobrenko.

    Novaya Gazeta: Als ich Ihre zwei Bände Late Stalinism. The Aesthetics of Politics (dt. Der Spätstalinismus. Ästhetik der Politik) gelesen habe, konnte ich besser verstehen, warum das Interesse an Stalin heute so groß ist. Dass die Menschen die Gräueltaten jener Zeit gutheißen, das kann man sich nur schwer vorstellen, aber das, was Sie über den späten Stalinismus schreiben, erklärt vieles. Was macht diese Epoche so interessant für Sie?

    Jewgeni Dobrenko: Es gibt viele Gründe, aber einer der wichtigsten ist, dass diese Zeit im Schatten anderer Epochen steht, die viel turbulenter und deshalb für Historiker interessanter sind – die revolutionäre Epoche der 1920er Jahre, die Epoche des Terrors in den 1930er Jahren und die Tauwetter-Periode von 1956 bis 1964.

    Aber für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert. Ein Vulkanausbruch ist nur eine kurze Erscheinung, aber dass ein Vulkan entsteht, dauert sehr lange. Solche Epochen, in denen sich etwas lange hinzieht, formen das Massenbewusstsein. Damit ein langfristiger Effekt eintritt, müssen die Folgen einer Umbruchszeit eine Phase der Stabilisierung durchlaufen, in der die revolutionäre Welle abebbt und die Menschen sich an das Leben unter den neuen Bedingungen anpassen. 

    Für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert

    Natürlich sind es nicht die 1930er Jahre mit ihrer brutalen Kollektivierung, den Kraftakten der ersten Fünfjahrespläne und dem Großen Terror, sondern der späte Stalinismus mit seinem Siegespathos, dem Pomp und der Selbsterhöhung: Diese bleiben als Idealbild und nähren die postsowjetische Nostalgie bis heute.

    Dennoch erwachsen aus dieser Nostalgie ziemlich aktuelle Komplexe, wie der Antiliberalismus, der Antimodernismus, die antiwestlichen Stimmungen.

    Es ist eher umgekehrt: Sie erwachsen nicht aus ihr, sondern rufen sie hervor. Unter der äußeren Konfliktlosigkeit der Nachkriegsjahre reifte nämlich das heran, was das historische Bewusstsein der sowjetischen, und dann auch der postsowjetischen Nation auf Jahrzehnte geformt hat. Das Ereignis, in dem sich die Nation voll entfaltet hat, war der Sieg im Krieg. Aber geschehen ist das nicht 1945. Damit der Sieg zu einem Triumph des Regimes werden konnte, brauchte es Jahre. Jahre, in denen ein Mythos vom Krieg und der sowjetischen Überlegenheit erschaffen wurde, vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus. Und daraus sind dann in der Tat viele der heutigen Komplexe erwachsen.

    Warum hat Stalin so hartnäckig genau diese Nation geformt?

    Er hat ein Land übernommen, dessen Bevölkerung ihre Geschichte und nationale Identität verloren hatte. Während vor dem Krieg die Außenwelt im sowjetischen Bewusstsein kaum existiert hatte, erforderte der Status einer Supermacht eine aktive Außenpolitik, die wiederum eine künstlich erschaffene Bedrohung und den Westen als deren Quelle brauchte. 

    Um den Sieg zu einem Triumph des Regimes zu machen, brauchte es Jahre

    Stalin setzte alle erdenklichen Mittel ein, um Druck auf das Massenbewusstsein auszuüben, denn genau dadurch wird die politische Kultur geformt. Und noch wichtiger – durch die Mentalität. Deshalb frage ich immer, wenn ich höre, Putin sei schlecht: „Können Sie sich vorstellen, dass in diesem Land Václav Havel regiert? Oder Angela Merkel?“ Das wäre unmöglich.

    Denn ein Leader, der humanistisch eingestellt ist und ein liberales Programm verfolgt, ist im Bewusstsein der Bevölkerung ein Loser. Gorbatschow ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Die Mehrheit sieht ihn als Schwächling, der alles zugrunde gerichtet, zugelassen, nicht verhindert hat … Die Mentalität der Nation bestimmt die Nachfrage nach einem bestimmten Typus von politischer Führung. Stalin hat die sowjetische Nation bewusst geformt, aber auch die Nation hat sich ein Regime geformt.

    Bei liberalem Tauwetter beginnt es zu bröckeln, und dann kommt wieder eine Eiszeit, in der nur ein solches Regime möglich ist, das die Nachfrage der Massen bedient.

    Warum gibt es dann überhaupt Tauwetterperioden?

    Auf Frost folgt Tauwetter, das ist unvermeidlich. Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen. Nicht, weil dann ein Liberaler kommt – Liberale gibt es da oben nicht, woher auch. Es wird jemand kommen, der aus demselben Holz geschnitzt ist, nur hoffentlich jemand, der nicht so verstockt, weniger komplexbeladen, jünger und moderner ist.

    Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen

    Tauwetterperioden kommen in Russland nicht durch liberale Anführer, sondern weil das Land sich nicht bewegen kann, weil es in einer wirtschaftlichen und technologischen Sackgasse feststeckt. Es verliert seine technologischen, also auch militärischen Vorzüge, und das ist in den Augen des Regimes gefährlich. Deshalb ist das Regime gezwungen, Modernisierung zuzulassen.

    Stalins Fünfjahrespläne und der Gulag – war das auch Modernisierung?

    Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“. Also einerseits einen orientalischen Despoten, grausam, blutrünstig und so weiter, und andererseits einen ziemlich modernen Demagogen, der ein paar marxistische Begriffe aufgeschnappt hatte und hervorragend mit ihnen zu manipulieren verstand.

    Wenn ich vom 20. Jahrhundert erzähle, sage ich meinen Studierenden immer etwas, was ihnen nicht klar ist. Sie denken, die Russische Revolution habe sich 1917 ereignet, aber in Wirklichkeit hat sie ein halbes Jahrhundert gedauert. Sie hat am 9. Januar 1905 begonnen und ist am 25. Februar 1956 geendet – an dem Tag, als Chruschtschow seinen Geheimbericht vorlegte.

    Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“

    Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen. Stalin hat ein System erschaffen, in dem der Bürgerkrieg zur Existenzform wurde. Der Gulag war eine Form des Bürgerkriegs, genau wie die Kollektivierung eine Form des Bürgerkriegs war – wer erinnert sich heute noch an den Holodomor in der Ukraine oder daran, dass ein Drittel der Bevölkerung Kasachstans während der Kollektivierung vor Hunger nach China geflohen ist?

    Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen

    Dann die Industrialisierung, die in den Baracken mit Millionen von hungernden Bauern begann, die der Hunger vom Land in die Städte getrieben hatte. Dann die Zeit des Großen Terrors. Danach stürzte das Land in den Zweiten Weltkrieg mit seinen unfassbaren Opferzahlen, einer zerstörten Wirtschaft und so weiter. Und 1946 beginnt dann der Kalte Krieg … Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben? Stalin ist nicht vom Himmel gefallen, er war ein logisches, folgerichtiges Produkt aus diesem Dauerkrieg.

    Haben die persönlichen Komplexe totalitärer Herrscher Einfluss auf den nationalen Charakter?

    Natürlich. Wenn einer bösartig ist, so wie Stalin, dann findet man auch hochgradiges Ressentiment und Hass. Unter einem weniger bösartigen Anführer wie Breshnew hat das repressive Regime einen anderen Charakter. Aber alle diese Regime folgen einem bestimmten Programm, einer inneren Logik. Aus einer Tulpenzwiebel wächst keine Chrysantheme: Stalin konnte kein Tauwetter initiieren, Breshnew konnte keine Perestroika beginnen. 

    Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben?

    Nehmen Sie die sowjetische Geschichte. Was kam nach 20 Jahren Sowjetmacht? 1937. Die Chinesische Revolution hat 1949 gesiegt. Was kam 20 Jahre später, 1969? Die Kulturrevolution. In der Logik ihrer Entwicklung kommen totalitäre Regime nach 20 Jahren (das hängt zu einem gewissen Grad mit dem Generationenwechsel zusammen) offenbar in ein repressives Stadium. Ja, wir haben in Russland im Moment weder 1937 noch die Kulturrevolution, das ist immerhin das 21. Jahrhundert und eine andere Welt, aber die Logik des Regimes ist immer noch dieselbe.

    Was denken Sie, ist Putins Hauptinteresse – Macht oder Geld?

    Ich denke, Geld ist nur ein Instrument der Macht. Putin ist ein typisches Polit-Tier. Er ist genau wie Stalin ein Machtfanatiker. Geld ist nur ein Mittel, diese Macht zu besitzen. Stalin hat dieses Mittel nicht gebraucht. Er besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?

    Ich glaube, Putins Problem ist, dass er weiß, wie es bei Stalin ausgegangen ist, und ihm klar ist, wie es bei ihm ausgehen wird. Er weiß, was mit Stalins Leuten, Stalins Kindern geschehen ist. Mit der Tochter, die bettelarm in einem Altersheim irgendwo in der Fremde gestorben ist, seiner Enkeltochter, die an der Supermarktkasse arbeiten musste, und so weiter.

    Stalin besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?

    Ich nehme an, Putin denkt, er muss die ihm Nahestehenden absichern. Außerdem ist Geld etwas, das sein gesamtes Umfeld braucht. Was bekommen denn diese Leute für ihre Dienste? Sie bekommen ihr eigenes Stück Macht, und die bemisst sich in den Summen, die diese Menschen besitzen. Das ist der institutionalisierte Fressnapf, den es in Russland immer gegeben hat. Gogols Revisor ist unsterblich: Alle Beamten klauen auf dem Posten, der ihnen zum Fressen hingestellt wurde. Und so sichern diese Menschen im Endeffekt die Macht des politischen Anführers.

