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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Kafkas Schloss und Medwedews Villen

    Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. 
    In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.

    Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt. 

    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. 
    Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. 
    Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.

    Null Rubel für Hilfsaktionen

    Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.

    Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.

    Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.

    Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche

    Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.

    Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.

    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube
    Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

    Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.

    Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.

    Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert

    Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.

    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.

    749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden

    Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret.
    Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.

    Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden.

    Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.

    Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.

    Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden

    Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.

    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.

    Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka

    Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.

    Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ … und legte auf.

    Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.

    Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.

    Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort

    Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.

    Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.

    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta
    Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

    Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.

    Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben

    Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.

    Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“

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    Es waren auffällig viele junge Leute: Teenager und Schüler. Manche hatten ihre Gesichter grün bemalt, manche hielten Schildchen mit Badeenten darauf in die Höhe. Und sie waren fast überall: nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in Jekaterinburg, in Nowosibirsk, in Wladiwostok und vielen weiteren Städten in den russischen Regionen. Beobachter sprechen von den größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/2012.

    „Ich vermute, auch Putin und Nawalny sind verblüfft vom Ausmaß der Anti-Korruptions-Proteste“, twitterte Spiegel-Korrespondent Christian Esch am Sonntag aus Moskau. 

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny war es, der zu den Protesten aufgerufen hatte. Zuvor hatte sein Fonds für Korruputionsbekämpfung (FBK) einen Bericht über Premier Medwedew veröffentlicht. Das Video auf Youtube hat nach dreieinhalb Wochen derzeit über 12,5 Millionen Klicks. 

    Bei den Protesten am Sonntag griff die Polizei durch, zumal die Demonstrationen meist nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden waren: Allein in Moskau gab es laut Menschenrechtlern rund 900 Festnahmen, die Polizei spricht von etwa 500. Jugendliche filmten noch aus Polizeiwagen heraus, die Videos wurden über das Internet verbreitet.

    Auch Nawalny selbst war während der Proteste am Sonntag in Moskau verhaftet worden, wurde am heutigen Montag dem Richter vorgeführt und zu einer Strafe von 20.000 Rubel [rund 320 Euro] verurteilt. Außerdem muss er für 15 Tage in Haft.

    Auftrieb für die Proteste dürfte außerdem auch der Videomitschnitt einer Diskussion über Nawalny und andere politische Themen zwischen Schülern und Lehrerinnen in der Oblast Brjansk gegeben haben. Das Video, von Nawalnys Wahlkampfteam vergangene Woche im Netz verbreitet, wurde zum Hit, die selbstbewussten Schüler zu „Helden des russischen Internets“. 

    Ein ereignisreiches Wochenende, und nicht nur in Russland: In Belarus, wo seit Wochen protestiert wird, griff die Staatsmacht am Samstag durch. Hunderte wurden verhaftet, die Polizei ging teilweise sehr brutal gegen die Demonstrierenden vor. 

    Während russische Staatsmedien kaum berichten und die landesweiten Proteste darin weitgehend marginalisiert werden, kommentieren vor allem unabhängige Medien: Nawalny, der Retter Russlands? Frühlingserwachen der russischen Zivilgesellschaft? Was wird bleiben von den Protesten?

    Moskowski Komsomolez: Putin ist in der Pflicht

    Das Massenblatt Moskowski Komsomolez sieht Wladimir Putin nun vor großen Herausforderungen:

    [bilingbox]Der Präsident trägt in unserem Land die komplette Verantwortung. Er ist unmittelbar verpflichtet, seine Untergebenen bei der Stange zu halten. Am Vorabend der Wahlen vom 26. März 2000 erklärte WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] den Bürgern in einer TV-Sondersendung: „Wir wählen einen Präsidenten, der dazu verpflichtet ist, dem Land wieder zu Ansehen zu verhelfen.“ Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews, die bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind, haben zwar kaum das Ansehen unseres Landes beeinflusst, haben aber das Ansehen der russischen Machthaber eindeutig ruiniert. Mal sehen, ob Wladimir Putin das wieder aufbessern kann.~~~Президент в нашей стране отвечает за все. Держать в тонусе своих подчиненных – это прямая обязанность Владимира Владимировича Путина. Накануне выборов 26 марта 2000 года ВВП заявил в специальном телевизионном обращении к гражданам: “ Мы выбираем президента, чья обязанность – вернуть стране ее престиж”. Оставшиеся пока без содержательного ответа обвинения Навального в адрес Медведева вряд ли повлияли на престиж страны, но вот престиж российской власти они точно уронили. Посмотрим, сумеет ли Владимир Путин вновь его поднять.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Kommersant: Der Kreml hat die Wahl  

