Als unangenehm empfindet es Dmitri Muratow, dass der Friedensnobelpreis 2021 ganz persönlich an ihn geht. Nicht an die Novaya Gazeta insgesamt, die auch früher schon mehrfach für den Preis vorgeschlagen gewesen sei – das sagte der Chefredakteur nach Bekanntgabe der Preisträger in einem Interview. Muratow gilt als jemand, der sich nicht gern in den Vordergrund spielt: Den Preis widmet er den sechs getöteten Kolleginnen und Kollegen seiner Zeitung und der gesamten Redaktion.
In der unabhängigen Medienöffentlichkeit des Landes fielen zuvor andere Namen, die man sich als Kandidaten gewünscht hatte: der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny etwa, dessen landesweite Organisation zerschlagen am Boden liegt. Oder Swetlana Tichanowskaja – die belarussische Oppositionsführerin, die im Exil ebenfalls jede Aufmerksamkeit und Unterstützung gebrauchen könnte.
Den Preis bekommt aber ein Journalist, Muratow. Viele im Land feiern ihn und werten die Entscheidung als Stärkung des Kampfs für Meinungsfreiheit in Russland. Doch werden in der Opposition und in Kreisen der unabhängigen russischen Medien auch Zweifel laut, ob Muratow denn tatsächlich ein würdiger Preisträger sei.
Wie kann das sein? Wovon lässt sich die Freude über die erste Preisvergabe für einen russischen Journalisten überhaupt so trüben? Woher rühren Zweifel an einem Mann, der bald ein Vierteljahrhundert lang das Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland verantwortet? Der politische Analyst Andrej Kolesnikow sucht für Carnegie nach Antworten – auch an die Adresse der Kritiker.
Die Portraitzeichnung auf der Website des Nobelkomitees lässt den Charakter des Nobelpreisträgers Dmitri Muratow nur bis zu einem gewissen Grad erkennen: Die verstrubbelten Haare sind eine starke künstlerische Übertreibung und die zur Seite gerutschte Krawatte – nun, in echt habe ich Dmitri Muratow wohl nur ein einziges Mal mit Krawatte gesehen, nämlich auf einem der Jubiläen der Novaya Gazeta, an deren Spitze er seit vielen Jahren steht. Und auf Fotos, auf denen er internationale Preise entgegennimmt – weniger für sich selbst als für die Zeitung.
Muratow und Krawatten sind unvereinbare Dinge, wie Genie und Verbrechen. Der Chefredakteur der Novaya Gazeta verkörpert den russischen Journalismus: und zwar sowohl den spät- und den postsowjetischen, als auch den in Zeiten der Verhärtung des politischen Regimes. Also einen Journalismus, der Features, Reportagen, investigative Recherchen, gehaltvollen Sprachwitz und Menschenrechtsarbeit mit absolut praktischer Hilfe für die Erniedrigten und Beleidigten verbindet.
Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht
Der Nobelpreis für Muratow ist zweifellos auch eine Auszeichnung für jenen Teil des russischen Journalismus, der sich all die postsowjetischen Jahre für Menschenrechte und in erster Linie für die Verteidigung der Meinungsfreiheit eingesetzt hat. Im allerpraktischsten Sinne. Es ist ein Preis für eine Zeitung, die diesen Typ Journalismus verkörpert und auf erstaunliche Weise in einer absolut feindlichen Umgebung überlebt. Sie hat in der papierlosen Medienwelt Russlands ihre Papierausgabe bewahrt, während ihre Online-Leserschaft in allen Altersgruppen wächst.
Der Preis ist aber auch eine Anerkennung für das Charisma des Chefredakteurs – eines Graubärtigen in Turnschuhen mit Rucksack auf dem Rücken, der kaum wie jemand wirkt, den Bürokraten, Politiker und Oligarchen achten und fürchten könnten.
Die häufigste Frage, die derzeit zur Novaya Gazeta gestellt wird – mit Untertönen und Anspielungen – ist die, warum sie als einer der wichtigsten Widersacher des Regimes noch immer nicht ausländischer Agent sei. Das ist angesichts der klischeehaften Vorstellungen über die vom Regime unterdrückte russische Presse nur sehr schwer in klischeehaften Begriffen zu erklären. Für mich – ich habe viele Jahre im täglichen Kontakt mit dem Preisträger in der Zeitung gearbeitet – gibt es nur eine Erklärung: Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht.
In dem stark eingeschränkten Bereich der unabhängigen russischen Medien gibt es zwei Menschen die von den Machthabern tatsächlich geachtet und daher bislang nicht angerührt wurden: Das sind Dmitri Muratow und der Chefredakteur von Echo Moskwy, Alexej Wenediktow. Zwei Menschen, mit denen sehr gewichtige Personen bereit sind zu reden und deren Meinung zu berücksichtigen. Muratow und Wenediktow sind Schwergewichte, weil sie für die Biografie und die gesamte Geschichte des postsowjetischen Journalismus stehen: des stürmischen, konfliktfreudigen, kompromisslosen Journalismus, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie stehen auch für die Dialogerfahrung mit den Machthabern in einer Sprache, die sie verstehen und die nicht ignoriert werden kann.
Ein Beispiel zum besseren Verständnis: Die Freilassung des Investigativreporters Iwan Golunow im Sommer 2019, der grundlos von der Polizei verhaftet worden war, war selbstverständlich das Ergebnis des massiven öffentlichen Drucks. Vor zwei Jahren funktionierte so etwas noch, anders als heute. Die Rolle von Wenediktow und Muratow bei der Rettung von Golunow ist jedoch auch nicht zu unterschätzen. Auf einen anderen hätten diejenigen, die letztendlich die Entscheidung trafen (Golunow freizulassen und dann gar die Polizisten zu bestrafen), wohl kaum gehört.
Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises
Die Auszeichnung für Muratow mit dem Friedensnobelpreis kommt gerade während eines Konflikts im – nennen wir es – demokratischen Milieu: Der Chefredakteur der Novaya Gazeta stellte sich vor den Chefredakteur von Echo Moskwy, als die oppositionelle Öffentlichkeit buchstäblich eine Hetzjagd gegen Wenediktow gestartet hatte – weil dieser mit der Zentralen Wahlkommission zusammenarbeitet und blindwütig für die elektronische Stimmabgabe eintritt. Wobei Wenediktow tatsächlich glaubte und glaubt, dass dieses System fortschrittlich sei und dabei helfen könne, Wahlfälschungen abzuwenden.
Ob er damit recht hat oder nicht, ist eine andere Frage. Die Unnachsichtigkeit gegenüber einem Opponenten innerhalb des demokratischen Milieus ist aber haarsträubend. Das zeigte sich während der Parlamentswahl, als man alle, die Jabloko ihre Stimme gaben und sich nicht an den Kanon des Klugen Wählens hielten, entweder zu Idioten oder Fieslingen erklärte. Das Ergebnis war ein öffentlicher Konflikt zwischen Muratow und Wolkow, dem Stabschef von Alexej Nawalny. Also ein Streit – und zwar ein sehr grundsätzlicher – zweier Menschen, die eigentlich für eine gemeinsame Sache arbeiten.
In Muratows Logik bedeutete die Hetze gegen Wenediktow und Echo einen Suizid des engagierten demokratischen Journalismus: Weil dieser nicht auf soziale Netzwerke und Videoformate reduziert werden kann, sondern auch landesweit in klassischen Medien vertreten sein muss. Und es ist falsch, den Machthabern dabei zu helfen, die noch lebenden Oasen, solche ohne Agenten-Status, zu vernichten – zu denen auch die Novaya Gazeta gehört.
Muratow hat auch einen politischen Standpunkt: Für ihn ist die Unterstützung für das Kluge Wählen Herdenverhalten, das nichts mit einer bewussten Wahlentscheidung zu tun hat, sondern lediglich den Kommunisten und dem von ihnen geliebten Stalin Punkte bringt. Außerdem macht Muratow keinen Hehl daraus, dass er mit Grigori Jawlinski befreundet ist.
Und dann der dritte Punkt: Da die Zeitung [Novaya Gazeta – dek] Menschen aus schwierigen Lebenslagen herausholt und unter anderem Menschen mit seltenen Erkrankungen hilft, ist in diesem Bereich eine Zusammenarbeit mit dem Staat möglich und sogar notwendig. Und auch hier steht Muratow in einem harten Konflikt mit jenen, die meinen, dass man nicht einmal für ein gerettetes Menschenleben eine Zusammenarbeit mit dem Regime eingehen sollte, etwa mit dem Bankier Andrej Kostin. Der Chefredakteur meint aber, dass man es doch sollte.
Diejenigen, die beschlossen haben, den Friedensnobelpreis an Muratow zu vergeben, kennen natürlich all diese Nuancen nicht und müssen das auch nicht. Das sind unsere Streitereien, die sich zugespitzt haben durch die Demoralisierung der Protest-, Oppositions- und einfach der Bürgerbewegung nach den Repressionswellen und dem massenhaften Einsatz restriktiver Gesetzgebung. Gerade dieser Umstand ist dem Nobelkomitee gleichwohl klar: In Russland braucht vor allem die Meinungsfreiheit Unterstützung. Für deren Einstehen Menschen ins Gefängnis kommen und ermordet werden.
In einem Redaktionsraum der Novaya Gazeta hängen Fotografien jener Redaktionsmitglieder an der Wand, die für die Ausübung ihrer beruflichen Pflicht und den Einsatz für Menschenrechte getötet wurden. Wenn Tag für Tag eine solche Mahnung über deinem Kopf hängt, dann verstehst du besser als andere, welchen Preis diese Art von Journalismus hat.
Die Gallionsfigur der Novaya Gazeta ist Anna Politkowskaja. Sie ist ein Symbol dafür, wie der Staat seiner Pflicht nicht nachkommt, seine Bürger und die ihnen garantierte Meinungsfreiheit zu schützen. Einen Tag vor der Bekanntgabe der Friedensnobelpreisträger wurde in der Zeitung an Politkowskaja erinnert, am 15. Jahrestag ihrer Ermordung und im Zusammenhang mit der abgelaufenen Verjährungsfrist für die Untersuchung dieses Verbrechens. Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises.
Während seiner gesamten Karriere hat Muratow die unbequemsten Wahrheiten über die Staatsführung und jene Menschen ans Tageslicht gezerrt, die unrechtmäßig von ihr genährt werden. Er hat endlos Menschen aus den schwierigsten Lebenslagen herausgeholt, unter anderem, als man seine Mitarbeiter direkt vor dem Redaktionsgebäude verhaftet hatte. Manchmal ist schwer zu verstehen, wo für ihn die Verteidigung von Menschenrechten aufhört und wo Journalismus anfängt, und umgekehrt.
Nobelpreis für Muratow, Schutz für Nawalny
Er ist ein Mensch, der sich mit einem Minister mit Schulterklappen an einen Tisch setzen und ihn davon überzeugen kann, dass er, Muratow, Recht hat. Oder an einen Tisch vis-a-vis Wladimir Putin, um ihm eine Frage zur Sache zu stellen – und nicht „Wie lange noch?“ und nicht im Format des Direkten Drahtes. Sondern eine, die der erste Mann im Staate nicht erwartet. Weil diese Frage gehaltvoll ist, nach Entscheidungen verlangt und gewisse Neuigkeiten in sich birgt.
Diese Eigenschaften Muratows und seiner Zeitung blieben nicht unbemerkt. Der Preis wurde einem Journalisten verliehen, zusammen mit einer weiteren Journalistin, auch aus einem Land, in dem die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Er wurde dem Chefredakteur einer Zeitung verliehen, die sich stets der Staatsmacht entgegenstellt, sich für Menschenrechte einsetzt und in Russland das Genre des investigativen Journalismus begründet hat. Ja, er wurde nicht Alexej Nawalny verliehen, sondern einem Menschen, der im Land die personifizierte Meinungsfreiheit ist. Und diese ist höchst bedeutend dafür, dass Nawalny – der wichtigste Widersacher der Staatsmacht – nicht in einem Informationsvakuum bleibt, also nicht ohne Schutz durch die Öffentlichkeit.
Das ist die Logik. Sowohl aus Sicht des Westens als auch nach unserem eigenen Verständnis.
Außenpolitische Erwägungen spielen bei der Bundestagswahl für die Wähler traditionell eine, gelinde gesagt, untergeordnete Rolle. So auch bei der aktuellen Wahl, die der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz einen knappen Sieg vor der CDU/CSU beschert hat. Was aber bedeutet eine mögliche neue Regierung unter Scholz, der sich bereits für eine Ampel-Koalition mit den Grünen und mit der FDP ausgesprochen hat, für eine deutsche Außenpolitik in Bezug auf Russland und Belarus? Ist eine Rückkehr zur früheren Ostpolitik denkbar? Was würde eine sogenannte Jamaika-Koalition für die deutsch-russischen Beziehungen bedeuten? Auf diese Fragen und andere antwortet Fabian Burkhardt in einem Bystro.
1. Wer macht in Deutschland überhaupt Russland- und Belarus-Politik: das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt?
Traditionell verbindet man deutsche Außenpolitik mit dem Auswärtigen Amt – unter anderem weil dort in den Fachreferaten die außenpolitische Expertise sitzt und die Diplomaten langjährige Erfahrung haben.
Allerdings verfügt die Bundeskanzlerin über die Richtlinienkompetenz – sie kann entscheidende Akzente in der Außenpolitik setzen. Das Auswärtige Amt ist natürlich an diese Richtlinienkompetenz gebunden, obwohl der Außenminister traditionell aus einer anderen Partei kommt als die Bundeskanzlerin. Wenn man zurückblickt, verbindet man wichtige Weichenstellungen wie Sanktionen nach der Krim-Annexion und Russlands militärischer Intervention in der Ostukraine, das Normandie-Format oder auch die Fertigstellung von Nord Stream 2 mit der Bundeskanzlerin. Andererseits war vor allem Steinmeier als Außenminister prägend, etwa durch die Initiierung der Modernisierungspartnerschaft 2008 oder die sogenannte Steinmeier-Formel zur Beilegung des Ukraine-Konflikts.