    Manchmal scheint es, als würden sie sie zerstören, indem sie immer absurdere Gesetze verabschieden.

    Diese Gesetze sollte man nicht zu ernst nehmen: Das wird alles in sich zusammenfallen, sobald das Regime zerfällt. Und das wird nach Putin garantiert zerfallen, selbst wenn er von einem loyalen Nachfolger abgelöst wird. Es gibt einen objektiven Prozess, der unterschwellig abläuft und der absolut unaufhaltsam ist. Die nächste Generation kommt. Die Jugend rückt nach. Was bleibt da noch zu sagen?

    Dass Menschen aufgrund dieser Gesetze im Gefängnis sitzen.

    Vergessen Sie nicht: Macht ist die Demonstration von Macht. Den Menschen wird diese Show vorgeführt, weil das Einzige, worauf sich dieses Regime stützen kann, seine Härte ist. Und dafür braucht es ein bestimmtes Bild: ein starkes Russland, das sich von den Knien erhoben hat, ein eigenständiges Land, vor dem alle Angst haben, weil es so unbezwingbar ist; ohne uns können sie nichts machen, die Amerikaner werden auf ihren Knien angekrochen kommen et cetera … Aber dieses Bild dient nur einem Zweck: Es soll verbergen, dass dieses Land – das sich als Supermacht darstellt, das Amerika ebenbürtig sein will – ein ganzes Prozent des weltweiten BIP hervorbringt!   

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    Wer nicht Freund ist, ist Feind

    Das politische System in Russland wird schnell auf Putin reduziert. Dabei sollte man eher von einem System Putin ausgehen. Dieses System hat seine Besonderheiten gerade auch, was die Opposition betrifft. Im Grunde gibt es ein „hierarchisches Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten“. Die kommunistische KPRF, die rechtspopulistische LDPR und die Partei Gerechtes Russland werden deswegen als „Systemopposition“ bezeichnet. 

    Als Nicht-System-Opposition gelten dagegen politische Parteien und Bewegungen, die meist nicht an Wahlen teilnehmen dürfen und damit de facto aus dem politischen System ausgeschlossen bleiben. Dazu gehört etwa auch das Team Alexej Nawalnys.

    Ein Moskauer Gericht hat am gestrigen Mittwoch, 9. Juni, die Organisationen Nawalnys für „extremistisch“ erklärt. Dies bedeutet auch, dass sich jeder strafbar macht, der für sie arbeitet und sie unterstützt. Nawalnys Wahlkampf-Chef Leonid Wolkow erklärte bereits zuvor, dass die Struktur der Organisation damit zerstört sei, und dass man nun andere Maßnahmen überlegen müsse.

    Der FBK ist nicht das einzige Beispiel: Seit den Protesten im Januar/Februar und im Vorfeld der Dumawahl im September haben die Repressionen gegen kritische Stimmen deutlich zugenommen: Es trifft die Nicht-System-Opposition, die Zivilgesellschaft genauso wie Medien. Unlängst wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, was ihre Arbeit in Russland unmöglich macht. Schon zuvor wurden mehrere russische Organisationen ebenfalls als „unerwünscht” eingestuft, etwa Otkrytaja Rossija, die Organisation von Michail Chodorkowski. 
    Parallel dazu verstärkt der Gesetzgeber die Internetzensur. Es wurden Geldstrafen gegen Soziale Medien wie Facebook, Twitter und TikTok verhängt – wegen Verbreitung von „Aufrufen zu illegalen Massendemonstrationen“ – und Twitter wurde gedrosselt. Auch unabhängige Online-Medien geraten zunehmend unter Druck: Meduza und VTimes gelten als „ausländische Agenten“, gegen einzelne Journalisten und Medien wurden Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redaktionsmitglieder des Magazins Doxa. 

    Da immer mehr Organisationen so die Grundlagen ihrer Arbeit entzogen wurden, fragt Politologin Tatjana Stanowaja auf Projekt, ob man unter solchen Bedingungen überhaupt noch von einer Nicht-System-Opposition sprechen kann, inwiefern sich diese Art von Opposition derzeit ändert und welche Instrumente ihr bleiben.

    Noch nie in den 21 Jahren unter Putins Herrschaft stellte sich die Frage nach der „Belarussifizierung“ der russischen Politik so akut wie heute – etwas, das noch vor ein paar Jahren undenkbar schien.

    Heute scheint es, als liege im politischen Kampf gegen die Opposition der Vorteil ausschließlich auf Seiten der Machthaber. Der Kreml (als Sammelbegriff für die oberste Führung des Landes) hat der Nicht-System-Opposition nicht nur unüberwindbare Hürden in den Weg gestellt, er hat sich auch rundum abgesichert: Es wurden inzwischen derart viele Verbotsgesetze erlassen, dass jeder beliebige Oppositionelle und jede oppositionelle Organisation – ganz nach Lust und Laune der Silowiki – als „ausländischer Agent“, „unerwünschte Organisationen“, als „extremistisch“, als „NGO, die in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreift“ gehandelt werden kann. Wenn alle Stricke reißen, dann können sie auch einfach zu einer kriminellen oder betrügerischen Vereinigung erklärt werden. 

    Die „Belarussifizierung“ der russischen Politik

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen und Protestaktionen zu verbieten ist ebenfalls ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen. Das Gesetz ist kein Wert mehr an sich, sondern das Privileg einiger Weniger. 

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration. Zahlreiche Aktivisten aus Nawalnys Team waren unter Androhung von Strafverfolgung gezwungen, Russland zu verlassen [so etwa auch der Wahlkampfchef Leonid Wolkow – dek]. 

    Jemanden von den Wahlen auszuschließen ist ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen

    Die gesamte inländische Infrastruktur, von den Regionalteams (wenn es um den FBK geht) bis hin zu einzelnen Abteilungen (im Fall von Otkrytaja Rossija), ist faktisch aufgelöst, die Mitarbeiter ins Nichts entlassen. 
    Michail Chodorkowski, der Gründer von Otkrytaja Rossija, hat das Problem kürzlich klar benannt: „Ich sehe momentan keinen Sinn darin, sich unter einen Panzer zu legen.“ 
    All das erzeugt ein tiefes Gefühl von einem Ende, von der endgültigen Niederschlagung der Nicht-System-Opposition, die nach ihrer „Kriminalisierung“ (Ende 2020/Anfang 2021) jetzt schlicht als Klasse liquidiert wurde. Was nun?

    Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration

    Wenn wir von der Opposition in einem breiteren Sinn sprechen, gibt es mindestens drei Haupttrends, mit denen wir es in nächster Zeit zu tun haben werden. 

    Der erste Trend: Opposition wird zu „Anti-Regime“ gemacht

    Der erste Trend: Mit Beginn des Jahres 2021 hat der Begriff „Nicht-System-Opposition“ ausgedient und wird abgelöst von einem „Anti-Regime-Verhalten“. 

    Die ehemalige Nicht-System-Opposition hat keine vollwertigen (das heißt sich noch in Freiheit und im Land befindenden) Organisationen, Leader, Strategien, Finanzressourcen oder Mitarbeiter mehr. Ebenso rasant verliert sie ihre Informationskanäle, den Zugang zu einer breiten Leser- und Zuschauerschaft. Die Regierung ist gerade dabei, die Regulierung des Internets insgesamt und der sozialen Medien insbesondere radikal zu überdenken. In allernächster Zukunft wird die Kontrolle der „illegalen“, sprich: politisch unliebsamen Informationsinhalte im Internet massiv verschärft werden. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor überprüft das gesamte System der Beziehungen zu ausländischen IT-Konzernen (z. B. Drosselung von Twitter, Drohungen gegenüber Google, Druck auf YouTube usw.), indem sie fordert, „falsche“ Inhalte und Videos zu entfernen und „richtige“ voranzubringen. 
    Das Überwachungsorgan verfügt außerdem über alle Instrumente, um Internetseiten zu sperren, das Löschen von Publikationen zu erzwingen und diejenigen, die sich widersetzen, zu verfolgen. Hierzu können wir auch die jüngsten Änderungen zum Gesetz über die „aufklärerische Tätigkeit“ zählen, die ein klarer Angriff sowohl auf die russische Wissenschaft und Bildung als auch auf jede öffentliche oppositionelle Aktivität sind.

    Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet

    Viele meinen, die aktuelle Kampagne der Regierung zur Zerschlagung der Nicht-System-Opposition würde sich nur gegen den FBK und Chodorkowskis Otkrytaja Rossija richten, aber die Absichten der Machthaber gehen weit darüber hinaus. Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell. 

    Das Anti-Regime-Verhalten

    Ein solches Verhalten hat keine Organisationen, keine Leader, keine vollwertige Koordination, doch es lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Die erste ist die öffentliche Kritik: Posts, Likes, Retweets und kritische Äußerungen – das betrifft sowohl Privatpersonen als auch einzelne Medien, Journalisten, Experten, Kulturschaffende sowie natürlich Politiker und Menschenrechtler. 