    Auch Stanislaw Kutscher schaut in der Tageszeitung Kommersant auf die mögliche Reaktion des Kreml – und sieht es dabei als entscheidend an, wen mögliche Strafmaßnahmen treffen werden:

    [bilingbox]In der Bevölkerung herrscht ein klares Bedürfnis, gegen die Korruption anzukämpfen – das zu ignorieren ist unmöglich. Deswegen wäre meines Erachtens die klügste Reaktion seitens der Regierung, erneut eine demonstrative Antikorruptionskampagne loszutreten.

    Kurz gesagt, der Kreml hat die Wahl, und die lautet ganz einfach: Wer wandert ins Kittchen?
    ~~~Запрос общества на борьбу с коррупцией очевиден, игнорировать его невозможно, а потому самым умным ответом – на мой взгляд – была бы очередная демонстративная антикоррупционная кампания со стороны самой власти.

    Итак, если коротко, повторю, у Кремля есть выбор, и формулируется он просто: кого сажать?

    [/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Republic: Ein Teufelskreis

    Für Oleg Kaschin dagegen scheint klar, dass auch die neue Generation der Protestierenden nichts ausrichten kann. Auf auf dem unabhängigen Portal Republic schreibt er:

    [bilingbox]Völlig verständlich ist der Enthusiasmus derer, die den vereinten Protest vor fünf Jahren genug beweint haben und jetzt plötzlich die neuen Gesichter auf der Twerskaja entdeckt haben. Ein Generationenwechsel dieser Art allerdings, bei der jede vorige Generation die nächste anschaut und hofft, ihr möge das gelingen, was den Älteren nicht gelang – das ist ein klassischer breit angelegter Entwicklungsweg, der beinahe garantiert, dass irgendwann zur Hälfte der nächsten Amtszeit Putins schon eine neue Jugend antreten wird. Und die, die heute auf der Twerskaja waren, werden ihnen zuschauen mit genau den Hoffnungen, mit denen die ehemalige Bolotnaja-Bewegung auf die heutigen Teenager schaut. Es mutet an wie ein Teufelskreis, was sich da gerade hinter neuen Gesichtern verbirgt, die aber sowieso nichts erreichen werden. […]

    Demokratien vermeiden ihr Zerbersten mithilfe von Machtwechseln. Der russische Autoritarismus (lässt er sich noch mit einem anderen vergleichen?) vermeidet das Zerbersten, indem er alle fünf Jahre die Teilnehmer auf Protestkundgebungen auswechselt.~~~Понятен энтузиазм тех, кто успел оплакать слитый протест пять лет назад и вдруг увидел новые лица на Тверской. Но смена поколений в таком формате, когда каждое предыдущее поколение смотрит на новое и надеется, что у него получится то, что не получилось у старших – это классический экстенсивный путь развития, почти гарантирующий, что где-нибудь к середине следующего путинского срока придет уже новая молодежь, а те, кто был сегодня на Тверской, будут смотреть уже на нее с той же надеждой, с которой бывшая Болотная смотрит на тинейджеров сегодня. Ощущение замкнутого круга прячется теперь за новыми лицами, но все равно никуда не девается.
    […] 
    Демократии избегают взрыва с помощью ротации власти. Российский авторитаризм (и с кем его здесь сравнить?) избегает взрыва с помощью ротации людей на протестных митингах раз в пятилетку.[/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Colta: Korruption ist der Zündstoff

    Jegor Sennikow sieht auf colta.ru die Korruption als Zündstoff und gleichzeitig als Klammer, die viele im Land vereint:

    [bilingbox]Vergessen darf man allerdings auch nicht, dass das Thema Korruption als Zündstoff für die heutigen Proteste gedient hat, und dies gänzlich vom Zettel zu streichen wäre falsch. […]

    Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde vielen klar, dass du zwar gleichzeitig die Spielregeln beachten und den vorgesehenen Abläufen folgen kannst, aber als Reaktion erntest du weder aufrichtiges Mitgefühl noch das geringste bisschen Gerechtigkeit, auch in der Rechtsprechung. Das alles ist so durchsichtig, dass es sowohl Schüler verstehen, die von ihren Lehrern bearbeitet werden, als auch Rentner, die das Fernsehen bearbeitet. […] 
    Ganz sicher ist jedoch, dass in Russland – und zwar nicht nur in Moskau und Petersburg – eine neue gesellschaftliche Bewegung herangereift ist.~~~Но нельзя забывать и то, что коррупционная тема послужила запалом сегодняшних протестов — и скидывать ее со счетов целиком совсем не стоит. […] В какой-то момент многим стало понятно, что ты можешь играть по правилам и следовать установленным процедурам, но в ответ ты не дождешься ни искреннего сочувствия, ни хотя бы условной справедливости и правосудия. Символ этот такой зримый, что понятен и школьникам, обрабатываемым своими учителями, и пенсионерам, обрабатываемым телевизором. […]
    [Но] о чем можно говорить сегодня совершенно точно, что в России — а не только в Москве или в Петербурге — вызрело какое-то новое общественное движение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Vorsicht Falle!

    Die regierungsnahe Komsomolskaja Prawda warnt vor der Teilnahme an den ungenehmigten Protestaktionen:

    [bilingbox]Ganz offensichtlich war es kein friedlicher Spaziergänger, der den Polizisten geschlagen hat. Wahrscheinlich war es ein Aktivist aus dem Lager, das zu der illegalen Demonstration aufgerufen hatte. Der Täter konnte untertauchen, nun wird er anhand von Bildern der Überwachungskameras gesucht.

    Das ist die Lektion für alle, die auf nicht genehmigte Demos gehen: Leute, vielleicht steht ihr einfach nur da und seid ganz friedlich. Aber man kann euch leicht in eine Falle locken und in Krawalle hineinziehen.~~~И бил полицейского явно не мирно гуляющий прохожий. Наверняка это был активист из лагеря тех, кто собирал незаконный митинг. Он успел скрыться, его ищут по изображениям с камер наблюдения…
    И это урок тем, кто выходит на несанкционированные шествия — ребята, вы, может, и будет просто стоять, никого не трогая. Но вас могут легко подставить, втянуть в беспорядки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Echo Moskwy Blog: Nawalny fehlt ein Plan

    Kristina Potuptschik, bis 2012 Pressesprecherin der Jugendorganisation Naschi, galt für viele als die Personifizierung der sogenannten Kreml-Blogosphäre. Seit einigen Jahren hört man von ihr gemäßigte Töne. Auf ihrem Echo-Blog kann sie der oppositionellen Euphorie nur wenig abgewinnen:

    [bilingbox]Sehr viele Jugendliche waren da, Schüler von gestern und heute. Der wichtigste Ort war Piter und nicht Moskau. Das sind die Hauptunterschiede zu Bolotnaja. Außerdem gab es damals nach den Protesten dieses deutliche Empfinden: Es passiert etwas. Das fehlt diesmal. […] Nawalny steckt in einer misslichen Lage: Die Menschen haben sich getroffen, sind wieder auseinandergegangen, und dann? Nichts. Nawalny hat dem Protest nichts anzubieten, kein Programm und keinen Handlungsplan. Und das begreifen sogar die Schüler.~~~Очень много молодежи, вчерашних и нынешних школьников. Главным городом стал Питер, а не Москва. Эти же пункты — главные отличия от Болотки. А еще то, что тогда после протестов было четкое ощущение — что-то Происходит. Сейчас такого ощущения нет. […] И Навальный сейчас в ситуации крайне неудачной — ну погуляли, ну разошлись, а дальше что? А дальше — ничего. Предложить Навальный протесту ничего не может, программы и плана действий у него нет, и понимают это даже школьники.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Alexander Morosow: Geschichte geschrieben

    Der renommierte Politologe Alexander Morosow dagegen zollt auf seinem facebook-Account dem umstrittenen Oppositionspolitiker Nawalny allen Respekt: 

