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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets. Im Inforauschen rund um den Fall Nawalny tauchte irgendwann sogar die Version auf, der Oppositionspolitiker sei womöglich in Berlin vergiftet worden. 

    Doch warum das Argument, man habe keine giftige Substanz nachweisen können, gerade dann nicht gelten kann, wenn es um eine Vergiftung durch Nowitschok geht, zeigt eine Recherche von Roman Schleinow für Washnyje istorii und Novaya Gazeta. Warum hätten die russischen Ärzte aufgrund der Symptome Nawalnys sehr wohl auf eine Vergiftung durch Nowitschok kommen können? Es gab schon mal einen ähnlichen – allerdings nicht politischen – Fall: 1995 wurde der Bankier Iwan Kiwelidi durch Nowitschok vergiftet. Da dies allerdings Staatsgeheimnis war, war offiziell stets von einem amerikanisch-britischen Kampfstoff von Typ-V die Rede gewesen.

    Im Vergleich der beiden Fälle, den das Medium unternimmt, tun sich erstaunliche Parallelen auf, was die Symptome angeht, und deutliche Unterschiede, was die Ermittlungen betrifft.

    dekoder hat eine gekürzte Version der umfangreichen Recherche ins Deutsche übersetzt:

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny
    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny

    Der Kreml sieht keinen Grund, im Fall Nawalny Ermittlungen einzuleiten. Das teilte Dimitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, am 25. August 2020 mit – drei Tage, nachdem der Oppositionspolitiker, der zuvor keinerlei gesundheitliche Probleme gehabt hatte, in einem Flugzeug zusammengebrochen und ins Koma gefallen war. 

    „Zuerst muss die Substanz gefunden werden, es muss festgestellt werden, was diesen Zustand herbeigeführt hat“, erklärte Peskow.

    Diese kategorische Haltung des Kremlsprechers überrascht. So musste im Fall des Giftanschlags auf Kiwelidi 1995 nicht zuerst „die Substanz gefunden werden“. Man fand sie auch nicht sofort, sondern nach drei bis vier Monaten komplexer Untersuchungen an den Oberflächen der Gegenstände aus dem Büro des Bankiers. Dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, war nur durch die Einleitung von Ermittlungen und die schnelle Sicherung der Beweismittel möglich. Benannt wurde die Substanz bis zuletzt nicht. In den Akten heißt es, die Eigenschaften „sind Staatsgeheimnis“.

    Fall Kiwelidi: Einleitung von Ermittlungen und schnelle Sicherung der Beweismittel

    Am 1. August 1995 war Iwan Kiwelidi in seinem Büro der Rosbisnesbank plötzlich ins Koma gefallen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag folgte die Einlieferung seiner Sekretärin Sara Ismailowa mit denselben Symptomen. Bereits am 6. August leitete die Moskauer Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein – wegen Anzeichen einer Intoxikation „durch ein unbekanntes Gift“, „mutmaßlich Cadmiumchlorid“.

    Eine Vergiftung durch Cadmiumchlorid vermuteten auch Kiwelidis Angehörige und Kollegen. Doch auch nach dem Tod des Bankiers und seiner Sekretärin konnten bei den Analysen weder Gift noch andere bekannte hochwirksame Substanzen nachgewiesen werden. Die Annahme, es handele sich um Cadmium, bestätigte sich nicht. Nicht einmal das Büro für gerichtsmedizinische Gutachten des Moskauer Gesundheitsministeriums konnte die Todesursache von Ismailowa ermitteln, die offenbar unbeabsichtigt ebenfalls vergiftet worden war. 

    Dennoch genügte im August 1995 der von Kiwelidis Angehörigen und Kollegen geäußerte Verdacht, um eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Als Nawalnys Angehörige und Kollegen im August 2020 offen erklärten, er sei vergiftet worden, zeigte das keinerlei Wirkung auf die russischen Sicherheitsbehörden. Die Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens wurde abgelehnt. 

    In Russland ist nicht einmal mehr der rätselhafte Tod eines Politikers Grund genug für ein Verfahren. Im Sommer 2003 starb der Duma-Abgeordnete und stellvertretende Chefredakteur der Novaya Gazeta Juri Schtschekotschichin infolge einer seltenen allergischen Reaktion, obwohl er keine Allergien hatte. Nicht nur seine Angehörigen, sondern auch der Vorsitzende des Sicherheitskomitees der Duma, die Partei Jabloko und die Novaya Gazeta hatten darauf bestanden, dass umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, weil Schtschekotschichin wegen seiner beruflichen Tätigkeit mehrfach bedroht worden war. Ein Verfahren wurde dreimal abgelehnt. Erst fünf Jahre später wurden Ermittlungen aufgenommen, die ergebnislos blieben: Eine Substanz, die eine solche Reaktion hätte auslösen können, wurde nicht gefunden. 


    I. Kein Gift in Nawalnys Organismus nachweisbar – gab es also keine Vergiftung?

    Russische Regierungsvertreter betonen immer wieder, dass die russischen Ärzte kein Gift in Nawalnys Organismus gefunden hätten. 

    „In dem Moment, als Alexej Nawalny Russland verließ, waren keine toxischen Substanzen in seinem Organismus“, erklärte der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin.

    Die These, in Nawalnys Organismus sei kein Gift nachgewiesen worden, äußerte als erster Anatoli Kalinitschenko, der stellvertretende Chefarzt der Klinik Nr. 1, bereits einen Tag nach Nawalnys Einlieferung. Er fügte dann vorsichtig hinzu, dass die anfängliche „Diagnose einer Vergiftung wohl noch nicht ganz vergessen ist, aber wir denken nicht, dass der Patient vergiftet wurde“.

    All diese Erklärungen muten seltsam an. Denn wie der Fall Kiwelidi gezeigt hat, ist es ausgesprochen schwer, eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe im Organismus des Vergifteten nachzuweisen. Bei Kiwelidi und seiner Sekretärin wurden keine bekannten Gifte festgestellt – weder durch die Ärzte der Zentralklinik der Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten noch durch die Ärzte der Moskauer Stadtklinik Nr. 1 und auch nicht durch die Gerichtsmediziner.

    Nowitschok ist im Organismus kaum nachweisbar

    Als der Rettungswagen Kiwelidi aus seinem Büro abtransportierte, notierten die Ärzte in ihrem Bericht: „Hatte eine Stress-Situation bei der Arbeit“ (der Bankier kam aus einem hitzigen Meeting); außerdem gaben sie an, er hätte sich unwohl gefühlt, sei ohnmächtig geworden und kurz darauf ins Koma gefallen. In den Vernehmungsprotokollen der drei Ärzte, die im Einsatz waren, lautet die „Diagnose: Verdacht auf schwere zerebrale Durchblutungsstörungen“. 

    Am nächsten Tag wurde Kiwelidis Sekretärin Sara Ismailowa mit ähnlichen Symptomen aus demselben Büro mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Im Vernehmungsprotokoll des Notarztes heißt es, sie „war nicht bei vollem Bewusstsein, stöhnte“, dann sei sie ins Koma gefallen. Der Notarzt stellte die Diagnose: „epileptischer Anfall“. Es vergingen keine 24 Stunden, bis sie starb. Kurz darauf starb auch Kiwelidi. 

    In zwei gerichtsmedizinischen chemikalischen Untersuchungen konnten keine hochwirksamen oder toxischen Substanzen und auch keine Schwermetalle im Blut des Bankiers festgestellt werden. Die Gerichtsmediziner folgerten nur anhand von indirekten Anzeichen, dass eine „unbekannte Substanz“ auf Kiwelidi eingewirkt haben musste. Den Prozessakten zufolge war das erste und wesentliche Anzeichen einer solchen Einwirkung „eine Abnahme der Konzentration von Cholinesterase im Blut“. Cholinesterase ist ein lebenswichtiges Enzym bei der Neurotransmission. „Wird die Cholinesterase gehemmt, kommt es zu einem fast vollständigen Versagen aller lebenswichtigen Funktionen“, heißt es im Abschlussbericht der Gerichtsmediziner. 

    Die Cholinesterase als Marker

    Auch bei Alexej Nawalny stellten die deutschen Ärzte niedrige Cholinesterase-Werte fest, als er im Koma in die Berliner Universitätsklinik Charité eingeliefert wurde. 

    Nawalnys Angehörige hatten seine Verlegung gefordert, mehrere europäische Staats- und Regierungschefs hatten mit Wladimir Putin gesprochen. Schließlich änderten die Gesundheitsbeamten in Omsk, die zuvor erklärt hatten, Nawalny sei „nicht transportfähig“, innerhalb weniger Stunden ihre Meinung. Nach einer Untersuchung des Oppositionspolitikers gab die Charité in einer Pressemitteilung bekannt: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. […] Die Wirkung des Giftstoffes, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“

    „Es ist wichtig herauszufinden, warum der Cholinesterase-Wert gesunken ist. Bisher konnten weder unsere noch die deutschen Ärzte diesen Grund feststellen“, entrüstete sich Putins Pressesprecher. „Wir verstehen nicht, warum die deutschen Kollegen so voreilig von einer Vergiftung sprechen. Diese Version war unter den ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen hatten. Aber es wurde keine Substanz ermittelt.“ 

    Die Empörung des Kremlsprechers ist wenig plausibel. So wird in den russischen Prozessakten im Mordfall Kiwelidi die Vergiftung durch „rapide gesunkene Cholinesterase-Werte im Blut“, „plötzliche Ohnmacht mit darauffolgendem Koma“ und eine Reihe weiterer Symptome belegt. 

    „Ein überzeugender Beleg für eine Vergiftung durch Cholinesterase-Hemmer war die biochemische Analyse von Kiwelidis Blut, […] bei der sehr niedrige Cholinesterase-Werte festgestellt wurden“, heißt es im gerichtsmedizinischen toxikologischen Befund.

    In den Prozessakten sind außerdem folgende äußerliche Anzeichen der Vergiftung aufgelistet: Blässe, kalte Hände, kalter, klebriger Schweiß, Flimmern vor den Augen, Stöhnen während des Bewusstseinsverlusts, Krämpfe. Den Menschen ergreife Todesangst, er rede konfus, erkenne Angehörige nicht wieder und habe Atemnot. Dies geht aus den Zeugenaussagen im Fall Kiwelidi, der Anklageschrift und dem toxikologischen Befund der Gerichtsmedizin hervor.  