    Die zweite ist die Teilnahme an politischem Protest, seien es Kundgebungen oder beliebige Veranstaltung eines Anti-Regime-Oppositionellen. 
    Die dritte – und vermutlich schwerwiegendste – ist die Ablehnung bestimmter „politischer Werte“: die „Beleidigung“ von Kriegsveteranen, „Respektlosigkeit gegenüber der Macht“ (die sich selbst zu einer „geistigen Klammer“ gemacht hat), Vergleiche der UdSSR mit Nazideutschland. 
    Die gesamte Politik des russischen Staates zur Unterdrückung der Nicht-System-Opposition wird auf diese Weise in eine großangelegte, allumfassende, in der Regel entpersonifizierte Kampagne gegen alle Formen von Anti-Regime-Stimmungen transformiert.

    Politisch motivierter Absicherungswahn

    Man könnte meinen, das, was geschieht, sei eine sorgfältig durchdachte Strategie des kollektiven Kreml, fünf Schritte im Voraus geplant und mit allen abgestimmt. Aber das ist längst nicht der Fall: Die Linie der Unterdrückung ist chaotisch, oft undurchschaubar, sie wird realisiert von Akteuren, die sich gegenseitig bekriegen und weder einen einheitlichen Plan noch eine Schaltzentrale haben. Der Trend zur Unterdrückung erwächst aus einem bestimmten Milieu, aus der allgemeinen Stimmung gegen alles Unkontrollierte, aus einem politisch motivierten Absicherungswahn, der zu einer Vielzahl voneinander unabhängiger Rachefeldzüge führt. Der Kampf gegen Anti-Regimler kann in diesem Fall sowohl Ursache, Selbstzweck oder auch ein Mittel sein, Unternehmensinteressen durchzusetzen.

    Zweiter Trend: Neue Formen des Anti-Putin-Protests

    Der zweite Trend ist, dass der Anti-Putin-Protest andere Formen annehmen wird. Aktuell stehen den ehemaligen Aktivisten der Nicht-System-Opposition drei Hauptstrategien zur Verfügung: in den Untergrund gehen, wo sie harte Gefängnisstrafen riskieren und praktisch keinen Zugang zum Informationsraum haben; in die System-Opposition wechseln; ihre politischen Ziele regionalisieren. 

    In den Untergrund

    Das Verschwinden im Untergrund wird vermutlich nur eine marginale und periphere Bewegung sein – einfach aus der Unmöglichkeit heraus, gefahrlos zu agieren. Aber auch die beiden anderen Optionen scheinen nur begrenzt möglich. 

    Wechsel in die System-Opposition

    Zwar sind die regionalen Abteilungen der Systemparteien zum Teil nicht weniger radikal als Nawalnys Teams und könnten versuchen, ihren Platz in den legalen Parteistrukturen zu finden. Doch das Gesetz zur Einschränkung des passiven Wahlrechts für alle, die in der Vergangenheit irgendwie mit dem „extremistischen“ FBK zu tun hatten, könnte den Wechsel in die Systemopposition erschweren. Sergej Iwanenko, stellvertretender Vorsitzender von Jabloko, hat zwar angekündigt, seine Partei sei bereit, ehemalige Mitarbeiter und Koordinatoren der Nawalny-Teams in ihren Reihen aufzunehmen. Doch selbst diejenigen, die bereit sind, in die Systemopposition zu wechseln, riskieren eine Absage: zu toxisch sind alle Nawalny-Aktivisten geworden, zu große Schwierigkeiten könnte ihre Aufnahme für die Systempartei bedeuten.

    Das Problem ist nicht einmal die Zulassung oder Nichtzulassung bei den Wahlen (definitiv nicht), sondern das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Dabei ist klar, dass der FBK zwar zerschlagen, aber die Leute noch da sind – und dass viele von ihnen, wenn sie den politischen Kampf fortsetzen wollen, ganz neu werden anfangen müssen, mit individuellen Projekten und einem Fokus auf regionalen statt föderalen Themen. 

    Zunehmende Bedeutung des regionalen Protests

    Das könnte wiederum bedeuten, dass die regionale Protestaktivität, die Anzahl der lokalen Aktionen und Proteste [die sich nicht explizit gegen Putin, sondern gegen einzelne Regionalchefs richten – dek] zunehmen wird. Diese Regionalisierung des Protests ist tatsächlich kein geringes Problem für die Machthaber im Kreml – die Untergrabung der Legitimität des Gouverneurs-Korps ist eine der effektivsten Formen im Kampf gegen das Regime insgesamt.

    Dritter Trend: Radikalisierung und Mini-Nawalnys

    Der dritte Trend ist schließlich das Zusammenschrumpfen des Systemfeldes und die Radikalisierung der Peripherie der Systemopposition. Im Grunde ist dieser Prozess bereits im Gange, man muss sich nur anschauen, wie bereitwillig manche Kandidaten der Systemopposition die Vorteile des „Smart-Votings“ 2019 in Moskau oder bei den Kommunalwahlen im September 2020 für sich genutzt haben. Nawalnys Sympathisanten sowie die oppositionellen und putinkritisch eingestellten Aktivisten der Systemopposition (allen voran bei Jabloko und in der KPRF) – bereiten ihren Parteispitzen mittlerweile ernsthaft Kopfzerbrechen. Jabloko sah sich gezwungen, eine umfassende Parteireform durchzuführen und alle auszusieben, die zu stark in Richtung der Nicht-System-Opposition „abweichen“. Die KPRF hat bei ihrem letzten Parteitag die Kompetenzen aller „Unzuverlässigen“ begrenzt, die vom Regime als Nawalny-Anhänger eingestuft werden. Der Kreml hatte [die KPRF] in aller Schärfe vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie würde sich von dem politisch gefährlichen Ballast befreien oder sie bekommt Probleme bei den Wahlen (und nicht nur bei den Wahlen).

    Auf diese Weise zwingt das Regime die Parteien der Systemopposition, sich noch stärker zum System und zu Putin zu bekennen, die „gemeinsamen Werte“ noch eifriger zu verfechten – das Feld der Systemparteien wird enger und loyaler. Das provoziert eine Zunahme von oppositionellen Stimmungen, inneren Zwist und Konflikte: Bei weitem nicht alle – zumal in den Regionen – sind bereit, diesen Kurs des Kompromisslertums mitzutragen, selbst wenn das die einzige Überlebenschance ist.

    Einer der interessantesten Prozesse ist derzeit das Entstehen einer neuen Generation von vielversprechenden und talentierten charismatischen Politikern, die auf föderaler Ebene noch wenig bekannt sind, die aber sowohl ihren Systemparteien als auch dem Kreml die Stirn bieten. Eines der schillerndsten Beispiele ist der bereits in Ungnade gefallene Saratower Abgeordnete Nikolaj Bondarenko, dem auf YouTube über anderthalb Millionen Menschen folgen.

    Was tun mit der innersystemischen Anti-Regime-Opposition? Das ist kein geringes Problem für den Kreml. Sie aus dem systemischen Feld zu verbannen, wäre nur eine halbherzige Maßnahme, sie alle einbuchten können die „Kuratoren“ auch nicht (noch lässt der FSB die Systemopposition in Ruhe). Man wird punktuell und individuell vorgehen müssen, aber eine einheitliche Strategie gibt es nicht und kann es in dieser Situation nicht geben, in der es im ganzen Land vor individuellen FBKs und Mini-Nawalnys nur so wimmelt.

    Auch Medien werden als „Opposition“ aufgefasst

    Das Besondere an der gegenwärtigen Situation, in der die Regierung die putinkritische Opposition de facto zerschlagen hat, ist, dass der Begriff der Opposition extrem breit aufgefasst wird. In den Augen der Machthaber übernehmen auch die Medien eine indirekt oppositionelle Rolle: unabhängige Online-Portale, Echo Moskwy, Doshd – Medien, die sich besonders für die Hardliner der Silowiki in Nichts von Nawalny und seinem FBK unterscheiden. Das bedeutet, dass die unabhängigen Medien, aber auch Massenmedien mit einer unabhängigen Informationspolitik, zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden, die die Überreste der Anti-Regime-Aktivität dem Erdoden gleichmacht.

    Unabhängige Medien bekommen zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben

    Nichtsdestoweniger, allem Druck, Repressionen und Niederschlagungen zum Trotz, bleiben der oppositionellen politischen Aktivität noch einige Instrumente: 

    Informationskampagnen

    Zum einen sind das Informationskampagnen, die trotz aller Versuche der Machthaber, die Kontrolle über das Internet zu verschärfen, aus dem Ausland und unter Umgehung der Sperren durchgeführt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass das massenhaft vorkommen wird; aber dieser Kanal bleibt bestehen, zumal sich die Frage nach einer totalen und undurchdringlichen Zensur des Internets nach chinesischem Vorbild momentan nicht stellt. 

    Radikalisierung

    Zweitens ist da die Radikalisierung der Systempolitiker – hauptsächlich auf regionaler Ebene, aber mit Aussicht auf Ausweitung auf die landesweite Ebene. Wir werden vermutlich Zeuge des Entstehens einer ganzen Reihe von neuen lokalen politischen Projekten, deren Erfolg begrenzt sein wird. Die Menschen werden überall nach Einsatzmöglichkeiten für ihre bereits erworbenen politischen Kompetenzen suchen und der Kreml wird dann regelmäßig lokale politische Brände löschen müssen.

    Protestaktionen

    Drittens bleiben schließlich die Protestaktionen. Die Möglichkeiten von Nawalnys Team sind heute radikal eingeschränkt, wenn sie nicht sogar bei Null liegen; und andere Leader auf föderaler Ebene gibt es nicht. Doch der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein – ihre Fehler waren es in der Regel, die als Trigger für vieltausendköpfige Aktionen gewirkt haben, so zum Beispiel 2019 in Moskau, 2020 in Chabarowsk und noch im Januar und Februar 2021 rund um die Verhaftung Nawalnys
    Ja, es gibt das Problem der fehlenden Koordination auf föderaler Ebene, aber wie das Beispiel Belarus zeigt, braucht eine Massenprotestbewegung nicht zwingend Anführer.