In den 16 Jahren Merkel waren vier verschiedene Bundesminister des Auswärtigen tätig: Im Kanzleramt gab es also mehr Konstanz – und somit politisches Gewicht – in außenpolitischen Fragen. Hinzu muss man aber auch bedenken, dass zur Außenpolitik auch Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik sowie andere Politikfelder gehören. Das heißt: Es kommt sehr stark auf die Koordination verschiedener Ministerien an. Da dem Kanzleramt eine Koordinationsfunktion zukommt, kann es in der Außenpolitik Akzente und Prioritäten setzen. Insgesamt sind die wesentlichen Akteure der deutschen Außenpolitik im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt auf bürokratischer Ebene sehr eng miteinander verzahnt: sowohl hinsichtlich der politischen Entscheidungen als auch personell.
2. Wenn es – was eher unwahrscheinlich ist – zu einer Großen Koalition unter Olaf Scholz kommt – würde sich die Russland- und Belarus-Politik der Bundesregierung überhaupt verändern?
Eine Große Koalition mit umgekehrten Vorzeichen könnte für weitestgehende Konstanz in der Außenpolitik stehen. Zwar hat der Kanzlerkandidat Scholz im Wahlkampf eine neue Ostpolitik gefordert, auf die Einzelheiten ging er dabei aber nicht ein. Daher ist es fraglich, mit welchen Inhalten er diese füllen würde. Scholz hat den Weiterbau von Nord Stream 2 mitgetragen, er steht auch ausdrücklich zu den Sanktionen gegenüber Russland und Belarus, als Kanzler würde er sich in seiner Ostpolitik eng mit der EU abstimmen müssen, die Partnerschaft innerhalb der NATO würde wohl ähnlich fortgesetzt wie unter Merkel. Hinzu kommt, dass sich in der SPD in den vergangenen Jahren ein Generationenwandel vollzogen hat: Die Reihen der Vertreter einer klassischen sozialdemokratischen Ostpolitik haben sich merklich gelichtet. Die Jüngeren dagegen sehen Deutschland viel stärker als Teil der EU, deutsche Alleingänge in der Russland- und Belarus-Politik sind da nur schwer denkbar. Obwohl der linke Flügel in der Partei immer noch stark ist, halte ich es aus den genannten Gründen für wenig wahrscheinlich, dass die SPD zu einer traditionellen Ostpolitik im Geiste von Willy Brandt zurückkehrt. Es ist zwar denkbar, dass Initiativen etwa im Bereich der Rüstungskontrolle gestartet werden, insgesamt ist der Handlungsspielraum aber sehr begrenzt.
3. Bei einer Dreier-Koalition: Wie würde ein Außenminister der Grünen oder der FDP die Beziehungen zu Russland prägen?
Die Grünen haben sich in ihrem Wahlprogramm aus Umweltschutzgründen gegen Nord Stream 2 ausgesprochen. Die FDP wollte ein Moratorium, bis der Kreml im Fall Nawalny unabhängige Ermittlungen gewährleistet und sich die Menschenrechtslage in Russland bessert.
Ob die Pipeline überhaupt Einzug in einen Koalitionsvertrag finden wird, ist derzeit aber unklar. Eine Dreierkoalition bedeutet insgesamt einen höheren Aufwand bei der Koordinierung zwischen den Koalitionspartnern. Sie bedeutet außerdem, dass man automatisch zu mehr Kompromissen gezwungen ist.
Die Einlösung von Wahlversprechen ist bei Nord Stream 2 deshalb genauso schwierig wie bei anderen Fragestellungen der Russland-Politik. Möglicherweise könnten die Grünen und die FDP darauf drängen, dass die Pipeline nicht den EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt entspricht. Vielleicht wird Nord Stream 2 aber wie geplant in Betrieb gehen: Vieles hängt von der Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner ab. Hinzu kommt, dass es etwa in der FDP verschiedene Kräfte gibt – solche, die für liberale Werte und Menschenrechte eintreten, und andere – denen wirtschaftliche Aspekte und solche wichtiger sind, die der sozialdemokratischen Ostpolitik nahestehen. Bei den Grünen gibt es möglicherweise verstärktes Interesse, mit Russland in einen Dialog über den Klimawandel einzutreten. Neben den Dynamiken zwischen den drei Koalitionspartnern werden also auch die Eigendynamiken innerhalb der Parteien selbst eine Rolle in der Russland-Politik spielen. In Bezug auf Belarus scheint eindeutig, dass sowohl Grüne als auch die FDP das Sanktionsregime gegen das System Lukaschenko weiter mittragen werden oder dieses (möglicherweise auch gegen Russland) verschärfen würden, wenn es zu einer erneuten Repressionswelle oder Eskalation kommt.
4. Welche Rolle spielt der Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft in der Russland- und Belarus-Politik?
Das 2003 von der rot-grünen Bundesregierung geschaffene Amt hieß zunächst Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Nach der Krim-Annexion bekam es eine neue Bezeichnung – und eine weitere Ausrichtung hin zu den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasiens. Die letzten beiden Koordinatoren – Dirk Wiese und Johann Saathoff (beide SPD) – waren nur wenig profiliert in der Region, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den erfahrenen Außenpolitikern Gernot Erler (SPD) und Andreas Schockenhoff (CDU). Wiese hat versucht, eigene Akzente zu setzen, vor allem in Fragen der Jugend- und Visa-Politik. Der Handlungsspielraum des Koordinators ist allerdings sehr eng bemessen und wird noch begrenzter durch den zunehmend repressiven Kurs der belarussischen und russischen Regierung gegen die jeweilige Zivilgesellschaft. Dass die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit immer schwieriger wird – das hat das Beispiel der NGOs Deutsch-Russischer Austausch (DRA), Libmod und Forum der russischsprachigen Europäer gezeigt, die Ende Mai in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt wurden. Damit ist das Amt des Koordinators derzeit eine extrem schwierige Position, und es ist fraglich, ob es in den nächsten Jahren nennenswerte Gestaltungsfreiräume haben wird. Gefragt sind deswegen Kreativität und neue Ansätze in der Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften und der Diaspora.
5. 16 Jahre Angela Merkel – bedeutet dies 16 Jahre Kontinuität in der deutschen Russland-Politik?
Für die vergangenen 16 Jahre lassen sich viel Wandel und viele Brüche feststellen, von der in den optimistischen 2000er Jahren ausgerufenen Modernisierungspartnerschaft bis hin zu immer schärferen Sanktionen. Immer wenn man nach 2014 gedacht hat, die Beziehungen können eigentlich gar nicht mehr schlechter werden, wurde man leider eines Besseren belehrt. Kontinuität lässt sich vor diesem Hintergrund demgegenüber am Beispiel Nord Stream 2 feststellen: Egal wie schlecht die Beziehungen waren, Merkel hat immer am Weiterbau der Pipeline festgehalten. Kontinuität gab es auch hinsichtlich der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine: Merkel ist nie von der Position abgerückt, dass die Annexion völkerrechtswidrig sei, und dass Russland deshalb sanktioniert werden müsse. Gleichzeitig bemühte sie sich im Normandie-Format um die Konfliktbeilegung. Schließlich hat es auch eine Kontinuität bei Menschenrechten gegeben: Im Fall Nawalny blieb sie standfest, und der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften war für sie immer ein wichtiger Pfeiler der Russland-Politik. Insgesamt lässt sich Merkels Erbe auf die Formel bringen: Sie hat stets versucht Russland in verschiedene Kooperationsformate einzubinden, gleichzeitig war sie aber auch eine treibende Kraft in der Sanktionspolitik.
6. Wird Merkels Nachfolger diese Linie fortsetzen?
Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem teils widersprüchlichen Erbe der Russland- und Belaruspolitik von Merkel konfrontiert sehen. Sie wird wohl weiterhin versuchen, begrenzte Kooperationsangebote zu schaffen, wo sich die Interessen von Russland und Deutschland überschneiden. Gleichzeitig wird sie eine in die EU eingebettete Sanktionspolitik betreiben und versuchen, die EU resilienter gegenüber Russland zu gestalten.
Unabhängig davon, wie die endgültige Regierung dann aussehen wird – es gibt gewisse strukturelle Elemente, die die bilateralen Beziehungen zu Russland in den nächsten Jahren prägen werden: Dazu gehören etwa die transatlantischen Beziehungen zu den USA, aber auch die Beziehungen der EU, der USA aber auch Russlands zu China. Wie wird sich die Politik innerhalb der EU selbst gestalten? Auch diese Frage ist entscheidend für die deutsche Russland- und Belarus-Politik. Schließlich wird auch die Klimapolitik eine Rolle spielen: Je schneller die Energiewende in Europa vollzogen wird, desto schneller wird die europäische Abhängigkeit von den Importen fossiler russischer Energieträger sinken – was für Russland gravierende Folgen haben könnte.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Warum befürworten intelligente, gebildete Menschen Autoritarismus, Diktatur oder Krieg, fragt Maxim Trudoljubow auf Meduza und liest Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Darin findet er erstaunliche Parallelen zum Konservatismus im Russland von heute.
Da diese Parallelen auch für deutschsprachige Leser interessant sind, haben wir den Essay, der auf Meduza erschienen ist, ins Deutsche übersetzt.
Während des gesamten Ersten Weltkriegs leistete Thomas Mann, wie er es selbst formulierte, „Gedankendienst mit der Waffe“. Er schrieb Artikel, hielt öffentliche Vorlesungen und veröffentlichte 1918 ein patriotisches Manifest mit dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen.
Der Verfasser dieser Schrift ist nicht der Thomas Mann, den wir aus seinen späteren Werken kennen. Der Autor (der zum damaligen Zeitpunkt unter anderem bereits die Buddenbrooks und den Tod in Venedig geschrieben hatte) rechtfertigt in seinen Betrachtungen den Krieg und erklärt „den Kampf“ gegen die seelenlose Zivilisation des Westens, repräsentiert durch die „Welt-Entente“, zur „ewigen, eingeborenen Sendung“ Deutschlands. Er spricht außerdem von der „deutschen Einsamkeit zwischen Ost und West“ und zitiert oft Dostojewski. Thomas Mann philosophiert voll Bitternis über die Entfremdung Deutschlands vom Rest der Welt und über den Hass, den es ertragen muss, weil es sich gegen den „westlichen Geist“ auflehnt.
Russland befindet sich gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem Westen wie Deutschland vor 100 Jahren
Viele von diesen Ansichten hat Thomas Mann später revidiert, doch das Buch ist geblieben. Ein Text, den man in Zeiten wie den unseren lesen sollte. Unter Vorbehalt und mit Einschränkungen könnte man sagen, dass sich Russland gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem kollektiven Westen befindet wie Deutschland vor 100 Jahren.
Thomas Mann lehnt die Ideen der Aufklärung, die westlichen Vorstellungen von Liberalismus und Demokratie derart wortgewaltig ab, dass die konservativen Politiker in Russland viel von ihm lernen könnten – wenn sie eine konsistente Ideologie entwickeln wollten. Denn indem das Regime die Gesellschaft immer wieder daran erinnert, dass das Land sich in einem Kriegszustand gegen den geistlosen, aggressiven Westen befindet, versucht es, seine Bürger genau in dem Sinn „unpolitisch“ zu machen, wie es Thomas Mann seinerzeit war.
Die Demokratie, so der Thomas Mann von damals, zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf und zerstöre Traditionen
Die Demokratie mit ihren Parteien und Wahlen steht, so der Thomas Mann von damals, der Poesie, dem Ästhetizismus und der Kunst gänzlich entgegen. Sie zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf, zerstöre Traditionen und die althergebrachte Lebensweise. Mit anderen Worten, die Politik vernichtet den „komplexen Menschen“, von dem vor kurzem der Regisseur Konstantin Bogomolow in seinem antiwestlichen Manifest schrieb. Bogomolows prätentiöser Text ist in der Qualität seiner Argumentationsführung sicher nicht mit Manns Manifest vergleichbar, aber der politische Sinn dahinter ist der gleiche.
Thomas Mann spricht in blumigen Worten von der Unvermeidlichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer europäischen Katastrophe, die der Konflikt zwischen der unergründlichen Kultur Deutschlands und der „verfaulenden“ Zivilisation des Westens herbeiführen würde. Die russische, sowjetische und heutige Rhetorik vom „verfaulenden Westen“ ist nicht minder bildhaft.
Einsamkeit zwischen Ost und West – im Deutschland von damals wie im Russland von heute
Mann spricht von der „antideutschen“ Einstellung des Westens (das Analogon zur „Russophobie“) und rechtfertigt den Krieg damit, dass Deutschland nicht so sehr der außenpolitische Konkurrent Frankreichs und Großbritanniens sei als vielmehr ihr geistiger Gegner. Parallelen zu all diesen Gedanken lassen sich unschwer in den Äußerungen der russischen Politiker und Propagandisten von heute finden. Einsamkeit zwischen Ost und West empfinden auch in Russland viele.
Als seine geistigen Gegner betrachtete Thomas Mann die, die er „Zivilisationsliteraten“ nannte. Sie waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, „ausländische Agenten“. Indem sie „antideutsche“ Werte vertraten, brachten sie die deutsche Kultur vom rechten Pfad ab.
,Zivilisationsliteraten‘ waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, ,ausländische Agenten‘
Wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla bemerkt, hat der Begriff „Zivilisator“ (aus dem Mund Thomas Manns) einen verächtlichen Beiklang, was umso dramatischer ist, wenn man weiß, dass Manns Betrachtungen unter anderem an seinen Bruder Heinrich gerichtet waren – einen Pazifisten und Befürworter der Demokratisierung Deutschlands.
