Für Millionen von Menschen hatte Alexej Nawalny Hoffnung verkörpert: Hoffnung auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“, in dem Regierungen durch Wahlen abgelöst werden können, das die Würde des Einzelnen achtet und seine Nachbarn in Frieden lässt. Mit dem Tod Nawalnys ist diese Hoffnung bei vielen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit umgeschlagen.
Schura Burtin, der als Journalist aus den Kriegsgebieten in der Ukraineberichtet hat, schreibt auf Meduza, dass Hoffnung derzeit schädlich ist. Sein aufgewühlter Kommentar hat im russischsprachigen Internet sehr starke Reaktionen hervorgerufen. Der Politologe Sergej Medwedew spricht etwa von einem „Manifest der Verzweiflung“, das vor allem emotional und nicht analytisch sei. Die Schriftstellerin Anna Starobinets dagegen sieht in Burtins Text schlicht eine „Anleitung zum Überleben“ unter den gegebenen Umständen. dekoder dokumentiert Burtins kontroverses Meinungsstück im Wortlaut auf Deutsch.
Erst nach diesem Mord wurde klar, wie immens unbewusst wir davor lebten in der Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft. Wir wollten unbedingt glauben, dass das, was da vor sich geht, ein vorübergehender Fehler ist. Ungeachtet einer inneren Stimme der Vernunft lebte in uns das nebulöse Bild einer Zukunft, die wir bevorzugen würden – und bestimmte unser Verhalten. Nawalny hat sein Leben auf dieses Bild ausgerichtet, und es dadurch quasi Realität werden lassen. Putin hat uns schlichtweg erklärt, dass es diese Zukunft nicht gibt.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zurückfallen in diese Illusion. Denn dieses Böse macht in der Tat mehr Angst, als wir verdauen können. Indem wir Blumen niederlegen oder ein Foto von Julia Nawalnaja posten, wird es keine solche Zukunft geben, wir beruhigen uns nur.
Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich
In dem Video Gebt nicht auf spricht Nawalny über eine Kraft in uns. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er seine Kraft gespürt und sie auf uns alle projiziert. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Schwäche spüren. Dass wir klar sehen, dass wir keine Zukunft haben und dass wir sehr schwach sind. Dass wir sehen, wie zersplittert wir sind, wie wenig wir im Stande sind, einander zu helfen.
Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich. Wir befinden uns in einem schlimmen, bösartigen Prozess, der so bald nicht zum Stillstand kommen wird. Denn Russland ist ein riesiges Land, und es strotzt nur so von Kraft.
Ich glaube, der Mord war eine Botschaft an den Westen. Doch auch Russland hat die Botschaft vernommen. Und sie klingt hier so: „Verräter werden wir töten.“ Das hat Putin schon früher gesagt, doch als Verräter galten die, die seine Bande hintergingen. Jetzt sind es auch die Vaterlandsverräter. Dafür gibt es keine Befehle, das funktioniert anders: Auf allen Ebenen wurde jetzt klar, dass es keine Hemmungen mehr gibt. Vom Mord an Kirow bis zum Großen Terror hat es nur drei Jahre gedauert.
Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben
Auf einer Kundgebung in Tbilissi anlässlich der Ermordung Nawalnys skandierten ein paar Mädchen: „Wir haben keine Angst!“ Ich wollte ihnen sagen: „Das solltet ihr aber.“ Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben. Man muss sich ganz nüchtern bewusst werden, dass alles schlimmer wird – und nicht nur in Russland. Der Krieg wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausweiten. Als ich von dem Mord hörte, dachte ich aus irgendeinem Grund sofort, dass sie jetzt in Georgien einmarschieren werden, einfach weil sie nicht aufhören können. Plötzlich wurde mir klar, dass die Litauer, Letten und Georgier, die wegen der russischen Bedrohung in Panik gerieten, völlig Recht hatten und ich nicht. Denn wir sahen es aus unserer Perspektive und subjektiv, sie aber von außen und objektiv.
Eigentlich interessiert Putin gegenwärtig nichts außer seine Reibereien mit dem imaginierten Westen. Klar, er hat Nawalny gefürchtet und gehasst, doch in seinem Kopf trägt er im Wahn eine Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Derzeit geht es ihm dabei blendend, an der Front läuft es bestens und in seinem Kopf sagt er zu ihnen: „Ihr Idioten glaubt also, dass es ein anderes Russland gibt und irgendeinen Nawalny? Ihr habt gehofft, mit dem werdet ihr euch dann später einigen können? Nein. Ihr werdet mit mir sprechen, kapiert?“ Für ihn ist es wichtig, dass sie ihn mal können, dass sie ihm Respekt zollen. Und er wird die Einsätze erhöhen und weiter eskalieren. Niemand kann das stoppen. Wir haben dafür keine Kraft und hatten sie im Grunde auch nie. Aber auch die Welt hat keinen Plan, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse. Putins Wahn ist nur eine Manifestation des Bösen; Krieg drängt aus jeder Ritze hervor, und es kann leicht passieren, dass wir dabei draufgehen.
Am ehesten wird sich wohl jeder einsam und allein für sich retten. Die Opposition ist verstreut und hilflos. Noch nicht einmal in Freiheit, in der Emigration versucht sie etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, zum Beispiel für die Interessen von Millionen aus Russland geflohener Russen einzustehen. Und mir fällt auch nichts ein, wie man das ändern könnte.
Hoffnung auf die Zukunft – derzeit ist das schädlich. Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen: Wir sind zu wenige, wir sind sehr, sehr schwach. Alles, was wir haben, ist das Jetzt – und uns in diesem Jetzt. Wir müssen einsehen, dass unsere Lage beschissen ist und wir nicht wissen, was wir tun sollen.
Die Zeit ist gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten
Als ich von Nawalnys Tod erfuhr, wollte ich gleich alle anrufen. Das ist erst einmal das Einzige, was mir einfiel: anderen nah zu sein. Bewusst einander nah zu sein und sich umeinander zu kümmern. Sich klarzumachen, was die Personen, die mir nahestehen, jetzt brauchen, lieber zweimal darüber nachzudenken. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten und zu versuchen, sich anders zu verhalten. Wir sollten uns bewusst darum bemühen, Menschen zu vereinen, ganz egal wozu, und sei es einfach, um gemeinsam ein Abendessen zuzubereiten. Was jetzt zählt, ist, sich nicht zu verschließen, offen zu bleiben für Einladungen anderer, zu vertrauen.
Als Russland die ersten Bomben auf Charkiw abwarf, zeigten die Kassiererinnen in den wenigen verbliebenen Supermärkten plötzlich eine ungewohnte Höflichkeit und Fürsorge. Sie spürten, dass es die Kunden, die bei ihnen in der Schlange standen, genau so gut hätte treffen können. So sollten auch wir handeln. Mir scheint, dass der Tod von Nawalny kein Signal ist, dass wir uns an die Schießscharten begeben sollten (wo wir uns sowieso nur die Hosen vollscheißen). Es ist eher ein Zeichen, dass wir auf unserem Weg bisher versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun und dass wir deswegen so schwach waren. Dass wir immer so schwach sind.
