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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

    Deutscher Überfall auf die Sowjetunion

    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion. Eine dreieinhalb Millionen Mann starke Streitmacht marschierte, aufgeteilt in die drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd, auf einer Frontlinie von mehr als 2000 Kilometern ein. Während Bomber der Luftwaffe Görings die ersten Angriffe auf Kiew, Odessa und Sewastopol flogen, eilte in der Berliner Wilhelmstraße Wladimir Dekanosow, Stalins Botschafter und früherer Chef der Auslandsspionageabwehr, mit versteinerter Miene in das Arbeitszimmer des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop. 22 Monate zuvor hatte von Ribbentrop im Moskauer Kreml – beseelt vom diplomatischen Coup des Hitler-Stalin-Pakts – noch die deutsch-russische Freundschaft beschworen. Nun informierte er Dekanosow knapp, dass „die Sowjetregierung die Verträge und Vereinbarungen mit Deutschland verraten und gebrochen“ habe und „Deutschland nicht gewillt [ist], dieser ernsten Bedrohung seiner Ostgrenze tatenlos zuzusehen“. Der Führer, beschied Hitlers Außenminister, „hat daher nunmehr der deutschen Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten.“1

    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion / Foto © Anatoliy Garanin/Sputnik
    In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion / Foto © Anatoliy Garanin/Sputnik

    Hitlers Befehl, den lange geplanten und mehrfach verschobenen Fall „Barbarossa“ – so der Deckname für den Feldzug gegen die Sowjetunion – am 22. Juni 1941 in die Tat umzusetzen, war in mehrfacher Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. 

    Unter der fadenscheinigen Behauptung einer sowjetischen Bedrohung, die Stalin in den vorausgegangenen Wochen unbedingt vermieden hatte, begann das „Dritte Reich“ einen grausamen, tatsächlich apokalyptischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, gegen die Rote Armee und die Zivilbevölkerung, gegen angebliche und wirkliche Widerstandskämpfer, kurzum, gegen all jene, die der vermeintlich unbesiegbaren Wehrmacht und der perfiden völkisch-rassischen Kriegslogik im Wege standen. Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion kostete Dutzende Millionen Menschen das Leben, brachte unvorstellbares, bis in die Gegenwart hineinwirkendes Leid und führte in den Holocaust: die Vernichtung der europäischen Juden in den Bloodlands (Timothy Snyder) Osteuropas. 

    Innerhalb weniger Wochen drangen die Wehrmachttruppen und in ihrem Gefolge die mörderischen SS-Einsatzgruppen Heinrich Himmlers weit auf das sowjetische Territorium vor, bis sie – militärisch bereits jedweder Blitzkriegsillusionen beraubt – im Herbst vor Moskau zum Stehen kamen. Das „Unternehmen Barbarossa“ endete unter anderem an der legendären Wolokolamsker Chaussee, die der russischen Schriftsteller Alexander Bek in seinem gleichnamigen Roman zum Sinnbild für den heroischen Kampfesmut der Roten Armee nahm, ohne die Härten dieses brutalen Überlebens an der Front auszusparen. 

    Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg – der im Nachhinein siegreiche Verteidigungskampf der Sowjetunion gegen die nationalsozialistischen Aggressoren. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende der ersten Weltkriegsphase und damit einen  Wendepunkt des Krieges , der in Europa seit September 1939 noch vom Bündnis und nicht von der Gegnerschaft zwischen Hitlers Reich und Stalins Sowjetunion geprägt gewesen ist. In den knapp zwei Jahren des Hitler-Stalin-Pakts wurde Polen geteilt und zu einem ersten Laboratorium des deutschen Vernichtungskrieges. Westeuropa geriet unter die deutsche Besatzung, so, wie das Baltikum, die Westukraine, Westbelarus, Bessarabien und die Nordbukowina in den Machtbereich Stalins. Der allmähliche Niedergang des verheerenden Pakts hatte bereits im Juni 1940 eingesetzt, als Moskau nach den überraschenden „Blitzkriegen“ Hitlers erklärte, nun „selbst im Baltikum zur Tat zu schreiten“.2 In Südosteuropa und in Finnland schließlich karambolierten die geopolitischen Konkurrenzen, so dass auch letzte Verständigungsversuche während der Berlinvisite von Wjatscheslaw Molotow im November 1940 zum Scheitern verurteilt waren: Noch bevor Stalins Außenkommissar die deutsche Hauptstadt überhaupt erreichte, hatte Hitlers Führerweisung Nr. 18 am 12. November bereits klargestellt, dass „gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, alle schon befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen [sind]. Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mir vorgetragen und von mir gebilligt sind.“3    

    Der Überfall der Wehrmacht veränderte die politischen Konstellationen und Bündnissysteme des Krieges auf entscheidende Art und Weise. Er führte mit der Anti-Hitler-Allianz zum Zusammenschluss von Großbritannien und der Sowjetunion; eine Koalition, die seit dem Machtantritt der Bolschewiki im Jahr 1917 außerhalb jeglicher Vorstellungskraft war. Die zentrale europäische Triade zwischen Großbritannien, Deutschland und der Sowjetunion, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entweder zu einer deutsch-sowjetischen (Rapallo) oder einer deutsch-britischen (Flottenvertrag und Appeasement) Verständigung geführt hatte, nahm im Juni 1941 eine fast unerhörte Wendung. Auch hierfür waren die Zeichen lange erkennbar gewesen. Schon im Juli 1940 hatte Premier Winston Churchill – mit großem Gespür für die Risse im Pakt – mit Stafford Cripps einen moskaufreundlichen neuen Botschafter zu Stalin entsandt, der erste Sondierungsgespräche führte. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen hielt Churchill dann jene legendäre „lesser of the two evil“ – Rede, mit der er vor der britischen Bevölkerung das Bündnis mit dem Sowjetkommunismus rechtfertigte. „Das Naziregime“, so Churchills vielzitierte Worte, „lässt sich von den schlimmsten Erscheinungen des Kommunismus nicht unterscheiden. Es ist bar jedes Zieles und jedes Grundsatzes, es sei denn Gier und Rassenherrschaft. Es übertrifft jede Form menschlicher Verworfenheit an Grausamkeit und wilder Angriffslust. Niemand war ein folgerichtigerer Gegner des Kommunismus als ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Ich nehme kein Wort von dem zurück, was ich darüber gesagt habe. Aber dies alles verblasst vor dem Schauspiel, das sich nun abspielt. Die Vergangenheit mit ihren Verbrechen, ihren Narrheiten und ihren Tragödien verschwindet im Nu.“4       

    Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“

    Vor dem Hintergrund der britisch-sowjetischen Annäherung in einer Zeit, in der Hitler gegen London einen verlorenen Luftkrieg führte, hat sich die Entscheidung zum Krieg gegen die Sowjetunion letztendlich als fatal herausgestellt. Dass zahlreiche Stimmen vor diesem Zwei-Fronten-Krieg und dem unkalkulierbaren Abenteuer eines Russlandfeldzugs warnten, ist bekannt. Umso mehr ist der 22. Juni 1941 auch das Symbol für den schier unglaublichen militärischen Größenwahn und die eklatanten politischen Fehleinschätzungen zugunsten des ideologischen Furor. Hitler wollte diesen Krieg: die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ und die gewaltsame, unbedingte Verwirklichung aller rassistischen Lebensraumkonzepte des deutschen Nationalsozialismus. 
    Der 22. Juni 1941 war Hybris und Nemesis des „Dritten Reiches“. Der Höhepunkt der militärischen, politischen und ideologischen Selbstüberschätzung ebenso wie die ideologisch, kulturell und rassisch begründete arrogante Herabwürdigung der sowjetischen Bevölkerung, die sich hinter dem Diktator Stalin, dessen Großer Terror erst abgeklungen war, zu versammeln wusste.

    Der „Zusammenbruch“ der Roten Armee

    Tatsächlich war die Sowjetunion zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges militärisch schwach. Stalin hatte die Defizite der Roten Armee noch Anfang Mai bei einem seiner raren Auftritte vor Absolventen der Militärakademien, unter anderem der Frunse-Akademie in Moskau, persönlich beklagt. Nicht nur die schleppende technische Modernisierung und ein von Stalin harsch kritisierter Reformunwillen waren für die mangelhafte Kriegsvorbereitung verantwortlich. Auch fähige Heerführer wie Marschall Tuchatschewski waren dem Großen Terror zum Opfer gefallen – diese Tatsache war ein offenes Geheimnis. Die Gewalt des Stalinismus hatte dafür gesorgt, dass die Sowjetunion im Juni 1941 auf den Verteidigungskampf personell und technisch schlecht vorbereitet war. In den ersten Wochen des Krieges fielen über 236.000 Sowjetsoldaten, während mehr als zwei Millionen in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, wo sie elendig an Hunger und Krankheit zugrunde gingen.5 „Die Rote Armee“, so das nüchterne Fazit der britischen Historikerin Catherine Merridale, „brach in den ersten Kriegswochen zusammen.“6

    Die militärische Schwäche der Roten Armee nährte selbst in britischen Regierungskreisen und bei Churchill die Befürchtung, dass auch dieser Feldzug für die Deutschen siegreich ausgehen könnte. Dennoch war London mit der Wendung des Krieges zufrieden und hoffte darauf, dass sich Deutschland und die Sowjetunion für lange Zeit ineinander verkämpften. Mit einem schnellen Sieg der Roten Armee rechnete niemand, auch nicht Stalin, der auf den drohenden Zusammenbruch mit drakonischen Maßnahmen und neuer Gewalt reagierte. Schon am ersten Kriegstag, am 22. Juni, ermächtigte der Oberste Sowjet die Armeeführung, Deserteure durch neu geschaffene Militärtribunale zu bestrafen, die an die berüchtigten Troika-Tribunale aus der Zeit der Säuberungen erinnerten. In der ohnehin unterbesetzten Armee häuften sich daraufhin die Todesurteile. Hunderttausende wurden verhaftet oder landeten in Strafeinheiten, wo sie zum Räumen von Minenfeldern oder bei besonders verlustreichen Aktionen eingesetzt wurden. Im Juli 1941 ließ Stalin auf Divisionsebene „Besondere Abteilungen“ des NKWD einrichten, die den Auftrag hatten, einen erbarmungslosen Kampf gegen Spione, Verräter und Deserteure zu führen. Im Umgang mit der eigenen Armee waren die Traditionslinien zum Terror der 1930er Jahre unverkennbar. Militärstrategisch jedoch verstand es Stalin, die eigene Schwäche, insbesondere aber die Hybris der Nationalsozialisten für sich zu nutzen und in Stärke zu verwandeln. 