Thomas Mann unterscheidet zwischen Zivilisation und Kultur. Während Zivilisation für ihn gleichbedeutend mit Vernunft, Aufklärung, Demokratie und Fortschritt ist, steht Kultur für die dunkle Seite der menschlichen Natur, die Natur schlechthin, die sich nicht den Regeln der bürgerlichen Moral unterwirft. Und es ist die Kultur, nicht die Zivilisation, die laut Mann der wahre Quell der großen Kunst ist. Ebendiese deutsche Kultur wollten die Franzosen und Briten zerstören, sie politisch demokratisieren, sie zivilisieren und Deutschland so zu einer Nation von Spießbürgern machen.
Bei Mann finden sich die Themen, bei denen die russischen Ideologen Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren
Die Gruppierung, die Russland heute regiert, würde ihre Gedankengänge sogar in Manns Idee von der „Fruchtbarkeit“ Deutschlands wiederfinden. Mann führt die Geburtenstatistik vom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts an und stellt fest, dass mit Beginn des Jahrhunderts „der plötzliche, bei keinem Kulturvolk erhörte Fruchtbarkeitsrückgang beginnt“. Der Autor macht dafür die „empfängnisverhütenden Mittel“ verantwortlich, die sich im Westen „bis ins letzte Dorf“ verbreiten. Sogar darin erkennt er noch eine bösartige Einmischung in die große deutsche Kultur durch die westliche Zivilisation, die mit ihren neuen Normen des Privatlebens die „Fruchtbarkeit“ der Nation gefährde. Mann redet von der Erhaltung des Lebens, von seiner Konservierung. Die Politik der russischen Behörden in Bezug auf den Schutz der traditionellen Familie und die Erhöhung der Geburtenrate knüpft daran an.
So finden sich bei Thomas Mann nahezu alle Themen, bei denen die russischen Ideologen ihre Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren: die Ablehnung der liberalen Werte, das Misstrauen gegenüber einer Demokratisierung und Amerikanisierung der Gesellschaft, die Romantisierung des Krieges, der Vorrang des Nationalen vor dem Internationalen, die Verteidigung der traditionellen Familie.
Gesammelte Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit
Diese Vorstellungen sind weder für das damalige Deutschland noch für das heutige Russland einzigartig. Memes vom verfaulenden Westen wandern von Land zu Land. Wieder und wieder tauchen sie in jenen Kulturen auf, die etwas auf sich halten, aber an einem Mangel an Anerkennung durch andere leiden. Es geht dabei nicht so sehr um den Gedanken selbst, sondern vielmehr um die Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit und eines Randdaseins. Am stärksten empfinden dies die Intellektuellen, und dank deren Eloquenz verbreiten sich diese Vorstellungen in der Gesellschaft, bis sie irgendwann mehr sind als nur Worte.
Mann war sich der Radikalität seines Textes bewusst, und er bestand darauf, dass Gedanken radikal sein müssen. Ein Gedanke dürfe und solle kompromisslos sein, während das Handeln Politik sei, und die münde immer in halbherzige Maßnahmen, Händel und Parteikämpfe.
Handlungsanleitung im Dritten Reich
Nichtsdestotrotz revidierte Thomas Mann bereits Anfang der 1920er Jahre vieles von dem, was er in den Betrachtungen geäußert hatte, und unterstützte die Weimarer Republik. 1933, nach Hitlers Machtübernahme, siedelte die Familie Mann in die Schweiz um und später – in die USA, wo Thomas Mann sich aktiv am Leben der Exilgesellschaft beteiligte. Während des Krieges richtete er sich regelmäßig im deutschen Programm der BBC an seine Landsleute; die Radioansprachen finden sich in zwei Bänden mit dem Titel Deutsche Hörer!.
Während die einen Ideen formulieren, sind es oft andere, die sie in die Tat umsetzen. Die Gedanken, die Mann – in Form der Betrachtungen – in den Jahren des Ersten Weltkriegs festhielt, wurden zur Handlungsanleitung für die Entscheidungsträger des Dritten Reichs. In dieser manifestierten Form erkannte Mann seine Gedanken nicht mehr wieder und distanzierte sich davon.
,Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung‘ Thomas Mann, 1939
In seinem Essay Kultur und Politik schrieb er später: „Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung. Man entgeht dadurch nicht der Politik, man gerät nur auf die falsche Seite – und zwar mit Leidenschaft. A-Politik, das bedeutet einfach Anti-Demokratie, und was das heißen will, auf welche selbstmörderische Weise sich der Geist dadurch zu allem Geistigen in Widerspruch setzt, das kommt erst in bestimmten Situationen höchst leidenschaftlich an den Tag.“
Im Gegensatz zu Thomas Mann müssen wir nicht jahrelang warten, um angesichts der Ideen, die er während des Ersten Weltkriegs geäußert hatte, erschrocken zu sein. Wir wissen es bereits. Der Thomas Mann jener Jahre aber glaubte – genau wie die Ideologen der faschistischen Regime des 20. Jahrhunderts – an das, was er predigte. Die damaligen Politiker brauchten Parolen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Das heutige russische Regime mobilisiert die Bürger mit administrativen Mitteln (zum Beispiel, wenn es Angestellte im öffentlichen Dienst und Staatsbeamte zwingt, zur Wahl zu gehen).
Nichts ist neu oder aufregend. Es ist alt und langweilig
Im heutigen Kontext sind Kriegsromantisierung und Aufrufe zur nationalen Einheit vor den Augen des Feindes bloß eine erlernte, längst bekannte Sprache. Daran ist nichts neu oder aufregend, wie es in den 1920er Jahren in Italien oder in den 1930er Jahren in Deutschland war. Es ist alt und langweilig.
Die Ideologien, auf die die russischen Staatsmedien heute zurückgreifen, sind nötig, um die Gesellschaft oder internationale Partner abzuschrecken und abzulenken, nicht um attraktiv zu wirken. Die Mächtigen und Vermögenden wollen offenbar möglichst viel Angst und Schrecken verbreiten, damit die aktiven Bürger im Inland und Politiker im Ausland ihren wirtschaftlichen Interessen nicht in die Quere kommen.
Bedeutet das, dass die derzeitige konservative Welle nicht zum Krieg führen wird? Leider nein: Die offiziösen Medien sind vielleicht voll von unechter Ideologie, aber die Waffen, die wir alle besitzen, sind echt. In gewisser Weise hat der wiedererwachte Konservatismus bereits zum Krieg geführt – zum Krieg der Kulturen. Die liberalen Kräfte (wie auch immer sie in den verschiedenen Ländern heißen) betrachten das Weltgeschehen als eine Reihe von Veränderungen zum Guten. Das Individuum erhält immer mehr Rechte, die Gesellschaften befreien sich von Vorurteilen gegenüber denen, die man früher stigmatisiert und sogar bestraft hat, zum Beispiel LGBT+. Die Konservativen sehen diese Veränderungen dagegen als Zerstörung der Grundfesten von Kultur und Religion an. Der globale Krieg der Kulturen ist eine Realität unserer Zeit, die eine gesonderte Analyse verdient – dazu mehr an anderer Stelle.
Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen.
„25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.
„Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.
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Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.
[…]
Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.
Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.
Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“
Rund 177.000 Menschen in Russland leben in geschlossenen psycho-neurologischen Einrichtungen, im psichonewrologitscheski internat (психоневрологический интернат), kurz PNI, oder einfach: Internat. Die meisten von ihnen werden dort sterben. Jelena Kostjutschenko verbrachte mehrere Wochen in einem dieser Internate, dekoder bringt Auszüge aus ihrer Reportage in der Novaya Gazeta.
„Verrecken sollst du! Hauptsache, du verreckst! Verreck, du Sau!“ Das kommt aus dem Zimmer gegenüber von meinem. Aglaja – eine Alte mit einer Rabennase und dunklen Glubschaugen – wünscht allen den Tod. Das sind alle gewohnt. Meine Station ist Station 1. Sie ist riesig und zweigeteilt, in einen Frauen- und einen Männerflügel. In meinem leben 41 Frauen. Die Lichtschalter sind draußen vor dem Zimmer. Es gibt weder Türklinken noch Fenstergriffe. Und keine Steckdosen, nicht in diesem und nicht in anderen Zimmern. Es gibt nur die Steckdose für den Fernsehapparat, unter Aufsicht der Krankenschwester. Ohnehin hat niemand etwas aufzuladen: Auf 41 Frauen kommen lediglich drei Handys, und die bewahrt der Sozialarbeiter auf. Sie werden dienstags und freitags ausgegeben, nach dem Kaffeetrinken, für eine halbe Stunde. Es wird früh aufgestanden – um sieben sind schon alle auf den Beinen. Ich würde gern rauchen. An der Wand hängt der Rauchplan: 9:30, 13:30, 16:30. Pro Tag kriegt man fünf Zigaretten. Die Männer kriegen zehn, dafür haben die keine „Ausgabestelle“ – ein Zimmer mit Teewasser. Ich nähere mich dem vergitterten Balkon. Draußen steht schon Olessja, eine ehemalige Lehrerin für Russisch und Literatur. Sie hat Schizophrenie. Sie redet in Sprichwörtern und Redensarten. Ich ziehe mir eine Jacke an und trete hinaus. Es ist kalt. Die Frauen rauchen in ihren Hausmänteln. Zwickmühle-22: Rauchen ohne Oberbekleidung ist untersagt, die Oberbekleidung befindet sich jedoch hinter Schloss und Riegel und wird nur nach Plan ausgehändigt. Oberbekleidung darf nicht im eigenen Zimmer aufbewahrt werden. Rauchen außerhalb des Rauchplans wird bestraft. Man riskiert einen ganzen Tag ohne Zigaretten, und das gilt nicht nur für die Übeltäterin, sondern für die ganze Station.
Ich stecke mir eine von meinen Zigaretten an. Alle anderen rauchen LD – stinkende Kippen aus einer roten Packung. Nicht alle haben Zigaretten, ein paar Omas zappeln in der Hoffnung, dass sie mal ziehen dürfen. Sie haben ihre schon aufgeraucht, und einen Vorrat anzulegen, schafft hier keine. Die Omas werden ignoriert. Die Asche wird nicht abgeklopft, sondern mit den Fingern abgestreift. „Wir sind wie politische Häftlinge“, sagt Olessja. „Denn unsere Haftzeit ist lebenslänglich.“ Eine halbe Stunde vor dem Frühstück stellen sich alle vor die versperrte Tür. Warten. Eine kahlgeschorene Frau mit einem einzigen Zahn im Mund hockt sich hin und sieht zu Boden. Dann schaue ich mir die Leute endlich genau an. Nur Olessja hat lange Haare. Weil Olessja manchmal auf der Bühne steht und lange Haare schön sind und den Gästen des Heims gefallen. Ein paar kinnlange, ein paar Kurzhaarschnitte, der Rest, auch die Omas, kahlgeschoren.
Die Frauen sehen mich genau an. ‚Was du für schöne Zähne hast. Was für schöne Zähne es gibt‘, sagt schließlich eine.
Nicht alle gehen in die Kantine. Acht Personen frühstücken auf der Station. Die Bettlägerigen, die Blinde und jene, die wegen Rabiatheit das Recht darauf, in die Kantine zu gehen, eingebüßt haben. Die Türen gehen auf, und alles strömt die Treppe hinunter. Drei Frauen bleiben an der Wand stehen, um auf Männer aus dem Trakt gegenüber zu warten. Auch deren Türen öffnen sich, und die Männer strömen heraus. Die Paare küssen sich rasch und gehen gemeinsam bis zur Kantine. Eine kurze Zeit des Zusammenseins. So wie bei den Spaziergängen im Garten (wenn sie Glück haben und die Männer gleichzeitig mit den Frauen hinaus dürfen) und in der Diskothek – jeden Mittwoch.
Beziehungen nennt man hier „befreundet sein“.
Die Männer und Frauen schicken einander Tütchen und Briefchen. In den Tütchen ist Kaffee (eine absolute Kostbarkeit) oder Tee (die zweite Währung hier, wird zu einem Kurs von fünf Säckchen Tee für eine Zigarette gewechselt) und kleine Mitteilungen. Wer „befreundet“ ist, macht einander Essensgeschenke. Ich versuche, die Butter zu streichen, aber die Butter ist keine Butter. Ich esse die andere Brotscheibe und trinke etwas Braunes – ohne Aroma, aber warm und süß.
Der Brei riecht eindeutig nach Chlor. ‚So riechen Hygiene und Gesundheit‘, sagt der Oberarzt im Vorbeigehen. Offenbar nimmt er es mir übel, dass ich den Brei nicht esse.
Dieses PNI (Psychoneurologisches Internat) ist stolz auf seine Küche. Ich bekomme eine kleine Birne und beiße hinein.
Als ich zurückkehre, kommen die Frauen der Reihe nach in mein Zimmer und legen mir Birnen auf den Tisch. Das ist eine Art, Freundschaft zu schließen. Sie wollen mit mir befreundet sein. Ich gehöre zur Außenwelt, ich habe Zigaretten und ein Handy.
Die Krankenschwester teilt die Tabletten aus. Die Frauen bilden eine Schlange. Sperren die Münder auf wie junge Krähen. Wenn man dabei erwischt wird, dass man die Tablette nicht schluckt, bekommt man sie das nächste Mal in Wasser aufgelöst. Weigert man sich, die Lösung zu trinken, kriegt man Spritzen. Wenn man sich dagegen wehrt, kommt man auf die K. oder I. – in die Klapse.
Eine beleibte Frau geht an der Schlange vorbei und stellt sich ganz vorne hin. Sie heißt Nastja. Sie ist fröhlich und stark – die Chefin der Station. Sie hat die Fernbedienung vom Fernsehapparat. Den Sender wechseln kann nur sie und der, dem sie die Erlaubnis erteilt.