    [bilingbox]

    Wie auch immer das alles ausgeht – die heutige Aktion in 80 Städten wird in die politische Geschichte Russlands eingehen. So viel  ist bereits klar. […]

    Drei Jahre schon publiziert Nawalny Anti-Korruptions-Materialien. Mit dem Beginn seiner spielerischen Wahlkampagne und nun dem Video über Dimon hat Nawalny ordentlich politisch Kapital geschlagen. Er ist ohne jegliche Übertreibung ein großer Zeitgenosse. Gehörigen Respekt verschaffen ihm sein Verstand, seine Beharrlichkeit und seine geniale Medienkompetenz.~~~Чем бы это все не закончилось, но сегодняшняя акция в 80 городах войдет в политическую историю РФ . Это уже ясно. […]
    Трехлетнюю историю антикоррупционных публикаций Навальный мощно капитализировал одним роликом про димона и началом своей игровой президентской кампании. Он без всякого преувеличения великий современник. Вызывают огромное уважение его ум, упорство и медиа-гениальность.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Batscho Kortschilawa: Ukraine als Vorbild

    Batscho Kortschilawa ist ehemaliger Presseattaché der georgischen Botschaft in der Ukraine. Auf seinem facebook-Account kommentiert er die Proteste in Russland und Belarus, dabei schreibt er der Ukraine eine wichtige Rolle zu:

    [bilingbox]Werden die aktuellen Demonstrationen in Russland und Belarus irgendetwas verändern? In den nächsten Jahren nicht. Weil Derartiges dort regelmäßig passiert, aber ohne jedes Ergebnis.

    Wisst ihr, warum ich nicht daran glaube, dass sich in den beiden Ländern – besonders in Russland – aktuell irgendwas verändern wird? Ganz einfach: Weil dort bisher Positiv-Beispiele im großen Maßstab fehlen. Die baltischen Länder und Georgien können hier nicht als Vorbild dienen. Aber falls die Ukraine zu einem entwickelten, wirtschaftlich starken, stabilen und demokratischen europäischen Staat werden sollte, könnte sie nicht nur zum Vorbild, sondern auch zum Impuls für große Veränderungen werden. Und erst dann wird es zu einer Demontage der derzeitigen Regimes in Belarus und Russland kommen. Aber in der gegenwärtigen Lage braucht ihr nicht zu erwarten, dass sich dort irgendetwas verändert.

    Veränderungen in der gesamten Region werden von der Ukraine ausgehen und nicht anders. Und falls solche Veränderungen beginnen, dann wird die UKRAINE zum echten Anführer der Region. ~~~Изменят ли что то в России и Белорусии митинги которые проходят? В ближайшие годы нет. Потому что такое переодически там происходит, но не имеет никакого результата. 
    Знаете почему я не верю в то что сейчас в этих двух странах, а особенно в России может что-то изменится? Ответ прост – у них нет пока положительного примера в большом масштабе. Страны Балтии и Грузия для них примером служить не может. А вот пример Украины, если она сможет стать развитым, экономически сильным, стабильным и демократическим европейским государством, сможет послужить не только примером, но и импульсом к большим изменениям. И только тогда произойдёт демонтаж тех режимов, которые сейчас в Белорусии и России. 
    А пока так как есть, не ждите что там что-то изменится. Изменения во всем этом регионе начнутся с Украины, и никак по другому. А если такие изменения начнутся, то УКРАИНА станет реальным лидером региона.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    dekoder-Redaktion

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  • Herausforderer Nawalny

    Herausforderer Nawalny

    Die Nachricht, dass Alexej Nawalny für das Präsidentenamt kandidieren will, war vor allem in den unabhängigen Medien des Landes ein großes Thema; staatsnahe Medien meiden ihn gewöhnlich als aktiven Politiker. Den Mann, der sich vor allem mit investigativen Recherchen zu Korruption unter den Mächtigen einen Namen gemacht hat. Vor drei Jahren hat er außerdem bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen als Polit-Newcomer gezeigt, dass er Stimmen mobilisieren kann, wenn man ihn machen lässt. Damals erhielt er 27 Prozent. Um sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten zu registrieren – die Wahl ist voraussichtlich im März 2018 – benötigt er jetzt 300.000 Unterstützerunterschriften aus mindestens 40 Regionen Russlands.