    Stalins Kalkül

    Weit verbreitet, auch in der wissenschaftlichen Literatur ist die Erzählung, dass Stalin vom 22. Juni und dem schnellen Vormarsch der Deutschen überrascht gewesen sei, mehr noch, dass er alle Warnungen, unabhängig davon, ob sie von eigenen Agenten oder aus dem Umfeld der britischen Regierung stammten, ignoriert habe. Es gibt jedoch Gründe, dieses Narrativ mindestens einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. 
    Hitlers Befehle waren über die Geheimdienste verlässlich nach Moskau gelangt, daher war Stalin weder überrascht noch ignorierte er die Meldungen zum bevorstehenden Angriff. Dass der „Verrat“, mithin der Bruch des Pakts, nur eine Frage des Datums war, gehörte zu alten politischen Wahrheiten, die auch Stalin verinnerlicht hatte. Wie unter anderem Lew Besymenski detailliert dargestellt hat, bereitete sich Stalin seit Monaten auf den bevorstehenden Überfall vor.7 Seine Anweisung, alle Provokationen an der deutsch-sowjetischen Grenze zu unterlassen, ebenso wie der Verzicht auf große Truppenkonzentrationen – entgegen den Plänen von Generälen wie Shukow – waren nicht naiv oder rätselhaft, sondern überlegt. Dass sich Hitler und Ribbentrop bei der fadenscheinigen Kriegsbegründung auf eine herbeigeredete Bedrohung beziehen würden, war zu erwarten und somit unerheblich. 

    Im Unterschied zu den Plänen von Generälen wie Shukow vermied Stalin dieses Bedrohungsszenario bewusst, um klar in der vorteilhaften Position des Verteidigers zu bleiben. In diesem Sinne handelte er geradezu wie der gelehrige Schüler der Kriegstheorie von Clausewitz, der zufolge Verteidigung die überlegene Kampfform darstellt. Schon 1939 hatte er sich mit dem Einmarsch in Polen zwei Wochen Zeit gelassen, um nicht mit der Aggression Hitlers in Verbindung gebracht zu werden, und um den Vormarsch der Wehrmacht und die Reaktion der Westmächte abzuwarten. Im Juni 1941 war die Position des Verteidigers symbolisch, politisch und militärisch wichtiger denn je. Den Angriff in Kauf zu nehmen, sparte die raren Ressourcen der Roten Armee. Stalin überließ es Hitler, einen ressourcen- und kräftezehrenden Angriffskrieg zu führen, dessen Verluste sich schon im August bemerkbar machten.8 
    Darüber hinaus begann der Krieg in einer für Stalin problematischen Grenzregion, die erst im Zuge des Pakts 1939 und 1940 mit Gewalt sowjetisiert worden war. Die Bevölkerung der westukrainischen und westbelarusischen Gebiete hatte den „Organen“ des NKWD seitdem immer wieder große Schwierigkeiten bereitet. Die Flüchtlingsströme waren ebenso schwer unter Kontrolle zu bringen, wie die antikommunistischen und nationalen Widerstandsbewegungen, beispielsweise der Ukrainer. Abermals in einer Parallele zu 1939, als Stalin entgegen ersten Verabredungen die zentralpolnischen Gebiete dem „Dritten Reich“ überantwortete, überließ er den deutschen Truppen im Juni 1941 die Zentren des Widerstandes zu zerstören, und er nahm große Opferzahlen zu Beginn des Krieges in Kauf. Antibolschewistische Einstellungen wusste das „Dritte Reich“ nicht zur eigenen Herrschaftssicherung zu nutzen. Im Gegenteil, veränderte der rassenideologische Terror der deutschen Besatzungsherrschaft, der die Hoffnungen ukrainischer Nationalisten schnell enttäuschte, wichtige Loyalitäten: nicht für Hitler, sondern zugunsten Stalins. 

    Es gab im Juni 1941 gute Gründe, auf die zahlreichen Warnungen vor „Barbarossa“ nicht mit einem vorschnellen Angriff zu reagieren. Die Vorstellung, dass die Rote Armee in das Generalgouvernement – das deutsche Besatzungsgebiet in Zentralpolen – einmarschiert wäre, um so den Hitler-Stalin-Pakt zu brechen und das „Dritte Reich“ anzugreifen, ist so abwegig wie die vor einiger Zeit diskutierte Präventivkriegsthese. Stattdessen kann entgegen geläufiger Sichtweisen argumentiert werden, dass Stalin zwar mit einer hochriskanten Option, doch kalkuliert, rational und nachvollziehbar reagierte. Dass er den Angriff der Deutschen mit einigen Konzessionen, wie etwa der Beschleunigung von Warenlieferungen in das „Dritte Reich“, so lange wie möglich hinauszögern wollte, steht diesem Argument nicht entgegen. Zeit zu gewinnen war die oberste Maxime. Denn letztendlich wollten weder Stalin noch die Sowjetunion den Krieg. Hitler hatte ihn mit „Barbarossa“ schon verloren. Am Ende dieses Vernichtungskrieges gab es 27 Millionen sowjetische Todesopfer – 14 Millionen davon Zivilisten.


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Proklamation des Führers an das Deutsche Volk und Note des Auswärtigen Amtes an die Sowjet-Regierung nebst Anlagen ↩︎
    2. Pätzold, Kurt / Rosenfeld, Günter (Hrsg., 1990): Sowjetstern und Hakenkreuz 1938–1941: Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, Berlin, S. 297 ↩︎
    3. Hubatsch, Walther (Hrsg., 1965): Hitlers Weisungen für die Kriegführung: 1939–1945: Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, München, S. 77–82, hier S. 81 ↩︎
    4. Churchill, Winston S. (1947): Reden 1940–1941: Der unerbittliche Kampf, Band 2, Zürich, S. 260 ↩︎
    5. Overy, Richard (2005): Die Diktatoren: Hitlers Deutschland,Stalins Russland, Stuttgart, S. 651 ↩︎
    6. Merridale, Catherine (2006): Iwans Krieg: Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt/Main, S. 118 ↩︎
    7. Besymenski, Lew (2006): Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin, S. 354-368 ↩︎
    8. dazu jüngst: Dimbleby, Jonathan (2021): Barbarossa: How Hitler lost the war, London, S. 246ff. ↩︎

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  • Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

    Die Geschichte der Ausgrenzung, Enteignung, Vertreibung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden kennt viele wichtige Daten und Ereignisse: Boykotte jüdischer Geschäfte ab 1933, Berufsverbote, die diskriminierenden Nürnberger Rassegesetze 1935 oder Gewalttaten wie die Reichspogromnacht 1938. Sie betrafen zunächst die deutschen Juden, ab 1938 auch die Juden Österreichs und des Sudetenlandes. Mit Kriegsbeginn vergrößerte sich jedoch sprunghaft die Gruppe derer, die von der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten betroffen war. Allein in Polen gerieten etwa 1,8 Millionen Juden unter deutsche Besatzung. Ab Herbst 1939 wurden dort hunderte Ghettos eingerichtet und bis Ende des Jahres fielen etwa 7000 polnische Juden deutscher Gewalt zum Opfer.

    Zu den wichtigen Daten zählt auch der 22. Juni 1941. Denn erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann die massenhafte und systematische Ermordung der Juden Europas, aus Terror wurde Genozid. Besonders auf den Gebieten der heutigen Ukraine und Belarus sowie der heutigen baltischen Staaten sowie Moldaus und Rumäniens ermordeten mobile Tötungskommandos innerhalb weniger Wochen und Monate Hunderttausende Juden. Hinter den vorrückenden Truppen drangen sie auch auf das Gebiet des heutigen Russlands vor, wo sie ebenfalls zahlreiche Massenmorde an Juden begingen. Insgesamt fanden auf den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion bis 1944 etwa 2,6 Millionen Juden den Tod.

    Erst ab Ende 1941 bzw. im Laufe des Jahres 1942 wurden im besetzten Polen jene Vernichtungslager errichtet, in die schließlich Millionen Juden aus Polen und ganz Europa deportiert und ermordet wurden und die bis heute zu den zentralen Erinnerungsorten des Holocaust zählen.

    Der russische Jurist und Publizist Lew Simkin hat unter anderem Monographien zu Friedrich Jeckeln, dem Vernichtungslager Sobibor und zur juristischen Aufarbeitung des Holocausts vorgelegt. In einem Kommentar für gazeta.ru geht er anhand der Aussagen der Täter der Frage nach, warum gerade der 22. Juni 1941 den Übergang zu unvorstellbaren Massakern an den Juden markiert.

     

    An dem Tag, als die deutsche Armee und in deren Gefolge die Mörderbrigaden der Einsatzgruppen die sowjetische Grenze überschritten, begann das, was mit dem griechischen Wort Holocaust (dt. „vollkommen verbrannt“) bezeichnet wird. Bis zu diesem Tag waren die Juden in Europa zwar verfolgt, aus ihren Häusern verjagt und ihres Besitzes beraubt worden, aber sie wurden nicht umgebracht, zumindest nicht in diesen Dimensionen.
    Die Phase des offenen Massenmordes begann in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“

    Einer derjenigen, die von nun an in bisher ungekanntem Maße mordeten, war SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der am 23. Juni 1941 seinen Dienst als Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Süd antrat. Jeckeln wurde vor 75 Jahren von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt und gehängt. Die Unterlagen zu seinem Verfahren habe ich vor mir. Ich konnte sie im Zentralarchiv des FSB einsehen.

    „Bereits während des Kampfes um die Macht hatte die Führung der Nationalsozialisten den Kampf gegen die Juden obenan gestellt“, berichtet Jeckeln bei der Gerichtsverhandlung. „Mit Erlass der Nürnberger Gesetze wurde dieser Kampf rechtlich untermauert. Da hatte man noch nicht vor, die Juden umzubringen. Sie sollten aber ins Ausland umgesiedelt werden, insbesondere nach Palästina“.
    Es ist möglich, dass in den ersten Jahren des Dritten Reiches niemand in der NS-Bewegung, auch der „Führer“ nicht, eine feste Vorstellung hatte, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte.

    Nun gehört aber neben Mein Kampf auch der Brief an den Soldaten Gemlich zu den Quellen des Nationalsozialismus, geschrieben vom „Bildungsoffizier“ Adolf Hitler am 16. September 1919. Dort heißt es: „Das letzte Ziel [des Antisemitismus] muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Sein Weg zu diesem „letzten Ziel“ war allerdings ein recht langer.

