„Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd.
Im zweiten Teil des Longread-Interviews, das The Village zum Jahr 1917 mit ihm geführt hat, hinterfragt er die Bedeutung zentraler Personen.
Welche Rolle spielte der Zar selbst bei seinem Sturz in der Februarrevolution? Welche politischen Kräfte rangen danach um die Macht, wie bedeutend war Lenin? Und warum drohte abermals ein politischer Umbruch?
Alexey Pavperov: Die gängige Meinung ist, dass Zar Nikolaus II. die Hauptschuld an der Februarrevolution trägt. Gerade seine Inkompetenz, sein Konservatismus, seine Fehler und der katastrophale Mangel an Respekt gegenüber dem kaiserlichen Thron hätten die Revolution erst ermöglicht.
Boris Kolonizki: Nikolaus II. war kein guter Politiker. Er hat Fehler gemacht, strategische und taktische, auf verschiedenen Ebenen. Andererseits, wie ich schon sagte, in den Jahren des Ersten Weltkriegs steckten alle beteiligten Länder in einer sehr schwierigen Lage. Die Lage Russlands kann man allerdings als besonders schwierig bezeichnen. Objektiv gesehen stellte das Land damals die größte Armee der Welt, ohne dabei der fortschrittlichste, führende Staat zu sein. Dafür war eine gigantische Mobilisierung nötig.
Eine Frontlinie aufzubauen, das ist eine ingenieurtechnische Mammutaufgabe, vergleichbar mit dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, eine riesige nationale Baustelle. Eine Zehn-Millionen-Mann-Armee musste versorgt werden: Verlegung, Waffen, Nahrung und medizinische Versorgung, Abtransport der Verletzten. Selbst einem erstklassigen Politiker hätte das große Probleme bereitet.
Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form.
Geknallt hätte es sowieso – vielleicht später oder in einer weniger heftigen Form
Nikolaus II. hat haufenweise Fehler gemacht. Zum Beispiel personelle: Manche Leute waren, wie die Februarrevolution gezeigt hat, eindeutige Fehlbesetzungen, was zu unprofessionellem Verhalten oder sogar zu Illoyalität gegenüber dem Zaren geführt hat.
Schwere Fehler machte er im Kampf um die öffentliche Meinung. Heute wird viel zu viel über die Ermordung Rasputins gesprochen, wichtig ist jedoch nicht der Mord an sich, sondern wie das Regime darauf reagierte. Da ist ein Mensch getötet worden, aber es wird nicht ermittelt. Was für eine Regierung ist das bitte?
In Ewa Bérards Buch Pétersbourg impérial [dt. Das imperiale Petersburg – dek] wird die These aufgestellt, der Zar hätte Petersburg nicht besonders gemocht und den Großteil seiner Zeit in Zarskoje Selo verbracht. Er hätte die öffentliche Meinung ignoriert und sich während offizieller Veranstaltungen zurückgezogen. Der Zar soll die Stadtbevölkerung, die Bourgeoisie, missachtet und gefürchtet haben.
Könnte man sagen, dass das fehlende Verständnis zwischen der Stadt und dem Zaren eine bedeutende Rolle während der Revolution gespielt hat?
Es gab ein Petersburg, das er nicht mochte. Und es gab eins, das er durchaus mochte. Die Paraden auf dem Marsfeld,und die Gesellschaft der Gardeoffiziere, die liebte er zweifelsohne. Petersburg war zu diesem Zeitpunkt eine sehr militärische Stadt.
Manchmal gelangen ihm auch kluge Schachzüge, da nutzte er die politische Infrastruktur der Stadt. Im Februar 1916 besuchte er die Staatsduma und sorgte damit für einen Medienhype, der wochenlang anhielt.
Ich denke, es hat nicht so sehr mit der Stadt zu tun, sondern vielmehr mit seiner Einstellung zu Russland insgesamt, zu dessen Geschichte, dessen sozialer Struktur. Er liebte ein imaginäres Russland der Bauern, die er den gebildeten, vom westlichen Einfluss verdorbenen Klassen gegenüberstellte.
Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an
Er und – in noch größerem Maße – Zarin Alexandra Fjodorowna glaubten an die Existenz eines ungemein religiösen Bauernvolks als Träger von höchsten moralischen Werten und monarchistischer Gesinnung, und betrachteten alle anderen als eine Art Sperre, die nur stört.
Das Volk versteht den Zaren, und das wird Russland auf ewig retten – so sah das imaginäre Land aus, das Nikolaus in Wirklichkeit nicht besonders gut verstand.
Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Zaren und seiner Gattin geht ihr Verhältnis zum Geschehen deutlich hervor: Petersburg und Moskau lärmen, sind voller Klatsch und Tratsch, aber diese beiden Städte sind nur zwei kleine Punkte auf der riesigen Landkarte Russlands.
Die Bedeutung der Hauptstädte zu unterschätzen, das war ein gewaltiger politischer Fehler, ein riesengroßer politischer Patzer von Anfang an.
Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. [Die Dichterin Sinaida – dek] Hippius bezeichnete ihn als „Charmeur“: Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme – dem eines zurückhaltenden, durchaus intelligenten Menschen. Er konnte mit seinem Charme bestechen.
Eigentlich war Nikolaus II. ja ein interessanter Mensch. Viele, die ihn verachteten, verfielen bei einer persönlichen Begegnung seinem Charme
Dabei zeichnete ihn eine gewisse Unbeständigkeit aus. Manchmal ließ er wichtige Mitarbeiter gehen, ohne ihnen noch ein Hintertürchen offen zu lassen. Man muss jedoch die Kunst beherrschen, sich von jemandem zu verabschieden und ihn sich zugleich für den Notfall noch warmzuhalten. Außerdem verkannte er mitunter den Einfluss der öffentlichen Meinung, der Oppositionsparteien und der Geschäftswelt – seine Denkweise war nicht sehr modern.
Als er Kerenski kennenlernte, sagte er: „Wie schade, dass wir uns nicht schon früher begegnet sind.“ Aber wer hatte sie denn daran gehindert?
Gut, Kerenski war vor der Revolution eine absolute Randfigur. Aber was ist mit dem KadettenführerPawel Nikolaewitsch Miljukow?! Man kann sagen, was man will, aber der war ein russischer Patriot. Sein Sohn, ein Offizier, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Stellen Sie sich vor, der Imperator hätte einen Brief an ihn gerichtet, oder ihn sogar eingeladen, irgendwie seine Unterstützung geäußert, von Mensch zu Mensch – ein halbes Jahr später hätten die Kadetten strammgestanden und den Kaiser hochleben lassen.
Politische Zugeständnisse waren eine Zeit lang gar nicht so wichtig, ein paar simple kommunikative Gesten hätten schon gereicht.
VI. Über die Helden der Revolution und den Weg zum Bürgerkrieg
Lassen sich denn mit Gewissheit Personen nennen, deren Handeln im Zeitraum zwischen den beiden Revolutionen eine maßgeblich negative Rolle spielte und letztlich zur Verstärkung des Konflikts, zur Gewalteskalation und zur Zerrüttung der Lage in Petrograd geführt hat?
Das kommt auf den Blickwinkel an. Für die einen war die Fortsetzung des Krieges ein positiver Faktor, für die anderen war es gerade umgekehrt. Genauso ist es mit der gewaltsam durchgeführten Agrarreform. Die Antwort hängt vom jeweiligen Interesse ab.
Ich glaube, Wörter wie „positiv“ und „negativ“ sind sowieso nicht sehr gut als Erkenntnisinstrumente geeignet. Und trotzdem benutzen wir sie.
Aus meiner Sicht gibt es nichts Schlimmeres als den [Russischen – dek] Bürgerkrieg. Das ist ein in höchstem Maße wichtiges Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, es hat uns stark beeinflusst und tut das immer noch. In gewissem Sinne befinden wir uns bis heute in seinem Wirkungsfeld.
Die große Frage ist für mich der Weg von der Revolution zum Bürgerkrieg. Jede Revolution ist ein potentieller Bürgerkrieg. Und in der Regel wird jede Revolution von kleinen, lokalen Bürgerkriegen begleitet. Sie können ganz unterschiedliche Ausmaße annehmen.
In Russland war der kritische Punkt der Auftritt von General Kornilow, der die Provisorische Regierung herausforderte. Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Deswegen überschätzen wir die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins etwas. Seine Rolle war riesig, aber den Weg des Bürgerkriegs hatten wir bereits eingeschlagen.
Wir neigen generell dazu, die Geschichte zu personifizieren – Kerenski, Kornilow, Lenin, Nikolaus II. – und ebenso den Konflikt zwischen Kerenski und Kornilow auf einen psychologischen zu reduzieren. In Wirklichkeit ist die Vorstellung naiv, dass da irgendein Staatsoberhaupt sitzt und alles entscheidet. Er hat immer einen Kreis von Unterstützern, eine Referenzgruppe, er muss manövrieren. Er arbeitet in einem Team, es ist ein großes Orchester.