    Der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein

    In diesem Sinne könnten die Wahlen im September zu einer ernsten Herausforderung für die Machthaber werden. Um sie schmerzlos zu überstehen, wird es nicht ausreichen, Nawalny einzusperren, den FBK zu vernichten und Otkrytaja Rossija zu schließen. 

    Nach der Zerschlagung der Opposition ist die Hauptgefahr für die Macht die Macht, die in Ermangelung einer Opposition unausweichlich noch gröbere und gefährlichere Fehler machen wird, als wenn es eine Opposition gäbe.

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  • „Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

    „Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein.“

    Gegen die Organisationen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny begann am Montag die Hauptverhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht: Ihnen wird Extremismus vorgeworfen. Die Sitzung wurde nach wenigen Minuten auf den 9. Juni verlegt. Betroffen sind neben dem Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) auch die regionalen Wahlkampfbüros, die Nawalnys Team landesweit aufbaute. Über diese schtaby wurden Straßenproteste organisiert, aber auch das sogenannte Smart-Voting – das Verfahren sieht vor, dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten die Stimme zu geben und so die Machtfülle der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.

    Ist eine Organisation als extremistisch eingestuft, so ist deren Finanzierung verboten, führende Köpfe müssen mit mehrjährigen Freiheitsstrafen rechnen.

    Im Meduza-Podcast Schto slutschilos (dt. Was war da los?) hat Konstantin Gaase mit Nawalnys Wahlkampfchef Leonid Wolkow, der im Exil lebt, darüber gesprochen, wie es mit den Regionalbüros nun weitergeht – und ob das Smart-Voting bei der Dumawahl im September trotz allem funktionieren kann.

    Konstantin Gaase: Seit 2012, als Sie befasst waren mit den Wahlen zum Koordinationsrat, gab es ein ganz einfaches Schema für die Beteiligung am oppositionellen Protest: Leute, wir geben euch die Möglichkeit in unterschiedlichen Abstufungen mitzumachen – von der anonymen Spende über Cube-Aktionen bis hin zur Mitarbeit im Team. Das heißt, im Grunde sagten Sie Ihren Sympathisanten: Wir bieten eine Plattform, der ihr euch anschließen könnt, wie es euch passt. 
    Jetzt gibt es keine Plattform mehr, und auch die Beteiligung am Protest in der Form, wie Sie sie für ungefährlich halten, gibt es nicht mehr. Haben Sie das bei Nawalnys Rückkehr nach Russland besprochen? Hielten Sie ein solches Szenario für wahrscheinlich?

    Leonid Wolkow / © Andrej Lukowski/Kommersant
    Leonid Wolkow / © Andrej Lukowski/Kommersant
    Leonid Wolkow: Eine schöne Formulierung, das mit den abgestuften Möglichkeiten, weil wir das auch immer so gesehen haben.
    Bei Unterstützer-Treffen habe ich das oft als Pyramide visualisiert: eine Million Anhänger; davon hunderttausend, die spenden können; davon zehntausend, die agitieren können; davon tausend, die aktiv mitarbeiten; hundert, die bereit sind, einen Tag in Haft zu sitzen [per Verwaltungsarrest]; zehn, die bereit sind, verurteilt einzusitzen; und ein Alexej Nawalny.   

    Und es war klar, dass das Team und diese ganze Struktur es allen ermöglichen soll, etwas beizutragen. Denn obwohl wir selber Aktivisten sind und Aktivisten lieben und schätzen, ist ja klar, dass man mit einer Million Anhängern, die täglich je 15 Minuten Zeit investieren, ohne dabei Risiken einzugehen, eine viel größere politische Wirkung erzielen kann. Und diese 15 Millionen Minuten vermögen immer noch mehr, als die eingefleischtesten und risikofreudigsten Aktivisten auf der Straße mit wundgelaufenen Füßen zusammensammeln. Aktivisten gibt es ja viel weniger. 
    Aber so vorzugehen, dass aus diesen 15 Millionen Menschenminuten etwas Sinnvolles entsteht, ist sehr schwierig. Das erfordert eine riesige Infrastruktur und eine ziemlich geschickte Planung.

    Alles, was wir gemacht haben, war, die Aktivisten, die es [zum Kampf] drängte und die zu den verschiedensten kreativen Protestformen bereit waren – dass wir die zu ziemlich öden bürokratischen Tätigkeiten verdonnert haben, um eine Angebotsstruktur für jene aufzubauen, die weniger aktiv waren. 

    Und jetzt hat genau dieser Teil einen  Schlag versetzt bekommen. Unsere Millionen Anhänger sind immer noch da; die Hunderttausende, die zu Spenden und Reposts bereit sind, ebenfalls. Eins draufgekriegt haben die Zigtausend, die zu Demonstrationen gehen, und die Tausend, die aktiv mitarbeiten.  

    Jenen, die bereit waren zu Demonstrationen zu gehen, hat man gesagt: Ihr werdet gleich alle im Verwaltungsarrest sitzen. Damit hat man das Risiko ihres Einsatzes um zwei Stufen verschärft, dazu waren sie nicht bereit. Und die Tausend, die [im Team] mitarbeiteten, bekamen zu hören: Ihr bekommt gleich alle eine Haftstrafe aufgebrummt. Also wurde auch das verschärft – auch dazu waren die Leute nicht bereit.
    Somit haben sie [die russische Staatsmacht] uns durch die drastische Erhöhung des Risikos die Grundlage für unsere Struktur zerstört. Weswegen wir jetzt die Infrastruktur ins Internet verlegen. 

    Durch die drastische Erhöhung des Risikos haben sie unsere Struktur zerstört

    Wir wissen, dass die Unterstützung an der Basis nicht weg ist, das ist in Umfragen erfassbar. Wir müssen sie nur online neu aufbauen. Also, dafür sorgen, dass die Leute, die 15 Minuten täglich investieren wollen, [weiterhin] etwas Sinnvolles beitragen können. 
    Natürlich sinkt die Effektivität. Natürlich wird die Arbeit anders sein, aber im Kern bleibt alles gleich. Die fundamentalen Gründe für die Proteststimmung in Russland sind ja ganz offensichtlich immer noch da und werden nicht so schnell verschwinden.    

    Putin kann zehn Personen einsperren lassen – davon wird aber das Sonnenblumenöl nicht billiger. Putin kann alle Räumlichkeiten, in denen jemals Nawalnys Team gearbeitet hat, mit Baggern zerstören. Und alle Hotels, in denen Nawalny je eingecheckt hat. Auch damit wird er die Korruption nicht besiegen. Ganz zu schweigen davon, dass [der Unmut darüber nicht sinkt, dass] Putin seit 22 Jahren im Amt ist.  
    Wir führen Umfragen durch und sehen: Die Unterstützung ist nicht zurückgegangen, dafür hat das Mitgefühl zugenommen.  

    Sie sagen, Sie sind bereit, weiterhin dasselbe zu tun – wenn auch weniger effektiv und online. Bedeutet das, dass Sie die Grundhypothese beibehalten, dass diese ein bis zehn Millionen Anhänger von sich aus nicht bereit sind, das Risiko zu erhöhen und auf die Straße zu gehen? Sie glauben also nicht, dass die Stärke des Protestes ohne Ihr Zutun von selber zunimmt?  

    Lustigerweise hat Nawalny in einer seiner letzten Nachrichten aus Wladimir eine Metapher aus Alice im Spiegelland benutzt: dass man schnell rennen muss, um auf der Stelle zu bleiben  – wobei er das Zitat fälschlicherweise [dem ersten Band] Alice im Wunderland zuschrieb. Am selben Tag kam auf Znak ein Interview mit mir heraus, in dem ich dieselbe Metapher benutzte. Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber offenbar empfinden wir das sehr ähnlich. Genau so ist es: Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur damit wir auf der Stelle bleiben.    

    Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur um auf der Stelle zu bleiben   

    Das Risiko beim Straßenprotest ist um ein Vielfaches gestiegen. Niemand denkt mehr daran zurück, aber vor zehn Jahren war das Schlimmste, was auf einer nicht genehmigten Demonstration passieren konnte, 15 Tage Haft für Organisatoren und 500 Rubel [2011 rund 13 Euro – dek] Strafe für Teilnehmer. Irgendwelche Festnahmen (geschweige denn Haftstrafen). Schon allein Ausweiskontrollen schienen damals auf genehmigten Demonstrationen undenkbar. Und das vor nur zehn Jahren – in der fast guten alten Zeit.   

    Unsere Proteststärke und -energie ist in diesen zehn Jahren nicht gestiegen, aber auch nicht weniger geworden. Jetzt, wo die Teilnahme an einer Demo bis zu 300.000 Rubel [etwa 3.300 Euro – dek] kosten kann, wo 30 Tage Haft drohen, ein Strafverfahren, ein reales Risiko, seinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren et cetera – sehen wir, dass die Leute trotzdem landesweit in [mit vorher] vergleichbarer Zahl demonstrieren gehen.     

    Unter diesen Bedingungen zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre wishful thinking

    Alles, was wir unter diesen Bedingungen tun können, ist, schnell genug zu rennen, um an Ort und Stelle zu bleiben und das Entschlossenheitslevel der Menschen aufrechtzuerhalten. Aber unter diesen Bedingungen auch noch zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre Wishful Thinking.   