    In den ersten Jahren hatte niemand in der NS-Bewegung eine feste Vorstellung davon, wie die Lösung der „jüdischen Frage“ aussehen sollte

    Es muss wohl kaum jemandem erklärt werden, dass sich hinter dem Euphemismus „Endlösung“ die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas verbarg. Allerdings weiß niemand, ob dieser Begriff von Beginn an eben diese Bedeutung hatte, und ob er im Dritten Reich jene große Verbreitung fand, die heute gemeinhin angenommen wird. In historischen Dokumenten begegnet man ihm nur äußerst selten.
    In den 1980er Jahren hatte der „Nazijäger“ Simon Wiesenthal Hitlers ehemaligen Minister Albert Speer gefragt, wann dieser das erste Mal diesen Begriff gehört hat. Speer antwortete, dass es erst nach dem Krieg gewesen sei – weder Hitler noch Himmler hätten ihn verwendet.

    Hatte es denn überhaupt einen Beschluss über die Vernichtung der Juden gegeben?
    Niemand hat jemals einen schriftlichen Befehl zur Ermordung jedes einzelnen Juden gesehen. Keiner der wichtigsten Helfer Hitlers hat in den Verhören nach dem Krieg einen solchen Befehl erwähnt. Einige Historiker gehen davon aus, dass es ihn nicht gegeben hat. Aber in welchem Sinne nicht gegeben? In schriftlicher Form? Oder hat es ihn überhaupt nicht gegeben?
    Der britische Holocaust-Forscher Martin Dean hat mir gegenüber argumentiert, es habe keine einheitliche „Endlösung“ gegeben, die Entscheidung sei schrittweise getroffen worden, zwischen Frühjahr 1941 und Sommer 1942, und sie sei schrittweise umgesetzt worden: Die Juden wurden in verschiedenen Phasen über die gesamte Dauer des Krieges ermordet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die „Endlösung“ anfänglich eine Andeutung Hitlers war, die von jenen verstanden wurde, an die sie gerichtet war. Schließlich waren sie alle – und Himmler an erster Stelle – moralisch bereit; alles Weitere hing allein von ihrer Initiative ab.

    Die Vernichtung aller sowjetischen Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion

    All dem könnte man soweit zustimmen, wäre da nicht Folgendes: Die Vernichtung der sowjetischen Juden, und zwar aller Juden, einschließlich der Frauen und Kinder, begann praktisch sofort mit dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion. Dies wird allerdings für gewöhnlich damit erklärt, dass nach Hitlers Ansicht den sowjetischen Juden der Kommunismus eigen war, weswegen die Juden in der UdSSR als Kommunisten ermordet wurden. Dem war jedoch nicht ganz so – vielmehr keineswegs so.
    Allgemein wird angenommen, dass die sowjetischen Juden aufgrund des „Kommissarbefehls“ ermordet wurden, der am 6. Juni 1941 von Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnet wurde und die Anweisung enthielt, „politische Kommissare […] nach durchgeführter Absonderung zu erledigen“. Doch von Juden ist in dem Befehl keine Rede. Diese tauchen erst in einer Weisung Reinhard Heydrichs auf, dem Leiter des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), die er am  2. Juli 1941 bezüglich der Umsetzung des Kommissarbefehls an die Höheren SS und Polizeiführer richtete: „Zu exekutieren sind […] Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstige radikale Elemente [].“

    Zunächst versuchte Jeckeln auf dem Papier, seine Opfer unter diese Kategorien zu fassen. Und später wunderte sich niemand, dass sämtliche Juden zu den „Kommissaren“ gezählt wurden, auch Frauen und Kinder. Der erste Massenmord geschah im August 1941 in der Stadt Kamjanez-Podilsky, wo auf Befehl von Jeckeln im Laufe von drei Tagen 23.600 Menschen ermordet wurden. Allein, weil sie als Juden geboren worden waren. Das Massaker von Babyn Jar folgte einen Monat später.

    „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.”

    Aus dem Verhör von Jeckeln:
    Frage: „Aus welchem Grund wurden Bürger jüdischer Nationalität umgebracht?”
    Antwort: „Laut Propaganda mussten die Juden erschossen werden, weil sie nicht produktiv arbeiten konnten und wie ein Parasit im deutschen Volkskörper lebten.“
    In seiner Antwort an den Staatsanwalt folgte Jeckeln somit Himmler, der Juden als „Parasiten“ bezeichnet hatte, die „zu vernichten sind“. 
    Doch, wie Stanislaw Lem in seinen Provokationen treffend schrieb: „Himmler hat […] gelogen, […] denn Parasiten vernichtet man nicht mit der Absicht, ihnen Qualen zuzufügen.” […] „Die nach Geschlechtern getrennten Juden wären in spätestens vierzig Jahren ausgestorben, wenn man dabei in Rechnung stellt, wie rasch die Ghettobevölkerung vor Hunger, Krankheiten und durch die infolge der Zwangsarbeit bedingte Entkräftung zusammenschmolz. […] – es sprachen also keine anderen Faktoren für die blutige Lösung außer dem Willen zum Mord.”

    Frage Staatsanwalt: „Sie waren natürlich in Bezug auf die Juden der gleichen Ansicht?”
    Antwort Jeckeln: „Ich war da der gleichen Ansicht, wie die meisten Deutschen.” Hannah Arendt bezeichnete in ihrem 1945 erschienenen Artikel Organisierte Schuld die Deutschen als ein Volk, „in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, effektiv verwischt worden ist […].”
    Und trotzdem heuchelte Jeckeln, als er auf die Frage des Staatsanwalts antwortete. Er teilte nicht einfach nur diese kannibalischen „Ansicht“.

    Der Führer habe sich geäußert, die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen.

    Verteidigung (Anwalt Milowidow). Frage an den Zeugen Blaschek:
    „Als Jeckeln von den Plänen zur Vernichtung der Juden sprach, was meinen Sie als Zeuge – war das der persönliche Plan von Jeckeln oder Programm jener Partei, in der der Angeklagte Mitglied war?“
    Antwort: „Wir hatten kaum eine persönliche Meinung. Jeckeln war aber einer derjenigen, die Meinung machten. Unter diesen Meinungsmachern war es sehr schwer, eine eigene Meinung zu haben. Das betrifft nicht nur mich, sondern im Grunde das ganze deutsche Volk.“
    Milowidow: Ich habe keine weiteren Fragen.“

    Für mich bleibt aber noch die Frage: Gab es nun einen Beschluss zur Vernichtung der Juden oder nicht? Ich habe in den Archivunterlagen über SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach, der zu Beginn des Krieges als Chef des Amtes I des Reichsicherheitshauptamtes einen der höchsten Posten in der SS-Hierarchie innehatte und der zum Ende des Krieges in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, einen neuen Beleg für die Existenz eines Beschlusses entdeckt. Anders als Jeckeln ist er nicht hingerichtet worden. Als ihm der Prozess gemacht wurde, galt bereits der Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. Mai 1947 „Über die Abschaffung der Todesstrafe“. Streckenbach kehrte 1955 zusammen mit den anderen deutschen Kriegsgefangenen wohlbehalten nach Deutschland zurück.

    In Streckenbachs Ausführungen, die er im Laufe der Vorermittlungen gemacht hat , habe ich folgende Passage gefunden: „Mit Beginn des Russlandfeldzugs erreichten die Maßnahmen gegen Juden ein neues Stadium. Es erging der Befehl zur breitangelegten Liqudierung der Juden. Mir ist nicht ganz klar, von wem die Initiative ausging. Einem Bericht von Heydrich zufolge hatte sich der Führer auf einer der Besprechungen dazu geäußert und erklärt, er habe die Absicht, die Judenfrage in Europa endgültig zu lösen, und die Liquidierung der Juden während des Krieges werde kein großes Aufsehen in der Welt erregen. Dieser Befehl wurde zwar geheim gehalten, war aber dennoch bald allseits bekannt und sorgte für große Aufregung, weil es viele gab, die damit nicht einverstanden waren“.

    Dass viele nicht einverstanden gewesen seien, ist ein rhetorisches Mittel der Übertreibung, das sich durch den Ort erklären lässt, an dem die Aussage niedergeschrieben wurde, nämlich im Gefängnis der Lubjanka. Alles Übrige entspricht wohl der Wahrheit. Bis zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, die allgemein mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbunden ist, war es noch weit. Zu jener Zeit war aber bereits die erste Million der sechs Millionen Opfer des Holocaust ermordet worden.

     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

     

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  • Kino #13: Komm und sieh – Krieg im sowjetischen Film

    Kino #13: Komm und sieh – Krieg im sowjetischen Film

    Volkstragödie, Abenteuer, psychologisches Drama, pyrotechnisches Theater, romantische Verklärung – das alles war der Krieg im sowjetischen Film und noch viel mehr. In der Kriegsdarstellung spiegelte sich der Zeitgeist, und das Verhältnis zu diesem Krieg blieb für die Bestimmung des historischen Bewusstseins der sowjetischen Gesellschaft immer richtungweisend. Der Wechsel der Stile war ein genauso sensibles Merkmal einer veränderten Sicht auf den Krieg wie die Koexistenz von staatstragender und nicht angepasster Kunst im Kriegsfilm. Im Kaleidoskop der Genres und Stile nimmt der Film Idi i smotri (Komm und sieh!) von Elem Klimow eine ganz besondere Haltung ein: Er zeigt Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium.

    Im Film „Idi i smotri“ („Komm und sieh!“) inszeniert Elem Klimow den Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium. Szene aus dem Film / © Evgeyi Koktyish/Sputnik
    Im Film „Idi i smotri“ („Komm und sieh!“) inszeniert Elem Klimow den Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium. Szene aus dem Film / © Evgeyi Koktyish/Sputnik

    Die ersten Kriegsfilme, die noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) gedreht wurden, waren naturalistisch und brutal. „Heute und morgen sind wir gezwungen“, sagte Alexander Dowshenko 1942, „den Rahmen des in der Kunst Erlaubten zu erweitern. Heute schreit unsere Leinwand nach Galgen, brennenden Häusern, die mit gequälten Menschen überfüllt sind, nach Gefolterten, nach lebendig Begrabenen. Die unzähligen Opfer stöhnen: Dreht euch nicht weg von uns, die wir einen unästhetischen Tod gestorben sind.“1

    Sowjetische Kriegsfilme: Abenteuer, Märtyrer und pyrotechnisches Theater

    Der Film Ona saschtschischaet rodinu (Sie verteidigt die Heimat (1943)) stellte die Figur der Mutter in den Mittelpunkt – eine rächende, gnadenlose, „kastrierende“ Mutter (= Russland), die in den 1930er Jahren im Figurenensemble der sowjetischen Kinematografie fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). Diese Frau kann mit dem Beil Feinde erschlagen und den Mörder ihres Sohnes mit dem Panzer niederwalzen. Ihr Hass ist gegen Männer gerichtet, die auf der Leinwand – neben der Vernichtungsarbeit des Krieges – meist bei Trinkorgien dargestellt werden. 