Sie verwendet nie ihr eigenes Shampoo, sondern nimmt es einfach von einer anderen, wie es ihr gerade gefällt. Vor der Neujahrsfeier hat sie den Schwächsten die Bonbons weggenommen und bei allen, die wollten, gegen Zigaretten eingetauscht. Dafür ist sie der Verwaltung gegenüber loyal, und wenn jemand überwältigt und festgehalten werden muss, macht das Nastja, Nastja ist stark. Während meiner Anwesenheit müssen die Pflegerinnen selber die Böden wischen, statt, wie üblich, einer Bewohnerin eine Zigarette dafür zu zahlen. Eine Zigarette für einen geschrubbten Flur und saubere Klos. Alleinsein gibt es nicht. In jedem Zimmer schlafen drei oder vier Personen. In der Toilette sind zwei Kabinen, wo immer irgendjemand sitzt. Die Klotüren haben Riegel, aber niemand schließt ab. „Wir sind es gewohnt.“
Die Frauen warten nervös auf ihre Zigaretten. „Die haben uns vergessen, einfach vergessen.“ Endlich kommt die Krankenschwester, die die Pflegedienstleitung innehat. Die Frauen umringen sie. Sie gibt jeder zwei Zigaretten in die zitternden ausgestreckten Hände.
Endlich dürfen wir aus dem Haus hinaus. Ob wir spazieren gehen? Das entscheidet die Oberschwester. Die Oberschwester mag keinen Niederschlag, kann nasse Schuhe und Jacken nicht leiden. Am Morgen hat es geregnet, aber auch schon wieder aufgehört, nur, was ist mit den Pfützen? Was sagt die Oberschwester zu den Pfützen? Wir gehen spazieren! Mit den Männern!
In der Garderobe wird gedrängelt. Jacken gibt es genauso viele wie Frauen, nur sind nicht alle gleich gut: Hier ist der Reißverschluss kaputt, da fehlen die Knöpfe. In großer Größe gibt es nur eine Jacke, aber groß sind drei der Frauen. Schließlich reißt eine die Jacke an sich und geht weg, die anderen werfen sich Regenhäute über und hoffen, dass die Krankenschwester das nicht merkt und sie hinauslässt. Auch Mützen gibt es nicht genug, und manche wickeln sich Kopftücher um.
Ein verschließbarer Knauf öffnet die Tür zur Treppe. Die Treppe führt in den „Garten“, einen kleinen Auslaufplatz zwischen den einzelnen Gebäuden und einer Mauer. Der Ausgang aus dem Hof ist vergittert und abgesperrt. Zwei Lauben, eine davon zum Rauchen, und acht Birken. 124 Schritte im Umfang.
Manche beginnen, im Kreis zu gehen.
Wir setzen uns in die Raucherlaube – wir sind reich. Aus dem anderen Trakt kommen die Männer heraus. Shenja ist dringeblieben, und Olessja schäumt vor Wut. Sie wendet sich an Jura: „Sag ihm, ich verlasse ihn. Kaffee hab ich ihm gegeben! Und den trinkt er jetzt mit seinen Kumpels, oder was? Will er mich auf die Palme bringen? Er könnte doch mal raus und Luft schnappen. Ich persönlich hab die Nase voll davon, die Welt durch ein Gitter hindurch zu sehen. Was glaubt er denn – dass ich ihn um Kippen anschnorre? Hab ich doch selber! Bei Zigaretten denkt er nur an sich selbst, die sind ihm mehr wert als ich.“
Jura nickt und küsst Marina. Marina hat bleigraue Haare bis zu den Schultern und rote Wangen. Stimmen haben ihr gesagt, dass sie gefüttert wird und Kinder über Kinder kriegen wird. Die Stimmen sagten, anstelle von Milch würden Joghurt und gezuckerte Kondensmilch aus ihren Brüsten fließen.
Jura schiebt ihr die Hand zwischen die Beine. Marina sagt: „Lass uns lieber rauchen.“ Jura nickt und holt zwei Zigaretten heraus – eine für sie, eine für sich. Ich denke, dass die Männer hier genauso wie draußen mehr finanzielle Möglichkeiten haben. Jura fasst Marina an den Busen, Marina seufzt verlegen. „Gerade, dass er dich nicht ***“, sagt Olessja. „Im Sommer wird er dich ausziehen und ***.“ Daneben versucht eine Alte, sich von einer anderen eine Zigarette zu leihen: „Ich geb sie dir zurück. Ich schwöre bei Jesus Christus, ich geb sie dir beim Abendessen, lass mich nicht hängen.“
Auf jeder Bank sitzt ein Pärchen. Wer keinen Platz hat, spaziert im Kreis herum. Man hat die Wahl: im Uhrzeigersinn spazieren oder gegen den Uhrzeigersinn.
„Na gut, sag ihm doch nicht, dass ich ihn verlasse. Jur, hörst du? Sag ihm: Olessja ist beleidigt, weil du nicht herausgekommen bist.“ Von der Tür ein lautes Rufen – der Auslauf ist beendet. 50 Minuten Außenwelt sind vorüber. Wir steigen die Treppe hoch. Ein Mann küsst eine Frau, schon auf der Station, eine Sanitäterin stößt ihn weg, und er macht sich schnell davon.
Im Fernsehen sieht man einen Verrückten, der einer Frau ein Messer an den Hals setzt, die Omas wiehern. Werbepause. Kaffeemaschinen, schöne Menschen, Schmuck. Nachrichten.
Die hinkende Katja (Ingenieurin in einem Radiowerk, Schizophrenie, seit 26 Jahren im Heim, Selbstmordversuch, aber nur die Beine gebrochen und für unmündig erklärt worden) fragt: „Lena, wenn Putin spricht, sieht er dann alle an? Mir kommt es vor, er sieht nur mich an. Ist das meine Krankheit? Oder ist das wirklich so?“
Mittagessen. Es gibt warme Suppe, Leber, Salat und Nudeln. Die Leute essen schnell, stopfen das Essen regelrecht in sich hinein. Dann verstehe ich den Grund für diese Eile: Unten gibt es ein gratis Telefon, davor eine kurze nervöse Schlange. Von hier aus kann man nur innerhalb der Stadt auf Festnetz anrufen. Sanitäter treiben die Insassen zurück auf die Station, bevor sie telefonieren können – es ist Zeit, die Türen abzusperren.
Wieder werden die Böden gewischt, die Pflegerin schwingt wütend ihren Schrubber. Auch das dritte Mal Wischen wird ihr Job sein, spätabends.
Ljuba beeilt sich, Rosa zu füttern, aber aus einem anderen Zimmer ertönt ein klägliches „Ljubotschka“. Eine bettlägerige Greisin bittet sie, ihr die Pampers zu wechseln.
‚Na warte, du Miststück, ich lass dich die Scheiße fressen‘, sagt Ljuba, während sie der Alten zwischen die Beine fasst. ‚Wo ist die nass? Da geht nicht mal was durch.‘
Für die Bettlägerigen sind drei Pampers pro Tag vorgesehen. „Wenn sie sehr nass sind, wechsle ich sie, oder wenn sie angeschissen sind. Und einmal abends, nach dem Essen. Sie sind stumpf, meistens sagen sie nichts. Man muss kontrollieren – morgens, mittags, abends. Aber die ist trocken, wieso lügt sie? Auch wenn sie eingepinkelt hat, kann sie ja noch mal reinmachen.“ „Tablettenausgabe!“, schreit eine auf dem Flur. Die Frauen stehen sofort auf und gehen hin.
Nach den Tabletten bekommen die Frauen noch zwei Zigaretten und gehen auf den Balkon hinaus. Die morgendliche Nervosität ist weg, und sie überlassen den Alten ein paar Züge.
Sie reden über Selbstmorde und Selbstmordarten. Sich unter den Bedingungen des Heims auf Nummer sicher umzubringen, ist keine leichte Aufgabe. Aus der Toilette hört man Schreie. Eine Krankenschwester läuft hin, aber noch bevor sie da ist, kommt Nastja mit zufriedener Miene heraus, hinter ihr entwischt eine dünne Frau, die am Morgen von einer Pflegerin gejagt wurde. „Das war ja Paramonowa“, seufzt die Schwester. „Paramonowa! Ich werde dich gleich dem Arzt zeigen!“
„Hat geschrien wie am Spieß“, lachen die Alten.
Nastja wird von Mädchen umringt und lacht. „Ich habe auf dem Klo gesessen. Und die hat angefangen, mit ihren Händen vor meiner Nase rumzufuchteln. Da hab ich sie eben ***! Sie ist mir schon am Nachmittag auf die Pelle gerückt. Irgendwann bring ich dich um ey!“, sagt Nastja.
‚Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!‘, sagt Paramonowa zur Krankenschwester und weint.
„Du provozierst aber auch alle! Und kein Mensch schlägt dich“, sagt die Schwester, obwohl Nastja durch den ganzen Flur posaunt. „Die schwarzen Raben haben den weißen zerhackt!“, sagt Paramonowa und flattert mit den Armen. „Na, geh auf dein Zimmer!“, sagt die Schwester und geht weg.
Sie kehrt mit einer anderen Schwester zurück, die eine Spritze in der Hand hält. Paramonowa soll eine Spritze bekommen, weil sie „aufgeregt“ ist. Jede hat in ihrem Behandlungsblatt stehen, dass sie bei Aufregung eine Spritze bekommt. Bei Paramonowa ist es Aminasin//Chlorpromazin.
„Das sind Vitamine“, sagt die Krankenschwester. „Ich will keine Spritze, ich gehe!“ „Auf ärztliche Anordnung“, sagt die Schwester. „Gegen deine Grunderkrankung.“ „Ich bin nicht krank!“, ruft Paramonowa und schlüpft aus dem Zimmer auf die Toilette.
„Ruf einen Sanitäter“, sagt die Schwester zur Pflegerin. Diese nickt. Der Sanitäter, ein kräftiger Kerl, stellt sich vor die Toilettentür und schielt zu mir rüber. „Ich kann ihr doch nicht auf die Toilette nach.“ „Sie wird ja nicht ewig drin bleiben. Warten wir“, sagt die Schwester mit der Spritze und stellt sich ebenfalls an die Wand. „Sie hat sich auch in der Kantine schlecht benommen. Und Nastja geschlagen“, sagt die zweite. Paramonowa kommt aus der Toilette heraus. Beäugt den Sanitäter und die Krankenschwestern.
„Ich komm schon von selber. Ich komme schon“, sagt sie. Sie kommt. Hinter ihr die Frau mit der Spritze. Der Sanitäter bleibt in der Tür stehen. Als ich einen Blick in das Zimmer werfe, liegt Paramonowa zugedeckt da, das Gesicht zur Wand. Sie rührt sich nicht.
Was ist Unmündigkeit
Unmündigkeit ist die Unfähigkeit eines Staatsbürgers, durch seine Handlungen staatsbürgerliche Rechte zu erlangen und auszuüben, sowie staatsbürgerliche Pflichten auf sich zu nehmen und sie zu erfüllen. So steht es im Gesetz. Kinder sind unmündig. Ein erwachsener Mensch, der aufgrund einer psychischen Störung seine Handlungen nicht versteht oder nicht steuern kann, kann per Gericht entmündigt werden. Das Gericht gibt ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag und stimmt meist mit dessen Ergebnissen überein.
Die Anwesenheit der betreffenden Person bei Gericht ist obligatorisch. Es reicht jedoch ein ärztliches Attest, dass die Person „aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht in der Lage ist, an der Verhandlung teilzunehmen“, und ihr Schicksal wird ohne ihr Beisein besiegelt.
Für die entmündigte Person wird ein Vormund bestimmt. Sie verliert einige Rechte: ihr Recht, über Eigentum zu verfügen, ihr Wahlrecht, ihr Recht auf Eheschließung und die Erziehung von Kindern, ihr Recht, Anträge an Behörden zu stellen, Eigentum zu vererben, Geschäfte abzuschließen oder Kinder zu adoptieren. Ohne ihre Zustimmung kann ihre Ehe geschieden, können ihre Kinder zur Adoption freigegeben werden und ihre persönlichen Daten verarbeitet werden. Alle anderen Rechte bleiben bestehen. Was passiert mit einer entmündigten Person in einem PNI?
Das Heim ist zugleich Vormund und Dienstleister. Es ist sowohl Auftraggeber als auch Ausführender. Das eröffnet unglaubliche Möglichkeiten.
Beginnen wir beim Geld. Auf den persönlichen Konten der 404 Entmündigten, die hier im Heim leben, liegen 98.956.665 Rubel [etwa 1,13 Mio. Euro – dek]. Das sind ungefähr 245.000 [rund 2800 Euro – dek] pro Person. Entmündigte bekommen in der Regel eine Behindertenrente, und diese Summe wächst. 75 Prozent der Rente behält das Heim – für den „Kundenservice“. Die restlichen 25 Prozent darf das Heim zum Wohle ihres Mündels verwenden – mit Erlaubnis der Pflegschaftsbehörde.
Warum hat Ljuba dann keine Batterien im Player? Warum müssen die Bewohnerinnen dann für eine Extrazigarette den Boden wischen? Ganz einfach: Die tatsächlichen Bedürfnisse des Mündels bestimmt ja ebenso das Heim. Natürlich hieß es mir gegenüber, die Insassen müssten nur darum bitten, und der Sozialarbeiter stellt einen Antrag, woraufhin das Gewünschte innerhalb maximal eines Monats bei der jeweiligen Person eintreffe. Praktisch ist das unmöglich. Auf 436 Bewohner und Bewohnerinnen kommen sieben Sozialarbeiter. Auf manchen Stationen wurden sie seit Jahren nicht gesehen. Einen direkten Draht zu den Sozialarbeitern haben die Bewohner nicht. Die Bitte muss über eine Krankenschwester erfolgen, alles Weitere liegt in deren Ermessen.