Ich glaube nicht an wirkungsvolle Aktionen bei faschistischen Wahlen. Wobei man die Initiativen guter Leute unterstützen sollte, auch wenn sie andere Ansichten haben. Auf allerlei Zankereien sollte man bewusst Verzicht üben, das ist momentan dumm. Wir sind sehr schlecht darin, einander zu unterstützen, nicht nur in der Politik, sondern generell. Wir müssen das lernen, wenn wir nicht blöd verrecken wollen. Natürlich sind wir es gewöhnt, unser normales Leben zu leben, in dem es die Gesellschaft auf welche Art auch immer nicht zulässt, dass du draufgehst. Meines Erachtens müssen wir erkennen, dass die Situation jetzt eine andere ist.
Ich befürchte, dass es für die meisten meiner Freunde, die nichts dergleichen tun, in den kommenden Jahren gefährlich wird, in Russland zu bleiben. Als Nawalny getötet wurde, hat mein Freund und Kollege Andrej einen verzweifelten Post geschrieben und alle, die können, aufgerufen zu fliehen. Der letzte Satz dort lautete: „Ich hatte gar nicht die Wahl, es zu wollen oder nicht zu wollen.“ Ja, Andrjucha, die wenigsten wollen es. Aber du willst es plötzlich ganz leicht, wenn dir und deinen Nächsten Gefahr droht. Es geht nicht darum, ob alle vorzeitig abhauen, sondern darum, kein Dummkopf zu sein – und den Vampiren nicht noch jemanden zum Fraß vorzuwerfen. Zu wollen ist nicht das Problem, die Frage ist bloß, wie man im Ausland leben soll. Für viele ist das sehr schwer, sie brauchen Hilfe. Darüber heißt es ernsthaft nachzudenken, solange dafür noch Zeit ist.
Es ist schädlich auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug
Es steht schlecht um unsere Infrastruktur, aber immerhin gibt es sie. Wir sollten uns bemühen, noch mehr den Organisationen zu helfen, die etwas tun. Egal wem, wichtig ist, sich überhaupt aktiver an gemeinsamen Sachen zu beteiligen. Und die Organisationen sollten sich nicht verschließen. Je stärker diese Infrastruktur ist, desto größer sind unsere Chancen. Es ist gut, dass Menschen wie Alexej Nawalny und Julia Nawalnaja versuchen, uns zu vereinen, aber ganz allgemein ist es schädlich, auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug. Nur eine [zivilgesellschaftliche – dek] Infrastruktur kann funktionieren.
Solange es noch möglich ist, sollten wir Briefe an politische Häftlinge schreiben. Es ist wichtig, Kontakte mit Ukrainern wiederherzustellen. Das ist schwer, aber wir müssen es versuchen, ihnen schreiben, sie anrufen, ihnen helfen. Nach dem Mord rief mich ein nur flüchtig bekannter Kollege aus Kyjiw an, um sein Beileid auszudrücken – obwohl ich Nawalny gar nicht persönlich kannte. Er sagte, dass es in Kyjiw viel dämlichen Hate gebe, aber ihm sei es wichtig zu sagen, dass er mit uns fühlt. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür.
Mir ist wichtig, dass ich das Gefühl des Entsetzens nicht vergesse, das im ersten Moment nach dem Mord über mich hereinbrach. Ich glaube, in diesem Moment habe ich alles ganz klar und nüchtern gesehen.
Alexej Nawalny wurde heute in Moskau beerdigt. Zum Trauergottesdienst im Bezirk Marjino und zur anschließenden Beisetzung auf dem Borissowski-Friedhof kamen Zehntausende Menschen. Hunderttausende verfolgten die Ereignisse online im Livestream. Auf Telegram nimmt die inzwischen im Exil lebende russische Journalistin Olga Beschlej Abschied – von Nawalny und einem Teil ihrer Lebensgeschichte.
die erste politische Erschütterung in meiner Jugend war der Mord an Anna Politkowskaja: Ich war damals gerade erst fürs Studium nach Moskau gezogen, und Politkowskaja war für mich ein Beispiel an journalistischem Mut und beruflicher Hingabe
ich weiß noch, wie ich mit einer Freundin Blumen zu ihrem Haus auf der Lesnaja Straße brachte, und schon damals war da dieses starke Gefühl von Verlorenheit und Verstörtheit
ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mord im Interesse der Regierung organisiert worden war, und ich dachte voll Besorgnis an die Zukunft des von mir gewählten Berufs
der Mord an Boris Nemzow war in anderer Art ein Schlag: Boris Jefremowitsch war oft in der Redaktion der Zeitschrift, bei der ich arbeitete, wir hatten oft telefoniert und sogar zusammen Korrekturen an seinen Artikeln vorgenommen
ich kannte ihn oberflächlich, aber ich kannte ihn
und bis heute wünsche ich, ich könnte die Fotos von der Großen Moskwa-Brücke ungesehen machen
nach dem Tod von Alexej Nawalny lebe ich in innerer Taubheit: ich sage, schreibe, tue was, aber kann meine Gefühle weder benennen noch beschreiben
ein riesiger Teil meines Lebens war mit Nawalny verbunden: journalistische Arbeit bei Demonstrationen, Berichterstattung bei Wahlkampagnen und Strafprozessen
ich hatte die Möglichkeit politisch teilzuhaben, weil Nawalny, Nemzow, Jaschin (und viele andere Menschen, die ich jetzt nicht aufzähle, an die ich aber natürlich denke) Politik gemacht haben in einem unfreien Land, trotz allem und ungeachtet dessen
ich glaube, dass es in Russland Änderungen zum Besseren geben wird: das Regime wird zusammenbrechen
aber das Russland, von dem ich geträumt habe, wird es nicht mehr geben: Menschen, mit denen ich Wandel und Zukunft assoziiert habe, wurden entweder ermordet oder verlieren im Lager ihre Gesundheit oder sind auf der ganzen Welt verstreut, und mir ist bewusst, dass nicht alle zurückkommen wollen oder können
es wird etwas anderes
meine Hoffnung ist stark wie nie und ich unterstütze sie in den Menschen um mich herum, denn das ist es, was jeder von uns tun kann im Gedenken an Alexej Nawalny und die anderen Opfern des Regimes – die Hoffnung bewahren, nicht verzweifeln, einander Mut machen
ja, irgendwas tun! Egal was
für den Erhalt der Zivilgesellschaft, die Wahrung unserer Werte und den Zusammenhalt der Menschen
doch zusammen mit Nawalny ist ein Teil von mir heute vergangen
Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.
Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht.
dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden?
Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.
Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das?
Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten.
Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?
Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen.
Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet?
Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird.
Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen?
Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.
… So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde?
Ja genau.
Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten.
Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können.
Wer hat den Aufruf gestartet?
Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen.
In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort?
Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.
Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny?
Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.
Alexej Nawalny war zweifellos einer der talentiertesten Politiker unserer Zeit. Die Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung haben allen vor Augen geführt, wie Wladimir Putins Umfeld sich bereichert. Noch wichtiger war aber, dass er die Mächtigen der Lächerlichkeit preisgab: Ein Volk, das gelernt hat, Angst zu haben vor dem Staat, lernte von Alexej Nawalny, über dessen Vertreter zu lachen. Das untergrub ihre Macht. „Ich habe keine Angst, und ihr sollt auch keine Angst haben“, war Nawalnys wichtigste Botschaft. Mehrfach haben Putins Geheimdienste versucht, ihn umzubringen. Am 16. Februar 2024 meldete die Strafvollzugsbehörde seinen Tod in einem Straflager hinter dem Polarkreis.