    Putin hat auf Lukaschenko [und die belarussischen Proteste 2020] geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern. Er hat signalisiert, dass er auch bereit ist, diesen Spielraum zu nutzen – was natürlich eine unangenehme Überraschung ist. Jetzt wissen wir, dass unsere Bemühungen nicht auf einen großangelegten Straßenprotest abzielen können. Den nächsten Massenprotest zusammenzutrommeln hat derzeit, milde ausgedrückt, nicht oberste Priorität.      

    Putin hat auf Lukaschenko geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern

    Das heißt aber nicht, dass wir Straßenproteste ausschließen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Ungerechtigkeit des Geschehens sehr deutlich wahrnimmt. Und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wächst an: die Ursachen [der Proteststimmung] sind immer noch da. Daher kann es durchaus passieren, dass ganz von allein irgendein Schwarzer Schwan daherfliegt oder ein Goldener Hahn, der dem Zaren in den Kopf pickt, und das war’s. Aber darauf eine politische Strategie aufzubauen – das scheint mir unmöglich.    

    Früher war der Rhythmus so: ein Video als Trigger, der offline seine Fortsetzung findet. Okay, angenommen, ihr stützt euch nicht auf den Straßenprotest. Doch wie soll dann diese Koppelung laufen? Gleichzeitig wird klar – unmittelbar vor unserem Gespräch haben Sie bekannt gegeben, dass die Regionalbüros schließen –, dass es keine Infrastruktur für die Produktion [von investigativen Filmen] mehr gibt, aber Filme brauchen Produktion. 

    Bezüglich der Regionalbüros habe ich sehr deutlich gesagt: Wir lassen sie frei schwimmen, wir haben dieses Netz über vier Jahre aufgebaut, haben den Leuten etwas beigebracht, die Leute haben selbst etwas gelernt, haben sehr intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist eine absolut handlungsfähige politische Struktur, die zu selbständiger politischer Tätigkeit in der Lage ist. Und die infrastrukturelle Basis des Protests bleibt ja bestehen. 

    Aber Sie investieren sie in lokale Agenden. Im Grunde sagen Sie: Geht los und widmet euch dem lokalen Protest.      

    Sie waren sowieso mit lokalen Agenden befasst. Geschichten wie der Park in Jekaterinburg, Sergej Furgal und Kuschtau haben dem Kreml natürlich heftig Angst eingejagt.

    Ich gehe davon aus, dass der Kreml das Netzwerk unserer Büros als größeres Problem und größere Bedrohung empfand als den Fonds für Korruptionsbekämpfung. Der FBK existierte einfach und veröffentlichte Studienergebnisse. Der Kreml war bis zuletzt der Meinung, dass das alles sowieso nur ein Internetphänomen ist. 

    Das Büronetzwerk war jedoch vor Ort aktiv, und während der Kreml Proteste in Moskau mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit niederschlagen konnte, ging er mit regionalen Protesten immer viel milder um. Zum einen, weil er Angst hatte, dass der Protest im ganzen Land aufflackern und außer Kontrolle geraten könnte, zum anderen, weil in der Moskauer Bevölkerung die Konzentration der Silowiki viel höher ist als in Jekaterinburg, Ufa und dergleichen.

    Unser Netz von Büros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor

    Alexej Nawalny wurde vergiftet, als er in den Regionen unterwegs war. Und seine Beschattung begann, als er 2017 anfing, aktiv die Regionen aufzusuchen, um ein landesweites Netzwerk aufzubauen. Als er im Sommer 2020 neuerlich die Regionen bereiste, wurde die Bespitzelung wieder aufgenommen.   

    Dieses Netz von Regionalbüros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor, weil das die infrastrukturelle Basis ist. Das sind Leute, die Kompetenzen in sich tragen, die wissen, wie man einen Protest organisiert, wie man mit Freiwilligen arbeitet, wie man was am besten macht. 
    Na, und natürlich das Smart-Voting, die Regionalwahlen – Sachen, die manchmal gelangen, manchmal nicht, die aber in den Regionen besonders wehtaten.  

    Natürlich haben sie [die Behörden] es sich prinzipiell zur politischen Aufgabe gemacht, unsere Struktur in den Regionen zu zerstören. 

    Ich glaube an die Theorie, dass der Entschluss, Alexej [Nawalny] mit Nowitschok zu vergiften, folgendermaßen gefasst wurde: Im Juli 2019 erging der politische Befehl, das Team zu zerstören. Damit wurde [der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander] Bastrykin betraut. Bastrykin bildete eine Gruppe aus 141 Ermittlern in besonders wichtigen Angelegenheiten, die sich ans Werk machten, unsere Konten sperren und die Technik mitgehen ließen, bla, bla, bla.   

    Ein Jahr später sagte man ihm bei irgendeiner Rechenschaftslegung: „Alexander Iwanowitsch, sie haben doch vor einem Jahr einen Auftrag bekommen. Aber irgendwie arbeitet das Team immer noch. Schon wieder dieses Smart-Voting, schon wieder mischen sie sich mit dem Geld von CIA und Mossad in unsere tollen und ehrlichen Wahlen ein. Wie kommt es, dass Sie, Alexander Iwanowitsch, damit nicht fertig werden?“ Er so: „Mi-mi-mi, geben Sie mir noch drei Monate, dann.“ Da kommt irgendso ein Nikolaj Platonowitsch um die Ecke und sagt: „Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Mir scheint, es ist Zeit für Plan B – für radikalere Methoden, wenn Sie schon ein Jahr damit herumtun. Wir haben da eine Spezialabteilung, wo sie für solche Fälle spezielle Mittelchen brauen.“      
    Das ist natürlich eine dichterisch ausgeschmückte Rekonstruktion. Aber vom zeitlichen Ablauf und der Logik her erscheint sie mir plausibel.

    Von unseren 40 Regionalbüros werden etwa 30 versuchen, als gesellschaftlich-politische Organisationen zu funktionieren

    Vor diesem Hintergrund wiederhole ich: Alle Medien haben jetzt zwar die Nachricht „Regionalbüros aufgelöst“ gepusht – doch das war nicht der Sinn meiner Mitteilung, sondern der, dass von unseren 40 Regionalbüros etwa 30 versuchen werden, als gesellschaftlich-politische Organisationen selbständig zu funktionieren. Manche werden das natürlich nicht schaffen.   

    Die Regionalbüros sind vielleicht eine gute Investition in lokale Agenden. Was das Smart-Voting betrifft, ist es ja kein Geheimnis: Dort, wo es funktioniert hat, waren die politischen Partner [von Nawalnys Team] die Kommunisten.

    Nein. Ich als derjenige, der für das Smart-Voting zuständig ist, kann bestätigen, dass das nicht der Fall war. Es gab keine Absprachen im Sinne von „Lasst euch von uns unterstützen“ oder „Wir für euch und ihr für uns“.

    Haben Sie nie mit den Kommunisten gesprochen?

    Ich persönlich habe nie [mit ihnen] als Institution gesprochen. In den Regionen kommen ständig nicht nur Kommunisten zu uns, [sondern auch Mitglieder] von LDPR, SR, Jabloko und fragen: „Was müssen wir tun, um ins Smart-Voting zu kommen?“ Die hören immer dieselbe Antwort: „Steht alles auf der Website. Arbeiten Sie viel und gut. Werden Sie der beste Kandidat und der stärkste Opponent der Regierung in Ihrem Gebiet, und wir werden Sie unterstützen.“
       
    Haben sich die Regionalteams am Verhandlungsprozess beteiligt, damit man einander nicht in die Quere kommt?
          
    Ja. Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen. Und umgekehrt ist es gut, wenn ein starker Kommunist in dem einen Wahlkreis ist und ein starker Jablotschnik in einem anderen. Nachdem wir in diesem Prozess als unparteiische Vermittler auftreten, sind sie natürlich zu uns gekommen.

    Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen 

    So etwas ist in Sankt Petersburg passiert, in Jekaterinburg und in jenen Regionen, wo es eine erkleckliche Menge unverwüstbarer Charismatiker und strahlender Regionalpolitiker gibt. Wo es Gesprächsstoff und genug aufzuteilen gibt.  

    In 80 Prozent der Fälle ist die Aufgabe des Smart-Votings leider, wenigstens irgendwen zu wählen. Moskau nimmt hier natürlich eine Sonderstellung ein. Da herrscht Konkurrenz zwischen starken Politikern. 

    Wenn wir uns ansehen, wie viele Kandidaten im Smart-Voting formal zu einer Partei gehörten, wie die Kräfteverteilung zwischen politischen Parteien in Russland aussieht (ohne Einiges Russland), dann sind das rund 50 Prozent KPRF, 20 Prozent Sprawedliwaja Rossija, 20 Prozent LDPR und 10 Prozent Jabloko. Entsprechend sind auch die Wahlerfolge der Kandidaten im Smart-Voting verteilt.       

    Sie werden also das Smart-Voting fortsetzen. Und den Regionalbüros, die Sie jetzt frei schwimmen lassen, überlassen Sie die Entscheidung, wen sie unterstützen wollen?   

    Nein. Die Entscheidung über die Unterstützung von Kandidaten im Smart-Voting treffen wir immer ausschließlich in einem zentralen Analysezentrum. Bei aller Liebe zu den Regionalbüros hatten sie diesbezüglich nie ein Stimmrecht, unter anderem – bei allem Respekt –, weil Korruption ein Faktor ist. Wir lieben unsere Regionalbüros und vertrauen ihnen, aber auch Personen, denen ich bedingungslos vertraue, sind schon zu uns gekommen und haben erzählt: „Da hat mir einer drei Millionen Rubel für einen Platz im Smart-Voting angeboten.“ Das ist tatsächlich passiert, und nicht nur ein- oder zweimal. Ich kann nur raten, wie oft das vorgekommen sein mag, ohne dass wir davon erfahren haben.  