    Der Film „Sie verteidigt die Heimat“ (1943) stellte die Figur der Mutter (= Russland) in den Mittelpunkt, die in den 1930er Jahren im Figurenensemble fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). / © RIA Novosti/Sputnik
    Der Film „Sie verteidigt die Heimat“ (1943) stellte die Figur der Mutter (= Russland) in den Mittelpunkt, die in den 1930er Jahren im Figurenensemble fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). / © RIA Novosti/Sputnik

    Die parallel entstandenen Partisanenfilme verklärten den Krieg auf andere Weise. Es waren Märtyrerfilme wie Soja (1944) oder Marytė (1947), in denen sich junge Mädchen opfern und gefoltert werden, und Abenteuerfilme wie Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees (1942)) oder Podwig raswedtschika (Heldentaten eines Kundschafters (1944)), in denen entschlossene starke Männer den Feind besiegen. Sie schlüpfen in die Rolle geheimnisvoller omnipotenter Rächer und spielen mit den dummen Deutschen „Räuber und Gendarm“. Die bärtigen, humorvollen Partisanen werden zu märchenhaften Großväterchen der Nation. 
    Bald geriet der Krieg im Film zum pyrotechnischen Theater. Die perfekten Kriegsspektakel stellen die großen Schlachten nach – von dem auf 70 mm gedrehten Mehrteiler Juri Oserows Oswoboshdenije (Befreiung (1970–1977)) bis hin zu heutigen, von Videospielästhetik geprägten Feuerorgien wie T-34 (2019), einer Panzeroper mit Special Effects.

    Menschenschicksale und Romantisierung

    Die Lockerungen der Tauwetter-Ära gingen im Film eng einher mit dem Kriegsthema und fanden ihren Ausdruck in den wirklichkeitsgetreuen Schützengrabenfilmen der späten 1950er Jahre: Soldaty (Soldaten, 1956) – der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte damals wie eine erste große Offenbarung. Sudba tscheloweka (Menschenschicksal (1959)) oder die erste Geschichte von einer untreuen Kriegsbraut Letjat Shurawli (Die Kraniche ziehen, 1957) wurden zu Ereignissen. Das individuelle Schicksal war plötzlich genauso wichtig wie das der Massen und die entfesselte Kamera ein Ausdruck dafür. 

    Der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte in der Tauwetter-Ära wie eine erste große Offenbarung. Szene aus dem Film „Die Kraniche ziehen“ / © RIA Novosti/Sputnik
    Der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte in der Tauwetter-Ära wie eine erste große Offenbarung. Szene aus dem Film „Die Kraniche ziehen“ / © RIA Novosti/Sputnik

    Die 1960er Jahre stellten den Krieg so dar, wie er in Erinnerung geblieben war. Lichte Melancholie der Ballada o soldate (Ballade von Soldaten (1961)) war hier genauso berechtigt wie radikale Expressivität – Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1961). Die gewonnene Authentizität wurde durch Romantisierung abgelöst. Und so blieb es bis Alexej Germans Prowerka na dorogach (Straßenkontrolle (1971)) und Larissa Schepitkos Woschoshdenije (Aufstieg (1977)). Krieg wurde zum einzig erlaubten Terrain, auf dem harte existentielle Fragen – nach der (Un)möglichkeit einer Freiheit der Wahl – abgehandelt werden konnten. Die Parabeln haben eine Wahrheit des Krieges tragisch verallgemeinert. 

    Eine ganz andere Dimension eröffnete Elem Klimow, als er 1984 denselben Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium inszenierte. 

    Ästhetisierter Horror oder suggestive Beeinflussung?

    Elem Klimow und seine Frau Larissa Schepitko begannen zur selben Zeit am selben Thema zu arbeiten. Larissa nahm sich den Stoff des Belarussen Wassil Bykau, Elem den des Belarussen Ales Adamowitsch vor. Nur wurde sein Projekt nach den ersten Drehtagen 1976 gestoppt und erst 1982 wiederaufgenommen. Adamowitschs Drehbuch basierte auf autobiografischen Erlebnissen, die er bereits in mehreren Büchern (Chatyn-Erzählung, Partisanen, Exekutionskommando, Ich bin aus dem Feuerdorf) verarbeitet hatte. Er dachte zunächst an eine Komödie: die Abenteuer eines halbwüchsigen Tollpatsches im Grauen des Krieges. Klimow entschied sich für einen Horrorfilm mit apokalyptischen Zügen. Er forderte den Zuschauer aggressiv heraus: „Komm und sieh!“ Der Titel ist ein Zitat aus der Offenbarung Johannes (Kapitel 5-8): „Und ich hörte ein viertes Wesen sagen wie mit einer Donnerstimme: ‚Komm und sieh!‘ Und ich sah ein blasses Pferd, und der darauf saß, dessen Name war der Tod, und ihm folgte die Hölle.“


    Klimow entrollt das Bild einer Apokalypse im Belarus des Jahres 1943, in einem von Hunderten niedergebrannter Dörfer (Klimow sprach von 600, heute zirkuliert eine Zahl von 9000). Klimow weicht von der dokumentarischen Vorlage Adamowitschs und konkreten Ort-Zeit-Bezeichnungen – Chatyn, 1943 – ab, zielt auf Totalität. Auf ein Bild der Vernichtung. Nicht nur der physischen Natur (Wald, Haus, Mensch), sondern der Psyche. Was kommt, nachdem die Hemmschuhe der Kultur abgeworfen werden und die Menschheit in zwei Lager zerfällt: Metzger und Schlachtvieh? Das Individuum schwindet – es ist nicht sein existentielles Drama. Opfer und Henker haben – nach Klimow – keine individuelle Geschichte. Kein Gesicht. Und in Erwartung des totalen Vernichtungskrieges – der Apokalypse – geht es ja um das Geschlecht der ganzen Menschheit. 
    Statt der Frage nach Entscheidung und Schuld, wie sie in anderen Kriegsfilmen dieser Zeit üblich war, wählte Klimow einen anderen Ansatz: „Das Gesicht des Menschen, der dich erschießt, siehst du nicht. Und es ist unwichtig, ob er gezwungen war, schwach oder willens, welche Kompromisse und Gewissensbisse er zu überwinden hatte – er schießt. Eine Differenzierung von Henkern, egal welche Uniform sie tragen, ist unnötig. Eine Differenzierung von Opfern ebenfalls. Wenn Bomben fallen, sehen wir weder Gesichter noch Nuancen. Für mich war die Frage des Stils entscheidend. Ich habe Coppolas berühmte Apocalypse now gesehen. Aber das war ein Kriegsschauspiel – Theater in realer Landschaft. Für mich muss maximale emotionale Einwirkung mit extremer Wahrhaftigkeit einhergehen. Dabei meine ich nicht dokumentarische Authentizität. Unsere Wahrnehmung ist durch Berge von Leichen im Fernsehen beim Abendbrot völlig abgestumpft.“2 

    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren in „Idi i smotri“ neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Szene aus dem Film / © L. Luppov/Sputnik
    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren in „Idi i smotri“ neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Szene aus dem Film / © L. Luppov/Sputnik

    Dagegen kämpft Klimow mit hypnotischer Suggestion von Horror, Ekel, Atemnot und Todesangst an. Mit einer für den Zuschauer unmerklich forcierten Vereinnahmung, mit dessen gewaltsamer Platzierung an die Stelle des Helden – und zwar so raffiniert und allmählich, dass der zum Kommen und Sehen Aufgeforderte dies erst wahrnimmt, nachdem die Falle schon zugeschnappt ist und er nicht mehr entrinnt. 


    In der ersten Szene beobachtet die Kamera aus einiger Entfernung zwei Jungen, die ein Gewehr aus der Erde buddeln, das einem Toten gehörte, ohne zu ahnen, was das bringt. Bereits in der nächsten Szene, als die Mutter den glücklichen Finder Fljora nicht zu den Partisanen in den Wald lassen will, ändert sich die Perspektive. Über die Optik dieses 14-jährigen naiven Dorfjungen öffnet sich der Blick auf den Krieg. Die Kamera schlendert mit ihm durch das Partisanenlager, staunt über die seltsamen Typen und ihr buffoneskes Leben. Doch allmählich verliert das Gewohnte den Charakter des Sicheren, überall lauert der Tod, und er ist allmächtig. Mit der Bombardierung des Waldes beginnt Fljoras Marsch durch alle möglichen Tode: erschossen zu werden oder im Moor zu ertrinken, auf eine Mine zu treten oder im Feuer zu sterben. Der Ton imitiert sein subjektives Hören, die subjektive langsame Kamerafahrt seinen Blick. Der Regisseur rückt den Zuschauer aus der Position des distanzierten Betrachters heraus, immer mehr in das (physiologische) Erleben des Geschehens hinein. In der Drängelei der Massen in der Scheune – in Erwartung eines gemeinsamen unausweichlichen Endes – überkommt den Rezipienten Atemnot, und er empfindet selbst Bedrohung. 


    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Wenn Fljora dem Massaker entkommt, ist er dennoch als Mensch vernichtet, entwürdigt. Erst hier ändert Klimow erneut die Erzählperspektive: Dokumentaraufnahmen vom Ende des Krieges laufen rückwärts. Fljora entlädt sich, indem er immer wieder auf ein Bild des Führers schießt. Auch dessen Leben spult sich rückwärts ab. Bei einem Kinderbild Hitlers hält Fljora inne. Dies wird meist als Zeichen für wieder aufgebaute Menschlichkeit im Opfer gedeutet. Ob der Zuschauer genauso schnell aufzurichten ist und zur Mündigkeit zurückfinden kann, wird dabei nicht beachtet. Doch diesen Effekt wollte Klimow mit seinem radikalen „Hyperrealismus“ und Schockeffekten erreichen. 
    Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Treibsand voller Leichen, Reiter der Apokalypse auf Motorrädern, die aus dichtem Nebel erscheinen; panoramaartige Szenen, die wie Höllenkreise wirken; weißer Schnee, der am Ende plötzlich wie ein Leichentuch die Märtyrer bedeckt. 
     