    Alexej Nawalny erzählte Washnyje istorii, was er gespürt hat, als ihm im Flugzeug übel wurde. Mindestens zehn seiner Symptome und Reaktionen entsprechen dem, was Kiwelidi und seine Sekretärin durchgemacht hatten.

    Die Plastikflasche als Träger

    Als Nawalnys Kollegen erfuhren, dass er während des Flugs ins Koma gefallen war, schöpften sie sofort Verdacht. Sie engagierten einen Anwalt und nahmen in dessen Anwesenheit einige Gegenstände aus Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk mit. Darunter auch eine Wasserflasche aus Plastik, die Nawalny berührt hatte. 

    Nawalnys Angehörige übergaben diese Flasche und weitere Dinge den Ärzten aus der Charité. Diese zogen ein Speziallabor der Bundeswehr hinzu, das minimale Spuren einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe auf der Flasche feststellte. 

    „Diese Flasche möchte man ja gar nicht erwähnen, so ein Unsinn ist das!“, sagte der Experte des Duma-Verteidigungsausschusses Leonid Rink gegenüber RIA Nowosti. Rink ist ein ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie, an dem die Gifte der Nowitschok-Gruppe entwickelt wurden. 

    Bevor Rink zum Experten der Duma und einem der größten Kritiker der Version wurde, dass Nawalny vergiftet worden sei, war er in den 1990ern in einem geheimen Gerichtsverfahren wegen Handels mit einer toxischen Substanz angeklagt. Die Ermittler vermuteten, dass eben diese Substanz beim Mord an Kiwelidi zum Einsatz kam. Obwohl Rink eine ausführliche Aussage dazu gemacht hatte, wie er das Gift an verschiedene Leute verkauft oder schlicht weitergegeben hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Beim Prozess im Fall Kiwelidi tauchte er plötzlich als Zeuge auf. Später behauptete Rink in einem Interview für The Bell, er hätte Gift für Nagetiere verkauft und sei an Kontrollkäufen beteiligt gewesen, die von den Geheimdiensten initiiert worden wären.

    Mithilfe der Prozessakten im Fall Kiwelidi lässt sich auch erklären, warum die minimalen Giftspuren auf der Plastikflasche erhalten geblieben sind, die Nawalny kurz angefasst hatte. In den Gutachten heißt es, die Substanz habe die Konsistenz von Wasser oder sei nur geringfügig dickflüssiger, sie könne in Plastik eindringen, in Gummi hingegen nicht. Deswegen fanden sich auch Giftspuren auf dem Telefonhörer im Büro des Bankiers, die sich noch nicht vollständig zersetzt hatten und verdampft waren.


    II. Warum wurden im Fall Nawalny keine Ermittlungen eingeleitet?

    Nawalnys Kollegen taten das, was die russischen Sicherheitsbehörden hätten tun sollen. Und was die Ermittler im Fall Kiwelidi 1995 getan haben. Nach den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, in denen niedrige Cholinesterase-Werte bei Kiwelidi und seiner Sekretärin festgestellt worden waren, schlussfolgerten die Ermittler, dass in ihren Getränken, Nahrungsmitteln oder auf den Oberflächen, die die beiden angefasst hatten, Cholinesterase-Hemmer sein mussten. Drei Tage nach dem plötzlichen Koma des Bankiers, wurden Proben von den Oberflächen der Gegenstände in seinem Büro genommen, um sie auf Spuren von toxischen Substanzen zu untersuchen. Man nahm Proben vom Schreibtisch, von den Telefonen und den persönlichen Gegenständen.

    Nach wenigen Tagen waren Kiwelidis Büro und die Nachbarzimmer leergeräumt – man untersuchte alles: von den Tellern bis zu den Putzlappen, nahm Proben von Lebensmitteln, Medikamenten, vom Staub auf den Schränken und der Raumluft. Diese Proben gingen an die fünf höchstrangigen Einrichtungen auf dem Forschungsgebiet.

    Schließlich fand man auf einem Telefonhörer in Kiwelidis Büro Spuren einer stickstoffhaltigen phosphororganischen Substanz, die eine starke cholinesterasehemmende Wirkung haben kann. Die genaue Bestimmung stellte ein Problem dar, weil über solche Substanzen keine Daten vorlagen.    

    Während die Ermittler vor 25 Jahren also ein Verfahren einleiten und die Vergiftung durch eine unbekannte Substanz feststellen konnten, die bis zuletzt nicht benannt wurde, weigert sich die heutige Regierung auch nur Ermittlungen im Fall Nawalny aufzunehmen, obwohl ihr modernere Verfahren und besser qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.

    Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz

    Warum betonen die Beamten im Fall Alexej Nawalny, dass in Russland keine giftige Substanz nachgewiesen werden konnte? Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass sogar in diesem politisch neutralen Fall, in dem zu einer ganz anderen Zeit ermittelt wurde, die führenden russischen Labore nicht dahintergekommen sind, welches Gift konkret eingesetzt worden war.

    „Wegen der extrem geringen Mengen, in der der nachgewiesene Stoff vorliegt, ist es nicht möglich, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zu bestimmen“, hieß es im Befund des Zentrums für kriminalistische Gutachten des Innenministeriums. 

    Die Militärakademie für chemische Waffen entdeckte ebenfalls Spuren „einer hochwirksamen giftigen Substanz mit signifikanter cholinesterasehemmender Wirkung“. Doch welcher Substanz genau, konnte sie nicht bekanntgeben.

    Am umfassendsten waren die Untersuchungen des Staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie (GosNIIOChT), wo das System Nowitschok entwickelt worden war. Hieraus ging hervor, dass auf dem Telefonhörer „Spuren einer giftigen Substanz nachweisbar sind, die dem Schädigungsmuster und der cholinesterasehemmenden Wirkung nach den festen, hochtoxischen, phosphororganischen Verbindungen mit signifikanter hautresorptiver Komponente [dringen durch Berührung in den Organismus ein] auf Niveau eines Kampfgifts von Typ V zuzuordnen ist“. 

    Die gerichts-chemische Untersuchung des GosNIIOchT wies Fluor in jenem Giftstoff nach, mit dem Kiwelidi ermordet wurde. Doch eine endgültige Formel nannte auch das GosNIIOChT nicht. Letztlich lief das Gift in den Prozessakten unter dem Titel „unbekannte giftige Substanz“, als „giftige Substanz mit enormer cholinesterasehemmender Wirkung auf Niveau von Kampfgiften des Typs V“. Diese Benennung war noch dazu insofern absurd, als das britisch-amerikanische Kampfgift V gar kein Fluor enthält. Dieses findet man jedoch in Substanzen der Gruppe Nowitschok.  

    Warum im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens niemand das konkrete Gift nannte, ist nachvollziehbar. Ein Experte für Chemie und führender Mitarbeiter des GosNIIOChT, der als Gutachter befragt wurde, sagte im Fall Kiwelidi aus, dass die Eigenschaften dieser Substanz ein Staatsgeheimnis sind. Dass die Substanz der Geheimhaltung unterliege, bestätigte in seinem Verhör auch Leonid Rink, gegen den wegen Handels mit giftigen Substanzen ein Strafverfahren mit dem Vermerk „streng geheim“ eingeleitet, aber dann eingestellt wurde. Heute erzählt Rink den staatlichen Medienagenturen, dass der Fall Nawalny eine westliche Provokation sei.


    III. Symptome einer Nowitschok-Vergiftung

    Wirkungsdauer

    „Im Fall einer Vergiftung mit Nowitschok […] hätte es Nawalny zu keinem Flugzeug geschafft“, erklärte Leonid Rink in einem Interview für RIA Nowosti. „Die ersten Symptome zeigen sich innerhalb weniger Minuten. Nach zehn Minuten tritt der Tod ein“, so Rink.

    In den Prozessakten zum Giftanschlag auf Kiwelidi dagegen, in denen Rink als Zeuge geführt ist, heißt es im gerichtstoxikologischen Gutachten: Bei Aufnahme über die Haut werde eine Inkubationszeit beobachtet, die in der Regel eineinhalb bis fünf Stunden betrage.

    Stoffwechselchaos und Zuckerschock

    Anfang Oktober wurde Alexander Sabajew, Cheftoxikologe des Föderationskreises Sibirien und der Oblast Omsk, zum Interview gebeten. Er erklärte RIA Nowosti, bei Alexej Nawalny sei eine Störung des Kohlehydratstoffwechsels diagnostiziert worden. Diese sei ausgelöst worden durch eine Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse, die wiederum zu plötzlichen und extremen Schwankungen des Blutzuckers führe.    

    „Die ersten 12 Stunden, ja, da gab es so ein Zuckerchaos, der Blutzuckerspiegel war hoch – und er ließ sich nicht durch eine Insulintherapie korrigieren“, sagte Sabajew. Er verplapperte sich aber, indem er angab, Nawalny habe keine „offensichtlichen, chronischen, verschleppten Krankheiten“.

    Sabajew sagte zudem, die Krisis sei in der Nacht vom 20. auf den 21. August eingetreten, als Nawalnys Laktatwerte einen gefährlich hohen Wert erreicht hätten. „Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Multiorganversagen eintreten können, das zum Tod des Patienten geführt hätte“, betonte Sabajew. 

    Die Erklärung des andauernden Komas mit Hypoglykämie (eines verringerten Blutzuckerspiegels) hält einer Kritik nicht stand, wie die Endokrinologin Olga Demitschewa, Mitglied der European Association for the Study of Diabetes (EASD), dem Magazin Forbes erklärte. „Eine Verabreichung von Präparaten zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels hätte das Problem schnell gelöst, und der Patient wäre innerhalb weniger Minuten wieder bei Bewusstsein gewesen“, sagte sie. Außerdem litt Nawalny nicht unter Diabetes.  

    Der israelische Intensivmediziner Michail Fremderman sagte in einem Kommentar für die BBC, nach Angaben der Omsker Ärzte sei Nawalny wie ein Patient in einem Koma unklarer Genese behandelt worden, eine richtige Diagnose hätten ihm die russischen Ärzte nach wie vor nicht gestellt. Fremderman merkte an, die Laktatazidose, von der die Omsker Ärzte sprechen, komme sowohl bei akuten Schüben chronischer Stoffwechselstörungen bei Diabetikern vor – als auch bei Vergiftungen. Bei Nawalny (der kein Diabetiker ist) könne nur eine Vergiftung der Grund für einen solchen Zustand sein . 

    Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass bei dem Bankier bei seiner Hospitalisierung nach Vergiftung mit einer unbekannten Substanz ebenfalls vor allem erhebliche Zuckerschwankungen aufgetreten sind. Und die Vergiftung hat zu Stoffwechselstörungen und Multiorganversagen geführt. 

    Mit anderen Worten, wenn der Toxikologe Sabajew Nawalnys Blutzuckerschwankungen beschreibt, dann beschreibt er einen Zustand, den auch Kiwelidi nach seiner Vergiftung mit einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe durchlaufen hat.

    Es ist wichtig zu wissen, dass ein phosphororganischer Giftstoff auf besondere Weise wirkt. Wenn die Dosis gering war und der Mensch überlebt, kann der weitere Verlauf auch ganz anders sein als bei einer Vergiftung. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen. 

    Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen

    Dies erklärte Viktor Schulga bei seiner Befragung zu Kiwelidis Vergiftung. Schulga ist Toxikologe mit 40-jähriger Berufserfahrung und war damals Laborleiter am staatlichen Institut für organische Chemie und Technologie (in einer Außenstelle dieses Instituts wurde das System Nowitschok entwickelt). Im Protokoll gab er an, dass die Symptome einer Vergiftung mit einem phosphororganischen Kampfgift mit der Zeit sowohl auf altersbedingte Veränderungen als auch auf diverse Erkrankungen und so weiter zurückgeführt werden können.   

    Innenministerium, Ermittlungskomitee, Gesundheitsministerium und das Städtische Krankenhaus für Notfallmedizin Nr. 1 in Omsk haben auf unsere Anfragen bezüglich Alexej Nawalnys Situation nicht reagiert.

    Auf die Fragen von Novaya Gazeta und Washnyje istorii, was der Grund für die ungewöhnlichen gesundheitlichen Probleme und die Ermordung von Oppositionellen in Russland sei und ob sich der russische Präsident für das verantwortlich fühle, was mit Oppositionsführern und seinen Kritikern geschehe, antwortete Dimitri Peskow, Pressesprecher des Präsidenten. Er sagt, er lehne „diese Versuche ab, in dem verschlechterten Gesundheitszustand und in der Ermordung von Oppositionsführern irgendwelche allgemeinen Tendenzen zu sehen“.

    Und er fasst zusammen: „Jeder Fall ist strikt als Einzelfall zu beurteilen, und so wird das auch gehandhabt.“ 

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    Zwei erste große Interviews mit Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung sind in der vergangenen Woche erschienen: Das erste ist auf Deutsch, in Der Spiegel. Christian Esch und Benjamin Bidder, der derzeitige und der ehemalige Moskau-Korrespondent des Blattes, hatten Nawalny in Berlin getroffen. „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht“, wird er im Spiegel zitiert. Allein die Tatsache, dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei, verweise auf Geheimdienste wie den FSB oder den Auslandsgeheimdienst SWR, die in der Lage seien, den Nervenkampfstoff herzustellen und einzusetzen. 
    Kreml-Sprecher Peskow erklärte daraufhin, hinter Nawalny stünde der US-Geheimdienst CIA. Ungeachtet dessen wiederholte Nawalny seine Version der Dinge auch in seinem zweiten großen Interview – diesmal gab er es zusammen mit seiner Frau Julia in einem russischen Medium, dem YouTube-Kanal von Juri Dud. Im reichweitenstarken Staatsfernsehen ist Nawalny ein Tabu, aber die Videos von Dud finden ebenfalls ein (wenn auch kleineres) Millionenpublikum – auf YouTube, quasi als Samisdat des Online-Zeitalters.

    Im Spiegel-Interview wird Nawalny auch dazu gefragt, weshalb er 2011 den „Russischen Marsch“, eine Kundgebung von Nationalisten, mitorganisiert habe. Er distanzierte sich nicht von seinem damaligen Tun: „Ich sehe kein Problem in der Zusammenarbeit mit allen, die im Grundsatz antiautoritäre Positionen vertreten“, sagte er. Und weiter: „Ihr in Deutschland habt schon die Demokratie. Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten, für die Unabhängigkeit der Gerichte. Deshalb habe ich eine Zeit lang versucht, das liberalnationalistische Lager der Opposition zu einen.“
    Gerade im liberalen russischen Lager machte sich Nawalny mit solchen Positionen aber auch viele Feinde. 
    Alexander Baunow hat auf Carnegie.ru die „Wiederauferstehung“ des Alexej Nawalny analysiert – und inwiefern der Oppositionspolitiker dadurch dem Kreml sogar noch gefährlicher werden könnte.

    [bilingbox]Nawalny hat noch nie so ganz zum Liberalen gereicht und war noch nie ein Dogmatiker. Sprich, er ist ein Mensch mit einer Unterstützerschaft, die in ihrer Breite bewusst nicht festgelegt ist und die enorm zulegt, wenn die Umstände für ihn günstig sind. Jetzt nach der Vergiftung sind beispielsweise sowohl seine positiven als auch seine negativen Umfragewerte gestiegen, und mit ihnen ist sein Bekanntheitsgrad in die Höhe geschnellt. Außerdem kämpft Nawalny im Gegensatz zu vielen ehemaligen Oppositionellen nicht um das Recht, Putin zu kritisieren, nicht für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern um die Macht als solche.~~~Навальный всегда был недостаточно либерал и совсем не догматик, то есть человек с заведомо неопределенно широкой базой, которую могло увеличить в разы любое благоприятное для него стечение обстоятельств. Например, сейчас после отравления заметно выросли его и положительный, и отрицательный рейтинги, а вместе с обоими подскочила узнаваемость. Кроме того, в отличие от многих старых оппозиционеров Навальный борется не за право критиковать Путина, не за свободу слова и собраний, а именно за власть. [/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 02.10.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Woskresschi politik. Stary Kreml i nowy Nawalny (dt. „Der auferstandene Politiker. Alter Kreml und neuer Nawalny“). Das russische Original lesen Sie hier. Die englische Version finden Sie hier.

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    „Hallo, hier ist Nawalny“, so hatte der russische Oppositionspolitiker seine Instagram-Follower vergangene Woche begrüßt – mit Familienfoto aus dem Krankenbett. Inzwischen ist er aus der Charité entlassen, ist vorerst aber noch in Deutschland. „Er ist weiterhin in Behandlung“, teilte seine Pressesprecherin Kira Jarmysch mit.

    Die Nowitschok-Vergiftung Nawalnys hatte zu scharfen Worten zwischen Deutschland und Russland geführt. Die russische Regierung sprach von „Hysterie“, im russischen Staatsfernsehen hatte unter anderem Leonid Rink, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war, mehrfach behauptet, dass es unwahrscheinlich sei, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sei.

    Manche Beobachter, wie etwa Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, sprechen gar von einem Wendepunkt in den Beziehungen. Nun berichtet die französische Zeitung Le Monde von einem Telefonat zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron: In diesem habe Putin mehrere Versionen ins Spiel gebracht, wie Nawalny hätte vergiftet werden können, auch die einer „Selbstvergiftung“.

    Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, hat auf Echo Moskwy ein Interview gegeben. Darin berichtet er von den Recherchen der Novaya Gazeta zu Leonid Rink – der Nowitschok in Ampullen verkauft und in Umlauf gebrachte habe. Und er spricht über zahlreiche Hinweise dafür, dass vermutlich auch Anna Politkowskaja und Dimitri Bykow, prominente Novaya-Gazeta-Journalisten, mit Nowitschok vergiftet wurden. Muratow betont in dem Interview: „Ich liefere nur Fakten.“ „Die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen“, entgegnet die Moderatorin.

    Irina Worobjowa: Hallo, willkommen bei Ossoboje Mnenije (dt. Die besondere Meinung). Heute ist Dmitri Muratow bei uns, der Chefredakteur der Zeitung Novaya Gazeta. Guten Abend, Dmitri! 

    Dmitri Muratow: Guten Abend! 

    Die Novaya Gazeta hatte auf der Titelseite ein Foto von Nawalny und die Bildunterschrift: „Willkommen zurück!“ Sind Sie sich sicher, dass Alexej wieder vollkommen gesund wird?

    Wir wissen nichts über die Folgeschäden, genauso wenig wie alle anderen, auch die Ärzte. Als die Ausgabe bereits in Druck war, kam uns der Gedanke, dass wir es halb in Farbe und halb in Schwarz-Weiß hätten drucken sollen. Denn er war von den Attentätern und Mördern schon mit einem Bein ins Grab befördert worden, hat sich jedoch an [seiner Frau] Julia, den Ärzten und seinen Freunden festgeklammert und konnte mit dem zweiten Bein in dieser Welt bleiben. 

    Nawalny war ja schon mit einem Bein ins Grab befördert worden

    Sie sprechen von „Attentätern“ und „Mördern“. Sie glauben also die Version der Deutschen, dass es sich um einen Giftanschlag handelt, dass ein Stoff aus der Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam und so weiter?

    Lassen Sie es mich von einer anderen Seite her aufziehen. In unserem Land lassen sich Beteiligungen und die verdeckten Interessen von jemandem ganz gut nachvollziehen anhand der Experten, die man uns im Staatsfernsehen präsentiert. Der wichtigste Experte im Zusammenhang mit diesem Mordanschlag ist ein gewisser Leonid Igorewitsch Rink. Der Mann, der Nowitschok eigenhändig in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat. Er hat nicht nur die Formel für Nowitschok erfunden, sondern es auch eigenhändig hergestellt. 
    Dieser Rink steht also vor dem Logo von Ria Nowosti (ich glaube, er steht da seit dem Giftanschlag auf Skripal immer wieder) und verkündet uns in der Fernsehsendung Wremja, auf NTW, in der Wirtschaftszeitung Wsgljad und in unzähligen anderen regierungsfreundlichen Medien: „Wen interessiert dieser Nawalny? Wenn man gewollt hätte, hätte man ihn getötet.“ Aber spezielles Nowitschok sei da sicher nicht im Spiel, sagt Rink. 