    Er positioniert sich zu einem Zeitpunkt, den Beobachter als ganz bewusst gewählt sehen: Nawalny ist in den vergangenen Jahren in zwei umstrittenen Gerichtsverfahren zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Aktuell wird eines der beiden Strafverfahren gegen ihn – der Fall Kirowles – wieder aufgerollt. Vor drei Jahren war es genau dieser Prozess, der wie ein Damoklesschwert schon über der Kandidatur um das Bürgermeisteramt in Moskau schwebte.

    Wie nun seine Ambitionen auf das Präsidentenamt bewertet werden, will die unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta wissen. Drei gefragte Kommentatoren des politischen Geschehens in Russland antworten.

    Bringt sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 in Stellung – Alexej Nawalny / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Bringt sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 in Stellung – Alexej Nawalny / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexej Nawalny hat seine Absicht erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Obwohl die Wahlkampagnen der Kandidaten für gewöhnlich ein Jahr vor den Wahlen beginnen, haben Nawalnys Leute bereits ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Das hat schon die Webseite Nawalny 2018 eingerichtet sowie mit Spendensammlungen und der Suche nach freiwilligen Helfern begonnen.

    So ist Nawalny in diesem Augenblick ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, er steht aber auch im Mittelpunkt eines neuen Strafverfahrens. Ziel der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Kirowles vor dem zuständigen Gericht in Kirow, so hatte Nawalny zuvor geäußert, sei es, seine mögliche Kandidatur zu verhindern.

    Im November dieses Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow aufgehoben. Die Akten werden nun erneut geprüft. Glaubt man ihren Anwälten, wird dieser Prozess haargenau wie der letzte ablaufen, sprich: mit einem Schuldspruch enden. Das sind aber bislang nur Prognosen.

    Der Kreml reagierte auf Nawalnys Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, ausgesprochen nüchtern. Auf die Frage eines Journalisten, welche Haltung man dazu habe, meinte Dimitri Peskow, Sprecher des Präsidenten, nur: „Gar keine.“

    Was wird nun aus dem Prozess im Fall Kirowles?

    Dimitri Oreschkin: Nawalny ist ein sehr vernünftiger Mensch. Deswegen hat er die Ankündigung genau abgewogen. Ich denke, dieser Zug wird seine Position nicht schwächen, sondern eher stärken. Wenn man einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten fertigmacht, reagieren sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Menschen im Land anders. Und zwar auch in Bezug auf sein Gerichtsverfahren. Denn nun wird das bedeuten, dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat vor Gericht gestellt wird.

    Ekaterina Schulmann: Nawalnys Ankündigung stellt das Gericht und diejenigen, die auf das Gericht Einfluss nehmen könnten, vor die Wahl: Entweder sie lassen seine Teilnahme bei den Präsidentschaftswahlen zu oder verbieten sie. Genau das ist proaktives Handeln: Wenn du weniger Ressourcen als deine Gegner hast, aber auf eine Art vorgehst, dass sie auf deine Schritte reagieren müssen und nicht andersherum. Eine Verurteilung würde sofort die Agenda des bevorstehenden Wahlkampfes vorgeben. Und zwar in einer Richtung, die Nawalny in die Karten spielt, und eben nicht den Plänen, die man im neuen innenpolitischen Block der Präsidialverwaltung hat.

    Gleb Pawlowski: Diese Ankündigung ist ein selbständiger politischer Schritt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass es gar nicht zu einer tatsächlichen Kandidatur kommt. Wichtig ist vielmehr, dass Nawalny sich damit die Führungsrolle in einer politischen Phase gesichert hat, die im kommenden Jahr beginnt und bis zur Präsidentschaftswahl andauern wird. Er ist führender Kopf in dieser Übergangsphase und Herr über die Agenda. Er hat seine Absicht verkündet, Präsident zu werden. Damit steht er als Erster da, denn Putin hat sich noch nicht erklärt und andere auch nicht. Nawalny gibt sozusagen das Tempo vor und bestimmt die Richtung. Und das bedeutet eine führende Position in der Politik.