Lew Schlosberg, Publizist und Politiker der Partei Jabloko, auf Telegram
[bilingbox]Beim Tod von Alexej Nawalny handelt es sich um einen geplanten politischen Mord. Es muss wegen eines Anschlags auf das Leben einer öffentlichen Person ermittelt werden, eines Anschlags, der begangen wurde, um seine politische Tätigkeit zu unterbinden oder um sich für eine solche Tätigkeit zu rächen. Gemäß Artikel 277 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation wird das mit einer Freiheitsstrafe von zwölf bis zwanzig Jahren geahndet. Oder mit lebenslanger Haft. Oder mit der Todesstrafe. ~~~Смерть Алексея Навального является спланированным политическим убийством и должна быть расследована как посягательство на жизнь государственного или общественного деятеля, совершенное в целях прекращения его государственной или иной политической деятельности либо из мести за такую деятельность (статья 277 Уголовного кодекса РФ), что наказывается лишением свободы на срок от двенадцати до двадцати лет с ограничением свободы на срок до двух лет, либо пожизненным лишением свободы, либо смертной казнью.
большое личное потрясение для граждан России. Мои соболезнования семье, всем родным и друзьям Алексея Навального. Когда в Россию вернется правосудие, убийцы будут установлены и наказаны. [/bilingbox]
[bilingbox]Nein, diese Mistkerle haben nicht nur Nawalny umgebracht – als ich von seinem Tod las, hatte ich außer Wut und Entsetzen das Gefühl, dass sie in mir jegliche Hoffnung getötet haben darauf, dass in Russland zu meinen Lebzeiten noch irgendetwas Gutes kommen könnte. Als ob in mir noch irgendein irrationaler Glaube gelebt hätte, solange Nawalny noch am Leben war, obwohl er faktisch eine lebenslängliche (putinsche) Haftstrafe absaß. Jetzt ist es vorbei, nur noch Verzweiflung. ~~~нет, не просто Навального убили эти подонки – я, когда прочитал про его смерть, то почувствовал кроме злобы и ужаса сразу, что убили во мне всякую надежду, что в России еще может быть что-то хорошее впереди, как минимум при моей жизни. получается, пока Навальный был жив, хоть и фактически на пожизненном (путинском) сроке, какая-то вера еще жила иррациональная, а теперь все, только отчаяние [/bilingbox]
Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionsführerin, auf Telegram
[bilingbox]Dieser Tod ist ein weiterer Beleg dafür, dass für Diktatoren ein Menschenleben keinen Wert hat. Putins Regime entledigt sich seiner Gegner mit allen Mitteln, um die Macht zu erhalten – genau wie Lukaschenkos Regime. In Belarus sind in diesem Moment dutzende von politischen Gefangenen in Isolationshaft – das Leben von Mikolaj Statkewitsch, Mascha Kolesnikowa, meinem Mann Sergej und anderen ist unmittelbar bedroht. Witold Aschurok, Wadzim Chrasko, Ales Puschkin und Mikalaj Klimowitsch sind bereits in der Haft gestorben. Und noch Hunderte Weitere werden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jegliche Hilfe im Gefängnis festgehalten. ~~~Эта смерть – очередное доказательство, что для диктаторов человеческая жизнь не имеет никакой ценности. Режим Путина, как и режим Лукашенко, в стремлении сохранить власть избавляется от оппонентов любыми способами.
В Беларуси прямо сейчас десятки политзаключенных находятся в режиме инкоммуникадо – жизни Николая Статкевича, Маши Колесниковой, моего мужа Сергея и других сейчас находятся под прямой угрозой. Витольд Ашурок, Вадим Храсько, Алесь Пушкин, Николай Климович уже умерли в заключении. А еще сотни людей содержатся в нечеловеческих условиях и без всякой помощ.[/bilingbox]
[bilingbox]Alexej Nawalny ist ein tragischer Held, der sich für eine Gesellschaft geopfert hat, die ein solches Opfer nicht verdient und es nicht würdigen wird. ~~~Алексей Навальный – трагический герой, пожертвоваший собой ради общества, которое такой жертвы не заслуживало и которое такую жертву не оценит. [/bilingbox]
Gegen die Organisationen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny begann am Montag die Hauptverhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht: Ihnen wird Extremismus vorgeworfen. Die Sitzung wurde nach wenigen Minuten auf den 9. Juni verlegt. Betroffen sind neben dem Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) auch die regionalen Wahlkampfbüros, die Nawalnys Team landesweit aufbaute. Über diese schtaby wurden Straßenproteste organisiert, aber auch das sogenannte Smart-Voting – das Verfahren sieht vor, dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten die Stimme zu geben und so die Machtfülle der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.
Ist eine Organisation als extremistisch eingestuft, so ist deren Finanzierung verboten, führende Köpfe müssen mit mehrjährigen Freiheitsstrafen rechnen.
Im Meduza-Podcast Schto slutschilos (dt. Was war da los?) hat Konstantin Gaase mit Nawalnys Wahlkampfchef Leonid Wolkow, der im Exil lebt, darüber gesprochen, wie es mit den Regionalbüros nun weitergeht – und ob das Smart-Voting bei der Dumawahl im September trotz allem funktionieren kann.
Konstantin Gaase: Seit 2012, als Sie befasst waren mit den Wahlen zum Koordinationsrat, gab es ein ganz einfaches Schema für die Beteiligung am oppositionellen Protest: Leute, wir geben euch die Möglichkeit in unterschiedlichen Abstufungen mitzumachen – von der anonymen Spende über Cube-Aktionen bis hin zur Mitarbeit im Team. Das heißt, im Grunde sagten Sie Ihren Sympathisanten: Wir bieten eine Plattform, der ihr euch anschließen könnt, wie es euch passt. Jetzt gibt es keine Plattform mehr, und auch die Beteiligung am Protest in der Form, wie Sie sie für ungefährlich halten, gibt es nicht mehr. Haben Sie das bei Nawalnys Rückkehr nach Russland besprochen? Hielten Sie ein solches Szenario für wahrscheinlich?
Und es war klar, dass das Team und diese ganze Struktur es allen ermöglichen soll, etwas beizutragen. Denn obwohl wir selber Aktivisten sind und Aktivisten lieben und schätzen, ist ja klar, dass man mit einer Million Anhängern, die täglich je 15 Minuten Zeit investieren, ohne dabei Risiken einzugehen, eine viel größere politische Wirkung erzielen kann. Und diese 15 Millionen Minuten vermögen immer noch mehr, als die eingefleischtesten und risikofreudigsten Aktivisten auf der Straße mit wundgelaufenen Füßen zusammensammeln. Aktivisten gibt es ja viel weniger. Aber so vorzugehen, dass aus diesen 15 Millionen Menschenminuten etwas Sinnvolles entsteht, ist sehr schwierig. Das erfordert eine riesige Infrastruktur und eine ziemlich geschickte Planung.
Alles, was wir gemacht haben, war, die Aktivisten, die es [zum Kampf] drängte und die zu den verschiedensten kreativen Protestformen bereit waren – dass wir die zu ziemlich öden bürokratischen Tätigkeiten verdonnert haben, um eine Angebotsstruktur für jene aufzubauen, die weniger aktiv waren.