    Bei aller Liebe zu den Regionalbüros  – sie hatten nie ein Stimmrecht, und ein Faktor dabei ist die Korruption

    Damit sich keiner einschleichen kann, haben wir immer gesagt: „Leute, ihr habt Beratungsfunktion: Geht bitte durch die Wahlbezirke und berichtet uns, wer mehr Werbung hat, wer mehr Material verteilt.“ Man kann auch einfach in einem Mailing über die Datenbank des Smart-Votings die Unterstützer fragen, wessen Kampagne ihnen am meisten auffällt. Hauptsächlich stützen wir uns auf Analysen vergangener Wahlen.  

    Wie wird das dieses Jahr bei den Wahlen zur Staatsduma ablaufen? Das provisorische Zentralkomitee befindet sich im Ausland, es gibt Regionalbüros, die Ihnen ein Bild der Lage vor Ort vermitteln können, denen Sie aber vielleicht nicht hundertprozentig vertrauen. Und noch dazu wird sich die Wahl im September über drei Tage ziehen.

    Wir vertrauen natürlich unseren Regionalbüros – die in Russland als keine Ahnung was für Organisationen gelten – in dem Punkt absolut, dass sie uns ein objektives Bild liefern, auf das wir uns sehr gerne stützen. Nur war die Information aus den Regionalbüros immer nur ein Teil des Bildes. Wir werden es aus verschiedenen Stückchen zusammensetzen. 
    Im Kontext der Staatsduma wird die Bedeutung von soziologischen Methoden [zur Bestimmung des Kandidaten, den das Smart-Voting unterstützt] viel höher sein. In einem kleinen Wahlkreis für den Stadtrat kann man ja keine sinnvollen Umfragen durchführen. Bei den Wahlen zur Staatsduma mit über 500.000 Wählern pro Wahlkreis in Großstädten aber können wir Aspekte aus Umfragen einbeziehen.    

    Das ist eine neue Komponente des Smart-Votings, die wir früher nicht hatten, weil uns die Messgeräte fehlten, um in Bezirken mit zigtausenden Wählern Umfragen durchzuführen. Niemand hatte die. Und wer behauptet, sie zu haben, lügt einfach.  

    Also sind  das die Komponenten des Smart-Votings: Eine Einschätzung der Lage durch das Team, Ihre eigenen Erhebungen in wichtigen Wahlkreisen und schließlich die gezielte Unterstützung einer von Ihnen bestimmten Person ?

    Ja.  

    Aber es wird keine flächendeckende Wahlkampagne im ganzen Land geben? Wird es 225 Kandidaten im Smart-Voting geben?

    Ja, die wird es geben. 2019 und 2020 haben wir rund 800 beziehungsweise 1100 Empfehlungen abgegeben. Jetzt geben wir rund 1500 Empfehlungen ab, weil weitere 225 Bezirke dazukommen.    

    Zurück zum 23. Januar [2021, als in Russland Demonstrationen gegen Nawalnys Festnahme stattfanden]. Was war der Plan?

    Geplant und vorausgesehen haben wir ungefähr das, was auch passiert ist. Also, dass Alexej Nawalny am 17. Januar zurückkommt. Wir wussten, dass er höchstwahrscheinlich verhaftet wird und dass das mit einem schwerwiegenden Angriff auf unsere ganze Struktur einhergehen wird.
    Aber hätten wir vorhersagen können, wie brutal das alles wird? Das nicht. Dass sie den Extremismusparagraphen bemühen werden – nein, das haben wir, ehrlich gesagt, nicht kommen sehen.      
     
    Wir sind immer noch da. Unsere Recherchen und unser Smart-Voting sind immer noch da. Und bald kommen noch ein paar neue Projekte dazu. Es ist schwer, ja. Haben wir gewusst, dass es schwer wird? Ja. Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein. Darüber denke ich eigentlich nicht so viel nach. 

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  • Der Biden-Putin-Tango

    Der Biden-Putin-Tango

    Das Großaufgebot russischer Truppen und schweren Kriegsgeräts an der Grenze zur Ukraine hatte „internationale Besorgnis“ ausgelöst. Was soll das russische Säbelrasseln: Nur Muskelspiele oder droht gar ein weiterer Krieg? Die USA sagten der Ukraine Unterstützung zu und forderten Moskau zur Deeskalation auf. Der ukrainische Präsident Selensky drang außerdem auf einen Aktionsplan für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. 

    Nachdem Biden Putin angerufen hatte und einen gemeinsamen Gipfel vorschlug, verhängten die USA tags drauf neue Sanktionen gegen Russland – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs. Putin ging in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. April auf die Situation an der Grenze zur Ukraine nicht ein, warnte stattdessen den Westen, gewisse „rote Linien“ nicht zu überschreiten. Verteidigungsminister Sergej Schoigu allerdings gab am 22. April den Rückzug der russischen Truppen bekannt. Danach informierte das russische Außenministerium wiederum über Pläne, eine „Liste unfreundlicher Staaten“ einzuführen, die USA soll auf dieser Liste stehen, so Außenamtssprecherin Sacharowa.

    Kriegsgefahr gebannt? Alles wieder gut? Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa ist weniger optimistisch und analysiert auf Facebook den „Tango“, den Biden und Putin tanzen: „Moskau in die Schranken weisen und gleichzeitig kooperieren: Dieses Geschaukel endet jedes Mal mit einer Eskalation“, warnt sie.

    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant
    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant

    Es scheint, als sei der Krieg aufs nächste Mal verschoben. Doch die jüngste Eskalation der Spannungen entlang der Linie zwischen Russland und dem Westen verdeutlicht eine beunruhigende Dynamik.
    Erstens: Russland ist bereit, das Schachbrett der Weltordnung vom Tisch zu fegen. Als Anlass könnte bereits ausreichen, dass der Kreml sich beleidigt fühlt oder den Verdacht hegt, man könne ihn ignorieren. Allein die Drohung, das Brett vom Tisch zu werfen, wirkt, weil sie beim erpressten Objekt Verunsicherung hervorruft.
    Zweitens: Der Westen hat es versäumt, eine Antwort zu finden, wenn er von Russland herausgefordert wird. Bislang versuchen die liberalen Demokratien den Kreml mit einer zweigleisigen Taktik zu beschwichtigen. Kurz gesagt, mit einer Kombination zweier sich ausschließender Prinzipien: Eindämmung und Dialog.

    Eindämmung und Dialog

    Diese Zweigleisigkeit ist eine Reaktion auf das Phänomen, das Russland mittlerweile darstellt: Einerseits ist Russland ein Gegenspieler der liberalen Demokratien. Andererseits ist es in für den Westen lebenswichtige Prozesse eingebunden und teilweise in den Westen integriert (durch die dort verkehrenden Privatiers und die Mitgliedschaft in europäischen Institutionen).
    Besonders schwer hat es da Europa. Wie soll Brüssel einen Staat mit Sanktionen belegen, der Mitglied des Europarats ist? Wie soll es einen Handelspartner bestrafen? Also beschränkt sich die EU gezwungenermaßen darauf, „Besorgnis“ zu äußern angesichts der russischen Schachzüge, die es mittlerweile zu Hauf gibt.

    Nawalnys drohender Tod ist für Brüssel kein Anlass für Sanktionen

    Aus der Unvereinbarkeit von Eindämmung und Dialog erwachsen weitere Probleme: Die liberalen Demokratien sind zum Beispiel nicht in der Lage, einen Mechanismus zu schaffen, der den feindlichen Handlungen Moskaus zuvorkommt. Die EU hatte nie vor, wegen der russischen Eskalation an der ukrainischen Grenze Sanktionen einführen. Erst, wenn Russland die Grenze überschritten hätte, hätte Brüssel über solche Schritte nachgedacht. Wenn Nawalny nicht bis zum Ende des Monats freikommt, will der Europarat über ein Aussetzen der russischen Mitgliedschaft nachdenken. Doch sein drohender Tod ist in Brüssel kein Anlass für Sanktionen.
    Der Westen kann keine roten Linien für die Zukunft ziehen, deren Übertretung durch Russland dann eine Reaktion erfordert. Er kann kein Preisschild an etwas drankleben, das noch nicht passiert ist. Wenn der Westen die Sanktionsmaschine anwirft, dann reagiert er damit auf bereits Geschehenes. Und hofft darauf, dass Moskau den Preis für die Risiken versteht. Aber das Verständnis für die Risiken und deren Preise geht in Moskau und den westlichen Regierungen auseinander. Für den Kreml ist Risikobereitschaft vielleicht das einzige Mittel, sein Ziel zu erreichen.

    Väterlicher Klaps auf den Hintern 

    Nun haben die USA direkt die Initiative ergriffen, um auf Russlands Sünden an den USA zu reagieren, auf die Eskalation an der ukrainischen Grenze und auch auf Nawalny. Die Reaktion ist eben jene Zweigleisigkeit. Washington geht offenbar davon aus, dass seine Ankündigungen den Preis für die russische Eskalation ebenfalls eskalieren zu lassen, diesmal in Moskau Gehör finden.
    Vielleicht kündigen die Amerikaner im informellen Austausch an, notfalls harte Maßnahmen zu ergreifen. Aber die Sanktionen, die Biden öffentlich nennt, wirken eher wie ein väterlicher Klaps auf den Hintern.