    Vor Gericht ist er jetzt eine wesentlich gewichtigere Figur als früher. Ich denke, das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es bei seinem Prozess zu einer zufälligen Entscheidung kommt. Nawalny steht jetzt zweifellos auf Putins persönlicher Liste. Ich nehme zwar an, dass er da auch schon vorher zu finden war, aber jetzt ist Putin de facto der einzige, der eine Entscheidung darüber treffen kann, wie man mit Nawalny umzugehen hat. Nawalnys Position wird dadurch gefestigt. Wir leben schließlich in Russland und mit Hilfe der Staatsmacht kann Nawalny durch tausenderlei Mittel aufgehalten werden, attackiert, überfallen, eingesperrt … Aber darum geht es nicht. Jeder Schlag gegen ihn würde alle Präsidentschaftskandidaturen treffen – das ist das Neue der politischen Situation.

    Wie stehen denn überhaupt Nawalnys Chancen bei den Präsidentschaftswahlen?

    Dimitri Oreschkin: Er ist aktiv und bestimmt gern selbst die Spielregeln. Er stellt die Präsidialverwaltung vor die Wahl, die nun entscheiden muss: ihn zuzulassen oder nicht (und wenn nicht, in welcher Phase) und ihn hinter Gitter zu bringen oder nicht. Voraussagen sind da zwecklos. Alles hängt, grob gesagt, davon ab, was für Gedanken in den Schädeln von ein paar Leuten kreisen. Vielleicht werden sie dasselbe versuchen wie bei den Wahlen 2013 in Moskau, als sie Nawalny bei der Kandidatur sogar geholfen haben. Er hatte einen guten Auftritt damals – trotzdem hat der gewonnen, der gewinnen sollte.

    Auf föderaler Ebene wird Nawalny es viel schwieriger haben, und alle wissen das. Dort ist sein Bekanntheitsgrad sehr viel geringer: Er ist nicht im Fernsehen präsent und damit auch nicht in den Köpfen der Bevölkerung. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Internet gehen, interessieren sich nicht besonders für Politik oder Nawalny.

    Ich denke – selbst wenn man ihn nicht allzu sehr behindert – wird es für ihn schwer, auch nur auf zehn Prozent zu kommen.

    Andererseits ist er ein ausgesprochen begabter Politiker, wenn es um das Gespräch mit den Wählern geht. Er schafft Dinge, die kein anderer an seiner Stelle hinkriegen würde. Die Kreml-Strategen müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Aber es wird keine drastischen Entscheidungen geben, denke ich. Äußerlich wird sich das kaum abzeichnen, aber im Innern denken sie schon jetzt darüber nach, wie sie vorgehen sollten.

    Nawalny braucht vier Arten von Ressourcen: Die erste, die administrative, wird in seiner Lage kaum eine Rolle spielen. Bei der zweiten, dem Geld, ist es ebenfalls schwierig, weil er sich nicht verdeckt finanzieren kann und ihm kaum jemand offen Gelder geben wird, aus Angst. Bei der dritten, dem Organisatorischen, sieht es auch eher schlecht aus, weil er in den Regionen bisher kaum über ein ernstzunehmendes Netzwerk verfügt. Und bei den letzten, den medialen Ressourcen, bezweifle ich, dass man ihn ins Fernsehen lassen wird. Es wird ihm also wohl oder übel nur das Internet bleiben.

    In Moskau konnte er mehrere Kundgebungen pro Tag abhalten und die Administrative Ressource hat ihn nicht daran gehindert. In den Regionen aber wird man das zweifellos tun: hier verhindern, dass er es zu einem Treffen mit den Wählern schafft, dort den Strom abschalten, Sachen dieser Art. Außerdem kann er gar nicht alles schaffen – bei 85 Föderationssubjekten.

    Er ist also in einer schwierigen Situation. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, wie der Kreml reagieren wird. Sie könnten dort denken: Soll sich der Kerl doch abstrampeln, damit er seine paar Prozent bekommt; anschließend sind alle Fragen erledigt.  