    Jetzt mache ich einen Sprung in die Vergangenheit und erinnere Sie daran, wie 1995 Iwan Kiwelidi ermordet wurde. Der Vorsitzende der Assoziation russischer Banken starb unter schweren Qualen im Krankenhaus. Davor hatte er mehrmals telefoniert. Am Telefonhörer wurde eine Substanz entdeckt, die der Nowitschok-Gruppe zugeordnet werden konnte. Offenbar war der Hörer aufgeschraubt und ein Wattebausch mit der Substanz hineingelegt worden. Mit diesem Hörer in der Hand hatte er mehrmals telefoniert. 

    Der wichtigste Experte im Fernsehen ist der Mann, der Nowitschok in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat

    Wie ist die Substanz dort hingekommen? Die Mörder hatten sie von [Rink] bekommen – dem Kommentator, den wir heute im Staatsfernsehen sehen, dem Chefpropagandisten und Verfechter der Version, dass Nawalny keinesfalls mit Nowitschok vergiftet worden sei.

    Das ist ein schwerer Vorwurf.

    Das ist es. Deswegen antworte ich auch mit seinen Worten. Aus dem Verhörprotokoll vom 16. Februar 2000: „Als ich in Schichany gearbeitet habe, in eben diesem Labor, hatte ich einen Konflikt mit Rjabow.“ Rjabow war irgendein hohes Tier im kriminellen Milieu. 
    „Er fragte mich nach Gift, um einen Hund zu vergiften. Ich gab ihm Diphacinon, ein Rattengift. Aber er kam wieder und sagte, das passe nicht, er brauche etwas für Menschen. Er hat mich bedroht. Ich bekam Angst und sicherte ihm zu, ein entsprechendes Gift zu besorgen.“ 

    Wie hat er dieses Gift besorgt? Er ging in das Labor, in dem er viele Jahre gearbeitet hatte. Bei dem Labor handelte es sich um das Staatliche Institut für Technologien organischer Synthese in Schichany. Das war eine geschlossene, streng geheime Einrichtung.  

    Er bat seine ehemalige Angestellte, Nowitschok zu synthetisieren, das sogenannte VX – das ist ein Nervengift, das als chemische Waffe eingesetzt wird, und füllte sich Ampullen mit je etwa 0,25 Gramm ab. Drei davon verstaute er in seiner Garage. 

    Wurde der Mensch, der das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Der Mensch schleppt hunderte tödlicher Dosen aus einem vom FSB bewachten Labor in seine Garage in einer Stadt, die, wie wir wissen, auch heute noch bewacht wird, lange nachdem die chemischen Waffen vernichtet wurden – so zumindest die offiziellen Angaben.

    Im Gerichtssaal bekommt Rink folgende Frage gestellt: „War Ihnen zu dem Zeitpunkt, als Sie die von Ihnen hergestellten Substanzen weitergaben, bewusst, dass sie gegen Menschen eingesetzt würden?“ Der Staatsanwalt wollte sich vergewissern. „Ja, mir war bewusst, dass diese Leute vorhatten, sie gegen Menschen einzusetzen.“

    Entschuldigen Sie, welches Gerichtsprotokoll meinen Sie? Gab es einen Prozess gegen Rink?

    Vor zwei Jahren hat Roman Schleinow für die Novaya Gazeta recherchiert und jetzt haben wir  weitergemacht. Wir haben die Materialien im Zusammenhang mit den Skripals untersucht. Und da sind wir auf dieses Strafverfahren gestoßen. 

    Was glauben Sie: Wurde dieser Mensch, der hunderte Menschenleben gefährdet und das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Es war also ein Verfahren gegen Rink?

    Es war der Prozess im Fall Kiwelidi. Rink war da als Zeuge! Das ist eine Zeugenaussage. Und er blieb auch Zeuge, denn ich denke mal, er ist äußerst nützlich. Dieser Kerl kann alles herstellen. Wer weiß, was er noch in seiner Garage unter der Werkbank hat. Das alles lässt sich wunderbar am Gesetz vorbei einsetzen. Wissen Sie, für wie viel er eine Ampulle, deren Inhalt hunderte Menschen umbringen könnte, an Mörder verkauft? Für 1500 US-Dollar.

    Da kann man sich in etwa ausrechnen, was ihm ein Menschenleben wert ist, diesem großen Fernsehexperten in staatlichen und staatsnahen Sendern und propagandistischen Talkshows.

    Als ihn die Kollegin, die auf seine Bitte hin Nowitschok synthetisierte, fragte: „Ist das nicht gefährlich?“, erwiderte er: „Nein, nein, ich mache das fürs Militär.“ Sie hakte nach: „Warum denn fürs Militär, wir sind doch eine zivile Einrichtung?“ Und er: „Naja, das haben Militärs schwarz bestellt.“ Niemand hat sich gewundert. 

    Ich würde gern über Folgendes sprechen: Die Vergiftung von Alexej Nawalny – wäre es die erste Geschichte dieser Art, würde man vermutlich nicht so viel darüber sprechen, aber wir haben das schon so oft mitangesehen …

    Genau, und irgendwie steckt Rink da mit drin. Jemand muss ihm den Befehl erteilt haben. Bei uns kommt ja keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung, Einladung und Vorbesprechung des Themas.

    Bei uns kommt keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung oder Einladung

    Außerdem stellen sich mir noch weitere Fragen. Erinnern Sie sich daran, wie im April vergangenen Jahres unser Kollege Dimitri Bykow, unser Rezensent und Ihr Moderator, aus Jekaterinburg nach Ufa geflogen ist, wo er eine Veranstaltung hatte? Bei der Landung lag er im Koma. Ich flog mit einem herausragenden Neurochirurgen und Intensivarzt aus einer der besten Kliniken hin. Als wir ankamen war Bykow völlig ruhig – er lag tatsächlich im Koma. Es wurde entschieden, dass er in eine andere Intensivklinik verlegt werden musste, mit anderen Versorgungsmöglichkeiten, anderer Ausstattung. 

    Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Das bereue ich heute. Ich dachte: Bykow eben, vielleicht hat er was Falsches gegessen. Vielleicht gesundheitliche Probleme. Wer weiß. Kann ja alles sein. Außerdem ist er ein absoluter Workaholic. Er schuftet Tag und Nacht. Vielleicht war er einfach überarbeitet. Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige. Der Zug ist offenbar schon abgefahren.

    Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige

    Uns war klar, dass wir ein Krankentransportflugzeug brauchten. Unsere Zeitung – wir haben eine Krankenversicherung – kam für die Kosten auf. Die Maschine mit zwei Intensivmedizinern an Bord war bereits unterwegs, als der Pilot uns plötzlich mitteilte, er hätte vom Gesundheitsministerium den Befehl erhalten, umzukehren und nicht nach Ufa zu fliegen. Wir waren schockiert. Das Flugzeug war bezahlt, sollte eigentlich bald landen. Dann versuchte man auch noch, den Arzt zurückzurufen, mit dem ich gekommen war. Später hieß es dann, das Gesundheitsministerium sehe keine Notwendigkeit einer Verlegung, er solle bleiben, wo er ist. 

    Das kommt einem bekannt vor.

    Genau das meine ich auch. Als das mit Nawalny passierte, habe ich eins und eins zusammengezählt: den Flughafen, das, was vor dem Flug geschah, damit dann auf dem Flug alles passiert. Nach dem Flug liegt der Mensch im Koma. Dann muss er verlegt werden in eine geeignete Intensivklinik – wie auch immer man das nennt –, damit andere Maßnahmen ergriffen werden können. Doch dieser Vorgang wird durch sonderbare Anordnungen verzögert, so wie man bei Bykow versucht hatte, das Flugzeug umkehren zu lassen. 

    Aber es ist nicht umgekehrt.

    Der Pilot sagte damals: „In zehn Minuten werde ich dem Befehl folgen müssen und umkehren, den Kurs ändern.“ Ich sage es offen: Ich habe also jemanden angerufen, einen der wenigen Kontakte, den ich von Treffen mit Chefredakteuren und hohen Politikern hatte. Er war damals und ist auch heute noch auf einem der höchsten Posten. Acht Minuten später teilte der Pilot uns mit, es sei eine Erlaubnis vom Himmel gefallen, er könne seinen Flug doch fortsetzen. Die Erlaubnis kam vom Kreml. 

    Als das alles mit Nawalny passiert ist und wir uns gefragt haben, was wohl dahintersteckt … Ob die Ärzte in Omsk vielleicht etwas sehen, was wir nicht sehen …

    Ob etwas durcheinandergeraten ist? Durchaus möglich. Aber wenn ich jetzt sehe, dass bei Bykow derselbe Algorithmus am Werk war: Hotel, Flughafen, Flugzeug, Koma, Notfallklinik, Verzögerungen beim Transport …

    Ich möchte keine Schlüsse ziehen. Neulich habe ich einen sehr treffenden Satz gehört: „Die Wahrheit genügt uns nicht, wir brauchen Fakten.“ Ich liefere Ihnen also nur Fakten. Sie stehen für sich. Das sind die Fakten über Rink, unseren gegenwärtigen Experten und Propagandisten. Das sind die Fakten über die Evakuierung von Bykow. Die Fakten über Politkowskaja – ich habe ja schon oft erzählt, wie das damals [als Politkowskaja 2004 nach Beslan flog, um über die dortige Geiselnahme zu berichten – dek] vonstatten ging: Flugzeug, Koma, zerstörte Proben, Krankenhaus. Die Proben gingen im Flughafen kaputt, Blut und Erbrochenes gingen verloren. [Politkowskaja überlebte – 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Hintermänner der Tat sind bis heute nicht bekannt – dek.]

    Und auf der anderen Seite ist da ein Rink, der eine unbekannte Menge Ampullen an jemanden weitergegeben hat. Da fügen sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammen. Ich will diese Gedanken verjagen, will das alles nicht glauben. 

    Ja, lassen Sie uns bei den Fakten bleiben, die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen.

    Bitte, gern. Schlussfolgerungen sind ja kein Gift.

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    Wie Merkel lernte, mit dem Gopnik zu reden

    Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens“, nachdem die Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers nachgewiesen war, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem öffentlichen Statement ungewöhnlich deutliche Worte. Und fügte hinzu: Die Bundesregierung verurteile dies aufs Allerschärfste und erwarte, dass die russische Regierung sich erklärt. Die reagierte Mitte September, indem sie den deutschen Botschafter in Moskau einbestellte. Sie sprach von „unbegründeten Anschuldigungen und Ultimaten an die Adresse Russlands“, was eine „Diskreditierung unseres Landes in der internationalen Arena“ bedeute. Es wurde gefordert, dass Deutschland diese „Hysterie“ unverzüglich einstelle.