    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird in Klimows Film zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Szene aus dem Film / Foto © L. Luppov/Sputnik
    Das verzerrte Antlitz des Jungen wird in Klimows Film zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Szene aus dem Film / Foto © L. Luppov/Sputnik

    „Gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd“

    Klimows Arbeitsmethoden waren, wie so oft bei seinen Filmen, ungewöhnlich. Um bei den Darstellern die Intensität des Grauens zu maximieren, ließ er das Gerücht verbreiten, dass ein tatsächliches Feuer gelegt wird. Anstelle der üblichen Platzpatronen wurden – trotz des erheblichen Risikos – echte Granaten und Leuchtspurgeschosse benutzt. Mit seinem Hauptdarsteller, einem 16-jährigen Moskauer Jungen, arbeitete Klimow nach der von ihm entwickelten „Methode der Posthypnose“. Um ihn vor psychischen Schäden zu bewahren, gab es im Filmstab eine Gruppe von Psychologen und Hypnotiseuren, die den Jungen nach den enormen Belastungen in den Zustand der Ansprechbarkeit zurückholten. Auch den Zuschauer schonte Klimow nicht: „Der denkt, er wisse alles über den Krieg. Aus Büchern, Filmen, aus Familiengeschichten. Doch Information ist nicht alles – gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd.“
    Klimows Film erschien im selben Jahr wie das Buch des französischen Philosophen Paul Virilio Krieg und Kino (dt. 1986). Beide meinten, unabhängig voneinander, dass es keinen Krieg ohne die Eroberung der Wahrnehmung gebe. Kriegsfilme, die eine derartige psychologische Macht ausüben, gehörten daher in die Kategorie der Waffen. 
    Klimows Film ist auf diese überwältigende suggestive Wirkung ausgerichtet. Die internationale Kritik sah in ihm einen barbarischen Zirkus, eine Mischung aus lyrischer Poesie und expressionistischem Albtraum und – ein gnadenloses Meisterwerk. 

    Text: Oksana Bulgakowa
    Veröffentlicht am: 22.06.2021



    1.zit. nach Istoria sovetskogo kino, Band 4, 1941-1952. Moskau 1975, S. 49 
    2.Das Interview mit Klimow hat Oksana Bulgakowa zusammen mit Dietmar Hochmuth 1984 in Moskau geführt. 

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  • Der Hitler-Stalin-Pakt

    Der Hitler-Stalin-Pakt

    Am 23. August 1939 landete das Flugzeug des deutschen Außenministers in Moskau. Nur ungern hatte Joachim von Ribbentrop seine Sommerfrische bei Salzburg verlassen, um einen Vertrag zu unterzeichnen, an dem seiner Meinung nach sowieso nichts mehr zu rütteln war. Auch seinem Zustandekommen drohte nach dem Scheitern der britisch-französischen Gespräche in Moskau keine Gefahr mehr. Wozu also der Aufwand?
    Für Stalin freilich war noch nichts entschieden. Er verlangte Ribbentrop in Moskau, um, wie Hitler rasch zusicherte, „das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatz-Protokoll […] in kürzester Zeit substantiell“ zu klären. Nach sieben Stunden harter Verhandlungen lag das geheime Zusatzprotokoll vor: Darin einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Nach weiteren vier Stunden unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit war der Weg zum Zweiten Weltkrieg in Europa frei.

    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei
    Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei

    Wenige Tage später, am 1. September, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und am 17. September folgte die Rote Armee aus Osten kommend. In den ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkriegs waren das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Verbündete, die den europäischen Kontinent gewaltsam untereinander aufteilten. Als der Pakt knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, brach, herrschte Hitler über ein um 800.000 Quadratkilometer erweitertes Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 Quadratkilometer ausdehnen konnte. Historische Freunde, wie die nationalsozialistische Propaganda behauptete und auch Ribbentrop selbst, der sich in Moskau „wie unter Parteigenossen“ fühlte, waren sie allerdings nie. Der stets von Misstrauen und Skepsis begleitete Hitler-Stalin-Pakt folgte eindeutigen geopolitischen Interessen, die weniger für Hitler, aber stets für Stalin Vorrang hatten vor den Imperativen der Ideologie. Diese Expansionsinteressen wurden im berühmt-berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll vereinbart. Bis zur Reformära Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren stritt die damalige Sowjetunion die Existenz des Geheimprotokolls vehement ab.    

    Die Teilung Polens

    Die im Geheimprotokoll vereinbarte Teilung Polens war das erste Ziel, das Deutschland und die Sowjetunion erreichten. Zynisch hatte Molotow das Land als „Bastard des Versailler Vertrages“ verunglimpft, dem im Herbst 1939 weder Großbritannien noch Frankreich – ungeachtet bestehender Garantieerklärungen – zur Hilfe eilten. Nach der erfolgreichen Besatzung errichteten Hitler und Stalin grausame Gewalt- und Terrorregime. Die Deutschen verwandelten das sogenannte Generalgouvernement in ein „Auffangbecken“ für tausende deportierte Juden und Polen. Im Generalgouvernement nahm der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, seinen Anfang. Stalin wiederum setzte die Sowjetisierung der gewonnenen Gebiete brutal in die Tat um. Von nun an gehörten Westbelarus und die Westukraine zu seinem Imperium. 

    Beide Diktaturen verübten grausame Kriegs- und Massenverbrechen. Im Frühjahr organisierten die deutschen Besatzer die so genannte AB-Aktion, in deren Zuge tausende vermeintliche und tatsächliche Mitglieder des polnischen Widerstands verhaftet und hingerichtet wurden. Etwa zur selben Zeit erschossen Kommandos des sowjetischen NKWD weit über 20.000 polnische Offiziere in den berüchtigten Massenerschießungen von Katyn. 
    Dass die Vollstrecker des Terrors nicht nur neben-, sondern häufig auch miteinander planten und agierten, gehört zu den vergessenen Kapiteln in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts. Mehrfach trafen SS-Schergen und teils hochrangige NKWD-Offiziere zusammen und besuchten sich gegenseitig in den Besatzungsgebieten. Gemeinsam berieten sie etwa im Dezember 1939 über Aktionen gegen den polnischen Widerstand, koordinierten groß angelegte Umsiedlungsaktionen und setzten 1940 eine deutsch-sowjetische Flüchtlingskommission in Kraft, deren Aufgabe es unter anderem war, illegale Flüchtlingsströme zu unterbinden. 

    Auf dem Höhepunkt des Bündnisses 

    Die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gingen weit über Polen hinaus. Auf dem Höhepunkt im Frühjahr 1940 ermöglichte das Bündnis Hitlers „Blitzkriege“ in Westeuropa. Immense Wirtschaftslieferungen aus der Sowjetunion versorgten die deutsche Kriegsmaschinerie mit notwendigen Rohstoffen wie Erdöl und Eisen. Auf der Grundlage eines umfangreichen Wirtschaftsabkommens vom Februar sandte Deutschland im Gegenzug Fabrik- und Industrieanlangen nach Osten. Mit dem deutschen Einmarsch in Paris und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 erreichte die nationalsozialistische Expansionspolitik in Westeuropa ihren Zenit. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt wäre sie nicht möglich gewesen. 

    Die scheinbar mühelosen Siege der Deutschen markierten gleichzeitig die Kehrtwende im deutsch-sowjetischen Bündnis. Stalin hatte sie mit wachsender Skepsis und Sorge beobachtet. Um sich seinen Teil der „Beute“ zu sichern, besetzte er die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit 1939 mit lädierter Souveränität überlebt hatten. „Sie hatten keine Chance“, gab Molotow noch Jahrzehnte später zu: „Ein Land muss sich um die eigene Sicherheit kümmern. Als wir unsere Forderungen formulierten – man muss handeln, bevor es zu spät ist – schwankten sie noch. […] Aber schließlich mussten sie sich entschließen. Und wir brauchten die baltischen Staaten.“ 

    Dass die Sowjetunion danach Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina erhob, provozierte eine handfeste bündnispolitische Belastungsprobe. Denn auch Deutschland stand diesen, zu Rumänien gehörenden Gebieten, nicht gleichgültig gegenüber: Es benötigte im Zuge der nationalsozialistischen Wirtschaftspläne in Südosteuropa das Wohlwollen Rumäniens, um auf dessen Ölfelder und Landwirtschaftsressourcen zugreifen zu können. Stalin entschied die Bessarabienkrise für sich. Danach aber konnten keine Freundschaftsschwüre mehr die tiefen Risse im deutsch-sowjetischen Bündnis übertünchen. Schon im Frühherbst 1940 streckten beide die Fühler nach anderen Partnern aus. Stalin empfing in Moskau einen Sondergesandten Londons. Hitler schuf mit dem Dreimächtepakt, den das Deutsche Reich, Italien und Japan am 27. September in der Reichskanzlei unterzeichneten, die Achse Berlin-Rom-Tokio. 

    November 1940: Molotow in Berlin

    Der Besuch des sowjetischen Außenkommissars in der Reichshauptstadt im November 1940 gilt gemeinhin als letzter Versuch der Verständigung und Wiederbelebung des Hitler-Stalin-Pakts. Dabei hatte Hitler den Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion bereits getroffen. Die militärischen Vorbereitungen waren im Gange, die Führung der Wehrmacht war unterrichtet und schon im Sommer wurden Militäreinheiten aus dem Westen gen Osten und nach Finnland verlegt, wo sie für Moskau zu großer Besorgnis Anlass gaben. 
    Vor diesem Hintergrund versuchte Hitler seinen Bündnispartner, die Sowjetunion, nach Asien und in einen Konflikt mit Großbritannien zu treiben. Denn als Ausgleich für die Aufgabe territorialer Ambitionen in Finnland und in Südosteuropa bot Hitler der Sowjetunion Indien an; ein „primitives Spiel“, das Molotow leicht durchschaute. Dass Stalin insbesondere auf Finnland beharrte – sein Anspruch war im geheimen Zusatzprotokoll verankert und von den Deutschen anerkannt worden – bestätigte den ideologischen Antibolschewismus, den Hitler nie abgelegt, sondern nur hintangestellt hatte. Die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner und nicht als minderwertigen Erfüllungsgehilfen zu betrachten, war in seiner ideologischen Überheblichkeit unvorstellbar. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Der Weisung zufolge sollte die Wehrmacht bis 15. Mai 1941 alle Vorbereitungen für einen Einmarsch abgeschlossen haben. 