Tatsächlich sind die Sozialarbeiter damit beschäftigt, sogenannte Lebensmittelpakete einzukaufen und zu verteilen. Mit Tee, Keksen, Zucker, Sprudel und Dauerwurst. Für privilegierte Bewohnerinnen – jene, die dem Personal helfen, auf den Stationen „Ordnung zu halten“ – darf es auch etwas anderes sein, etwa Schinken oder Käse. Etwas einfacher ist das alles in der Rehabilitationsabteilung. Dort sind die Sozialarbeiter physisch vor Ort, und mit Genehmigung der Stationsleitung kann man sie zum Beispiel darum bitten, einen Player zu kaufen.
Wie viel kosten diese Lebensmittelpakete? Kein Bewohner weiß das. Wie viel bleibt jedem von seiner Rente? Auch das weiß keiner. Wer nach seiner Rente fragt (wen soll man auf einer geschlossenen Station überhaupt fragen?), kann zu hören kriegen, „wir verlegen dich“. Es gibt immer einen Ort, an dem es schlimmer ist, es gibt die 3-A [die Station mit der höchsten Stufe der Sicherheitsverwahrung], es gibt die psychiatrischen Anstalten, das wissen alle. Aus demselben Grund haben die Leute auch keine Mobiltelefone. Die Juristen des Heims sehen keine Notwendigkeit, das Risiko einzugehen, mit einer entmündigten Person einen Handyvertrag abzuschließen. Ein Handy kann nur von Angehörigen geschenkt werden.
Dasselbe gilt für Bargeld. Die Entmündigten bekommen nie welches zu Gesicht und geben nie welches aus. Auch das eine Zwickmühle: Möchte man seine Entmündigung aufheben, wird man vor Gericht auf jeden Fall gefragt, wie man Geld abhebt, wie man die Miete bezahlt, was ein Busticket kostet und wie viel der Milchpreis im Laden beträgt. Der Weg in die Außenwelt bleibt den Entmündigten verwehrt. Ich habe eine Frau getroffen, deren größter Traum es war, zum nächsten Markt zu fahren (drei Häuserblocks vom Heim entfernt), um Schuhe anzuprobieren und zu kaufen.
Wer entmündigt ist, darf das Heim nicht mehr verlassen. Außer, es findet sich draußen ein anderer Vormund.
Nach Meinung des Oberarztes (er ist neu und gilt als progressiv) ist das Heim berechtigt, für seine Bewohner buchstäblich alles zu bestimmen. Weil ein Entmündigter seine Handlungen nicht lückenlos verantworten kann – der Vormund weiß es besser.
In den Krankenakten aller hier Wohnenden gibt es ein wunderbares Beispiel für diesen Ansatz – eine Zustimmung zur Behandlung, unterschrieben von der Heimleitung. Die Direktion ist „informiert über die Art der psychiatrischen Störung, über die Ziele, Methoden und Dauer der Behandlung sowie über das Schmerzempfinden, mögliche Risiken, Nebenwirkungen und die zu erwartenden Ergebnisse“ und ist mit absolut allem einverstanden. Das ist gegen das Gesetz, das vorschreibt, dass die betreffende Person informiert werden muss – doch das passiert nicht. Die Leute brauchen nicht zu wissen, welche Tabletten sie kriegen und was ihnen gespritzt wird. Die Frauen werden nicht gefragt, ob sie eine Abtreibung wollen, und erfahren es nicht einmal, wenn eine Sterilisation vorgenommen wird. Viele kennen ihre Diagnosen nicht (und trauen sich nicht, danach zu fragen). Ich habe eine junge Frau getroffen, die mit 26 Jahren zu menstruieren aufgehört hat. Sie wurde untersucht, und etwas wurde in ihre Krankenakte eingetragen, aber erklärt wurde ihr nichts, und sie hatte Angst nachzufragen. Warum traut man sich nicht zu fragen? Eine Frage kann einem als Unzufriedenheit ausgelegt werden. Und jede Unzufriedenheit kann bzw. wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Verschlimmerung gewertet – und das heißt Spritze oder 3-A oder Psychiatrie, je nach Schweregrad der Handlung.
Auch das ist eine Spielart der Hölle: die Unmöglichkeit, sich nicht wohl zu fühlen, die Unmöglichkeit, zornig zu werden oder zu weinen, die Unmöglichkeit, Gemeinheiten und Grausamkeiten beim Namen zu nennen. Will man sich selbst schützen, muss man lächeln oder zumindest „ausgeglichen“ bleiben – gleichgültig und ruhig, egal, was sie einem antun oder mit anderen machen.
In ihren Interpretationen von Unmündigkeit nutzen die Mitarbeiter sämtliche Spielräume aus. Entmündigte können die Länge ihrer Haare nicht selbst bestimmen – so die Meinung der Heimfriseurin, einer netten Dame mit freundlichem Lächeln, die Frauen wie Männern fraglos die Köpfe rasiert.
Entmündigte können nicht entscheiden, was sie in ihren Nachtkästchen aufbewahren – so die Meinung der Pflegerinnen. Entmündigte können den Boden wischen oder Waren abladen, können dafür aber kein Gehalt beziehen – so die Meinung der Heimjuristen. Entmündigte haben kein Recht, sich an den Direktor, ihren unmittelbaren Vormund, zu wenden – so die Meinung der Sozialarbeiter, die den Querulanten mit „Verlegung“ drohen. Nina Bashenowa wurde während eines Krankenhausaufenthalts entmündigt. Sie sagt: „Ein Mann hat mir erklärt, was Unmündigkeit ist. Mir wurde klar, dass ich alles verloren habe. Das Leben hat überhaupt keinen Sinn mehr. Ich habe keinerlei menschliche Rechte mehr.“
‚Das war ein Schlag. Angst stieg in mir hoch. Angst, nicht mehr als Mensch zu gelten. Dass jeder sagen kann: ‚Wer bist du denn? Niemand bist du.‘ So hab ich das verstanden. Und im Grunde stimmt das auch.‘
Rehabilitationsabteilung
Hier wohnen 49 Menschen, die großes Glück hatten. Das ist die freieste Abteilung des Heims. Die Tür wird nur nachts zugesperrt. Daher kann man die Heimbibliothek aufsuchen (eigenständig, ohne Begleitung, inklusive Computer), den Fitnessraum nutzen oder Tennis spielen. In der Abteilung gibt es eine Dusche, die allen offensteht, eine Küche, und man kann sich Geschirr zum Kochen ausleihen. Zigaretten bekommt man alle zwei Tage eine ganze Packung. In einem Aquarium leben drei lebendige Rotwangen-Schildkröten – die sind zwar bissig, aber egal. Der Abteilungsleiter ist kein Psychiater, sondern eine Psychologin, mit der man reden kann. Die Rehabilitation hat ihren Auslauf nicht in einem geschlossenen Hof mit 124 Schritten Umfang, sondern vor dem Haus. Das Gebäude ist lang. Man kann da richtig spazieren gehen. Die Abteilung ist gemischt, wenn auch Männer und Frauen getrennt schlafen. Man kann auf dem Sofa sitzen und kuscheln, man kann schmusen – bloß nicht vor den Augen der Krankenschwester –, man kann sogar „die Gelegenheit nutzen“.
Die Kehrseite des Glücks: permanente, unbezahlte Arbeit. Die Mädels schrubben die Böden im ganzen Gebäude, arbeiten in der Wäscherei, die Jungs laden Kisten mit Lebensmitteln ab und schieben und waschen Rollstuhlfahrer. In der Rehabilitation können Mitarbeiter aller Stationen „Leute ausborgen“. Ein paar wenige mündige Arbeitsfähige sind zu einem Viertel angestellt, alle anderen arbeiten – besser gesagt: „durchlaufen eine Arbeitsrehabilitation“ – für das Recht, im Paradies zu sein.
Die Rehabilitationsabteilung wurde auf Erlass des Gouverneurs 2001 erschaffen. Sie soll die Heimbewohner auf ihre Entlassung vorbereiten. Seitdem (also in den letzten 20 Jahren) sind vier Personen „in die Freiheit“ gegangen. Eine begann zu trinken und starb, mit einem riss der Kontakt ab, die anderen beiden sind verheiratet und gehen arbeiten. Wanja lebt seit zwei Jahren im Heim. Er ist 26 Jahre alt. „In Freiheit“ hat er eine Lehre als Schweißer abgeschlossen und gearbeitet.
Ich gebe seine Geschichte detailgetreu wieder. Die Grenze zwischen Freiheit und Heim ist extrem dünn.
Als Wanja 15 war, starb seine Mama. Zwei Jahre später starb auch sein Vater – er hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Dann starb auch noch die Großmutter. So blieb Wanja allein zurück. Er besaß einen Anteil an der Wohnung, in der er wohnte, die Einzimmerwohnung seines Vaters und die Dreizimmerwohnung seiner Oma. Aber nicht lange. Denn Mamas Schwester trat auf den Plan – eine Maklerin.
Die Tante bat ihn, seinen Anteil an der Wohnung ihr zu überschreiben – ihre Tochter wollte eine Hypothek aufnehmen: „familiäre Unterstützung“ war gefragt. Wanja willigte ein. Dann musste die Dreizimmerwohnung verkauft werden, um eine Sanierung der Einzimmerwohnung zu finanzieren. Auch da stimmte Wanja zu. Es folgte eine komplizierte Geschichte mit dem Kauf einer Datscha, dem Verkauf der Datscha, dem Verkauf der Einzimmerwohnung und dem Übergang der neuen Wohnung in den Besitz der Tante.
Wanja bekam von diesem Immobilienhandel kaum etwas mit. Nach dem Tod seiner ganzen Familie war er „entgleist – rauchte Spice, nahm Drogen“. Er erinnert sich, dass er zugedröhnt getanzt und ein fremdes Auto zu Schrott gefahren hat. „Dann hab ich Harry Potter und die Kammer des Schreckens gesehen. Und dachte – womöglich gibt es den Basilisken wirklich? Ich hatte einen richtigen Horrortrip. Und landete auf der Psychiatrie. Von da an wurde ich immer wieder eingeliefert. Mal sah ich Vampire, mal sonst was. Mir wurde Schizophrenie diagnostiziert. In dem Krankenhaus gab es einen Arzt, mit dem sich die Tante unterhielt. Er riet ihr: ‚Entmündige ihn und steck ihn ins Heim.‘ Genau das machte sie. Am Anfang kam ich auf 2-D. Gleich auf den ersten Blick hatte ich genug gesehen. Ich sagte: ‚Was soll das, hol mich raus.‘ Aber sie so: ‚Ich kann das nicht verantworten. Womöglich stellst du was an, dann geh ich wegen dir in den Knast.‘ Manchmal besucht sie mich. Die Wohnung? Ist glaub ich vermietet. Wieso fragen Sie nach der Wohnung?“
Seit Wanja keine Drogen mehr nimmt, sind die Halluzinationen weg. Trotzdem nimmt er weiter Medikamente: Cyclodol, eine halbe Haloperidol und abends zwei Sonopax. Von den Präparaten blinzelt er oft, aber das ist er „schon gewohnt“. Die Stationsärzte zweifeln an Wanjas Diagnose. Haben es aber nicht eilig, die Schizophrenie zu revidieren und seine Mündigkeit wiederherzustellen – mit der Maklertante prozessiert es sich leichter, wenn Wanja entmündigt ist.
Wanja geht mit Nina – das ist die, die im Prinzessinnenkleid gesungen hat, die durch ihre Entmündigung „alles verloren hat“. Sie ist schon ewig im Heim: 15 Jahre. In dieser Zeit hat sie ein Kind verloren, durch eine Abtreibung, zum Glück ohne Sterilisation, Ausschabung in einem frühen Stadium, „sie haben mich nicht aufgeschnitten“. Nina träumt davon, eines Tages mit Wanja in einem eigenen Haus zu wohnen. „In meinen Garten zu fahren und einfach da zu leben. An der frischen Luft, mit einem traditionellen Ofen im Haus. Sechs Ar Grund, eine eigene Banja. Seit 15 Jahren weiß ich nicht, wie es da draußen aussieht. Natürlich werde ich Männerhände brauchen. Wanja ist noch jung, der kann das noch nicht. Oder schaffst du das, Wanja?“ Auch hier träumt man von ganz normalen Dingen, denke ich bei mir.
Was verbindet die Menschen, die im PNI wohnen? Was verbindet Tjoma und Sweta, Wanja und Dima, die Frauen aus der Station Nr. 1, die Frauen, die keine Kinder mehr bekommen können? Nicht die Diagnosen sind es – die sind ganz verschieden, und offenbar stimmen nicht alle. Was sie verbindet, ist, dass ihre Angehörigen sich von ihnen abgewandt haben. Ihre sozialen Verbindungen sind abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Wenn die Menschlichkeit verschwindet, bleibt nur mehr der Staat.
Mein Staat ist das PNI. Nicht die Impfung mit Sputnik-V, nicht die Olympiade, nicht die Raumfahrt. Mein Staat ist hier, ich sehe sein Gesicht.
Was denke ich nach zwei Wochen PNI?
Dass ich nur an der Oberfläche der Hölle gekratzt habe.
Wir befanden uns unter speziellen Bedingungen im Heim. Hinter dem Zaun, dessen Vorderseite mit lustigen Rhomben verziert ist, galten für uns besondere Regeln. Gemäß den Vereinbarungen, die die Novaya Gazeta mit der Heimleitung getroffen hat, darf ich weder die Anstalt noch die Region nennen. Die Namen der Personen, die dort eingesperrt sind oder arbeiten, musste ich ändern.