Und jetzt hat genau dieser Teil einen Schlag versetzt bekommen. Unsere Millionen Anhänger sind immer noch da; die Hunderttausende, die zu Spenden und Reposts bereit sind, ebenfalls. Eins draufgekriegt haben die Zigtausend, die zu Demonstrationen gehen, und die Tausend, die aktiv mitarbeiten.
Jenen, die bereit waren zu Demonstrationen zu gehen, hat man gesagt: Ihr werdet gleich alle im Verwaltungsarrest sitzen. Damit hat man das Risiko ihres Einsatzes um zwei Stufen verschärft, dazu waren sie nicht bereit. Und die Tausend, die [im Team] mitarbeiteten, bekamen zu hören: Ihr bekommt gleich alle eine Haftstrafe aufgebrummt. Also wurde auch das verschärft – auch dazu waren die Leute nicht bereit. Somit haben sie [die russische Staatsmacht] uns durch die drastische Erhöhung des Risikos die Grundlage für unsere Struktur zerstört. Weswegen wir jetzt die Infrastruktur ins Internet verlegen.
Durch die drastische Erhöhung des Risikos haben sie unsere Struktur zerstört
Wir wissen, dass die Unterstützung an der Basis nicht weg ist, das ist in Umfragen erfassbar. Wir müssen sie nur online neu aufbauen. Also, dafür sorgen, dass die Leute, die 15 Minuten täglich investieren wollen, [weiterhin] etwas Sinnvolles beitragen können. Natürlich sinkt die Effektivität. Natürlich wird die Arbeit anders sein, aber im Kern bleibt alles gleich. Die fundamentalen Gründe für die Proteststimmung in Russland sind ja ganz offensichtlich immer noch da und werden nicht so schnell verschwinden.
Putin kann zehn Personen einsperren lassen – davon wird aber das Sonnenblumenöl nicht billiger. Putin kann alle Räumlichkeiten, in denen jemals Nawalnys Team gearbeitet hat, mit Baggern zerstören. Und alle Hotels, in denen Nawalny je eingecheckt hat. Auch damit wird er die Korruption nicht besiegen. Ganz zu schweigen davon, dass [der Unmut darüber nicht sinkt, dass] Putin seit 22 Jahren im Amt ist. Wir führen Umfragen durch und sehen: Die Unterstützung ist nicht zurückgegangen, dafür hat das Mitgefühl zugenommen.
Sie sagen, Sie sind bereit, weiterhin dasselbe zu tun – wenn auch weniger effektiv und online. Bedeutet das, dass Sie die Grundhypothese beibehalten, dass diese ein bis zehn Millionen Anhänger von sich aus nicht bereit sind, das Risiko zu erhöhen und auf die Straße zu gehen? Sie glauben also nicht, dass die Stärke des Protestes ohne Ihr Zutun von selber zunimmt?
Lustigerweise hat Nawalny in einer seiner letzten Nachrichten aus Wladimir eine Metapher aus Alice im Spiegelland benutzt: dass man schnell rennen muss, um auf der Stelle zu bleiben – wobei er das Zitat fälschlicherweise [dem ersten Band] Alice im Wunderland zuschrieb. Am selben Tag kam auf Znak ein Interview mit mir heraus, in dem ich dieselbe Metapher benutzte. Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber offenbar empfinden wir das sehr ähnlich. Genau so ist es: Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur damit wir auf der Stelle bleiben.
Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur um auf der Stelle zu bleiben
Das Risiko beim Straßenprotest ist um ein Vielfaches gestiegen. Niemand denkt mehr daran zurück, aber vor zehn Jahren war das Schlimmste, was auf einer nicht genehmigten Demonstration passieren konnte, 15 Tage Haft für Organisatoren und 500 Rubel [2011 rund 13 Euro – dek] Strafe für Teilnehmer. Irgendwelche Festnahmen (geschweige denn Haftstrafen). Schon allein Ausweiskontrollen schienen damals auf genehmigten Demonstrationen undenkbar. Und das vor nur zehn Jahren – in der fast guten alten Zeit.
Unsere Proteststärke und -energie ist in diesen zehn Jahren nicht gestiegen, aber auch nicht weniger geworden. Jetzt, wo die Teilnahme an einer Demo bis zu 300.000 Rubel [etwa 3.300 Euro – dek] kosten kann, wo 30 Tage Haft drohen, ein Strafverfahren, ein reales Risiko, seinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren et cetera – sehen wir, dass die Leute trotzdem landesweit in [mit vorher] vergleichbarer Zahl demonstrieren gehen.
Unter diesen Bedingungen zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre wishful thinking
Alles, was wir unter diesen Bedingungen tun können, ist, schnell genug zu rennen, um an Ort und Stelle zu bleiben und das Entschlossenheitslevel der Menschen aufrechtzuerhalten. Aber unter diesen Bedingungen auch noch zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre Wishful Thinking.
Putin hat auf Lukaschenko [und die belarussischen Proteste 2020] geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern. Er hat signalisiert, dass er auch bereit ist, diesen Spielraum zu nutzen – was natürlich eine unangenehme Überraschung ist. Jetzt wissen wir, dass unsere Bemühungen nicht auf einen großangelegten Straßenprotest abzielen können. Den nächsten Massenprotest zusammenzutrommeln hat derzeit, milde ausgedrückt, nicht oberste Priorität.
Putin hat auf Lukaschenko geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern
Das heißt aber nicht, dass wir Straßenproteste ausschließen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Ungerechtigkeit des Geschehens sehr deutlich wahrnimmt. Und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wächst an: die Ursachen [der Proteststimmung] sind immer noch da. Daher kann es durchaus passieren, dass ganz von allein irgendein Schwarzer Schwan daherfliegt oder ein Goldener Hahn, der dem Zaren in den Kopf pickt, und das war’s. Aber darauf eine politische Strategie aufzubauen – das scheint mir unmöglich.
Früher war der Rhythmus so: ein Video als Trigger, der offline seine Fortsetzung findet. Okay, angenommen, ihr stützt euch nicht auf den Straßenprotest. Doch wie soll dann diese Koppelung laufen? Gleichzeitig wird klar – unmittelbar vor unserem Gespräch haben Sie bekannt gegeben, dass die Regionalbüros schließen –, dass es keine Infrastruktur für die Produktion [von investigativen Filmen] mehr gibt, aber Filme brauchen Produktion.
Bezüglich der Regionalbüros habe ich sehr deutlich gesagt: Wir lassen sie frei schwimmen, wir haben dieses Netz über vier Jahre aufgebaut, haben den Leuten etwas beigebracht, die Leute haben selbst etwas gelernt, haben sehr intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist eine absolut handlungsfähige politische Struktur, die zu selbständiger politischer Tätigkeit in der Lage ist. Und die infrastrukturelle Basis des Protests bleibt ja bestehen.
Aber Sie investieren sie in lokale Agenden. Im Grunde sagen Sie: Geht los und widmet euch dem lokalen Protest.
Ich gehe davon aus, dass der Kreml das Netzwerk unserer Büros als größeres Problem und größere Bedrohung empfand als den Fonds für Korruptionsbekämpfung. Der FBK existierte einfach und veröffentlichte Studienergebnisse. Der Kreml war bis zuletzt der Meinung, dass das alles sowieso nur ein Internetphänomen ist.