    Vom Bündnis zur Feindschaft 

    Die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts endete am 22. Juni 1941. Noch Jahre später, mitten im Kalten Krieg, bedauerte Stalin den Bruch seiner Tochter Swetlana zufolge mit den Worten: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unschlagbar gewesen“. Und er meinte wohl, unschlagbar, hätte Deutschland keinen Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Es war Hitlers fanatischer Wille, Stalin aus Europa zu vertreiben, einen ideologischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu führen. Diesen setzte er als grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um. Aus den Verbündeten wurden erbitterte Gegner, die sich auf altbewährte ideologische Feindschaften stützen konnten. Stalin hätte diesen Krieg gern vermieden. Gegen territoriale Eroberungen hatte er nichts. Hitler aber wollte den Krieg, der im Mai 1945 nach unvorstellbarem Leid und Millionen Toten mit der Niederlage des „Dritten Reiches“ endete.

    Der Hitler-Stalin Pakt und die Erinnerung

    Das deutsch-sowjetische Bündnis bestimmte die ersten 22 Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa. Ungeachtet seiner immensen historischen Bedeutung erscheint es oft wie ein Präludium, wie ein hinführendes Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der, so der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers „Drittem Reich“ und Stalins Sowjetunion begann. In der teleologischen Sichtweise läuft der Weltkrieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöst.

    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0
    Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0

    Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat, unterschätzt. Auf das „Dritte Reich“ bezogen fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. In der sowjetischen Lesart galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Deutung lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die damaligen Erinnerungsdebatten große Bedeutung. In dieser Zeit prägte der Pakt die Kontroversen um eine gemeinsame historische Erinnerung Europas. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden. Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern. Sondern es ging darum, ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg. Und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran bislang viel ändern.


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    Von der Autorin ist aktuell zum Thema erschienen: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019 

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    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Und er sagt, warum er es heute so wichtig findet, sich daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg nie gänzlich eskaliert ist.

    Alexander Gorbatschow: Sie haben eingehend die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen erforscht und auch, wie der Schmerz und die Trauer um die Opfer des Gulag in der heutigen Kultur weiterleben. Die Erinnerung an den Krieg überschneidet sich gewissermaßen mit dieser anderen Erinnerung – zumindest chronologisch und im Schicksal tausender Menschen, die sowohl im Lager als auch im Krieg waren.

    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Alexander Etkind: Dieses Phänomen ist komplizierter, als es scheint. Es ist klar, dass sich die beiden Geschichten überschnitten haben: Mitunter haben Menschen im Gulag gesessen, dann an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, und sind schließlich wieder ins Lager gewandert. Oder die Überschneidung fand sich innerhalb der Familie: väterlicherseits saßen sie, mütterlicherseits waren sie an der Front – und allen soll gedacht werden.

    In der Kultur und im historischen Gedächtnis stehen diese Themen jedoch getrennt, wie zwei Kontinente, die sich zudem weiter voneinander entfernen. Und das, denke ich, ist ein Problem.

    Wie ist es dazu gekommen?

    Die Gründe hierfür sind wie immer politischer Art. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es im Grunde nichts, worauf man stolz sein sollte. Nun, ja, der Krieg war siegreich, obwohl das nur so kam, weil der Krieg ein Weltkrieg war, und nicht nur ein Vaterländischer. Das heißt, alle Opfer, auch die sinnlosen, waren gerechtfertigt, denn am Ende stand der Sieg.

    Der Große Vaterländische Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es nichts, worauf man stolz sein sollte

    Der Gulag, das waren nur sinnlose Opfer und keinerlei Siege, es gibt kein Mittel, hierfür eine Rechtfertigung oder Sühne zu finden. Und deshalb sind diese beiden Erinnerungsräume voneinander getrennt.

    Was meinen Sie, erfolgt das aufgrund einer zielgerichteten Tätigkeit des Staates, der diese beiden Räume gleichsam getrennt hält, oder kommen da dezentere, natürlichere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen?

    Ich glaube allgemein nicht an schöpferische Fähigkeiten des Staates. Der Staat ist in der Regel geistlos, dumm und verschwenderisch. Natürlich gibt es dort auch Leute, die man heute als creatives bezeichnen würde, die staatliche Förderungen erhalten und versuchen, die kreativen Kräfte der Bevölkerung irgendwie zu steuern, doch diese Gelder laufen in der Regel ins Leere oder richten Schaden an.

    Und wenn ich mir überlege, was wir jetzt beobachten können … Zum Beispiel die Ausstellung Russland – meine Geschichte. Die Ergebnisse sind mehr als jämmerlich. Deswegen glaube ich nicht an den Begriff „Geschichtspolitik“.

    Es kommt nicht auf den Staat an, sondern auf das Bemühen von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Berufen und Bestrebungen – Historiker, Schriftsteller, Filmregisseure, Museumsmitarbeiter oder einfach Enthusiasten. Diese Menschen schaffen im Dialog miteinander, durch gemeinsame Anstrengungen, einen Sinnzusammenhang, den wir rückwirkend „historisches Gedächtnis“ nennen.

    Wir sagen, dass voneinander losgelöst zwei Typen der Erinnerung existieren. Und doch gibt es eine Figur, durch die diese beiden Typen miteinander verbunden sind, nämlich die Figur Stalins. Und es scheint mir, dass immer dann die Funken fliegen, wenn diese beiden Rollen Stalins gleichsam aufeinanderprallen: die des Oberkommandierenden und die des Organisators der Massenmorde.

    Chruschtschow hat seinerzeit den Begriff „Personenkult“ eingeführt. Zum damaligen Zeitpunkt passte der, aber es ist längst an der Zeit, ihn zu überdenken. Es geht hier nämlich um einen Staatskult.

    Es gibt Leute und ganze politische Gruppierungen, für die es wichtig ist, den Glauben an die machtvolle und lebensstiftende Rolle des Staates zu befördern. Dieser Staat manifestiert sich in der Führerfigur.

    Stalin ist die ideale Verkörperung dieses Kultes, weil er so viel Macht hatte, entschlossen und grausam war und militärische Siege errang. Und – so merkwürdig das erscheinen mag – weil er ein Fremdstämmiger war.

    In der russischen Tradition fügt sich dieser Umstand in den Kult vom Staat als einer fremden, mystischen Kraft, die von irgendwoher aus anderen Ländern kommt, für Ordnung sorgt und Siege bringt.

    Das heißt, Stalin ist nicht an sich wichtig, sondern als Schnittpunkt dieser Parameter?

    Genau, als Verkörperung der Ideale russischer Staatsgläubiger. Als oberster Führer, dem alles Gute zugeschrieben wird, der aber in keinster Weise für das Schlechte verantwortlich ist. Eine solche Figur wird natürlich auch jetzt im Massenbewusstsein konstruiert, auch wenn diese Figur kein Stalin ist.

    Der Krieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Gleichwohl bleibt er weiterhin das zentrale Ereignis in der neueren Geschichte Russlands – sowohl für den Staat als auch, so wie es aussieht, für die Gesellschaft. Zumindest ist der Tag des Sieges von allen historischen Feiertagen eindeutig derjenige, der die Massen berührt, der am stärksten sakralisiert ist, und verbindet.

    Wissen Sie, der Feiertag in Russland, der die Menschen am stärksten verbindet, das ist Neujahr. Und warum Neujahr? Weil das kein religiöser Feiertag ist, sondern, grob gesagt, ein astronomischer, oder noch einfacher: ein recht sinnfreier. Da wird kein Geburtstag begangen, kein Todestag; das ist ein Ritual, zu dem sich die Menschen leicht vereinigen lassen.

    Auch der Tag des Sieges ist so ein Ereignis. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet der Tag des Sieges ist, nicht der Tag des Kriegsbeginns, nicht der Gedenktag für die Kriegsopfer.

    Das heißt: So, wie die Rituale des Tages des Sieges gestaltet sind, ist das Trauma zwar da, doch betont wird hauptsächlich das Triumphierende. Wie korreliert das damit, dass der Krieg für die meisten seiner Teilnehmer vor allem Schmerz bedeutete?

    Krieg, das bedeutet vor allem Opfer. Um des Sieges willen werden Opfer gebracht. Ein Mensch, der im Krieg kämpft und an die Ziele des Krieges glaubt, geht davon aus, dass die Opfer einen Sinn hatten, dass sie gerechtfertigt und richtig waren. Und er feiert dann dieses Gerechtfertigtsein.

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal

    Hätte sich in Russland auch ein anderer verbindender Feiertag ergeben können? Oder war es unausweichlich, dass gerade der Sieg zum bestimmenden, sakralen Ereignis der neueren Geschichte wird?

    Ich denke, es gibt Dinge, auf die das postsowjetische Russland stolz sein kann. So kann man zum Beispiel auf die Ereignisse von 1991 stolz sein, auf den unblutigen Zerfall eines Riesenreiches. In Russland ist oft die Ansicht zu hören, dass der Zerfall des Imperiums eine Tragödie war, ein Verbrechen, eine Katastrophe. Gut: Wenn es eine Katastrophe war, dann führt einen Gedenktag zu Ehren des verlorenen Sowjetstaates ein und gedenkt seiner feierlich. Aber das passiert nicht.

    Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen

    Es werden Reden gehalten, Ausstellungen organisiert, doch daraus entwickelt sich kein Ritual. Und ich denke, das hat einen Grund: Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen. Die Menschen empfinden Schuld und Befremden – darüber, wie das alles geschehen, wie es dazu kommen konnte. Warum und wozu?

    Es gibt die Geschichte zweier totalitärer Staaten, die, verwickelt in ein diplomatisches Spiel, einen Krieg begannen. Ihre irrsinnigen Staatsführer schmiedeten politische Bündnisse und kündigten sie wieder auf, wechselten innerhalb weniger Jahre mehrmals Allianzen. All das endete in einer globalen Katastrophe; letztendlich errang eine der Seiten den Sieg.

    Aber auch das Bündnis, das um des Sieges willen entstanden war, zerfiel sofort wieder, und es begann ein weiterer Krieg, Gott sei Dank ein kalter. Dessen relativ unblutiger Charakter ist wohl auch etwas, worauf man heute stolz sein kann: Trotz bergeweise rostiger Waffen ist es nicht zur Explosion gekommen, wurde nicht aus Versehen ein Krieg ausgelöst. Das erforderte riesige Anstrengungen, mitunter auch Heldentaten Einzelner.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern.