Dieses Heim wurde kürzlich 50 Jahre alt. Nach Meinung von Freiwilligen und des hiesigen Sozialministeriums ist dieses Internat weder schlecht noch gut. Es ist Durchschnitt. Normal.
In den Psychoneurologischen Internaten Russlands leben derzeit 155.878 Menschen. In speziellen Kinderheimen wohnen 21.000 Kinder, denen das PNI blüht. Jeder 826. Russe verbringt und beendet sein Leben im Heim.
Kein einziges globales oder regionales Problem könne ohne Russland gelöst werden, verkündete schon 2003 Wladimir Putin. In der Tat hat Russland eine außenpolitische Sonderstellung: Durch die guten Beziehungen zu verfeindeten Parteien ist der Kreml oft in der Lage, als Vermittler aufzutreten. Moskau verhandelt nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit der Hamas oder Hisbollah. Gleichzeitig pflegt es gute Beziehungen zu Israel, aber auch wiederum zum Iran; zur PYD – syrische Schwesterpartei der kurdischen PKK –, aber auch zum türkischen Präsidenten Erdoğan.
Eigentlich hat Russland damit sehr gute Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenspolitik. Auch das Potential für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit ist enorm. Trotzdem sei die Nahost-Strategie des Kreml ineffektiv, kritisieren die Nahost-Experten Anton Mardassow und Kirill Semjonow auf Riddle. Der Kreml betreibe in der Region oft nur Effekthascherei – „mit roten Teppichen und Lobeshymnen“.
Der russische Außenminister Lawrow (rechts) in Syrien, September 2020 / Foto @ Flickr/MID Rossii CC BY-NC-SA 2.0
Viele sind der Ansicht, dass Russlands Rückkehr in den Nahen Osten mit der militärischen Intervention in Syrien begann. Dadurch konnte es Stärke demonstrieren und seine Spielregeln in den Ländern der Region durchsetzen, die wegen ihrer Differenzen mit den USA ohnehin nicht abgeneigt waren, eine Zusammenarbeit einzugehen und ihre Kontakte zu diversifizieren.
Moskau hat tatsächlich die Müdigkeit der syrischen und ausländischen Akteure in diesem Konflikt genutzt, deren unterschiedliche Interessen und Positionen ihnen beim Aufbau einer starken Opposition gegen Assad im Weg standen. Russland hat in dieser Krisensituation gehandelt, während seine Widersacher zauderten. Und seine unzureichende wirtschaftliche und militärische Stärke in der Region kompensierte Moskau durch eine Kette von Bündnissen, um so seine Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung voranzutreiben.
Der Auslöser: Krise um die Ukraine
Russlands Rückkehr in den Nahen Osten und später nach Afrika hat nichts damit zu tun, dass Moskau geduldig auf den geeigneten Moment gewartet hätte, sich als Akteur ins Spiel zu bringen, ohne den kein einziges globales oder regionales Problem gelöst werden könne (wie Putin es schon 2003 verkündet hatte). Die Intervention in Syrien und die anschließende Umwandlung des Landes in ein Drehkreuz, über das Moskaus Stärke nach Libyen und Afrika projiziert wurde, wäre ohne die Krise um die Ukraine nicht möglich gewesen.
Diese hatte den Kreml vor einige Fragen gestellt: Wie kann man verhindern, dass das Land mit einer sich verteidigenden „belagerten Festung“ assoziiert wird und wie kann man sich am globalen Wettbewerb beteiligen? Wie lässt sich angesichts der verhängten Sanktionen ein Dialog auf Augenhöhe mit dem Westen erreichen? Wie kann Moskau bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen für seine Interessen eintreten (die 54 afrikanischen Mitgliedsstaaten machen fast ein Drittel aller Stimmen in der UN-Vollversammlung aus)?
In dem Bemühen, die Folgen ihres Vorgehens auf der Krim und im Donbass zu überwinden, richtete die russische Regierung ihre Anstrengungen neu aus und gab der Nahostpolitik eine neue Bedeutung. Sie entschied sich für eine flexible Politik, deren wichtigste Triebkraft der Export von Sicherheitsdienstleistungen war – so auch die Rekrutierung von Söldnergruppen mit Kampferfahrung in der Ukraine.
Zeitlich begrenzte Wirkung
Dieser Ansatz ist für autoritäre Staatsführer verständlich und wichtig für die Stabilisierung ihrer Lage. Er ist nicht an Menschenrechte oder eine wirtschaftliche Liberalisierung geknüpft. Wie stimulierend diese Akzentuierung auch sein mag, so sehr ist sie in ihrer Wirkung zeitlich begrenzt. Die russische Führung wird nun so lange Geisel dieses Ansatzes bleiben, bis ein Weg gefunden wird, wie man die Dividenden einstreichen und die eigene Position in der Region weiter stärken kann – ohne allerdings in irgendeine Krise verwickelt zu werden.
Es ist kein Geheimnis, dass es bei Russlands Vorgehen auf dem Öl- und Gasmarkt – insbesondere bei Projekten in der Türkei, im kurdischen Teil des Irak und im Libanon – mehr um Politik als um wirtschaftlichen Nutzen geht. Die Vorstellung jedoch, dass Russland beständig und präzise einer ausgeklügelten Strategie folge, ist nichts als ein Mythos, der hartnäckig von der Propaganda befeuert wird.
Ausgeklügelte Strategie? Ein Mythos
Die heutige Nahostpolitik Russlands muss durch das Prisma des gegenwärtigen Verhältnisses Moskaus zum Islam und zur islamischen Welt gesehen werden. Das Problem dabei ist: Der Kreml wird immer dann in dieser Richtung aktiv, wenn es Konflikte gibt oder wenn es gilt, schärfste Differenzen in den Beziehungen zu den führenden islamischen Staaten auszubügeln. Die erste Phase, in der eine Annäherung Russlands an die islamische Welt erfolgte, war der Zweite Tschetschenienkrieg. In diese Phase fällt der Auftritt von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Russlands Erlangung des dortigen Beobachterstatus. Zu dieser Zeit fand auch der erste Staatsbesuch eines russischen Präsidenten in Saudi-Arabien statt. Russland hat es dennoch nicht vermocht, die Zusammenarbeit mit der islamischen Welt zu festigen oder sie vertrauensvoller zu gestalten.
Den zweiten Annäherungsversuch Russlands an die islamische Welt können wir aktuell beobachten. Er erfolgte aufgrund der Konfrontation mit den Anti-Assad-Kräften, von denen viele Ideen des Islam anhingen. Hier können wir von einer gewissen Institutionalisierung dieser Rückkehr Russlands in den Nahen Osten sprechen. Dadurch ist unter anderem der Beginn von Verhandlungen mit dem Iran und der Türkei in Astana möglich geworden. Ebenso konnte in den Beziehungen zu Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die den Einfluss der Türkei in Syrien und Libyen zurückdrängen wollen, eine neue Phase eingeläutet werden.
Das Tschetschenien-Syndrom
Der Tschetschenienkrieg war Anlass für eine Weiterentwicklung der Beziehungen Russlands zu den Staaten des Nahen Ostens [um durch Bündnisse den radikalislamischen Einfluss einzudämmen – dek], gleichzeitig schwebt über Moskaus Beziehungen zu vielen staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Nahen Osten nach wie vor das „Tschetschenien-Syndrom“: So sieht der Kreml in verschiedenen islamischen Kräften, die gewöhnlich als „islamistisch“ bezeichnet werden, potenzielle Sponsoren eines Aufruhrs in Russland, an dem sich Muslime aus Russland beteiligen könnten.
Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde. Die lässt sich – ungeachtet der offiziellen Haltung, die diesen Umstand leugnet – längst nicht immer verheimlichen. Ab und zu kommt sie in der Rhetorik des Kreml zum Vorschein.
Der Ansatz der Nahostpolitik Russlands könnte jedoch auch ein ganz anderer sein, wenn Moskau von der im russischen politischen System verwurzelten Islamophobie Abstand nehmen würde
Selbstverständlich hat Moskau seine Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus demonstriert. Das gilt für seine Beziehungen und Kontakte zu Kairo, als dort die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei [der Muslimbrüder – dek] und die Regierung Mursi an der Macht waren. Es war auch im Verhältnis zum ehemaligen sudanesischen Präsidenten Al-Baschir der Fall, der direkte Verbindungen zu sudanesischen Islamisten und der palästinensischen Hamas hatte. Vertreter der letzteren sind seit 2006 regelmäßig in Moskau zu Besuch. Russlands Einladung an die Hamas wurde im Westen logischerweise als Beginn einer Rückkehr Moskaus in die große Politik wahrgenommen. Die damals aktiven tschetschenischen Kämpfer gaben prompt ihren Unmut zu verstehen, dass „die Mudschahedin Palästinas, Brüder der Tschetschenen, sich entschieden haben, Putin die Hand zu reichen“.
Spiel mit Widersprüchen statt durchdachte Strategie
In Wirklichkeit hat der Kreml damals keineswegs eine Schritt für Schritt durchdachte Politik betrieben: Vielmehr machtе Wladimir Putin seinerzeit genau das, was er heute immer noch macht – er spielte mit Widersprüchen und demonstrierte seine Unabhängigkeit gegenüber den Partnern im Nahost-Quartett (EU, UNO und USA): So hat Putin etwa den Wahlsieg der Hamas als „schweren Schlag“ für die Friedensinitiativen Washingtons im Nahen Osten bezeichnet und neun Tage später Vertreter der Hamas nach Moskau eingeladen. Seitdem sind die russischen Diplomaten genötigt, in jedem Interview zu lavieren, wenn es zu erklären gilt, weshalb die Hamas, die aus den seit 2003 in Russland verbotenen Muslimbrüdern hervorgegangen war, wenige Jahre nach diesem Verbot die russische Hauptstadt besucht. Oder warum Russland die Hamas nicht als Terroristen einstuft (offiziell deswegen, weil sie für die russische Bevölkerung keine Gefahr darstellt).
Gilt es zu entscheiden zwischen islamisch orientierten Politikern und anderen Akteuren, dann sind letztere die Gewinner – Hauptsache, sie verkünden eine säkulare Haltung und erklären allen Formen des Islamismus den Kampf. Kaum verkündet ein Akteur eine solche Haltung, schon ändert Moskau seine Richtung, oft nur als Reaktion und ohne klar definierte Position.
Dieses Vorgehen ist nicht allein der russischen Politik eigen, sondern in gewissem Maße auch der französischen. Der libysche Kommandeur Haftar hat dies intensiv ausgenutzt, indem er eine antiislamistische Agenda verfolgte und sagte, was man in Moskau und Paris von ihm hören wollte. Dabei waren seine antiislamistischen Parolen hauptsächlich an die Außenwelt adressiert. Für den internen Gebrauch verfolgte er einen durchaus fundamentalistischen islamischen Ansatz, instruiert von radikalen salafistischen Predigern. Zu seinen Truppen gehören auch salafistische Einheiten. Gleichwohl reichen öffentliche Bekenntnisse der eigenen Säkularität und deklarative Aufrufe zur Bekämpfung des Islamismus aus, die Gunst des Kreml zu erlangen.
Die Folge ist, dass Moskau im Nahen Osten einem breiten Spektrum politischer Kräfte gegenübersteht, die gemäßigt islamische Positionen vertreten. Das Regime in Russland ist genötigt, mit ihnen umzugehen und Gespräche zu führen, wobei es weiterhin Groll hegt und Medienkampagnen gegen die Betreffenden fährt. Allerdings verheddern sich die russischen Medien des Öfteren, wenn sie über Gespräche russischer Offizieller mit Politikern aus dem Nahen Osten berichten, die sie gestern noch als anrüchig bezeichnet haben. Dabei hätten diese Kräfte durchaus an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert sein können, wenn die russische Seite sich unter gewissen Umständen nicht gescheut hätte, auf sie zu setzen, und wenn Russland seine Nahostpolitik wirklich effektiv und nicht effekthascherisch gestaltet hätte.
Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen
Das Eingreifen in den Syrienkonflikt hat Moskau trotz der offensichtlichen geopolitischen Gewinne keine wesentliche Dividende gebracht. Vielmehr haben die enorme Konzentration auf eine Unterstützung des syrischen Regimes und die Bildung eines faktischen Militärbündnisses mit dem schiitischen Iran, der es ebenfalls vorzog auf einem Grat zwischen Krieg und Frieden zu wandeln, die Flexibilität Russlands im Nahen Osten eingeschränkt. Die russische Seite hat es aufgrund ihres stereotypen Denkens nicht vermocht, in den Beziehungen zu Assad eine rote Linie zu ziehen.
2015 hatte es für Moskau die Möglichkeit gegeben, zu Damaskus auf Distanz zu gehen, um nicht mit dem syrischen Regime in einen Topf geworfen zu werden. Man hätte sich auf die offiziell verkündeten Ziele der militärischen Operation in Syrien konzentrieren können, also darauf, den in Russland verbotenen „Islamischen Staat“ zu bekämpfen und das Angriffspotenzial der al-Nusra-Front (Dschabhat an-Nusra, heute Hai‘at Tahrir asch-Scham; die Organisation ist in Russland verboten) zu begrenzen. 2015 hatte die syrische Opposition nicht die Absicht, auf die Seite der Türkei zu wechseln und im syrischen Grenzgebiet für ihre Interessen zu kämpfen. Moskau hätte in diesem Bürgerkrieg die Rolle eines Vermittlers nicht nur imitieren, sondern wirklich übernehmen können – wenn man Schläge gegen Terrorzellen geführt und Assad zu Kompromissen gedrängt hätte. Trotzalledem wäre Assad zu einer russischen Militärpräsenz in diesem Format bereit gewesen.