Das Büronetzwerk war jedoch vor Ort aktiv, und während der Kreml Proteste in Moskau mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit niederschlagen konnte, ging er mit regionalen Protesten immer viel milder um. Zum einen, weil er Angst hatte, dass der Protest im ganzen Land aufflackern und außer Kontrolle geraten könnte, zum anderen, weil in der Moskauer Bevölkerung die Konzentration der Silowiki viel höher ist als in Jekaterinburg, Ufa und dergleichen.
Unser Netz von Büros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor
Alexej Nawalny wurde vergiftet, als er in den Regionen unterwegs war. Und seine Beschattung begann, als er 2017 anfing, aktiv die Regionen aufzusuchen, um ein landesweites Netzwerk aufzubauen. Als er im Sommer 2020 neuerlich die Regionen bereiste, wurde die Bespitzelung wieder aufgenommen.
Dieses Netz von Regionalbüros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor, weil das die infrastrukturelle Basis ist. Das sind Leute, die Kompetenzen in sich tragen, die wissen, wie man einen Protest organisiert, wie man mit Freiwilligen arbeitet, wie man was am besten macht. Na, und natürlich das Smart-Voting, die Regionalwahlen – Sachen, die manchmal gelangen, manchmal nicht, die aber in den Regionen besonders wehtaten.
Natürlich haben sie [die Behörden] es sich prinzipiell zur politischen Aufgabe gemacht, unsere Struktur in den Regionen zu zerstören.
Ich glaube an die Theorie, dass der Entschluss, Alexej [Nawalny] mit Nowitschok zu vergiften, folgendermaßen gefasst wurde: Im Juli 2019 erging der politische Befehl, das Team zu zerstören. Damit wurde [der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander] Bastrykin betraut. Bastrykin bildete eine Gruppe aus 141 Ermittlern in besonders wichtigen Angelegenheiten, die sich ans Werk machten, unsere Konten sperren und die Technik mitgehen ließen, bla, bla, bla.
Ein Jahr später sagte man ihm bei irgendeiner Rechenschaftslegung: „Alexander Iwanowitsch, sie haben doch vor einem Jahr einen Auftrag bekommen. Aber irgendwie arbeitet das Team immer noch. Schon wieder dieses Smart-Voting, schon wieder mischen sie sich mit dem Geld von CIA und Mossad in unsere tollen und ehrlichen Wahlen ein. Wie kommt es, dass Sie, Alexander Iwanowitsch, damit nicht fertig werden?“ Er so: „Mi-mi-mi, geben Sie mir noch drei Monate, dann.“ Da kommt irgendso ein Nikolaj Platonowitsch um die Ecke und sagt: „Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Mir scheint, es ist Zeit für Plan B – für radikalere Methoden, wenn Sie schon ein Jahr damit herumtun. Wir haben da eine Spezialabteilung, wo sie für solche Fälle spezielle Mittelchen brauen.“ Das ist natürlich eine dichterisch ausgeschmückte Rekonstruktion. Aber vom zeitlichen Ablauf und der Logik her erscheint sie mir plausibel.
Von unseren 40 Regionalbüros werden etwa 30 versuchen, als gesellschaftlich-politische Organisationen zu funktionieren
Vor diesem Hintergrund wiederhole ich: Alle Medien haben jetzt zwar die Nachricht „Regionalbüros aufgelöst“ gepusht – doch das war nicht der Sinn meiner Mitteilung, sondern der, dass von unseren 40 Regionalbüros etwa 30 versuchen werden, als gesellschaftlich-politische Organisationen selbständig zu funktionieren. Manche werden das natürlich nicht schaffen.
Die Regionalbüros sind vielleicht eine gute Investition in lokale Agenden. Was das Smart-Voting betrifft, ist es ja kein Geheimnis: Dort, wo es funktioniert hat, waren die politischen Partner [von Nawalnys Team] die Kommunisten.
Nein. Ich als derjenige, der für das Smart-Voting zuständig ist, kann bestätigen, dass das nicht der Fall war. Es gab keine Absprachen im Sinne von „Lasst euch von uns unterstützen“ oder „Wir für euch und ihr für uns“.
Haben Sie nie mit den Kommunisten gesprochen?
Ich persönlich habe nie [mit ihnen] als Institution gesprochen. In den Regionen kommen ständig nicht nur Kommunisten zu uns, [sondern auch Mitglieder] von LDPR, SR, Jabloko und fragen: „Was müssen wir tun, um ins Smart-Voting zu kommen?“ Die hören immer dieselbe Antwort: „Steht alles auf der Website. Arbeiten Sie viel und gut. Werden Sie der beste Kandidat und der stärkste Opponent der Regierung in Ihrem Gebiet, und wir werden Sie unterstützen.“
Haben sich die Regionalteams am Verhandlungsprozess beteiligt, damit man einander nicht in die Quere kommt?
Ja. Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen. Und umgekehrt ist es gut, wenn ein starker Kommunist in dem einen Wahlkreis ist und ein starker Jablotschnik in einem anderen. Nachdem wir in diesem Prozess als unparteiische Vermittler auftreten, sind sie natürlich zu uns gekommen.
Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen
So etwas ist in Sankt Petersburg passiert, in Jekaterinburg und in jenen Regionen, wo es eine erkleckliche Menge unverwüstbarer Charismatiker und strahlender Regionalpolitiker gibt. Wo es Gesprächsstoff und genug aufzuteilen gibt.
In 80 Prozent der Fälle ist die Aufgabe des Smart-Votings leider, wenigstens irgendwen zu wählen. Moskau nimmt hier natürlich eine Sonderstellung ein. Da herrscht Konkurrenz zwischen starken Politikern.
Wenn wir uns ansehen, wie viele Kandidaten im Smart-Voting formal zu einer Partei gehörten, wie die Kräfteverteilung zwischen politischen Parteien in Russland aussieht (ohne Einiges Russland), dann sind das rund 50 Prozent KPRF, 20 Prozent Sprawedliwaja Rossija, 20 Prozent LDPR und 10 Prozent Jabloko. Entsprechend sind auch die Wahlerfolge der Kandidaten im Smart-Voting verteilt.
Sie werden also das Smart-Voting fortsetzen. Und den Regionalbüros, die Sie jetzt frei schwimmen lassen, überlassen Sie die Entscheidung, wen sie unterstützen wollen?
Nein. Die Entscheidung über die Unterstützung von Kandidaten im Smart-Voting treffen wir immer ausschließlich in einem zentralen Analysezentrum. Bei aller Liebe zu den Regionalbüros hatten sie diesbezüglich nie ein Stimmrecht, unter anderem – bei allem Respekt –, weil Korruption ein Faktor ist. Wir lieben unsere Regionalbüros und vertrauen ihnen, aber auch Personen, denen ich bedingungslos vertraue, sind schon zu uns gekommen und haben erzählt: „Da hat mir einer drei Millionen Rubel für einen Platz im Smart-Voting angeboten.“ Das ist tatsächlich passiert, und nicht nur ein- oder zweimal. Ich kann nur raten, wie oft das vorgekommen sein mag, ohne dass wir davon erfahren haben.