    Der Dialog mit Russland geriet in letzter Zeit, etwa nach dem Abschuss der Boeing MH17, der Angliederung der Krim, dem Krieg in Syrien, immer wieder auf den Prüfstand – liegt er nun endgültig auf Eis? Ja – und das ist gut so, meint Maxim Mironow, Wirtschaftswissenschaftler an der privaten IE Business School in Madrid. In seinem Blogbeitrag, den auch Echo Moskwy veröffentlichte, vergleicht er Putin mit einem Gopnik: Mit einem solchen „Hinterhof-Intellektuellen“ könne man keinen Dialog führen – denn er wird jeden in einen Endlosmonolog hineinziehen, aus dem nur er selbst als Sieger hervorgehen kann.

    Ich bin in einem ziemlich proletarischen Stadtteil von Nowosibirsk aufgewachsen, mit Gopniki bekam ich es schon als Kind zu tun. 
    „Zu tun bekommen“ ist nicht ganz das richtige Wort, eher waren die Gopniki die dortige Elite und gaben im Kiez den Ton an. Wenn dich eine Gruppe von Gopniki anquatschte, dann endete die Sache meist damit, dass sie dir Geld abknöpften. Das konnte ganz unterschiedlich ablaufen. Eine klassische Szene sah so aus:

    „Hast du Geld?“

    Was erwidert man auf so eine Frage? Wenn man nein sagt, kommt sofort:

    „Und wenn wir welches finden?“

    Diese Frage ist schon heikler. Wenn man nämlich sagt, „dann sucht halt“, und sie finden welches, muss man das Geld abdrücken, denn man hat ja dreist gelogen und muss für seine Dreistigkeit büßen. Verweigert man die Durchsuchung aber, dann ist das noch schlimmer, weil man damit ja quasi zugibt, dass man gelogen hat (sonst hätte man ja kein Problem damit, sich durchsuchen zu lassen). Also sagt man vielleicht lieber gleich die Wahrheit und antwortet auf die Frage nach dem Geld ehrlich „ja, hab ich“. Dann folgt die Aufforderung:

    „Leih mir bis morgen x Rubel, ich brauch Zigaretten.“

    Ablehnen geht nicht, sonst beleidigst du den guten Kerl. Und klar ist, dass „leihen“ in dem Fall nicht heißt, dass jemand vorhat, dir das Geld zurückzugeben. Kurz, egal, was man auf diese Frage antwortet – das Geld ist man los. 

    Ein paarmal wurde ich ordentlich verdroschen

    Viele meiner Bekannten dachten, man müsse nur lernen, mit den Gopniki po ponjatijam zu sprechen – dann könne man negative Konsequenzen vermeiden, wenn sie dich zum Dialog auffordern. Aber diese Hoffnung war vergebens: Da halfen keine Fertigkeiten. Denn wenn sie dich erst am Wickel hatten, dann konnten sie dir auch erfolgreich erklären, warum du ihnen dein Geld geben musst. Das Ziel war ja nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Ziel dieser Dialoge war ausschließlich, dir zu erklären, dass du ihnen Geld geben musst. 

    So hattest du schon verloren, wenn du dich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen hast. Das hatte ich relativ bald kapiert und versuchte, ihnen auszuweichen. Möglichst ruhig und neutral, etwa: „Keine Zeit, Mann, muss zur Schule“, und dann schnell weg, bevor ihnen darauf eine Antwort einfällt. Wenn ich nicht schnell wegkam, dann war es am besten, gleich auf Konfrontation zu gehen, zum Beispiel: „Was interessiert dich das?“ Ich kam natürlich nicht drumherum und wurde ein paarmal ordentlich verdroschen. Dafür hörten sie danach aber auch auf, mir Geld abzuknöpfen (obwohl ich immer welches dabeihatte). 

    Jede Schlägerei ruiniert das Image der „Edelmänner“

    Was ich auch schon als Kind verstand: Gopniki wollen keine offenen Konflikte. Sie vermöbeln dich vielleicht ein Mal, zur Abschreckung. Aber wenn das nicht wirkt, lassen sie dich wahrscheinlich in Ruhe und widmen sich anderen, mit denen sie es leichter haben. 
    Warum aber wollen Gopniki keine offenen Konflikte? Das hat zwei Gründe: Erstens kann durch offene Konflikte ein für sie unangenehmer Tumult entstehen. Einmal, als sie mit meinem Kopf in der Schule eine Fensterscheibe zertrümmert haben, wurden der Notarzt und die Polizei gerufen, und diese „Schulelite“ und ihre Eltern über mehrere Tage verhört. Jede Gewaltanwendung kann außer Kontrolle geraten und die unerwünschte Aufmerksamkeit Dritter erregen. Im Fall einer freiwilligen Spende sinkt dieses Risiko gegen Null. 

    Zweitens – und das ist entscheidender – ruiniert jede Schlägerei das Image der „Edelmänner“. Ihr ganzes Geldbeschaffungskonzept beruht darauf, dass sie höflich sind und leise und ruhig mit dir reden. Jedes Mal, wenn sie sich das Geld mit Gewalt nehmen, stellt sie das auf eine Stufe mit ganz banalen Räubern. Aber die Gopniki sind sehr bedacht auf ihr Image als Hinterhof-Intellektuelle.

    Meine Erlebnisse vor 30 Jahren haben viel mit dem zu tun, was Putin mit Merkel veranstaltet

    Warum fällt mir das jetzt ein, und warum erzähle ich das so lang und breit? Weil das, was ich da vor 30 Jahren erlebt habe, viel zu tun hat mit dem, wie Putin Merkel an der Nase herumführt. Putin versucht, sie in einen endlosen Dialog zu verwickeln, in dem, egal, wie man es dreht und wendet, Putin als Sieger hervorgeht. Dieser Dialog sieht derzeit so aus:

    20. August. Peskow erklärt, in Russland werde es Ermittlungen geben, falls sich der Verdacht auf eine Vergiftung Nawalnys erhärtet.

    24. August. Die deutsche Klinik Charité erklärt, Nawalny sei vergiftet worden. Man sollte meinen, die Bedingung, die Peskow am 20. August gestellt hat, sei nun erfüllt. Die Ermittlungen müssten beginnen. Doch am nächsten Tag stellt der Kreml eine neue Bedingung:

    25. August. Peskow zufolge gibt es bisher keinen Anlass zu Ermittlungen, da nicht bekannt sei, welcher Substanz Nawalny ausgesetzt war.
    Welchen Schluss zieht daraus wohl ein normaler Mensch? Aus irgendeinem Grund muss vor Beginn der Ermittlungen die Substanz identifiziert werden. Sobald klar ist, womit Nawalny vergiftet wurde, wird mit den Ermittlungen begonnen. 

    2. September. Die deutschen Behörden erklären, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden, wobei dies auf höchster Ebene verkündet wurde – von der Bundeskanzlerin persönlich. Beginnt nun der Kreml seine Untersuchungen, wie Peskow am 25. August versprochen hat? Fehlanzeige. Es folgen lauter neue Forderungen und Ausreden: Ein gemeinsames Gremium mit russischen Ärzten soll her, Deutschland habe Russland die Daten nicht weitergeleitet, wenn Nawalny vergiftet wurde, dann in Deutschland und nicht in Russland, die Ermittler des Innenministeriums sollen Zugang zu Nawalny bekommen.

    Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt 

    Wir sehen: Die Forderungen des Kreml wachsen wie die Häupter der Hydra. Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt. Das ist ein Endlosspiel, das Merkel nicht gewinnen kann, wenn sie sich an Putins Regeln hält. Angenommen, Deutschland lässt zu, dass sich russische Spezialisten selbst davon überzeugen, dass es Nowitschok war. Zeigt man ihnen einfach die Befunde, dann werden sie wahrscheinlich sagen: „Wir glauben euch das nicht, zeigt uns, wie ihr es gefunden habt.“ Wenn Deutschland das macht (womit unsere Chemiewaffenentwickler an die wertvolle Information kommen würden, an welcher Stelle sie versagt haben), können sie immer noch sagen: „Ja, Nowitschok ist nachweisbar. Aber wer sagt, dass es bei uns produziert wurde, das Rezept haben ja auch die Länder der NATO.“ Wie kann man beweisen, dass das Nowitschok aus Russland kommt? Rein theoretisch könnten deutsche Experten nach Russland fahren und alle Orte untersuchen, an denen Nawalny an jenem Morgen gewesen ist. Und da gibt es dann zwei Szenarien. 

    Der Gopnik Putin zieht Merkel in einen Endlosmonolog, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann

    Wenn sie nichts finden (der Geheimdienst hatte ja drei Wochen Zeit, die Spuren zu beseitigen), dann heißt es im Kreml: „Aha, seht ihr, bei uns wurde nichts gefunden, also habt ihr ihn vergiftet.“ Und wenn die deutschen Experten doch etwas finden, dann kommt wieder die alte Leier: „Und wer garantiert, dass ihr das nicht mitgebracht habt, es wissen doch alle, dass Nowitschok in den NATO-Ländern hergestellt wird.“ 
    Wenn die Deutschen aber gar nicht nach Russland fahren (etwa aus Sorge um die eigene Sicherheit), dann sagen sie im Kreml: „Aha, seht ihr, sie wollen nicht kommen, obwohl wir sie einladen. Das beweist, dass sie es waren.“ Wenn Deutschland unsere Experten nicht hereinlässt: „Seht ihr, sie lassen unsere Experten nicht rein, wollen keine Kontrolle – also haben sie was zu verbergen.“ Und wenn Deutschland auf die sinnlosen Forderungen nicht reagiert: „Seht ihr, sie antworten nicht mal auf unsere Fragen, wie sollen wir da ein Verfahren einleiten?“ 

    Der Gopnik Putin versucht, Merkel in einen Endlosmonolog hineinzuziehen, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann. Je weiter er in diesem Dialog kommt, desto mehr Asse hat er im Ärmel. Zu jeder Antwort aus Deutschland kann man zehn neue Fragen stellen (zum Thema und am Thema vorbei), zu jeder Tatsache zehn alternative Erklärungen vorbringen und zu jeder Schlussfolgerung zehn Zweifel säen. Einen Gopnik kann man weder von irgendetwas überzeugen noch kann man ihm etwas beweisen. Er ist Kläger und Richter in einer Person. Den Überzeugungsgrad Ihres Arguments wird der Gopnik beurteilen, nicht Sie, so überzeugend Ihnen das Argument auch vorkommen mag. Dabei ist sein Ziel nicht, die Wahrheit zu finden, denn die kennt er bereits.