    Biden will eindeutig keine Konfrontation mit Russland. Es geht ihm nicht darum, Putin in die Knie zu zwingen. Er brennt nicht darauf, die russische Wirtschaft zu zerstören oder einen Rachefeldzug gegen Putins engsten Kreis zu starten.
    Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Weiße Haus erkannt hat, dass es unmöglich ist, den Kreml zu zwingen, seine Denkweise und sein Weltbild zu ändern. Folglich muss es einen Weg finden, mit einem gefährlichen Spieler zu koexistieren, bei dem jederzeit das Weimar-Syndrom auftreten kann.
    Biden will, wie er es selbst formulierte, einen „Modus vivendi“. Man kann Washington verstehen. Den USA steht der Weg aus einer innenpolitischen Krise bevor. Die USA müssen sich aus Afghanistan zurückziehen – eine für sie dramatische Aufgabe. Sie müssen eine Antwort auf ihre größte Herausforderung finden – China. Zu diesen Kopfschmerzen kommen der Iran und Nordkorea. Deshalb ist es Biden wichtig, das Thema Russland einzufrieren.

    Sie werden sich wohl nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen

    Kurz gesagt, Biden hat sich für eine Beschwichtigungstaktik mit Elementen der Eindämmung entschieden (die sich im Anfangsstadium befindet). Infolgedessen beobachten wir ein surreales Szenario: Vertreter der amerikanischen Regierung kündigen an, dass es den Kreml teuer zu stehen kommt, wenn Moskau das Schachbrett weiter herumschwenkt. Gleichzeitig bereiten die Repräsentanten beider Präsidenten ein Treffen vor, bei dem sich die Staatsmänner aller Voraussicht nach nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen werden. Putin spricht auf einem von Biden organisierten Klimagipfel. Moskau schlägt Washington vor, den Dialog zur Abwehr von Cyberattacken wieder aufzunehmen. Fast ein Neustart!
    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen. Es geht nicht mal so sehr um Putins persönliche Ambitionen. Sondern darum, dass Russland von den USA abhängig ist – als Achse seiner Legitimität
    Man könnte einwenden: Stimmt gar nicht! Die USA haben ihre Führungsrolle eingebüßt, jetzt ist China für Moskau viel wichtiger. Mhm, ja klar, Russland hat seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, um die Aufmerksamkeit Pekings zu erregen.

    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen

    Aber was bekommt Biden, wenn er Putin einen Dialog anbietet? Die schmerzlosen amerikanischen Sanktionen könnten im Kreml den Eindruck erwecken, Amerika sei unentschlossen. Und das könnte den Kreml zu neuen Manövern veranlassen. Abgesehen davon versteht Putin unter einem Status quo in der Ukraine etwas anderes als die Ukraine selbst oder die westlichen Staaten. Wie soll man unter diesen Umständen einen Modus vivendi erreichen? Fragen über Fragen …
    Währenddessen hat der Kreml sein Ziel erreicht und nimmt den Druck raus. Denn auch das ist eine Demonstration der Macht – die Kontrolle über den Zünder zu behalten. Putin hat dem Westen ja angekündigt, dass er den Verlauf der „roten Linie“ bestimmen wird. 
    Tatsächlich hat der Kreml eine weitere Möglichkeit, dem Westen zu antworten – indem er die unzufriedenen Russen niederwalzt. Wenn das mal nicht scharfsinnig ist: die russische Gesellschaft zu zwingen, für die westlichen Belehrungen zu bezahlen.

    Geschaukel endet mit Eskalation

    Und was weiter? Wir sollten bedenken: Biden ist nicht der erste US-Präsident, der versucht, eine zweigleisige Politik gegenüber Russland zu fahren – Moskau in die Schranken zu weisen und gleichzeitig zu kooperieren. Dieses Geschaukel endete jedes Mal mit einer Eskalation. Denn die Unvereinbarkeit der systemischen Prinzipien ist am Ende stärker als die gemeinsamen Interessen.
    Sollten die Möglichkeiten der Einflussnahme schwinden, wird sich der Kreml immer mehr auf die Instrumente der Gewaltausübung verlassen müssen – im Inneren wie im Äußeren. Nicht einmal aufgrund einer Lust an Gewalt, sondern in Ermangelung anderer Überzeugungsmittel. 
    Vermutlich wird der Dialog zwischen Russland und dem Westen auch diesmal mit einem kalten Regenschauer enden. Aber jeder neue Fehlschlag wird die Risiken erhöhen, indem er die Eskalation auf eine neue Stufe treibt und den Preis erhöht, den man dafür bezahlen muss.
    Genau deshalb ist die Zukunft beunruhigend. Und die kurzen Lichtblicke sollte man nicht mit einem Wetterumschwung verwechseln.

    PS: Jetzt wurde Tschechien zum Testfeld für die Effektivität der westlichen Zweigleisigkeit und vor allem der europäischen Solidarität.

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  • Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Der Fall Nawalny und das hohe russische Truppenaufkommen an der Grenze zur Ukraine belasten einmal mehr die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation ging Putin allerdings weder auf das eine noch das andere ein. Er versprach ein umfangreiches Sozialprogramm und warnte den Westen davor, rote Linien zu überschreiten.

    Am selben Tag sind russlandweit tausende Menschen einem Protestaufruf von Nawalnys Team gefolgt. Die Sicherheitsbehörden waren dabei massiv gegen die Demonstranten vorgegangen, Elektroschocker wurden eingesetzt, die Organisation OWD-Info zählt mehr als 1700 Festnahmen, über 800 davon allein in Sankt Petersburg.

    Die Politologin Tatjana Stanowaja analysiert Putins Rede auf Carnegie.ru und wirft einen Blick vor allem auf das, was er nicht sagte. Die Sprachlosigkeit zwischen politischem System und Gesellschaft, die sie konstatiert, spüren auch andere: Etwa Regisseur Andrej Swjaginzew.

    Am 21. April wandte sich Wladimir Putin nach einer längeren Pause mit seiner jährlichen Ansprache an die Föderationsversammlung. Sie war diesmal begleitet von zahlreichen Gerüchten und erwarteten Sensationen wie die offizielle Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepubliken oder die Angliederung von Belarus.  

    Doch die aktuelle Rede war klar auf die Vorbereitungen zur Dumawahl im Herbst zugeschnitten. Sie sollte vor allem Anreize für die russische Gesellschaft schaffen, im Herbst für die Regierung zu stimmen oder, wenn möglich, von den Forderungen nach Wandel Abstand zu nehmen. Während alle gewartet haben auf umfangreiche Antworten zu den brennenden Themen – Ukraine, Belarus, Proteste, Wahlen, sinkende Einkommen –, hat Putin all das verdeckt mit seinen langen und ausführlichen Aufzählungen der Sozialmaßnahmen, die den größten Teil der Rede ausgemacht haben. So konnte man in diesem Jahr besonders gut spüren, dass die Reden des Präsidenten die tatsächliche Agenda inzwischen eher kaschieren als transportieren. 

    Soziale Situation verbessert sich nicht wirklich

    Wie schon vor einem Jahr bei der Verfassungsreform gehen die sozialen Hilfen vor allem an Familien mit Kindern – auch das ist eine politische Investition in konservative Werte, der Versuch, das ideologische Bündnis des Präsidenten mit den Traditionalisten finanziell zu untermauern. 

    Doch trotz der langen Aufzählung verschiedener Sozialleistungen, sollte man ihr Ausmaß nicht überschätzen. Die versprochenen Schritte im Sozialbereich sind eine konjunkturbedingte und technologische Entscheidung, die eher auf einen vorübergehenden subjektiven Effekt abzielt als auf eine reale Verbesserung der sozialen Situation. Diese Maßnahmen können nur sehr begrenzt die soziale Verärgerung und die Entfremdung von Regierung und Gesellschaft abmildern. Putin scheint die Schärfe der sozialen Probleme in Russland zu unterschätzen und glaubt, dass die Situation im Land im Großen und Ganzen völlig zufriedenstellend sei und es demnach auch keine legitimen Gründe für Proteste gebe. 

    Beruhigungspillen fürs Volk

    Dafür verändert sich der Führungsstil grundlegend: Putin wird von einer Figur, die einst die Spielregeln für die Entwicklung der Gesellschaft vorgab, zu einem Therapeuten, der die Gesellschaft davon überzeugen will, sich mit der Unabänderlichkeit der Spielregeln abzufinden. Bei seiner Rede präsentierte er sich nicht mehr als politischer Macher, sondern als Doktor, der seinen Patienten Meditationen, Impfungen und soziale Beruhigungspillen verschreibt, damit diese sich leichter mit der beunruhigenden Realität abfinden können.  

    Bei der Rede kam auch Putins Ekel vor rein politischen Themen zum Ausdruck. Den schmutzigen und zerstörerischen Kampf um die Macht möchte er ersetzen durch ein System „gesunder“ Beziehungen mit „konstruktiven“ Kräften, die sich in die Pyramide der Unterordnung und Konsolidierung einfügen. In der Praxis heißt das: Abbau aller politischen Konkurrenz, Alternativlosigkeit. Alles, was jenseits der Pyramide liegt – die Nicht-System-Opposition –, ist gänzlich aus dem Vortrag und dem zulässigen Themenbereich des Präsidenten gestrichen.  

    Der geopolitische Teil ist für Putin wohl der interessanteste, doch er war der kürzeste von allen. Und das liegt weniger daran, dass die russische Gesellschaft allen Umfragen zufolge müde ist von außenpolitischen Themen. Vielmehr ist der Präsident immer weniger gewillt, seine außenpolitischen Pläne und Entscheidungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Alles, was tatsächlich wichtig ist für Putin, wird zu einem dichten Schwall geheimer Spezoperazii. 