Bei aller Liebe zu den Regionalbüros – sie hatten nie ein Stimmrecht, und ein Faktor dabei ist die Korruption
Damit sich keiner einschleichen kann, haben wir immer gesagt: „Leute, ihr habt Beratungsfunktion: Geht bitte durch die Wahlbezirke und berichtet uns, wer mehr Werbung hat, wer mehr Material verteilt.“ Man kann auch einfach in einem Mailing über die Datenbank des Smart-Votings die Unterstützer fragen, wessen Kampagne ihnen am meisten auffällt. Hauptsächlich stützen wir uns auf Analysen vergangener Wahlen.
Wie wird das dieses Jahr bei den Wahlen zur Staatsduma ablaufen? Das provisorische Zentralkomitee befindet sich im Ausland, es gibt Regionalbüros, die Ihnen ein Bild der Lage vor Ort vermitteln können, denen Sie aber vielleicht nicht hundertprozentig vertrauen. Und noch dazu wird sich die Wahl im September über drei Tage ziehen.
Wir vertrauen natürlich unseren Regionalbüros – die in Russland als keine Ahnung was für Organisationen gelten – in dem Punkt absolut, dass sie uns ein objektives Bild liefern, auf das wir uns sehr gerne stützen. Nur war die Information aus den Regionalbüros immer nur ein Teil des Bildes. Wir werden es aus verschiedenen Stückchen zusammensetzen. Im Kontext der Staatsduma wird die Bedeutung von soziologischen Methoden [zur Bestimmung des Kandidaten, den das Smart-Voting unterstützt] viel höher sein. In einem kleinen Wahlkreis für den Stadtrat kann man ja keine sinnvollen Umfragen durchführen. Bei den Wahlen zur Staatsduma mit über 500.000 Wählern pro Wahlkreis in Großstädten aber können wir Aspekte aus Umfragen einbeziehen.
Das ist eine neue Komponente des Smart-Votings, die wir früher nicht hatten, weil uns die Messgeräte fehlten, um in Bezirken mit zigtausenden Wählern Umfragen durchzuführen. Niemand hatte die. Und wer behauptet, sie zu haben, lügt einfach.
Also sind das die Komponenten des Smart-Votings: Eine Einschätzung der Lage durch das Team, Ihre eigenen Erhebungen in wichtigen Wahlkreisen und schließlich die gezielte Unterstützung einer von Ihnen bestimmten Person ?
Ja.
Aber es wird keine flächendeckende Wahlkampagne im ganzen Land geben? Wird es 225 Kandidaten im Smart-Voting geben?
Ja, die wird es geben. 2019 und 2020 haben wir rund 800 beziehungsweise 1100 Empfehlungen abgegeben. Jetzt geben wir rund 1500 Empfehlungen ab, weil weitere 225 Bezirke dazukommen.
Zurück zum 23. Januar [2021, als in Russland Demonstrationen gegen Nawalnys Festnahme stattfanden]. Was war der Plan?
Geplant und vorausgesehen haben wir ungefähr das, was auch passiert ist. Also, dass Alexej Nawalny am 17. Januar zurückkommt. Wir wussten, dass er höchstwahrscheinlich verhaftet wird und dass das mit einem schwerwiegenden Angriff auf unsere ganze Struktur einhergehen wird. Aber hätten wir vorhersagen können, wie brutal das alles wird? Das nicht. Dass sie den Extremismusparagraphen bemühen werden – nein, das haben wir, ehrlich gesagt, nicht kommen sehen.
Wir sind immer noch da. Unsere Recherchen und unser Smart-Voting sind immer noch da. Und bald kommen noch ein paar neue Projekte dazu. Es ist schwer, ja. Haben wir gewusst, dass es schwer wird? Ja. Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein. Darüber denke ich eigentlich nicht so viel nach.
Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduzawurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst.
Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt. Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss.
Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.
Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis. Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt ist – ich muss „wir“ sagen. In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.
Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht
Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.
Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit
Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.
Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar. Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen. Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen? An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.
Wo ist der Rest?
Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt. Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt. 0,3 Prozent – ist das euer Ernst?
Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab
Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.
Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit.
Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen! Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben. Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.
Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben
Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“
In den vergangenen Tagen häufen sich die schlechten Nachrichten rund um Alexej Nawalny: Der inhaftierte Oppositionspolitiker muss nach drei Wochen Hungerstreik in einer Klinik behandelt werden – am gestrigen Montag, 20. April, wurde er in ein Gefängniskrankenhaus verlegt, aus dem in der Vergangenheit immer wieder über Fälle von Folter und Gewalt berichtet wurde. Zuvor hatten zahlreiche internationale Politiker und auch Mediziner eine angemessene Behandlung Nawalnys gefordert, die USA drohten Konsequenzen an, sollte Nawalny im Gefängnis sterben.
Unterdessen sollen Nawalnys Wahlkampfbüros und der von ihm gegründete Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK als extremistisch eingestuft werden. Außerdem wurde vergangene Woche das Büro des Studentenmagazins Doxa durchsucht, vier Redaktionsmitgliedern wird vorgeworfen, Minderjährige zu illegalen Protestaktionen aufgerufen zu haben (aus demselben Grund verhängte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor nach den Protesten im Januar und Februar unter anderem auch Geldstrafen gegen internationale Soziale Netzwerke). Nawalnys Team rief nun zu Protesten am morgigen Mittwoch, 21. April, auf. Bei den Nawalny-Solidaritätsprotesten im Januar und Februar hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen, es kam insgesamt zu mehr als 10.000 Festnahmen, auch unabhängige Medien wurden verwarnt und mussten Inhalte löschen, Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow musste für 15 Tage in Haft.
Die verschärften Repressionen des Kreml erinnern den Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin an eine andere Episode der russischen Geschichte – nämlich die Oktoberrevolution 1917. Aus der Konfrontation zwischen Zar und Revolutionären sollte der Kreml heute seine Lehren ziehen – sonst, so warnt Sonin im Onlinemagazin Vtimes, könne es zu einer Katastrophe für Staat und Gesellschaft kommen.
Vor vielen Jahren, als ich in der Schule war, hat man uns erklärt, dass die Revolution eine sehr gute Sache war: Dass die zaristische Regierung alles falsch gemacht hatte, und dass die Revolutionäre alle Helden und tolle Kerle waren.
Es verging einige Zeit, und es wurde möglich, Bücher und Artikel zu lesen, über Geschichte zu diskutieren und nicht nur solche Schlüsse zu ziehen, die in den Schulbüchern standen. Es stellte sich heraus, dass die Opfer nicht nur diejenigen waren, die vom Zaren hingerichtet oder im Bürgerkrieg getötet worden waren. Es stellte sich heraus, dass die Revolution sogar für diejenigen eine Tragödie war, die sie für notwendig gehalten hatten. Und auch, dass die Menschen, die die Ordnung verteidigten, genauso viel Recht auf Leben hatten wie diejenigen, die diese Ordnung zu stürzen versuchten. Es stellte sich heraus, dass die zaristische Regierung die Bürger vor den Gefahren von Revolutionen zu Recht gewarnt hatte.
Doch Lehren aus der Geschichte zu ziehen heißt nicht einfach, Helden in Verbrecher umzubenennen und umgekehrt. Dass jemand nicht mehr als Bösewicht angesehen wird, heißt nicht, dass er richtig gehandelt hat oder dass er nicht verantwortlich ist. Die zaristische Regierung – vom Zar und seiner Familie bis hin zu den Ministern und Polizeigenerälen – ist genauso schuldig wie die Revolutionäre: Sie alle haben das Land verloren und eine Tragödie zugelassen, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.
Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen
Die Parallele zum Hier und Jetzt ist offensichtlich: Taubheit gegenüber den Bedürfnissen der Bürger? Wird heute als Tapferkeit angesehen! Ungerechtfertigte Brutalität? Manche durchgedrehten Hirne glauben, dass es sogar noch mehr Brutalität brauche! Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen. Statt der demonstrativen Arroganz der zaristischen Minister gibt es heute grobes Gopnik-Gehabe. Gucken Sie sich doch das Außenministerium an – das eigentlich ein Beispiel an Höflichkeit und Professionalität abgeben sollte.
Die Geschichte mit Alexej Nawalny bündelt all diese Fehler wie unter einem Brennglas. Wenn man den Anführer der russischen Opposition zum Extremisten, Terroristen und Spion ausländischer Geheimdienste erklärt, ist das für den heimischen Gebrauch sehr komfortabel: Denn bei der Anwendung besonderer Maßnahmen nimmt das die Schuldgefühle. Aber genau das taten die Minister des Zaren, als sie Revolutionäre beschuldigten, für das Ausland zu arbeiten. Demonstrative Brutalität? Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen. Genau so hat auch die Zarenregierung nicht nur Terroristen erhängt, sondern auch jene, die nur von der Revolution gesprochen haben. Die Namen der hingerichteten Revolutionäre sind bis heute nicht vergessen. Im Gegenteil: Über Jahrzehnte hinweg legitimierten diese Namen Akte des Terrors, Hinrichtungen der neuen Machthaber und Gräueltaten im Bürgerkrieg.
Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen
Dass Millionen von Nawalnys Unterstützern in Russland dessen Rettung vor dem Tod und Freilassung brauchen, versteht jeder. Aber wenn man nachdenkt und auf die russische Geschichte schaut: Nawalnys Leben und Freiheit brauchen auch die konservativen Bewahrer nicht weniger. Der Tod, der demonstrative Mord an Nawalny würde natürlich einige Oppositionsführer und Teile der Bevölkerung abschrecken. Es würde den Hütern der Macht eine Verschnaufpause verschaffen. Aber der Preis dafür sind Keime des Hasses und der Brutalität, die über Jahrzehnte bleiben werden. Bereits jetzt sind die politischen Repressionen unvereinbar mit Wirtschaftswachstum und -entwicklung. Wenn man sie noch verstärkt, kann man damit eine wirtschaftliche Katastrophe verursachen. Und diese Katastrophe wäre selbstverschuldet, man kann und muss sie tunlichst verhindern.
Ich persönlich hoffe, dass das viele in der politischen Führungsebene Russlands verstanden haben. Man muss kein Anhänger Nawalnys sein, um – seinem Vorgesetzten oder auch öffentlich – zu sagen, dass der Mord eines politischen Opponenten schlecht ist, dass die Festnahme der Redaktion einer Studentenzeitung schlecht ist, dass das Verprügeln friedlicher Bürger auf Demonstrationen schlecht ist. Schlecht nicht für die Opposition, die Zeitung und die Bürger, sondern schlecht für Russland, für die Welt und die Stabilität. Welche Millionen, welche beruflichen Erfolge können schon – wenn auch erst in einigen Jahren – diesen Gedanken kompensieren: „Ich war in der Regierung in jenem Jahr, als wir Nawalny getötet und das Land zugrunde gerichtet haben“?
Die landesweiten Proteste nach Nawalnys Rückkehr waren die größten in Russland seit 2011/12. Nachdem Sicherheitskräfte hart durchgegriffen hatten – laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info gab es mehr als 10.000 Festnahmen –, erklärte Nawalnys Stab nach dem Gerichtsurteil gegen den Oppositionspolitiker, die Proteste nun aussetzen zu wollen. In staatsnahen Medien wurden die Demonstrationen als „Kinder-Kreuzzug“ diskreditiert.
Vergangenes Wochenende machten wieder Bilder die Runde in den Sozialen Medien, versehen mit dem Hashtag Liebe ist stärker als Angst. Statt zur Demo waren die Menschen zum Flashmob aufgerufen worden: Sie sollten abends für eine Viertelstunde raus vors Haus, ihre Handytaschenlampe anschalten oder eine Kerze anzünden. Auch wenn es am Abend selbst nur 19 Festnahmen gab – im Vorfeld waren zahlreiche Büros von Nawalnys Team durchsucht worden, einzelne Medien wurden angehalten, Berichte über die Aktion zu löschen. Die im Ausland ansässigen russischen Medien Meduza und Spektr gerieten ebenfalls ins Visier der Medienaufsichtsbehörde: Meduza musste einen Bericht über staatliche Reaktionen löschen, Spektr wurde aufgrund des Verweises auf die Aktion blockiert, weil es angeblich zu „Massenveranstaltungen“ aufrief, die „die bestehende Ordnung verletzen“ würden. Am heutigen Dienstag geht eine Verleumdungsklage gegen Nawalny in die nächste Runde vor Gericht.
Was machen all die Ereignisse der vergangenen Wochen mit der Stimmung im Land selbst? Wie viele Menschen stehen hinter Nawalny, wie viele hinter Putin? Und welche Aussichten gibt es, dass der Protest nach der angekündigten Pause weitergeht? Lewada-Soziologe Denis Wolkow beantwortet diese Fragen auf Forbes anhand aktueller Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts.
Ohne jeden Zweifel ist Alexej Nawalny zur Hauptfigur des politischen Saisonauftakts geworden. Seine Rückkehr nach Russland, seine Verhaftung, die Veröffentlichung seines neuen Enthüllungsfilms im Internet, die rasche Gerichtsverhandlung und Verurteilung, der neue Prozess wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen – das alles sorgt dafür, dass der Politiker seit einem Monat ständig Thema ist, sowohl im In- als auch im Ausland. Doch wie haben sich die Ereignisse auf die öffentliche Meinung in Russland insgesamt ausgewirkt, und was könnte uns in Zukunft erwarten? Dazu gibt es neue Umfragewerte.
Gemäßigt empört
Beginnen wir mit dem Film über den Palast. In drei Wochen wurde das Video über 100 Millionen Mal angeschaut – beispiellos für diese Art von Material. Die Umfragen bestätigen ein starkes Interesse an der Untersuchung, obwohl sie von etwas niedrigeren Zuschauerzahlen in Russland ausgehen: So haben 70 Prozent der Russen zumindest etwas von dem Film gehört. Wobei nur etwa ein Viertel der Befragten angab, den Film gesehen zu haben. Mit anderen Worten: Die Zahl der Zuschauer in Russland beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf etwa 30 bis 35 Millionen.
Bei allen exorbitanten Zuschauerzahlen sind die Reaktionen auf den Film zurückhaltend. Nur knapp ein Fünftel der Befragten zeigte sich empört über die im Film geschilderten Tatbestände der Korruption – deren Einstellung zu Putin hat sich dementsprechend verschlechtert. Insgesamt überwiegen in der Gesellschaft jedoch Distanziertheit, der Unwille, sich mit den Details der Untersuchung zu beschäftigen, sowie die Bereitschaft, Putin zu rechtfertigen. Die Menschen sagen Dinge wie: „Und was ist daran neu?“, „Putins Palast – ja, und?“, „Der Präsident muss schließlich gut leben!“, „Nach 20 Jahren kann er sich das doch ruhig gönnen“ und sogar „Das ist doch bescheiden – sehen Sie sich mal die Gemächer von ganz normalen Staatsbeamten an!“.