    Einen Gopnik kann man nicht überzeugen: Er ist Kläger und Richter in einer Person

    Putin fährt diese Taktik – den Partner in einen Endlosmonolog zu verstricken und lauter Zweifel zu säen – nicht zum ersten Mal. So war es im Fall der malaysischen Boeing, bei der Vergiftung der Skripals und bei Litwinenko. Aber es ist das erste Mal, dass Merkel sich nicht auf diese Gopnik-Spielchen einlässt. Nach zwei Runden Schlagabtausch („beweisen Sie, dass er vergiftet wurde“ und „dann sagen Sie, womit“), hat Deutschland einfach beschlossen, Putin zu ignorieren und alle Untersuchungsergebnisse an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sowie seine G-7-Partner weiterzugeben. Offenbar hat niemand mehr Lust, seine Zeit mit endlosen Gesprächen zu vergeuden, bei denen man am Ende auch noch selbst schuld ist.

    Warum windet Putin sich wie ein Aal? 

    Zu guter Letzt noch die wichtigste Frage: Warum windet Putin sich wie ein Aal, anstatt dem Beispiel der Saudis zu folgen, die nach der misslungenen Beseitigung eines unliebsamen Journalisten acht Schuldige gefunden und verurteilt haben? 

    Dafür gibt es zwei Erklärungen: Erstens, Putin „verrät seine Leute nicht“. Es ist klar, dass das Attentat auf Befehl Putins verübt wurde. Liefert er die Täter aus, würde das seine Autorität innerhalb der mafiösen Sicherheitsstrukturen untergraben. 
    Zweitens mögen die Gopniki, wie ich bereits erwähnte, keinen Aufruhr und erledigen ihre Arbeit lieber still und in Ruhe. Daher auch die Taktik mit den „höflichen Menschen“ bei der Krim-Annexion, ohne einen einzigen Schuss – nach dem Motto, die haben uns die Krim doch freiwillig gegeben. Daher der langjährige Prozess der Machtmonopolisierung, der im Großen und Ganzen ruhig und ohne offene Konflikte abgelaufen ist. Daher auch der langjährige Druck auf Nawalny. Alles im Rahmen des „Gesetzes“. Und wenn es kein passendes Gesetz gibt, erfindet man eben eins.

    Wenn Putin zugibt, dass einer von seinen Silowiki versucht hat, Nawalny zu ermorden, dann würde er de facto eingestehen, dass er mit seinen „intellektuellen Gopnik-Gesprächen“ nichts bei ihm ausrichten konnte und anfangen muss, wie ein Hinterhof-Gangster zu handeln – mit roher Gewalt. Aber Putin schätzt sein eigenes Image als Hinterhof-Intellektueller sehr, der „seit Mahatma Gandhis Tod keinen ordentlichen Gesprächspartner mehr hat“.

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    Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Stell dir vor, der wichtigste russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet – und in Russland geht kein Mensch deswegen auf die Straße. Kaum ein anderer konnte die Massen so mobilisieren wie Alexej Nawalny, der in seinen Recherchen Korruptionsfälle auf höchster Ebene aufdeckte. Doch wo bleibt nun, da nachgewiesen ist, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, der Protest – den es nach der Ermordung etwa von Boris Nemzow durchaus gab? „Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Masse erregt”, meint etwa die Politologin Ekaterina Schulmann gegenüber The Bell, und weiter: „Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist.”

    Unterdessen gehen einige oppositionelle und liberale Stimmen davon aus, dass Nawalny die Vergiftung eher „aus Versehen” überlebte, etwa, weil der Pilot eine Notlandung wagte – und dabei eine Bombendrohung ignorierte, die überraschenderweise kurz nach der Anfrage der Piloten im Flughafen Omsk eingegangen war. Darüber berichtete das Medium Znak.

    Wo bleiben die Massen, die Nawalny einst mobilisieren konnte, die im vergangenen Jahr gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow oder die Wahlfälschungen in Moskau demonstriert haben?
    Der Moskauer Politologe und Historiker Sergej Medwedew macht seiner Empörung Luft auf seinem Facebook-Account, den rund 32.000 Abonnenten wie einen Blog lesen.


    Update, 07.09.2020, 15:45 Uhr: Wie die Charité in einer Pressemeldung bekannt gibt, liegt Nawalny unterdessen nicht mehr im künstlichen Koma und reagiert auf Ansprache.

    Das Überraschendste an der Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys ist, dass es keine Reaktion gibt. Naja, ein paar schwache Reflexe gibt es durchaus: Ist ja verständlich, dass der Kreml in tumbem Weiß-von-Nichts verharrt, wie auch schon bei MH17 („beweist das erst mal”), das Außenministerium scheppert mit Töpfen, in die Arena geschickt werden die Altmeister der Narretei Roschal und Posner – der Propagandakessel braut, blubbert, schmatzt wie immer. Doch die Gesellschaft, die Opposition, der Westen sind wundersam ruhig. Nichts Besonderes: Ein Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker, das ist doch das Normalste von der Welt, er war ja selbst schuld, hat es ja quasi herausgefordert, also business as usual, weiter im Text. 

    Eindeutige Diagnose – und alle schweigen

    Der Mord an Nemzow vor fünf Jahren glich der Explosion einer Vakuumbombe. Der Kreml erstarrte, Putin verschwand für zwei Wochen, Zehntausende gingen auf die Straße, jetzt dagegen: Stille. Wobei Nawalny am heutigen Tag – bei aller Verehrung für Nemzow und aller Anerkennung seiner Persönlichkeit – eine sehr viel gewichtigere politische Figur ist: Er ist ein Medium, Kopf einer regional gut organisierten Institution, er ist die Politik, der einzige Mann in Russland, der es mit Putin aufnehmen kann, und dessen Name auszusprechen das Regime scheut wie der Teufel das Weihwasser.

    Für viele war die Existenz eines Nawalny der Indikator dafür, dass man trotz des Regimes in Russland leben kann, nach der Logik: Nicht ermordet, nicht im Knast – das heißt, man kann es hier noch irgendwie aushalten. Und jetzt ist er nur zufällig, aus Blödheit der Vollstrecker nicht tot, schon drei Wochen im Koma, unklar, in welchem Zustand er ins Leben zurückfindet, ob er zurückkehren wird nach Russland und in die Politik, die Diagnose ist eindeutig – und alle schweigen.
     
    Aber was heißt hier Nemzow – 2015 liegt lange zurück, noch vor etwa einem Jahr gingen doch alle für den Journalisten Iwan Golunow auf die Straße, und auch gegen die Fälschungen (es klingt fast lächerlich) bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament. Stellt euch das mal vor: Die Menschen lieferten sich wegen des Moskauer Stadtparlaments den Gummiknüppeln der OMON-Kräfte und der Rosgwardija aus. Und dieselben Menschen akzeptieren ein Jahr später schweigend die Nullsetzung in der Verfassung, den unabsetzbaren Präsidenten, die Wahllokale auf Baumstümpfen – und jetzt den Mordanschlag und die Ausschaltung von Nawalny.

    Die Normalisierung des politisches Terrors

    Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigerende Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. „Selbst schuld“, „Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen“. Ich weißt nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung … Lesen Sie gern die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch.
     
    Unter ferner liefen steht in den Nachrichten an fünfter Position: In Krasnojarsk wurde eine terroristische Organisation 14- und 15-jähriger Schüler aufgedeckt. Sie hätten Explosionen in Schulen und die Ermordung von Mitschülern geplant und seien schon geständig. Nach Delo Seti und dem Fall Nowoje Welitschije ist das die neue Norm, die Routine des Jahres 2020. 
     
    Wie jetzt weiter? Ein Strafverfahren wegen der Untertunnelung des Kreml? Gegen die Schädlinge des Produktionsbetriebs? Gegen Mörder im Arztkittel? Gegen die Agenten des japanischen und finnischen Geheimdienstes? Ach ja, einen tschechischen Spion haben wir ja schon, die Haft wurde eben erst um drei Monate verlängert …

    Nicht Nawalny liegt im Koma, sondern wir alle.

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  • Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

    Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

    Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens”, Bundeskanzlerin Angela Merkel fand deutliche Worte. Ein Speziallabor der Bundeswehr hat in einer toxikologischen Untersuchung nachgewiesen, dass Alexej Nawalny durch einen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war. „Die russische Regierung ist dringlich aufgefordert, sich zu dem Vorgang zu erklären”, heißt es in einer offiziellen Mitteilung der Bundesregierung. Während die Bundesregierung erklärte, mit den Partnern EU und Nato „im Lichte der russischen Einlassungen“ über Reaktionen entscheiden zu wollen, wurden bereits Rufe nach harten Konsequenzen laut. CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagte in den Tagesthemen, man sei „erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden“ und brachte unter anderem einen Stop von Nord Stream 2 ins Spiel. 

    Kremlsprecher Dimitri Peskow wies in einem ersten kurzen Statement darauf hin, dass man in Russland bei Nawalny keinen Hinweis auf eine Vergiftung gefunden habe. Der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoj behauptete laut Nachrichtenagentur Tass, falls Nawalny Nowitschok verabreicht worden sei, so sei dies erst in der Klinik in Deutschland, also der Charité, geschehen. Das russische Außenministerium kritisierte unterdessen, dass die deutschen Ärzte nur unzureichende Belege geliefert hätten.

    Liberale und oppositionelle Stimmen in Russland dagegen lassen meist keinen Zweifel aufkommen, wen sie für den Schuldigen halten: den Kreml. Was aber heißt „der Kreml“? Ist Putin persönlich verantwortlich zu machen, stecken Silowiki dahinter – darüber kann man nur mutmaßen. Wer ließ Nawalny vergiften – und warum gerade jetzt? Das sind die zwei Fragen, die derzeit derzeit die liberale russische Öffentlichkeit und unabhängige Medien beschäftigen. dekoder übersetzt vier Thesen aus der aktuellen Debatte.