Unter solchen Voraussetzungen hätte Moskau das syrische Regime womöglich allmählich „zähmen“, es vom Iran losreißen sowie einen vollwertigen Friedensprozess in Gang setzen können, durch den beträchtliche Investitionen ins Land geholt würden. Diese hätten auch von russischen Firmen kommen können, ohne dass sie hätten befürchten müssen, unter die westlichen Sanktionen zu geraten. Zudem hätte Russland seine Positionen behauptet und das Vertrauen des gesamten Kräftespektrums im Nahen Osten bewahrt. Vor allem hätte ein solches Szenario eine mögliche „Afghanisierung“ des Konflikts ausgeschlossen und die Kosten für die Intervention begrenzt.
Eine einzige Empfehlung
Russland hat als Rechtsnachfolger der UdSSR eine einzigartige Möglichkeit: Es ist in der Lage, parallel und durchaus offiziell einen Dialog mit verfeindeten Seiten zu führen. Heute mit Israel und dem Iran, morgen mit den USA und der Hisbollah, übermorgen mit der Türkei und der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Gleichzeitig hat Moskau nicht die wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, um sich eine Großzahl subventionierter und für gewisse Ideale kämpfender Bewegungen zu halten. Ebenso wenig ist Russland in der Lage, den Seiten einen vermittelten Dialog zu seinen Bedingungen aufzuzwingen und sich der Konkurrenz zu stellen. Daher ist der Kreml genötigt, sich in militärische Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen, wodurch er den Status eines unabhängigen Vermittlers verliert.
Die Erfahrung, dass man erfolglos nach verbündeten Regimen gesucht hat, und die ständigen Versuche, als Mentor aufzutreten, sind für Moskau das Haupthindernis für eine Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in der so sehr beschworenen multipolaren Welt. Und der Kurs auf eine Militarisierung der Außenpolitik sowie die Suche nach einem äußeren Feind zur Erhaltung des bestehenden Systems schließt die Beteiligung russischer Firmen an „politikfreien“ Projekten aus: Schließlich wissen die russischen Diplomaten sehr wohl, dass viele russische Wirtschaftsprojekte im Nahen Osten und Nordafrika nicht deshalb gescheitert sind, weil Washington da Knüppel zwischen die Beine geworfen hat, sondern durch die Schuld russischer Politiker und Unternehmer. Für Moskau sind vor allem rote Teppiche und Lobeshymnen wichtig und erst dann Realpolitik.
Für den Kreml ist es an der Zeit, sich von dem sowjetischen Paradigma der Nahostpolitik zu verabschieden, bei dem die Blockkonfrontation im Zentrum stand. Außerdem muss die offizielle Haltung revidiert werden, dass Säkularität der wichtigste Indikator für die „Zurechnungsfähigkeit“ der politischen Kräfte im Nahen Osten ist. Zudem sollte die Reichweite der Kontakte in der Region ausgedehnt werden, und zwar ohne Säbelrasseln. Da Russland selbst einen Kurs in Richtung Unterdrückung Andersdenkender und der Medienfreiheit verfolgt, sind große Zweifel angebracht, ob Moskau zu einer solchen Neujustierung bereit ist.
Die tragischen Bilder vom Flughafen Kabul machen viele Menschen weltweit fassungslos. Für den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier sind sie „beschämend für den politischen Westen“. Neben hämischen Kommentaren in russischen Staatsmedien fragen unterdessen auch vermehrt einzelne unabhängige Stimmen, inwieweit der Westen überhaupt noch Vorbild für Russland sein kann.
Russland führt Gespräche mit den Taliban – die offiziell als Terrororganisation gelten –, belässt einen Teil seiner Diplomaten in Kabul und schickt gleichzeitig zusätzliches Militärgerät nach Tadshikistan, wo es einen Stützpunkt unterhält.
Diese Haltung kommentiert der russische Journalist Michail Koshuchow, der von 1985 bis 1989 Kriegskorrespondent in Afghanistan war, im Interview mit Znak. Er greift tief in die Geschichte, um die heutigen Probleme Afghanistans zu erklären und dessen mögliche Zukunft zu vorhersagen. Dabei kommt er teilweise zu überraschenden Ergebnissen, betont gleichzeitig aber auch die Sinnlosigkeit von Kriegen.
Ignat Bakin/Znak: Als wäre es das Normalste der Welt führt Russland offizielle Gespräche mit den Taliban – die uns noch Anfang der 2000er Jahre den Krieg erklärt und diese Erklärung bis heute nicht annulliert haben. „Schizophrenie der gegenwärtigen russischen Diplomatie“ nennt das etwa Andrej Serenko, der Leiter des Zentrums zur Erforschung des modernen Afghanistan (ZISA). Noch viel ungeheuerlicher erscheinen diese Gespräche vor dem Hintergrund, dass in Russland Journalisten, Oppositionelle und Organisationen, die alles andere als terroristisch sind, zu „ausländischen Agenten“ erklärt und verboten werden.
Außenminister Sergej Lawrow hat erklärt, Russland werde keine Truppen nach Afghanistan schicken. Es gibt aber schon Informationen, dass wir Kriegsgerät nach Tadshikistan verlegen, wo Russlands Militärstützpunkt Nr. 201 Dienst tut. In den sozialen Netzwerken erkundigen sich Leute nach den Bedingungen für eine Entsendung als Vertragssoldat nach Tadshikistan. Wie bewerten Sie diesen Feuereifer unserer Landsleute?
Zu allen Zeiten wurden Ackerbauern, Dichter und sonstige Talente geboren, aber eben auch Krieger. Auch bei uns. Und dann gibt es welche, die gern in den Krieg ziehen, schließlich ist das leichter, als Felder zu bestellen. Wenn also irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute. Einige kämpfen vielleicht für eine Idee, doch denke ich, dass sich die meisten von profaneren Motiven leiten lassen.
„Wenn irgendwo ein Schuss fällt, sammeln sich sofort die unterschiedlichsten Leute“
Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass es vielen egal ist, auf wen sie schießen. Für Geld sind sie bereit, in jeden Krieg zu ziehen. Das ist 2014 mit dem Krieg im Donbass endgültig klar geworden.
Könnte es passieren, dass die Taliban Tadshikistan angreifen und für die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien zu einer unmittelbaren Gefahr werden?
Das ist nicht völlig unwahrscheinlich. Allerdings steht diese Frage heute nicht auf der Agenda. Die Menschen in Afghanistan haben vorläufig genug mit sich selbst zu tun. Wir müssen aber natürlich ernsthaft darüber nachdenken, was morgen passieren kann.
Es hat sich historisch ergeben, dass beträchtliche Abschnitte der afghanischen Grenze zu Tadshikistan und Usbekistan unbewacht sind. Dort gibt es sehr hohe Berge, die man ohne Bergsteigerfähigkeiten und entsprechende Ausrüstung nicht überqueren kann. Die Einrichtung vollwertiger Grenzschutzanlagen würde unglaubliche Anstrengungen und Investitionen erfordern. Selbst zu sowjetischen Zeiten musste man sich damit begnügen, in diesen Abschnitten ab und zu mobile Grenzschutzbrigaden abzusetzen, um Flagge zu zeigen: Man konnte nur so tun, als würde man eine Staatsgrenze bewachen. In einigen Abschnitten der tadshikisch-afghanischen Grenze ist der Amu-Darja nur wenige Meter breit. Dort kann selbst ein Jugendlicher sein Bündel ans andere Ufer werfen. Das macht auch den Schmuggel von afghanischem Heroin möglich, der für viele Länder immer noch eine beträchtliche Gefahr darstellt.
Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg in Afghanistan unter Beteiligung der Supermächte dieser Welt?
Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt: Schließlich bedeutet Krieg für sie Orden, Karriere und neue Waffen. Das ist ihr Leben. Und sie finden meist Argumente, um die Politiker davon zu überzeugen, sie schießen zu lassen. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass die kollektive Vernunft der Menschheit die Oberhand gewinnt und das Problem auf andere Weise gelöst wird.
„Wenn ein militärischer Konflikt ausbricht, finden sich immer und überall Generäle, die die Ärmel hochkrempeln, denen es in den Fingern juckt“
Was meinen Sie, belagern unsere Generäle bereits Wladimir Putin mit der Forderung nach einem Einmarsch in Afghanistan oder einer Beteiligung an einem Grenzkonflikt?
Sollten sie noch nicht an die Tore des Erlöserturms des Moskauer Kreml klopfen, so hegen sie doch höchstwahrscheinlich solche Gedanken, grübeln und kratzen sich ihre Generalsnacken.
Worum geht es Russland in Afghanistan? Um wirtschaftliche und politische Beziehungen, weil Afghanistan an der Grenze zu Zentralasien und dem Nahen Osten liegt? Oder ist das eine Region, in der kriegerische Auseinandersetzungen permanent zum Zerfall des Landes und zu Radikalisierung führen und in der immer wieder neue terroristische Gruppierungen entstehen?
Sowohl als auch. Russland hat seit Jahrhunderten sehr enge Beziehungen zu Afghanistan. Natürlich mussten bestimmte Strukturen in letzter Zeit aufgegeben werden, aber es gibt auf beiden Seiten Menschen, die intensiv zusammenarbeiten und Handelsbeziehungen pflegen. Die geografische Nähe legt nahe, dass die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit solcher Verbindungen im Vordergrund steht. Außerdem grenzt Afghanistan an die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, und alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen.
„Alles, was dort passiert, betrifft auf die eine oder andere Art auch unsere Interessen“
Es ist nicht auszuschließen, dass der Wind aus Afghanistan die Saat des religiösen Extremismus nach Tadschikistan, Usbekistan und sogar noch weiter trägt. Niemand kann garantieren, dass in Moskau nicht demnächst Gastarbeiter auftauchen, die solchen Ideen anhängen.
Wenn wir von Afghanistan sprechen, denken wir unweigerlich an den längsten Krieg in der sowjetischen Geschichte: den Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Ein Kontingent sowjetischer Truppen unterstützte damals die Streitkräfte der afghanischen Regierung im Kampf gegen die Mudschaheddin. Die militärische Präsenz der UdSSR ist bis heute umstritten, genauso wie die Sinnhaftigkeit der Unterstützung der USA für die Mudschaheddin. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen war der Bürgerkrieg in Afghanistan nicht beendet, sondern flammte mit neuer Kraft auf. Was meinen Sie, war der sowjetische Einmarsch ein Fehler?
Man kann es drehen und wenden, wie man will, es gibt nicht den geringsten, nicht einmal einen mikroskopisch kleinen Anlass, das Urteil anzuzweifeln, das der Erste Kongress der Volksdeputierten 1990 über den Afghanistankrieg fällte: Er war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion.
„Der Afghanistankrieg war ein tragischer und verhängnisvoller Fehler. Da gibt es keine Diskussion”
Als Sie für die Komsomolskaja Prawda arbeiteten, haben Sie sich aber freiwillig für Afghanistan gemeldet.
Ich bin ein Vertreter einer romantischen Generation. Trotz unserer Enttäuschung durch das sowjetische Regime hatten sich viele von uns eine romantische Illusion bewahrt: Wenn sich die „lichte Zukunft“ bei uns nicht einstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Sache hoffnungslos ist. Viele, vor allem Offiziere, sind freiwillig nach Afghanistan gegangen. Aber schon nach den ersten Tagen dort war von meinen Illusionen nicht mehr viel übrig. Und nicht nur von meinen – dieser Krieg war sinnlos.
„Die Jahre, die ich in Afghanistan verbrachte, waren die besten meines Lebens”
Wobei die Jahre, die ich dort verbrachte, die besten meines Lebens waren, die Zeit, in der ich beruflich maximal gefordert war. Ich danke dem Schicksal für alle Menschen, denen ich in der Armee begegnet bin. Und alles, was ich jetzt über diesen Krieg sage und denke, beruht auf meiner Einschätzung seiner Sinnhaftigkeit und seiner Folgen, gilt aber keinesfalls für die Soldaten, ihre treuen Dienste und ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung.
Was sind die Ziele der Taliban, die Anfang des Jahrtausends von US-Truppen ja beinahe vernichtet worden waren? Wollen sie in Afghanistan nun einen islamischen Staat aufbauen, der auf den Gesetzen der Scharia basiert?
Ich habe ihre Statuten, wenn man das so nennen kann, nicht gelesen. Aber eines weiß ich: Der Kampf um die Macht in Afghanistan, auch der bewaffnete, war schon vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Gange. Doch hat erst die Anwesenheit unserer Truppen aus diesen kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht – einen Dschihad. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wäre unsere Armee nicht in Afghanistan einmarschiert. Fakt ist aber, dass diese unüberlegte Entscheidung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU der Grund war, warum sich dieser Kampf zu einem Dschihad mit all seinen Folgen auswuchs. An vorderster Front standen die Glaubenskrieger, die Mudschaheddin oder, wie wir sie nannten, die Duschmany.
„Erst die Anwesenheit unserer Truppen hat aus kleinen Streitereien einen heiligen Krieg des ganzen Volkes gemacht“
Auf den Schultern der Mudschaheddin sind mit kolossaler Finanzierung der Amerikaner, mit chinesischer Hilfe und unmittelbarer Beteiligung Pakistans die Taliban entstanden. Aus den Taliban ging Al-Qaida hervor. Das Banner der Al-Qaida hat dann der IS übernommen. Die Kausalität ist für mich hier offensichtlich. Ohne das eine hätte es auch das andere nicht gegeben.
Die Nachricht kam freitags, Ende Juli: Wieder wurden einzelne Medien und Journalisten auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Nach den Solidaritätsprotesten Anfang des Jahres und angesichts der anstehenden Dumawahl geraten auch Medien in Russland immer stärker unter Druck: Die Politanalystin Tatjana Stanowaja konstatiert etwa, dass die unabhängigen Medien „zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden“. Auf der offiziellen Liste der „ausländischen Agenten“ unter Medienschaffenden und Medien jedenfalls stehen derzeit 34 Namen von Journalisten und Medien – 17 davon sind allein 2021 dazugekommen. Darunter sind das Exilmedium Meduza, VTimes und seit dem 23. Juli auch The Insider. An jenem Freitag, dem 23. Juli, wurden außerdem weitere Einzelpersonen auf die Liste gesetzt: Journalisten von Open Media, das von Michail Chodorkowski finanziert wird. Schon Mitte Juli wurde das Investigativmedium Projekt zur „unerwünschten Organisation“ erklärt, der Chefredakteur Roman Badanin und einzelne Mitarbeiter landeten ebenfalls auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“.