Viele ältere Befragte halten derartige Untersuchungen gar für eine Provokation aus dem Westen, einen Versuch, das Land zu destabilisieren. Viele werfen Nawalny vor, sozialen Unfrieden zu schüren. Diese in der russischen Gesellschaft weit verbreiteten Ansichten lassen sich nur schwer ins Wanken bringen. Ein, zwei Untersuchungen – selbst so effektvolle wie Nawalnys Filme – reichen da nicht aus.
Immun gegenüber Enthüllungen
Es darf daher nicht verwundern, dass es in der russischen Gesellschaft in den letzten Monaten keine großen Verschiebungen weder zugunsten Alexej Nawalnys noch zugunsten Putins gegeben hat. Die Zahl derjenigen, die Nawalnys Tätigkeit befürworten, liegt seit September vergangenen Jahres unverändert bei 20 Prozent. Demgegenüber ist unter dem Einfluss der jüngsten Ereignisse die Zahl seiner Gegner sogar leicht angestiegen – auf 56 Prozent (hier schlagen vor allem diejenigen zu Buche, die sich früher nicht für Nawalny interessierten). Etwas gestiegen ist das Vertrauen in Nawalny als Politiker, doch das wirkt eher so, als hätte er in den Augen seiner Sympathisanten ein neues Image: Sie sehen in Nawalny zunehmend eine Alternative zu Putin. Auf ein breiteres Publikum scheint sich diese Vorstellung allerdings nicht zu erstrecken.
Auch die Einstellung zum Präsidenten hat sich nicht wesentlich verändert. Seine Zustimmungswerte sind seit Ende 2020 um einen Prozentpunkt gesunken (seit vergangenen September um fünf) und liegen heute bei rund 64 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten ist innerhalb von drei Monaten um drei Prozentpunkte gesunken (auf 29 Prozent; gestellt wurde eine offene Frage, bei der die Befragten Politiker nennen sollten, denen sie vertrauen). Obwohl die Gründe für diese Veränderungen nur schwer eindeutig zu beurteilen sind, klingt das mehr nach den Auswirkungen der zweiten Welle von Corona-Verboten als nach einer Reaktion auf Nawalnys Untersuchung.
Also bestätigt der Film die schlimmsten Befürchtungen derjenigen, die sowieso schon von den Machthabern enttäuscht sind – vor allem junge Leute, Internet-Nutzer und Follower von Telegram-Kanälen. Diejenigen, die die Regierung unterstützen, sind gewissermaßen immun gegen solche Enthüllungen.
Man sollte anmerken, dass selbst in den sozialen Gruppen, die dem Regime am kritischsten gegenüberstehen, die Zahl der Loyalisten immer noch hoch bleibt (bis zur Hälfte der Befragten) – bei weitem nicht alle Kritiker des Regimes sind auch Befürworter Nawalnys. Der Anteil seiner Unterstützer bewegt sich in diesen Gruppen normalerweise zwischen einem Drittel und einem Viertel der Befragten.
Proteste als „Aufstand der Kinder“ …
Kommen wir zu den Protesten. Die werden überwiegend negativ bewertet. Damit unterscheiden sich die jüngsten Ereignisse deutlich von den Protesten in Chabarowsk und sogar von denen in Moskau 2019. Damals war die Bevölkerung eher bereit, mit den Protestierenden zu sympathisieren. Wie sich unschwer erraten lässt, herrscht die negative Einstellung vor allem unter Vertretern der älteren Generation, Fernsehzuschauern und Unterstützern des Regimes vor.
Der größte Vorwurf gegen die Organisatoren scheint darin zu bestehen, dass sie Jugendliche, Schüler und Kinder auf die Straße gelockt hätten. Charakteristisch ist folgendes Bild, das einer unserer Befragten äußerte: „Das ist ein Kreuzzug der Kinder“, die am Ende alle „in die Sklaverei verkauft“ würden. Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Eindruck den Fakten nicht standhält: Untersuchungen zeigen, dass die Hauptmasse der Demonstranten Menschen zwischen 25 und 35 Jahren waren – keineswegs Kinder. Das Bild des „Schülerprotests“ hat sich tief in die Köpfe eines großen Teils der Bevölkerung eingebrannt, und es wird schwer werden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
… und Nawalny als „Verführer der jungen Generation“
Das Problem mit den Januar-Protesten ist also gar nicht, ob sie nach der Pause, die Nawalnys Stab ausgerufen hat, weitergehen. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Form weitergehen. Das Problem ist, dass die aktuellen Proteste beim Großteil der russischen Gesellschaft keinen Rückhalt finden. Das bedeutet wiederum, dass es schwierig wird, die Teilnehmerzahl zu steigern. Die Machthaber haben einen Nerv getroffen, indem sie die Proteste als einen Aufstand der Kinder und Nawalny als Verführer der jungen Generation zeichneten: die Überzeugung des überwiegenden Teils der älteren Bevölkerung, dass „wir unsere Jugend verlieren“ und dass wir diesen Prozess so schnell wie möglich unterbinden müssen, auch mit harten Mitteln.
Ein weiterer Faktor, der ein Zunehmen der Proteststimmung hemmen könnte, ist die angelaufene Massenimpfung, die schrittweise Aufhebung der Quarantäne-Beschränkungen und die Rückkehr zum normalen Leben. Erinnern wir uns daran, dass im vergangenen Jahr schon die kurze Atempause zwischen der ersten und der zweiten Welle den Russen ein gewisses Maß an Optimismus einflößte und sie die Situation deutlich positiver einschätzen ließ.
Nawalny versus Trägheit
Das alles schmälert natürlich nicht die Verdienste von Alexej Nawalny und seinem Team. Die Umfragen zeigen, dass er heute der prominenteste Oppositionspolitiker ist. Er gehört längst zu den zehn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, denen die Russen am meisten vertrauen. Aber es bedurfte jahrelanger mühevoller Arbeit und ständiger Medienpräsenz, um dieses Vertrauen zu gewinnen. Ein Verschwinden aus den Nachrichten könnte ihn schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die Frage ist, ob die politische Maschine, die Nawalny über die Jahre aufgebaut hat, auch ohne ihn funktionsfähig ist.
Zudem wird die Wahrnehmung Nawalnys unter anderem auch von Faktoren beeinflusst, die nur geringfügig von seinen Bemühungen abhängen: vom Verhältnis von Internet- zu Fernsehpublikum, von den sinkenden Ratings der Machthaber, die vor allem auf ihrem eigenen Unvermögen beruhen, den Wohlstand der Bürger zu mehren, und anderen ureigenen Fehlern. Die Anstrengungen Nawalnys und seiner Mitstreiter prallen immer wieder auf die Toleranz der russischen Gesellschaft gegenüber Korruption, die Akzeptanz der staatlichen Gewalt, auf den Generationenkonflikt, auf die erlernte Hilflosigkeit, die in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, sowie auf das Gefühl der Alternativlosigkeit der aktuellen Ordnung der Dinge.
Das Beispiel Nawalny zeigt, dass jeder, der in Russland etwas grundlegend verändern will, nicht nur gegen das Regime ankämpfen muss, sondern auch gegen eine ungeheure Trägheit in der Gesellschaft.