    Ekaterina Schulmann: Nawalny war bei den letzten Parlamentswahlen nicht dabei. Dadurch blieb er unberührt vom Schatten der Niederlage und des allgemeinen Versagens, der von Beginn an und bis zum Schluss über dem Wahlkampf [der außerparlamentarischen Opposition – dek.] lag. Aus polit-taktischer Sicht war das ein sehr kluger Schritt. Bekanntlich werden in der Präsidialverwaltung viele Varianten diskutiert, wie man die Menschen zum Wählen animieren und den Wahlen damit Legitimität verleihen kann. Eine dieser Varianten lautet: reale Konkurrenz mit starken Kandidaten, und nicht mit jenen, die schon seit zwanzig Jahren kandidieren. Ab jetzt gibt es nur noch zwei Szenarien – mit Nawalny oder ohne ihn.

    Gleb Pawlowski: Aktuell ist Nawalny die stärkste politische Figur im Land. Wir müssen heute von einer neuen politischen Bühne sprechen, die bisher ein einziger betreten hat. Er hat einen Schlussstrich gezogen und verkündet: „Das vorige Zeitalter ist vorbei, wir beginnen ein neues. Das Zeitalter, in dem Putin abtritt.“ Nawalny hat dort seinen Platz eingenommen, andere werden ihm folgen müssen. Auf das Feld der realen Probleme des Landes, denn Putin wird so oder so tatsächlich abtreten. Und deswegen braucht es Klarheit darüber, was nach seinem Abgang passieren soll.

    Nawalny hat gewissermaßen eine vorübergehende Gleichwertigkeit mit Putin erreicht. Als jemand, der ein Programm, eine Strategie für die Zukunft anbietet. Aber er wird sie nicht halten können, weil er sich verzetteln und wieder auf das Niveau eines Jawlinski herabrutschen wird, der ja auch einmal eine wichtige Figur gewesen ist.

    Jede Ankündigung, Putin 2018 herausfordern zu wollen, ist oppositionell, selbst wenn es Medwedew wäre, der sie vorbringt. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass einer den Zug verpasst hat. Nawalny hat an den letzten Wahlen nicht teilgenommen, deswegen bleibt ihm das Los der anderen oppositionellen Kräfte erspart, den Misserfolg verantworten zu müssen. Das wird jetzt zu einer Ressource für ihn.

    Könnte Nawalny zum alleinigen Kandidaten der Opposition werden?

    Dimitri Oreschkin: Grigori Jawlinski hat hier ein Problem, nämlich dass Nawalny zwei bis drei Mal mehr Stimmen holt als er. Einfach, weil er neu ist und Jawlinski alt; ich meine natürlich nicht sein biologisches Alter, sondern dass er im Bewusstsein der Wähler mit den Neunzigern assoziiert wird. Ob er damals Gutes oder Schlechtes getan hat, ob er sich richtig oder falsch verhalten hat, das ist mittlerweile egal. Es ist einfach Schnee von gestern. Und selbst wenn Nawalny dasselbe sagt – obwohl er es härter oder vielleicht konkreter formuliert –, dann steht es für ihn drei zu eins gegen Jawlinski, wie man es auch dreht und wendet. Sowohl Jawlinski als auch Kassjanow sind schon zu lange da und das Verhältnis der Wähler zu ihnen sieht in etwa so aus: „Euch Jungs haben wir schon seit 25 Jahren vor der Nase.“ Nawalny ist neu. Wie er aber diese Karte ausspielen kann, ist eine andere Frage.

    Ekaterina Schulmann: Wichtig ist die Unterstützung derjenigen, die über Ressourcen verfügen. Die Opposition ist derzeit nicht in der Lage dazu. Parnas ist von der Bildfläche verschwunden, die Ressourcen von Jabloko liegen in den regionalen Parteiorganisationen, und die konnten bei der letzten Wahl nicht beweisen, dass sie irgendwie Wähler mobilisieren könnten.  

    Gleb Pawlowski: Natürlich könnte die Opposition ihn unterstützen, nur wird das 2018 niemanden interessieren. Tut es ja auch jetzt schon nicht. Es wäre ein Kampf im Bereich von einem Prozent. Auf die wird es möglicherweise ankommen, wenn die Regierung Nawalny von den Wahlen ausschließt. Doch auch in dem Fall wird die Regierung ihm seine Führungsrolle nicht nehmen können, solange er selbst keine Fehler macht.  

     

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