    Meinen Sie, dass es Mechanismen gibt, die es ermöglichen, etwas kollektiv zu erfahren und zu erleben, was gar nicht gewesen ist?

    Gute Frage. Natürlich ist das schwer: Wie ließe sich dazu eine Ausstellung machen oder eine Parade abhalten? Die Leistungen der namenlosen Offiziere oder Beamten, die die Katastrophe abwendeten, bleiben vergessen. Wir kennen in der Regel nicht einmal ihre Namen. Oder wir erfahren nur aus purem Zufall von jemandem, der sich entschied, eine Rakete mit Atombomben nicht loszuschicken, obwohl er etwas dabei riskierte.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern

    Man sagt, so sei die Erinnerung strukturiert. Aber wessen Erinnerung ist es, die so strukturiert ist? Ich denke, es ist die Erinnerung des Staates, die so funktioniert, dass sie den Menschen ihren eigenen, staatlichen Hierarchien folgend einen Platz zuweist, ihnen Ränge und Posten verleiht, Museen einrichtet und Ehrentafeln schafft. Und durch dieses Verhalten des Staates bleiben die wirklichen Helden oft ohne Gedenken.

    Der Staat hat kürzlich die Aktion Das Unsterbliche Regiment im Grunde genommen vereinnahmt …

    Ja, die Initiative wurde vom Staat vereinnahmt und wird nun für dessen Zwecke instrumentalisiert. Das muss jedoch nicht immer schlecht sein.

    Man muss von Fall zu Fall den eigenen Verstand einschalten, man kann keine generelle Strategie verkünden. Ich kann nichts Schlimmes daran erkennen, dass die Aktion Das unsterbliche Regiment eingesetzt wurde, um ein staatliches Ritual zu etablieren. Ja, mehr noch: Ich würde mich freuen, wenn beispielsweise die Aktion Die unsterbliche Baracke ebenfalls vom Staat aufgegriffen und Teil eines bewussten, durchdachten staatlichen Rituals würde.

    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was denken Sie, hat die konsequente Sakralisierung des Großen Vaterländischen Krieges in irgendeiner Art Einfluss auf die Haltung zu heutigen Kriegen? Nutzt der Staat den Sieg von damals zur Legitimierung heutiger Konflikte?

    Die Kriege heute haben natürlich einen anderen Charakter. Der Gesellschaft ist das aber nicht ganz so bewusst. Und wenn man aus irgendeinem unglücklichen Zufall dann doch den Fernseher einschaltet, stellt man fest, dass sehr viel von dem, was dort zu hören ist, entweder ein direkter Kriegsaufruf ist (was ja übrigens eine Straftat darstellt), oder – das ist eher die dezente Form – die Furcht vor einem Krieg abschwächen, die Empfindsamkeit für dieses Thema senken soll.

    In der Psychologie gibt es den Begriff der „Desensibilisierung“, der meiner Ansicht nach hier zutreffend ist: Er beschreibt eine zielgerichtete Verringerung von Empfindsamkeit. Und so etwas wird zweifellos auch erreicht, indem man einem siegreichen Krieg huldigt, der vor sehr vielen Jahren stattfand.

    Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar: Wohin kann die derzeitige verstärkte Kontrolle des Kriegsgedenkens führen? Bis hin zu Strafverfahren wegen „Entstellung der Geschichte“ oder wegen Hakenkreuzen in Videos aus den Archiven? Welche Ergebnisse wird es geben?

    Ich denke, gar keine. Diese Versuche werden nicht weit führen. Wenn man von der Zukunft spricht, muss man sich bemühen, sich auf minimale, aber relevante Voraussagen zu beschränken, und die allgemeinen tektonischen Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Die können nämlich – im Unterschied zu einzelnen Ereignissen – vorausgesagt werden.

    Eine solche Verschiebung stellt meines Erachtens jene Desensibilisierung dar, von der die Rede war; die verringerte Sensibilität gegenüber Gewalt, Krieg, Verhaftungen, Folter, Leiden und dem Tod als solchen. Das ist eine tektonische Verschiebung, die von Krieg kündet, ihn vorbereitet. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Krieg tatsächlich eintreten wird. Es ist aber eine schwerwiegende Verschiebung. Und es ist eine Bewegung, die nur schwer zu stoppen ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten. 

    Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1 

    Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können. 

    Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.

    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain

    Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
     
    Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. 
    Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.

    Unheroischer Krieg

    Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. 
    Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. 
    Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film Die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. 
    Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4 Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
     
    In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen.
    Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7 

    Staatliche Heroisierung

    Der ideologische Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. 
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).

    In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. 
    Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen. 

    Emotionalisierung und Kommerzialisierung

    Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.  
     
    Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad (Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.

    Privates Gedenken im öffentlichen Raum

    Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 
    Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. 
    Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. 
    Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.

    Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.


    1. Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686 ↩︎
    2. Novaya Gazeta: Pobeda pred“avljaet sčet ↩︎
    3. vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht. ↩︎
    4. vgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov. ↩︎
    5. vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch ↩︎
    6. Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht. ↩︎
    7. So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017. ↩︎
    8. Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn ↩︎
    9. Eine lokale, gesellschaftliche Initiative, ins Leben gerufen von Journalisten der nichtstaatlichen Tomsker Mediengruppe. Webseite des Archivs mit Familiengeschichten ↩︎
    10. Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten. ↩︎

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  • „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst“ und schon stürzte am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion das ganze Land in einen kollektiven Schock. Völlig unvorbereitet stemmte sich die UdSSR gegen die deutsche Übermacht, die auf ihrem Vormarsch Tod und Verwüstung hinterließ. Die genauen Opferzahlen sind nicht ermittelbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kriegsende ständig zum Politikum gemacht werden: So sprechen neueste Schätzungen aus Russland von rund 42 Millionen sowjetischen Opfern des von Deutschland ausgelösten Großen Vaterländischen Krieges.
    Ein Politikum ist die Kriegsgeschichte selbst: Der Kreml monopolisiere die Geschichtsdeutung, so die Kritik zahlreicher Sozialwissenschaftler. Tatsächlich können abweichende Interpretationen seit 2014 sogar strafrechtlich geahndet werden – als sogenannter „Ausdruck von Respektlosigkeit“.  

    In einer Zeit, in der das abweichende Erfahrungsgedächtnis zusehends einer staatlich-verordneten Erinnerungskultur weicht, werden die Stimmen der Zeitzeugen umso wertvoller. Zu den gewichtigsten gehört Daniil Granin. Mit 22 Jahren kam er an die Front, jung, beherzt und naiv. Schnell eignete er sich eine Kriegslogik an. Nach dem Krieg verarbeitete er seine Erlebnisse in zahlreichen Publikationen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden.

    Im Interview mit der Novaya Gazeta reflektiert und hinterfragt der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller nochmal das Vergangene sowie den heutigen Umgang damit. Und widerlegt vortrefflich das Klischee, dass „Zeitzeugen die größten Feinde des Historikers“ seien.

    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta
    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta

    Daniil Granin: In den ersten Jahren nach dem Sieg verbot uns die Zensur zu erzählen, wie wir 1941 in den Krieg gezogen sind und gekämpft haben. Und auch wir selber erzählten lieber vom späteren Vormarsch. Wie wir in Berlin einmarschierten. Aber wie es am Anfang war, welche kolossalen Verluste wir erlitten hatten, den Rückzug angetreten hatten, getürmt waren, Stadt um Stadt ausgeliefert hatten – darüber wollten wir nicht sprechen. 

    Das war die tragischste Zeit – der Anfang des Krieges. Als unser Militärtransport im Juli 1941 an die Front fuhr, sangen alle Lieder. Wir waren glücklich, dass wir ins Volksheer gekommen waren. Ich war vom Wehrdienst freigestellt worden und arbeitete in einem Konstruktionsbüro für Panzer. Meine Aufnahme ins Volksheer hatte ich nur mit Mühe durchgesetzt. Ich dachte: Wie kann das sein? Es ist Krieg! Und ich soll nicht teilnehmen?! Das ist ein unbeschreibliches Gefühl …

    Im Nachhinein kommt es einem irgendwie einfältig vor, dumm.

    Novaya Gazeta: War das der Glaube an sich selbst oder an das Land?

    Es war die allgemeine Stimmung, aber auch meine persönliche Überzeugung, dass wir bald siegreich zurückkehren würden. Wir hatten keine Ahnung vom Krieg. 

    Da war auch noch ein anderes Gefühl. Das hat uns in den ersten Kriegsmonaten zu schaffen gemacht: Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst und mit ihm angestoßen. Hatte Deutschland „unseren Freund“ genannt. Wir zogen in den Krieg, ohne mit Zorn gerüstet zu sein. In uns wuchs ein Gefühl von Befremden und Kränkung: Wie konnte das sein? Sie hatten uns ohne jegliche Vorwarnung angegriffen.

    Nicht nur unsere Politiker waren den Deutschen auf den Leim gegangen, betrogen worden und in die Falle getappt, sondern auch wir: Wir waren im Wortsinn und moralisch unbewaffnet losgezogen.

    Wir hatten keine Ahnung vom Krieg

    Als der erste deutsche Pilot bei uns in Gefangenschaft geraten war, sprach der mit uns von oben herab, wie mit einer niederen Rasse, mit der Überlegenheit eines Ariers und Militärs. Er kündigte an: „Ihr seid dem Tode geweiht.“
    Wir bemühten uns, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Thälmann, Karl Liebknecht, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Das war ja überall präsent, in allen Zeitungen. Es dauerte tatsächlich ein paar Monate, bis wir genug Hass und Zorn beisammen hatten. Bis wir jedenfalls die freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen losgeworden waren.

    Woher nahmen Sie den Hass?

    Von den deutschen Soldaten. Die hinterließen nach ihren Angriffen niedergebrannte Dörfer, zerstörte Städte, Galgen. Aber die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Dieser Krieg war ja nicht dazu da, irgendwelche Gebiete zu erobern. Nein. Sie drangen Richtung Moskau vor, um Russland zu zerstören. Leningrad zu vernichten. Hitler sagte wörtlich: „dem Erdboden gleichzumachen“.

    Die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Im ersten Kriegsjahr war vieles völlig unbegreiflich. Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Ich bekam kein Gewehr. Es wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt. Aber wo waren unsere Waffen? Wo unsere Flugzeuge? Warum bombardierten uns die Deutschen, und wir hatten überhaupt nichts zur Verteidigung auf unserem Frontabschnitt, zum Beispiel Jagdflugzeuge?