Als solche sind sie als Einzelpersonen etwa gezwungen, vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium zu senden, wofür sie als juristische Person registriert sein müssen. Sie sind verpflichtet, den Behörden Daten über ihre Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. Und sie müssen jedes Material, das sie veröffentlichen, mit einem speziellen Zusatz kennzeichnen, der deutlich macht, dass der Text von einem „ausländischen Agenten“ stammt – das gilt auch für ihre Posts in sozialen Medien.
The Village hat einzelne Journalisten von Open Media und Projekt gefragt, wie sie von ihrem Status als „ausländischer Agent“ erfahren haben – und was das mit ihnen, ihrer Arbeit und ihrem Leben macht. Nur wenige Tage nach den Interviews, am heutigen Donnerstag, 5. August, hat Open Media bekannt gegeben, die Arbeit ganz einzustellen.
dekoder bringt Auszüge aus fünf der Interviews in deutscher Übersetzung.
„Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen“
Olga Tschurakowa Ehemalige Journalistin bei Projekt Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021
Ich saß im Café und arbeitete, als mein Handy plötzlich nicht mehr aufhörte zu klingeln. Mein Name war in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen worden, Projekt hatte man zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt. Ich sprang auf, bekam plötzlich keine Luft mehr, fing an zu weinen, hatte eine Panikattacke. Die anderen Gäste taten, als wäre nichts. Ich glaube, sie haben mich nicht einmal bemerkt. Mir zerriss es förmlich das Herz, und die Leute aßen weiter ihr Mittagessen.
Am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen
Ich habe sofort meine Kollegen angerufen. Wir haben besprochen, was wir jetzt machen, was wir tun sollen. Ich hatte ein Gefühl von absoluter Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Du arbeitest, schreibst darüber, wie die Staatsbeamten stehlen und wie *** schlecht unser Staat funktioniert, und am Ende bist du der „ausländische Agent“ und nicht die Menschen, die sich wie die letzten Schweine benehmen. Zuerst hatte ich das Gefühl, dass die uns nicht kleinkriegen würden. In den ersten Stunden nach der Erklärung gab es viel Unterstützung, viele Nachrichten. Viele gratulierten sogar zu dem neuen Status, was sehr merkwürdig ist. In unserem pervertierten Staat ist die Erklärung zum „ausländischen Agenten“ wirklich so was wie eine Auszeichnung, aber wenn man das am eigenen Leib erfährt, wird einem klar, dass es da nichts zu gratulieren gibt.
Ich stand lange unter Schock – wir haben nicht damit gerechnet, dass man uns (die Journalisten von Projekt – Anm. d. Red.) als natürliche Personen zu „ausländischen Agenten“ erklären würde. Im Endeffekt wurde Projekt quasi dichtgemacht – mit so harten Maßnahmen hätte ich nicht gerechnet. Offensichtlich haben wir gute Arbeit geleistet, und die Machthaber hatten davon die Nase voll.
Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können
Gleich danach bin in den Urlaub gefahren, ins Ausland, und war plötzlich allein mit meinen Gedanken. Da kam eine große Enttäuschung und die Müdigkeit. Ich habe zehn Jahre lang für unabhängige Medien gearbeitet, habe versucht, die Gesellschaft auf die Probleme in unserem Staat aufmerksam zu machen. Jetzt werde ich faktisch aus meinem eigenen Land gedrängt, als wäre ich eine Verbrecherin. Und den Menschen ist immer noch alles egal. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Arbeit nicht mehr machen kann, weil sie offenbar niemand braucht. Warum sollte ich Journalismus machen, wenn er mein Leben zerstört hat? Nach diesem Urlaub hatte ich das erste Mal Angst, nach Hause zurückzukehren. Schon an der Grenze hatte ich Angst vor den Verhören und Durchsuchungen.
Ich bin so gut wie überzeugt, dass wir in Russland nicht mehr arbeiten, keine Recherchen mehr machen können, im Zweifel hängen sie uns Strafverfahren an, stecken uns ins Gefängnis. Ob ich im Ausland als Journalistin arbeiten will, habe ich für mich noch nicht raus. Und in Russland journalistische Recherchen zu machen, ist im Moment gefährlich, sinnlos und schlicht unmöglich.
„Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“
Ilja Roshdestwenski Korrespondent bei Open Media Satus als „ausländischer Agent“ seit dem 23.07.2021
Die Nachricht, dass ich zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, erreichte mich, als ich gerade den Helden meiner neuen Recherche beschattete. Ich hatte seit Stunden auf der Lauer gesessen, da schaute ich aufs Handy, sah die Nachricht, wurde traurig und saß dann noch circa anderthalb Stunden so da.
Es ist schwierig, sich auf so etwas vorzubereiten: Du bist die Medien, natürliche Person und „ausländischer Agent“. Mensch und Maschine. Man kann sich natürlich mit seinen Anwälten beraten, alle Anweisungen und Anordnungen des Justizministeriums lesen, aber selbst mit einer juristischen Ausbildung wird man nicht schlau daraus. Das Gesetz zu den „ausländischen Agenten” ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die Berichte zu schreiben und die russische Gesetzgebung zu befolgen.
Ich habe schon mit allen möglichen Juristen gesprochen. Wir haben abgesprochen, mit wem ich die Entscheidung des Justizministeriums vor den russischen Gerichten anfechten werde und wer mit mir vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht. Meine Anwälte werden mir helfen, mich als juristische Person registrieren zu lassen und im Oktober den ersten Bericht abzugeben, damit ich keine groben Fehler mache.
Das Gesetz ist so formuliert, dass es dir schwer gemacht wird, die russische Gesetzgebung zu befolgen
Das Justizministerium macht von einer interessanten Praxis Gebrauch – der Eintrag in die Liste wird Freitagabend bekannt gegeben. Am Samstag bin ich mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich jetzt „ausländischer Agent“ bin, dass ich buchstäblich einen Knebel im Mund habe. Der Status als „ausländischer Agent” ist wie eine schwere Krankheit. Du kannst dagegen ankämpfen und damit leben, aber es herrschen neue Bedingungen, die du erfüllen musst.
Wenn du einen Fehler bei der Berichterstattung machst oder bei Facebook den Vermerk vergisst, dass du „ausländischer Agent” bist, bestraft dich das Justizministerium zuerst mit einem Bußgeld. Der zweite Verstoß wird dann schon strafrechtlich verfolgt. Mir ist klar, dass man jeden hinter Gitter bringen kann, aber in meinem Fall ist diese Möglichkeit jetzt nicht mehr so illusorisch. Sie begleitet mich die ganze Zeit.
„Ich bin auch Agent der Führungsriege, das sollten die nicht vergessen“
Maxim Glikin stellvertretender Chefredakteur von Open Media Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021
Von der Ehrung mit dem Orden Inoagent habe ich während der Arbeit erfahren, als ich die Redaktion eines Artikels beendet hatte und gerade mit dem nächsten beginnen wollte. Ich weiß nicht, warum ich auf dieser Liste gelandet bin – ich mache keinen investigativen Journalismus, von mir gibt’s keine öffentlichen Erklärungen, ich bin nicht auf Twitter. Wobei ich die Logik der Machthaber verstehe, schließlich bin ich stellvertretender Chefredakteur und verantworte das Politikressort, und das macht sie sehr nervös.
Natürlich hat es mich schockiert, dass ich jetzt auf der Liste stehe. Zunächst habe ich mich in den Medien nicht darüber geäußert, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich mich dazu verhalten soll.
Kürzlich war ich dann auf einem Lyrik- und Konzertabend meiner Frau (der Dichterin Sara Selzer – Anm. d. Red.). Da kommen Gäste auf mich zu und wollen mit mir anstoßen. Nach dem Motto: „Ich stoße grad das erste Mal im Leben mit einem „ausländischen Agenten“ an. Das war schon lustig. Aber ich bin nicht euphorisch, mir ist klar – die Aufmerksamkeit wird schwinden, und ich stecke da immer noch drin.
Ich bewundere den Mut von Roman Dobrochotow (Chefredakteur von The Insider, der ebenfalls zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde – Anm. d. Red. ) und unterstütze ihn, aber ich kann nicht wie er sagen: „Ich pfeife auf diesen ganzen Inoagenten-Kram, ich schreib denen nichts.“ Ich bin weniger prominent, ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam, aber wenn sie verlangen, noch zehnmal mehr zu machen, werde ich es tun, solange ich genug Kraft und Zeit habe. Ich bleibe bei Open Media. Ich bin nicht sicher, ob ich bei anderen Medien in Russland einsteigen könnte, wenn ich diese Stelle verliere. Früher habe ich Dokumentarfilme gemacht und Bücher geschrieben – vielleicht mach ich dann damit weiter. [Wenige Tage nach dem Interview, am 5. August 2021, hat Open Media seine Arbeit offiziell eingestellt – dek]
Ich werde alles genau notieren und Rechenschaft ablegen. Das ist natürlich enorm mühsam
In den Augen der Machthaber bin ich Agent irgendwelcher ausländischer Interessen, und teilweise stimmt das. Aber gleichzeitig war ich Agent der russischen Machthaber und der Gesellschaft insofern, als ich alle möglichen Positionen, Meinungen und Nachrichten verbreitet habe. Die gesamten 30 Jahre meiner journalistischen Karriere habe ich über die Meinungen russischer Staatsbeamter informiert: in Interviews mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, dem Chefideologen des Kreml Wladislaw Surkow und vielen anderen. Insofern bin ich auch ein Agent der Führungsriege unseres Landes, und das sollten sie nicht vergessen.
„Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht“
Julia Jarosch Chefredakteurin von Open Media Status als „ausländische Agentin“ seit dem 15.07.2021
Seitdem wir bekannt gegeben hatten, dass Michail Chodorkowski Open Media finanziert, ist unser Leben nicht mehr so ruhig. Wir konnten zwar im Prinzip arbeiten, unsere Quellen haben mit uns kommuniziert, aber es gab immer wieder Schwierigkeiten. Zum Beispiel haben wir keine Zulassung von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor bekommen.
Als ich erfuhr, dass ich und meine Kollegen auf dieser Liste stehen, war ich zwar nicht schockiert, aber ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Die Durchsuchung bei Roman Dobrochotow und die Beschlagnahmung seines Reisepasses waren eine absolute Grenzüberschreitung.
Ich hatte das Gefühl, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden
Auf der einen Seite gibt es Menschen, die ganz wild darauf sind, ihre Loyalität gegenüber der Regierung zu demonstrieren. Auf der anderen Seite gibt es eine Schar von verstörten Journalisten, die versuchen, sich an die Gesetze zu halten, auch wenn sie sie für ungerecht halten. Das Leben zeigt aber, dass das nicht ausreicht: Man kann drei Anwälte haben, aber das schützt einen am Ende auch nicht. Bei diesem Gedanken wird einem schon ziemlich bang.
„Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden“
Pjotr Manjachin, Ehemaliger Autor bei Projekt Status als „ausländischer Agent“ seit dem 15.07.2021
Das ist alles ganz banal. Ich habe aus den Nachrichten erfahren, dass ich in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen wurde. Ich war erstmal geschockt. Hatte keine Ahnung, was passiert, es war komisch, schrecklich und unklar.
Gerade mache ich Urlaub in der Natur. In der Oblast Nowosibirsk. Wenn ich zurückkomme, mache ich mir Gedanken wegen der Arbeit – das ist gerade noch völlig unklar. Ich bin geneigt, meine Karriere als Reporter zu beenden, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll, außer in Medien, die ebenfalls als „ausländische Agenten“ gelten. Verständlicherweise werden nur sehr wenige Medien bereit sein, immer jene 24 Wörter voranzustellen: „Diese Mitteilung wurde erstellt (oder verbreitet) von … der/das eine Funktion als ausländischer Agent innehat … “
Ich kann mir nicht vorstellen, wie man mit diesem Ausländischer-Agent-Balken irgendwo publizieren soll
Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt immer im Fokus bin. Es ist nicht so, dass die Organe der Staatsmacht sich nicht auch schon vorher für mich interessiert hätten. Aber wenn man bedenkt, dass ich innerhalb vieler tausender Kilometer der einzige „ausländische Agent“ bin [Pjotr lebt in Sibirien – Anm. d. Red.], werden sie sich jetzt doppelt so so sehr für mich interessieren. Das wird natürlich nicht nur auf der Arbeit so sein – jeder beliebige Text von mir muss gekennzeichnet werden, auch etwa ein wissenschaftlicher Artikel. Ich hab keine Ahnung, was ich da machen soll. Bei juristischen Fragen hilft mit das Zentrum zum Schutz der Rechte von Medien. Wir werden eine juristische Person anmelden und dann weiter all diese dämlichen Rechenschaftsforderungen erfüllen.
Ich habe nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums
Auszuwandern ist die gleiche Option wie Tod oder Gefängnis. Es ist albern zu denken: „Ich gehe, wenn es dann völlig eskaliert, aber jetzt geht es noch …“ So schiebt man das alles ständig auf, darum bleibe ich in Sibirien. Das ist meine vertraute Heimat, ich bin bewusst nicht von hier weggegangen vor sechs Jahren, als ich die Schule abgeschlossen habe. Und ich habe auch jetzt nicht vor, diese Heimat zu verlassen, nicht wegen einer Entscheidung des Justizministeriums oder sonst irgendetwas.