    „Die politische Führung ist besorgt um die Ergebnisse bei den Regionalwahlen“

    Der Politologe und Kolumnist Fjodor Krascheninnikow steht Nawalny nahe. Er ist Co-Autor eines Buches von Leonid Wolkow, der wiederum den Regionalbüros des Nawalny-Teams vorsteht. Auf Republic verweist Kraschenninikow auf Nawalnys neues Enthüllungsvideo, das der Oppositionspolitiker und sein Team kurz vor der Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hatten und das nun veröffentlicht wurde. Darin geht es um Korruption und mafiöse Strukturen bei Abgeordneten der Regierungspartei Einiges Russland, die zugleich wichtige Teile des lokalen Bau- und Bestattungsgewerbes kontrollieren.

    [bilingbox]Nawalnys Filme werden wirklich millionenfach geschaut. Dadurch entsteht die einmalige Möglichkeit, mit Recherchen zu lokalen Themen die Regionalwahlen zu sprengen – jedem dieser Filme ist eine virale Verbreitung sicher. […]

    Allen Anzeichen nach ist die politische Führung des Landes besorgt um die Ergebnisse am Einheitlichen Wahltag, dem 13. September. Wir reden hier von Regionalwahlen, die im Land nichts wesentlich verändern werden, wie auch immer sie ausfallen. Oder doch? Jedenfalls steigt die Nervosität und die Erwartungen sind wohl kaum besonders rosig. 

    ~~~

    Фильмы Навального действительно смотрят миллионы, и это создает уникальную возможность «взорвать» региональные выборные расклады публикацией расследований на местные темы, каждое из которых обречено на вирусное распространение. […]

    Судя по всему, итоги единого дня голосования 13 сентября тревожат политическое руководство страны – а ведь речь идет о выборах в регионах, любой исход которых ничего особо не поменяет в стране. Или поменяет? Во всяком случае, нервозность явно растет и едва ли ожидания слишком радужные.

    [/bilingbox]

     

    „Es ist sinnlos, zu rätseln, warum ausgerechnet jetzt”

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Politologen um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die von Ekaterina Schulmann:

    [bilingbox]Es ist sinnlos zu rätseln, warum Nawalny ausgerechnet jetzt vergiftet wurde. Die Leute, die solche Entscheidungen treffen, leben in ihrer eigenen medialen Realität. Uns mag so etwas unlogisch erscheinen, nach den erfolgreich angenommenen Verfassungsänderungen, in Erwartung einer zweiten Pandemiewelle, vor der Präsidentschaftswahl in den USA und während der politischen Krise in Belarus. Doch diese Leute haben ihren eigenen Kalender, eine eigene Nachrichtenwelt, eigene Jahres- und Erinnerungstage. Und was auch wichtig ist: Sie haben ihre eigene Bezugsgruppe, deren Meinung ihnen wichtig ist.

    Ob Proteste möglich sind? Wenn es sie bislang nicht gab, dann wird auch die Nachricht darüber, dass Nawalny ausgerechnet mit Nowitschok vergiftet wurde, keine Proteste auslösen. Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Massen erregt. Aber falls – was man nicht wünschen möchte – Nawalnys Gesundheit noch irgendetwas zustößt, dann könnte das zum Protest-Trigger werden. 

    Die aktuellen Informationen [über Nawalnys Vergiftung mit Nowitschok] haben kaum jemanden überrascht. Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist und das Nowitschok kein „echtes“ Nowitschok ist, sondern ein speziell zur Provokation angefertigtes. Wenn es „echtes“ wäre, wäre er sofort tot gewesen … Mir sind solche geistreichen Versionen schon untergekommen.
     

    ~~~

    Бессмысленно гадать, почему Навального отравили именно сейчас. Люди, которые принимают такие решения, живут в собственном информационном пространстве. Это нам может показаться нелогичным устраивать такое после удачно принятых конституционных поправок, в ожидании второй волны пандемии, накануне президентских выборов в США, во время белорусского политического кризиса. А у этих людей свой календарь, своя новостная повестка, свои памятные даты и годовщины. Что еще важно, у этих людей своя референтная группа, мнение которой им важно.

    Возможны ли протесты? Если их не было до сих пор, то сама новость о том, что Навального отравили именно «Новичком», их не вызовет. Это важная новость для международных отношений, но не та [новость], которая может возбудить чувства широких масс. Вот если (чего не хотелось бы) что-то новое случится со здоровьем Навального, это может стать триггером.

    Нынешняя информация [об отравлении Навального именно «Новичком»] мало кого и удивила. Есть те, кто и без заявления немецких властей понимал, что произошло. Есть те, кто считает, что это западная провокация и «Новичок» не настоящий, а специально изготовленный провокационный. Уж настоящий-то сразу бы убил… Мне попадались такие остроумные версии.

    [/bilingbox]

     

    „Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist Putin“

    Andrej Sinizyn, Chefredakteur des Meinungsressorts kommentiert auf Republic:

    [bilingbox]Die Vergiftung Nawalnys trägt einige wichtige Merkmale:
    Tatort war Russland. So kann man sich schwer damit herausreden, dass „das jeder gewesen sein kann“ (obwohl Abgeordnete der Duma sich ungefähr so ausdrücken) . 
    Verwendet wurde ein seltener chemischer Kampfstoff, der in einer staatlichen Institution entwickelt wurde. 
    Das Gift wurde mindestens zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren eingesetzt – nach einem heftigen Skandal und Sanktionen infolge der ersten Verwendung (im Fall Skripal); ebenso nach einigen anderen Vergiftungen, inklusive des Todes von Alexander Litwinenko. 
    Nawalny ist der wichtigste Nicht-System-Oppositionelle in Russland. 
    All das lässt den westlichen Politikern – nach den Untersuchungsergebnissen des Bundeswehr-Labors – keinerlei Rückszugsmöglichkeit. Und all das wusste der Kreml wahrscheinlich von vornherein. 
    Doch Russland macht weiter: „Wir haben euch Nawalny ohne Gift übergeben“, „Zeigt eure Beweise”, „Das Gift kann man in jedem Military-Shop kaufen“ und so weiter. Diese Rechtfertigungen stimmen vielleicht einen Teil des innerrussischen Publikums zufrieden, der jedoch weitaus kleiner ist als noch vor drei Jahren. Im Westen genießt der Kreml kein Ansehen mehr – und geglaubt wird den deutschen Ärzten, nicht denen aus Omsk.
    Es sieht so aus, als brauche es jegliche Rechtfertigungen ohnehin nicht. Als habe ein auf Null gesetzter Putin all das nicht mehr nötig. Diplomatie, Verhandlungen, Einhalten von Verträgen, Gipfeltreffen, Mitgliedschaft im Kreis der Anständigen. Wozu? Dort drüben [in den USA] schießt die Polizei einem Unbewaffneten sieben Kugeln in den Rücken. Außerdem ist die Pandemie da schlimmer als bei uns und sie haben keinen Impfstoff und eine Wirtschaftskrise. Es reicht, genug geredet und verhandelt. Jetzt heißt es: Jeder gegen jeden, wollen wir doch mal sehen, was ihr zu unseren Überschallraketen sagt.
    Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist er. Als Staat hat Putin die Verantwortung für die Vergiftung eines Bürgers in sich. Aber er hat sie nicht den anderen Staaten gegenüber, sondern nur vor Gott. Also stört ihn nicht bei der Arbeit.
    Nun – die Bürger müssen sich darauf einstellen, dass das Land ernsthaft und für lange Zeit die Tore schließt. Einige Bürger werden um der Stabilität willen vergiftet werden. Die Regierungs- und Führungselite wird weiter altern – und das Risiko für unzurechnungsfähige Befehle wird wachsen.

    ~~~

    Отравление Навального имеет ряд важных характеристик. Оно произошло в России – трудно оправдываться тем, что «это мог быть кто угодно» (хотя депутаты Госдумы говорят примерно так). Использован редкий военный яд, разработанный в государственном учреждении. Яд этот использован как минимум второй раз за три года, после громкого скандала и санкций вследствие первого раза (дело Скрипалей); а также после ряда других отравлений, включая смерть Александра Литвиненко. Навальный – главный несистемный оппозиционер в России.
    Все это не оставляет политикам Запада – после исследований в лаборатории Бундесвера – вообще никаких путей к отступлению. И все это, наверное, заранее понимали в Кремле.
    Но Россия продолжит говорить: «мы вам отдали Навального без яда», «покажите ваши доказательства», «этот яд можно купить в Военторге» и т.д. Эти оправдания, возможно, устроят часть внутренней аудитории – меньшую, чем три года назад. На Западе никакой репутации у Кремля не осталось, и верить будут немецким медикам, а не омским.
    Но похоже, что задача оправдаться вообще не стоит. Похоже, что обнуленному Путину все это уже не нужно. Дипломатия, переговоры, соблюдение договоров, саммит «пятерки», прием в приличном обществе. Зачем? У них там в спину безоружному семь пуль выпускают полицейские. Еще у них пандемия хуже нашей, а вакцины нет, и экономический кризис. Хватит, напереговаривались. Теперь все против всех, и еще посмотрим, что вы скажете на наши гиперзвуковые ракеты.
    После обнуления государство – это он. Как государство, он несет ответственность за отравление гражданина внутри себя. Но не перед другими государствами, а перед Богом. Поэтому не мешайте работать.
    Ну а гражданам надо приготовиться к тому, что страна закроется всерьез и надолго. […] Некоторые граждане могут быть отравлены в целях стабильности. Руководящая и направляющая элита продолжит стареть, а риск невменяемых приказов – расти.
    [/bilingbox]

     

    „Man darf nicht ausschließen, dass Putins nichts von der Vergiftung Nawalnys wusste. Und das ist wirklich beängstigend“

    Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Experten um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die des als kremlnah geltenden Politologen Konstantin Kalatschow:

    [bilingbox]Die Machtvertikale, die angeblich zentral vom Kreml getroffenen Entscheidungen – das alles ist ein Mythos. Man darf nichts ausschließen. Unter anderem darf man nicht ausschließen, dass die Vergiftung Nawalnys unter Umgehung Putins und ohne Abstimmung mit ihm erfolgte. Er persönlich braucht das gerade gar nicht, darum könnte es einfach irgendjemandes Eigeninitiative sein. Aber falls das so gelaufen ist, verliert der Staat das Gewaltmonopol. Und das ist wirklich beängstigend.