    Völlig unerwartet trat plötzlich offen zu Tage, wie wenig unsere Armee auf den Krieg vorbereitet war. Es gab nicht mal topografische Karten. Das war entmutigend. Es hatte doch dauernd Militärparaden gegeben. Ständig hatten wir Heldenlieder über Woroschilow und Budjonny gesungen: „Keiner kann ihn uns nehmen, den zurückgelegten Weg, Rote Division, voran, voran, voran …

    Die Enttäuschung darüber, dass wir nicht kampfbereit waren, wuchs. Auch darüber, dass die Deutschen Stalin um den Finger gewickelt hatten. Sie hatten alles vorbereitet, wir nichts. Wir rannten vor ihnen weg. Das ist ein demütigendes Gefühl. Ein panisches Gefühl.

    Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Also wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt

    Es gibt eine Seite des Krieges, die sich erst Jahre später erschließt, und die den Historikern kaum zugänglich ist. Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel. Aber diese Seite trägt zum Begreifen eines Wunders bei:

    Es ist die Geschichte der Brüderlichkeit unter Soldaten. Wie sich die Stimmung der Soldaten veränderte. Es ist wie ein EKG, das über vier Jahre abgeleitet wird und das sich dauernd ändert: zuerst Prahlerei, dann Hoffnung, dann Enttäuschung, Verzweiflung, ein Gefühl der Katastrophe. Dann – irgendeine Erfahrung und wieder ein Bruch: Dir wird klar, dass man doch auch einen Deutschen töten kann. Dieses EKG lässt sich sehr schwer aufzeichnen, aber genau das hat den Krieg beeinflusst und letztlich entschieden.         

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war.

    Eine sehr große Rolle spielte für uns, dass die Deutschen es nicht schafften, Moskau einzunehmen, in Moskau einzumarschieren, sondern im September 1941 bereits bei Leningrad Halt machten. Außerdem machten sie dort nicht nur Halt, sondern waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Das war der erste spürbare Erfolg, und der markierte einen psychologischen Umschwung.

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war

    Kriegsgeschichte ist nicht nur Geschichte der Schlachten und Verluste, sondern auch die Geschichte darüber, wie sich die Psychologie der Soldaten veränderte. Dieser Teil der Kriegsgeschichte ist nur dürftig abgebildet, sie ist den Historikern nicht zugänglich, es sind nur Erinnerungen von Soldaten und Generälen.

    Niemand konnte voraussagen, dass der Krieg vier Jahre dauern würde – weder die Kriegsherren, noch die Offiziere, noch die einfachen Soldaten. Hätte man mir während meiner Bemühungen um die Aufnahme in die Armee gesagt: „Du kommst, wenn du denn überlebst, in vier Jahren zurück“, hätte ich das nicht geglaubt oder mich nicht als Freiwilliger gemeldet.

    In der Literatur der Nachkriegszeit davon zu erzählen, genierte man sich. Auch die Zensur hielt diese Enttäuschung unter Verschluss. Dieser Teil der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde fast nicht ans Licht gebracht. Darüber durfte nicht gesprochen werden.

    Dass die Zensur viele Jahre lang nicht erlaubte, die Wahrheit zu sagen, dass sie unrühmliche Momente vertuschte – unsere Niederlagen, den Mangel an Waffen – war es richtig, den Patriotismus der Menschen auf diese Art zu steigern? Wer die wahren Umstände nicht kannte, hielt Stalin wahrscheinlich nach wie vor für einen genialen Feldherren.

    Das ist eine schwierige Frage. Zum Beispiel die Heldentat der Panfilowzy … Jetzt weiß ich, dass sie aufgebauscht wurde, doch damals war das hilfreich. Da gab es auch die Losung: „Mit der Brust werfen wir uns dem Feind entgegen“. Mit der Brust wirfst du dich gar niemandem entgegen. Aber ich weiß noch, dass sie halfen, sowohl die Panfilowzy genauso wie Matrossow belebten den Kampfgeist.

    Es gab auch gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte: Wie real war das, wie viel Prozent Wahrheit steckten drin? Solche Dinge waren im Krieg von großer Bedeutung. Deswegen ist die Einstellung dazu äußerst komplex.

    Es gab gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte

    Es gab auch Momente, in denen uns sofort klar war: Das ist reinste Propaganda.

    Stalin hielt gleich zu Beginn des Krieges, 1941, eine Rede und sprach davon, wie viele Millionen Deutsche wir vernichtet, getötet hätten. Er nannte eine so hohe Zahl, dass wir uns fragten: Warum stehen sie dann noch vor uns?!  

    Was, wenn man Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, dass wir nicht vorbereitet waren, keine Waffen hatten, dass die Mittel, die Kraft nicht ausreichen würde?

    Das wäre sehr schwer gewesen. Was konnten uns die Kommissare schon sagen? Nicht nur die Hoffnung musste genährt werden, auch der Glaube an weitere Erfolge, und die fehlten die ganze Zeit. Monat um Monat erlebten wir Rückzug, Panik.

    Mein Krieg überlagerte sich noch mit der Tragödie der Blockade. An der Leningrader Front hatten wir zusätzlich das Leid der Zivilbevölkerung vor Augen. An anderen Fronten war das weniger spürbar. Schlimm war es natürlich auch, aber Leningrad bekam es am heftigsten ab.

    Stimmt es, dass die Isaakskathedrale und einige andere Petersburger Denkmäler und Gebäude während des Krieges für die Stadtbewohner Symbole waren, die ihnen Kraft gaben?

    Ja, das stimmt. Wir sahen durch Feldstecher Brände in der Stadt, Rauchsäulen, die nach den Bombardements der Faschisten aufstiegen, und uns zerriss es das Herz. Weil da nicht nur eine Stadt brannte, da brannte der Stolz Russlands. Die Stadt, die man mit Peter dem Großen verband, mit den Dekabristen, mit Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski … Sie alle waren an der Verteidigung Leningrads beteiligt.

    War die Stadt Leningrad in diesem Krieg wichtiger als Moskau?

    Für Hitler noch früher als für uns. Er sah die Wurzeln des Bolschewismus in Leningrad und machte es im Plan Barbarossa zum wichtigsten Angriffsziel. Der Führer sah das so: Sobald Leningrad erobert ist, fällt der Widerstand.

    Es gab in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zwei bedeutende Brennpunkte des Widerstands: Stalingrad und Leningrad. Stalingrad war militärischer Widerstand, Leningrad – mentaler: das Durchhaltevermögen sowohl der Armee als auch der Bevölkerung.

    Damals wussten wir das nicht, aber nach dem Krieg wurde bekannt, dass Leningrad die Soldaten an anderen Fronten des Landes beflügelt hatte. Zu begreifen, dass die Menschen bis zum Tod standhaft blieben, trotz des Hungers, den sie überspielten, trotz Entbehrungen und Verlusten. 900 Tage! Keine andere Stadt hat in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer so langen Einkesselung standgehalten! Solche Dinge halfen natürlich.

    Kürzlich wurden neue Verlustzahlen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg genannt – 41.979.000 Menschen. Was denken Sie darüber?

    Diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor. Hatten zumindest bisher Angst.

    Begonnen hat die Zählung mit sieben Millionen und stieg dann bis 42. Schrittweise. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Eine Zahl unter Stalin, bei Chruschtschow die nächste, bei Breshnew die dritte, bei Jelzin die vierte. Jeder neue Regierungschef hat mal mehr, mal weniger hinzugefügt. Und plötzlich steht diese entsetzliche Zahl vor uns. Aber auch das ist nicht alles.

    42 Millionen Tote – diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor

    Was sind 42 Millionen? Das ist keine Zahl. Für die, die am Leben geblieben sind, ist es Einsamkeit. Ich habe niemanden, mit dem ich den Tag des Sieges feiern kann. Von meinen Freunden aus Schul- und Studentenzeit, von meinen Kriegskameraden ist mir keiner geblieben. Nicht nur kraft der Natur, sondern auch, weil sie im Krieg umgekommen sind. Damit ist ein Teil meiner Jugend gefallen, meines Lebens, er ist zusammen mit ihnen verschwunden.

    Es gab einen Umstand, der uns alle sehr traf. Stalin hat niemals (vielleicht irgendwann mal in privaten Gesprächen) einen Trinkspruch zum Gedenken der Todesopfer ausgebracht. Er wusste doch, dass das nicht nur sieben Millionen waren. Und beim Empfang nach dem Sieg hat er nichts über sie gesagt. Sie mit keinem Wort erwähnt. Kein Glas auf sie erhoben. Das ist unverzeihlich.  

    Was ist für Sie heute am schmerzhaftesten, wenn Sie an den Krieg denken?

    Man hat uns den Sieg geraubt. Ich habe mich einmal mit Helmut Schmidt unterhalten. Ich fragte ihn: „Warum habt ihr den Krieg verloren?“ Er antwortete sofort (er hatte eine durchdachte Antwort parat, er ist ein guter Politiker, ein professioneller Historiker, hat selbst gekämpft, hat alles gesehen, weiß alles): „Weil die USA in den Krieg eingetreten sind“.

    Dabei ist Amerika ganz spät eingetreten.

    Man hat uns den Sieg geraubt. Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenhafter, als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf

    Ich konnte nicht verstehen, woher diese Version stammte. Und dann wurde mir klar: Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenvoller als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf. Und jetzt ist das im Westen überall durchgedrungen, bis hinein in den Geschichtsunterricht. Das ist ungerecht, anstandslos. Die Menschheit ist uns für diesen Sieg verpflichtet, für die Zerschlagung des Faschismus.

    Aber es stellt sich noch eine Frage: „Warum haben wir gewonnen?“ Für mich ist auch da vieles unklar.

    Einmal wurde ich gebeten, mit Schülern über den Krieg zu sprechen. Plötzlich steht ein etwa achtjähriges Mädchen auf und fragt: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass sie diesen Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Verstehst du? Wie viele Menschen haben Sie getötet? Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“

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  • Großer Vaterländischer Krieg

    Großer Vaterländischer Krieg

    Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

    „Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

    Ein Sieg unter vielen

    Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

    Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

    Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

    Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

    Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

    Siegeskult und Geschichtsklitterung

    Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

    Fundament des historischen Selbstverständnisses

    Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

    In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

    Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


    1. Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7 ↩︎
    2. zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49 ↩︎
    3. Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32 ↩︎

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