    Anstatt die tatsächliche Agenda offenzulegen, präsentiert man der Öffentlichkeit bequeme Attrappen, die die gewünschten Vorstellungen hervorrufen. Eine Provokation der Geheimdienste gegen oppositionelle belarussische Politologen wird in der Beschreibung des Präsidenten zu einer gefährlichen Verschwörung, die auch noch vom Westen organisiert worden sei. Dafür bleiben die tatsächlichen Ereignisse bezüglich Belarus außen vor: Die Erwartungen hinsichtlich des [bevorstehenden] Treffens mit Lukaschenko sind enorm, doch dazu hat Putin keine Details offengelegt.

    Auch die Konfrontation mit dem Westen vereinfacht er zu einer geopolitischen Interpretation des Dschungelbuch. Der böse, gefährliche Tiger Shir Khan ist Washington, „all die kleinen Tabaquis“ – das sind Russlands Kritiker in Europa und dem postsowjetischen Raum, und der großmütige, gerechte Leitwolf Akela ist, wie man leicht erraten kann, Putin. Das ist das Niveau, auf dem der Präsident bereit ist, die tatsächliche Agenda mit seinen Wählern zu diskutieren.  

    Noch weniger ist Putin bereit, über die Nicht-System-Opposition zu sprechen, egal wie bedeutsam die mit ihr verbundenen Ereignisse sind. Alexej Nawalnys Gesundheit, über die auch der Westen diskutiert, die offenen Briefe zur Unterstützung Nawalnys von allen möglichen Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu Nobelpreisträgern, die kompromisslose Niederschlagung von Protesten und die geplante Einstufung der Nicht-System-Opposition als „extremistisch“ – all das blieb in der Rede außen vor.

    Im Endeffekt werden die Kommunikationskanäle zwischen dem Präsidenten und der Gesellschaft immer enger. Einige Ereignisse sind dem Präsidenten zu wichtig, um sie ernsthaft mit den Bürgern zu debattieren. Deswegen werden Diskussionen durch vereinfachende Bilder ersetzt. Bei anderen Themen das genaue Gegenteil: Der Präsident hält sie für uninteressant oder unangenehm und deswegen werden auch sie nicht besprochen, völlig unabhängig von ihrer Dringlichkeit. All das zusammen lässt Putin immer weniger Möglichkeiten, eine den Geschehnissen angemessene Figur abzugeben. Er wird hinausgedrängt aus der Wirklichkeit, in der zunehmend Akteure außerhalb des Systems den Ton angeben.

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  • Die Fehler des Zaren

    Die Fehler des Zaren

    In den vergangenen Tagen häufen sich die schlechten Nachrichten rund um Alexej Nawalny: Der inhaftierte Oppositionspolitiker muss nach drei Wochen Hungerstreik in einer Klinik behandelt werden – am gestrigen Montag, 20. April, wurde er in ein Gefängniskrankenhaus verlegt, aus dem in der Vergangenheit immer wieder über Fälle von Folter und Gewalt berichtet wurde. Zuvor hatten zahlreiche internationale Politiker und auch Mediziner eine angemessene Behandlung Nawalnys gefordert, die USA drohten Konsequenzen an, sollte Nawalny im Gefängnis sterben.

    Unterdessen sollen Nawalnys Wahlkampfbüros und der von ihm gegründete Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK als extremistisch eingestuft werden. Außerdem wurde vergangene Woche das Büro des Studentenmagazins Doxa durchsucht, vier Redaktionsmitgliedern wird vorgeworfen, Minderjährige zu illegalen Protestaktionen aufgerufen zu haben (aus demselben Grund verhängte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor nach den Protesten im Januar und Februar unter anderem auch Geldstrafen gegen internationale Soziale Netzwerke). Nawalnys Team rief nun zu Protesten am morgigen Mittwoch, 21. April, auf.
    Bei den Nawalny-Solidaritätsprotesten im Januar und Februar hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen, es kam insgesamt zu mehr als 10.000 Festnahmen, auch unabhängige Medien wurden verwarnt und mussten Inhalte löschen, Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow musste für 15 Tage in Haft

    Die verschärften Repressionen des Kreml erinnern den Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin an eine andere Episode der russischen Geschichte – nämlich die Oktoberrevolution 1917. Aus der Konfrontation zwischen Zar und Revolutionären sollte der Kreml heute seine Lehren ziehen – sonst, so warnt Sonin im Onlinemagazin Vtimes, könne es zu einer Katastrophe für Staat und Gesellschaft kommen.

    Vor vielen Jahren, als ich in der Schule war, hat man uns erklärt, dass die Revolution eine sehr gute Sache war: Dass die zaristische Regierung alles falsch gemacht hatte, und dass die Revolutionäre alle Helden und tolle Kerle waren. 

    Es verging einige Zeit, und es wurde möglich, Bücher und Artikel zu lesen, über Geschichte zu diskutieren und nicht nur solche Schlüsse zu ziehen, die in den Schulbüchern standen. Es stellte sich heraus, dass die Opfer nicht nur diejenigen waren, die vom Zaren hingerichtet oder im Bürgerkrieg getötet worden waren. Es stellte sich heraus, dass die Revolution sogar für diejenigen eine Tragödie war, die sie für notwendig gehalten hatten. Und auch, dass die Menschen, die die Ordnung verteidigten, genauso viel Recht auf Leben hatten wie diejenigen, die diese Ordnung zu stürzen versuchten. Es stellte sich heraus, dass die zaristische Regierung die Bürger vor den Gefahren von Revolutionen zu Recht gewarnt hatte.

    Doch Lehren aus der Geschichte zu ziehen heißt nicht einfach, Helden in Verbrecher umzubenennen und umgekehrt. Dass jemand nicht mehr als Bösewicht angesehen wird, heißt nicht, dass er richtig gehandelt hat oder dass er nicht verantwortlich ist. Die zaristische Regierung – vom Zar und seiner Familie bis hin zu den Ministern und Polizeigenerälen – ist genauso schuldig wie die Revolutionäre: Sie alle haben das Land verloren und eine Tragödie zugelassen, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.

    Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen

    Die Parallele zum Hier und Jetzt ist offensichtlich: Taubheit gegenüber den Bedürfnissen der Bürger? Wird heute als Tapferkeit angesehen! Ungerechtfertigte Brutalität? Manche durchgedrehten Hirne glauben, dass es sogar noch mehr Brutalität brauche! Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen. Statt der demonstrativen Arroganz der zaristischen Minister gibt es heute grobes Gopnik-Gehabe. Gucken Sie sich doch das Außenministerium an – das eigentlich ein Beispiel an Höflichkeit und Professionalität abgeben sollte.

    Die Geschichte mit Alexej Nawalny bündelt all diese Fehler wie unter einem Brennglas. Wenn man den Anführer der russischen Opposition zum Extremisten, Terroristen und Spion ausländischer Geheimdienste erklärt, ist das für den heimischen Gebrauch sehr komfortabel: Denn bei der Anwendung besonderer Maßnahmen nimmt das die Schuldgefühle. Aber genau das taten die Minister des Zaren, als sie Revolutionäre beschuldigten, für das Ausland zu arbeiten. Demonstrative Brutalität? Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen. Genau so hat auch die Zarenregierung nicht nur Terroristen erhängt, sondern auch jene, die nur von der Revolution gesprochen haben. Die Namen der hingerichteten Revolutionäre sind bis heute nicht vergessen. Im Gegenteil: Über Jahrzehnte hinweg legitimierten diese Namen Akte des Terrors, Hinrichtungen der neuen Machthaber und Gräueltaten im Bürgerkrieg. 

    Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen

    Dass Millionen von Nawalnys Unterstützern in Russland dessen Rettung vor dem Tod und Freilassung brauchen, versteht jeder. Aber wenn man nachdenkt und auf die russische Geschichte schaut: Nawalnys Leben und Freiheit brauchen auch die konservativen Bewahrer nicht weniger. Der Tod, der demonstrative Mord an Nawalny würde natürlich einige Oppositionsführer und Teile der Bevölkerung abschrecken. Es würde den Hütern der Macht eine Verschnaufpause verschaffen. Aber der Preis dafür sind Keime des Hasses und der Brutalität, die über Jahrzehnte bleiben werden. Bereits jetzt sind die politischen Repressionen unvereinbar mit Wirtschaftswachstum und -entwicklung. Wenn man sie noch verstärkt, kann man damit eine wirtschaftliche Katastrophe verursachen. Und diese Katastrophe wäre selbstverschuldet, man kann und muss sie tunlichst verhindern.

    Ich persönlich hoffe, dass das viele in der politischen Führungsebene Russlands verstanden haben. Man muss kein Anhänger Nawalnys sein, um – seinem Vorgesetzten oder auch öffentlich – zu sagen, dass der Mord eines politischen Opponenten schlecht ist, dass die Festnahme der Redaktion einer Studentenzeitung schlecht ist, dass das Verprügeln friedlicher Bürger auf Demonstrationen schlecht ist. Schlecht nicht für die Opposition, die Zeitung und die Bürger, sondern schlecht für Russland, für die Welt und die Stabilität. Welche Millionen, welche beruflichen Erfolge können schon – wenn auch erst in einigen Jahren – diesen Gedanken kompensieren: „Ich war in der Regierung in jenem Jahr, als wir Nawalny getötet und das Land zugrunde gerichtet haben“? 

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