    ~~~

    Вертикаль власти, централизованные решения, которые якобы принимает Кремль, это все миф. Ничего нельзя исключать. В том числе нельзя исключать, что отравление Навального произошло в обход Путина и без согласования с ним. Лично ему эта история сейчас не нужна, поэтому это может быть просто чья-то самодеятельность. И если это так, то государство теряет монополию на насилие. Вот это реально страшно. [/bilingbox]

     

    veröffentlicht am 03.09.2020
    dekoder-Redaktion

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    Eine toxische Angelegenheit

    Alexej Nawalny liegt im Koma, seine Pressesprecherin Kira Jarmysch geht davon aus, dass er vergiftet wurde. Er wäre nicht der erste russische Oppositionspolitiker, dem dies geschieht. In einem redaktionellen Statement listet Projekt ähnliche Fälle auf – in denen nie ein Täter identifiziert, Ermittlungen gar nicht erst aufgenommen oder nie abgeschlossen wurden.

    Politik in Russland ist eine toxische Angelegenheit, oft auch im Wortsinne. Was auch immer der Grund für Alexej Nawalnys Vergiftung war, wer auch immer dahinter stehen mag: Es ist wichtig, dass die Umstände umgehend, sorgfältig und unvoreingenommen aufgeklärt werden. So sollte es sein, doch in der Realität bleiben die vielfältigen Gewaltakte gegen Vertreter der politischen Opposition und gegen Bürgeraktivisten zu oft folgenlos. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Toleranz gegenüber politischer Gewalt in Russland extrem hoch ist, und derzeit deutet nichts darauf hin, dass sie sinken wird. 

    Nawalny wurde im Flugzeug übel, als er am 20. August morgens von Tomsk Richtung Moskau flog. Wie seine Sprecherin Kira Jarmysch berichtete, die Nawalny auf der Reise begleitet hatte, hat er während des Flugs nichts zu sich genommen, er hatte nur zuvor eine Tasse Tee im Flughafencafé getrunken. Das Flugzeug landete in Omsk zwischen, Nawalny wurde im bewusstlosen Zustand auf die Intensivstation des örtlichen Krankenhaus gebracht und dort künstlich beatmet. Er liegt im Koma, die Ärzte in Omsk bewerten seinen Zustand als ernst, aber stabil. Wie Kira Jarmysch mitteilt, ist aus Sicht der Ärzte eine Verlegung in eine andere Klinik derzeit unmöglich. Nawalnys Kollegen glauben, dass der Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung mit Absicht vergiftet wurde. Sie nehmen an, dass der Giftstoff im Tee gewesen sein könnte. Die Ärzte halten eine Vergiftung für möglich, eine abschließende Diagnose gibt es bislang allerdings nicht.

    Das ist nicht die erste ernsthafte Attacke auf Nawalnys Gesundheit. Es ist bezeichnend und auf jeden Fall äußerst gefährlich, dass der Grad der Gewalt zunimmt.

    Im Frühjahr 2017 hatte man Nawalny Seljonka ins Gesicht gespritzt (womöglich gemischt mit Säure). Die Folgen der schweren Verätzungen im Auge mussten lange behandelt werden. Der Angreifer ist untergetaucht, ob er gestellt und bestraft wurde, ist nicht bekannt. 
    Im Sommer 2019 wurde Nawalny während einer Haftstrafe, die er aufgrund einer Ordnungswidrigkeit absaß, mit einer starken allergischen Reaktion in ein Krankenhaus eingeliefert, obwohl er nie zuvor unter Allergien gelitten hatte. Der Allergieauslöser wurde nicht gefunden. (In derselben Zelle hatte zuvor auch Nawalnys Mitstreiter Leonid Wolkow gesessen, bei ihm zeigten sich unmittelbar nach Freilassung ebenfalls Anzeichen einer plötzlichen starken Allergie.)

    Vergiftungen von politischen und anderen Aktivisten mit ähnlichen Symptomen wie bei Nawalny sind leider auch keine Seltenheit mehr. [Mediazona-Herausgeber und Pussy Riot-Aktivist – dek] Pjotr Wersilow kam 2018 mit Anzeichen einer schweren Vergiftung ins Krankenhaus, er wurde schließlich zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen. Er hat bereits geäußert, dass ihn das, was mit Nawalny geschehen ist, an seine eigene Geschichte erinnert. Wersilow hatte die Vergiftung damals in Verbindung gebracht zu seinen Recherchen zum Mord an russischen Journalisten in der Zentralafrikanischen Republik. Der Giftagent wurde nicht gestellt. Der stellvertretende Vorsitzende von Open Russia, Wladimir Kara-Mursa junior, wurde zweifach mit ungeklärten Substanzen vergiftet – 2015 und 2017. Er selbst sprach von einem Mordversuch an ihm, aus Rache für seinen Einsatz für den Magnitski-Akt in den USA und in Europa. 
    Die Journalistin Anna Politkowskaja hatte 2004 im Flugzeug einen Tee getrunken und wurde daraufhin mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert. Sie war damals auf dem Weg nach Beslan, zu der von den Terroristen besetzten Schule. Kollegen der 2006 ermordeten Politkowskaja sehen ebenfalls Ähnlichkeiten zwischen den Vergiftungserscheinungen bei der Journalistin damals und bei Nawalny heute. 

    In keinem der Vergiftungsfälle wurde je ein Täter identifiziert, Ermittlungen wurden quasi gar nicht aufgenommen oder nie abgeschlossen.

    Die Regelmäßigkeit solcher Vergiftungen und die Straffreiheit der Täter ist beängstigend. Durch die Häufigkeit und die ständig wachsende Gefahrenlage sinkt in der Gesellschaft die Sensibilität für derartige Verbrechen. Gewalt gegen Regierungsgegner oder lediglich unzufriedene Bürger wird zur Routine. Zweifellos festigt sich auch bei denen, die missliebige Personen auf die ein oder andere Art „bestrafen“ wollen, das Gefühl, dass ihnen alles erlaubt ist. Im Fall von Nawalny gibt es von solchen Leuten potentiell sehr viele, angefangen bei den Protagonisten seiner Korruptions-Enthüllungen (darunter sind auch hochrangige Silowiki und Vertreter der Elite) bis hin zu inoffiziellen Helfern der Staatsmacht, die so auf ihre Art mit „Bedrohungen für die Stabilität“ des Regimes umgehen. 

    Ein Attentat auf einen Staatsvertreter oder eine Person des öffentlichen Lebens (Artikel 277 des Strafrechts der Russischen Föderation) wird in Russland hart bestraft: 12 bis 20 Jahre Freiheitsentzug (die in dem Paragraphen ebenfalls vorgesehene Todesstrafe wird nicht angewendet). Aber solche Fälle sind eine Seltenheit. Nach Angaben der Rechtsdienststelle am Obersten Gericht wurden in den vergangenen zehn Jahren nach diesem Paragraphen drei Menschen verurteilt.

    Nawalnys Kollegen haben sich bereits an das Ermittlungskomitee gewendet mit der Forderung, ein Verfahren nach Paragraph 277 Strafgesetzbuch zu eröffnen. Wie die Strafverfolgungsbehörde darauf reagierte, ist bislang nicht bekannt – außer, dass im Omsker Krankenhaus ziemlich viele Vertreter der unterschiedlichsten staatlichen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden versammelt sind. Indes sind das Hinauszögern der Untersuchung, die Imitation von Ermittlungen, das Abbremsen des ganzen Falls das schlimmste Signal, das die Regierung der Gesellschaft jetzt geben kann. Jetzt, da es um den Anführer der russischen Opposition geht – dessen Namen sein größter Rivale – Wladimir Putin – lieber gar nicht erst laut ausspricht. Es ist zynisch darüber zu diskutieren, wem eine Vergiftung Nawalnys nutzen könnte, aber eine gründliche und professionelle Untersuchung des Vorgangs würde zweifellos auch der Regierung nutzen. 

    Ja, die Politik ist eine toxische Angelegenheit, aber der politische Kampf darf niemals in politischen Terror ausarten, wenn der Staat nicht selbst zu einem Terrorstaat werden soll.

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    Video #22: „Herr Nawalny, ich fordere Sie zum Duell“

    Auf YouTube hat der Chef der russischen Nationalgarde Viktor Solotow ordentlich Dampf abgelassen: „Ich fordere Sie zum Duell“, wandte sich der General und einstige Leibwächter Putins in einem siebenminütigen Video an Oppositionspolitiker Alexej Nawalny
    Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung hatte zuvor Recherchen über Korruption bei der Nationalgarde vorgelegt. Dabei wird Solotow beschuldigt, dass er sich persönlich bereichert habe. Dies weist er im Video weit von sich, wenn er auch „korruptionsbedingte Mängel“ in seiner Behörde eingesteht.
    Nawalny sitzt unterdessen eine 30-tägige Haftstrafe ab, wegen Organisation nicht genehmigten öffentlichen Protests. Nichtsdestotrotz hatten seine Anhänger am vergangenen Wochenende erneut in mehreren Städten Russlands Proteste gegen die geplante Rentenreform durchgeführt, dabei waren mehr als 1000 Menschen festgenommen worden.
     
    Solotows virtuelle Kampfansage an „Gospodin Nawalny“ (dt. „Herr Nawalny“) , wie er ihn anspricht, ging im RUnet schnell viral. Kreml-Sprecher Peskow sagte, die Äußerungen Solotows über den offiziellen YouTube-Kanal der Nationalgarde seien mit Putin nicht abgesprochen gewesen. Zugleich äußerte er Verständnis für Solotow und meinte, man müsse Verleumdungen bisweilen im Keim ersticken.


    Das Originalvideo finden Sie hier.


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    dekoder-Redaktion
    erschienen am 12.09.2018

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  • „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

    Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

    Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei
    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

    Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

    Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

    Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

    Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.


    Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

    Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
    Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

    Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
    Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

    Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

    Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
    Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

    Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

    Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

    Glaubst du das?

    Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
    Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

    Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

    Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

    Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

    Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

    Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

    Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

    Aber doch nicht mit Nawalny!

    In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

    Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

    Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

    Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

    Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

    Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube
    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

    Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
    Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

    Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

    Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

    Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

    Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

    Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

    Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

    Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

    Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

    Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

    Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

    Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

    Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

    Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

    Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

    Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

    Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

    Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
    Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

    Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

    Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

    Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

    Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

    Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

    Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

    In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

    Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

    Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

    Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
    Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

    Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

    Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

    In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

    Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

    Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

    Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


    https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

     

    Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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