Der Bürgerkriegs-Mechanismus war in Gang gesetzt. Wir überschätzen die Bedeutung des Oktobers und die Rolle Lenins
Wir sind ein kulturell sehr gespaltenes Land. Es herrscht völliges Unvermögen, sich gegenseitig zuzuhören: Alle fordern lauthals einen Dialog, aber es endet immer in vielen verschiedenen gleichzeitigen Monologen, die auch noch extrem laut vorgetragen werden. Wir reden von einer nationalen Aussöhnung, aber alles endet mit grob aufgezwungener Buße.
Was war der Grund für das Chaos und die Desorganisation im politischen Leben Russlands nach der Februarrevolution? Warum fanden sich keine Kräfte, die entschlossen die Macht übernehmen und die Situation unter Kontrolle halten konnten?
Darüber sind sich die Historiker nicht einig. Faktisch entstand während der Februarrevolution eine Konstellation, die mit dem nicht sehr präzisen Begriff Doppelherrschaft bezeichnet wird.
Das Schlüsseldokument, das die Konturen dieser Ordnung vorgab, war der Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, mit dem die Armee praktisch demokratisiert und das System der Kompaniekomitees eingeführt wurde. Von Anfang erhoben sie einen Regierungs- und Machtanspruch. Diese Macht konnte in verschiedenen Landesteilen und Regionen unterschiedliche Gestalt annehmen, aber sie war überall präsent.
Manche Historiker sagen, dass es keine Doppelherrschaft war, weil in einigen Regionen eine gewisse Zusammenarbeit stattfand. In anderen Gebieten war die Lage noch verworrener. In Kiew beispielsweise wurde die Macht von den Organen der Provisorischen Regierung, dem Kiewer Sowjet und der Zentralna Rada beansprucht. In Finnland gab es die Machtorgane des Großfürstentums Finnland, die Militär- und Zivilorgane der Provisorischen Regierung und die Komitees, die dort besonders stark waren.
Gewinner und Akteure waren keineswegs immer die Bolschewiki. Im Gouvernement Kasan beispielsweise begann der örtliche Bauernsowjet, der von Sozialrevolutionären geleitet wurde, mit einer Landreform, ohne sich groß an Petrograd zu orientieren.
Das Machtsystem des Zarismus war also zerfallen, und auf seinen Trümmern begann der Kampf zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Kräfte.
Ja. Wobei es einen Konsens gab in Bezug auf einige wichtige strukturelle Entscheidungen: Die Polizei wurde abgeschafft und durch eine Volksmiliz ersetzt. Man ging davon aus, dass eine ständige Polizei etwas Schlechtes sei. Stattdessen sollte jeder freie Bürger zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. Eine Miliz, also praktisch eine Volkswehr. So eine naive, utopische Idee.
Jeder freie Bürger sollte zeitweise die Pflichten der Ordnungshüter übernehmen. So eine naive, utopische Idee
Außerdem wurde die lokale Machtstruktur abgeschafft – anstelle der Gouverneure wurden Kommissare ernannt. Diese Maßnahmen waren unumgänglich: Die Revolutionäre wollten die neue Ordnung festigen und absichern.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Abschaffung der Todesstrafe – eine humanitäre Forderung, für die alle Parteien eintraten, die der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Sowjet angehörten. Zu Kriegszeiten war das eine äußerst schwierige Entscheidung, weil sie die Herrschaftsinstrumente einschränkte.
Nach der Julikrise und dem ersten erfolglosen Versuch der Bolschewiki, die politische Macht zu ergreifen, schwang die gesellschaftliche Stimmung massiv nach rechts um. Im September jedoch, bei der Niederschlagung des Kornilow-Aufstands, musste Kerenski bolschewistische Aktivisten aus dem Gefängnis entlassen, sich bolschewistischer Agitatoren bedienen und Waffen an die Arbeiter verteilen. Danach lag die Initiative im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich wieder bei den Bolschewiki, die sich kurz zuvor noch in der Illegalität befunden hatten und von der Gesellschaft als negative, destabilisierende Kraft wahrgenommen wurden.
Was sagen diese Umschwünge über die Situation in Petrograd aus?
Wenn es um die Revolution geht, sollten wir nicht allein von den Bolschewiki reden. Ich würde eher von den Bolschewiki und ihren Verbündeten sprechen. Während der Julikrise spielten etwa die Anarchisten eine große Rolle. Sehr wichtig für die Bolschewiki war das Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären. Dann gab es noch verschiedene Organisationen der Menschewiki-Internationalisten, verschiedene nationale Gruppen, parteilose Aktivisten und andere.
Die Radikalisierung war nicht unbedingt immer eine Bolschewisierung. In den Sowjets und Komitees, von denen die Legalisierung der Revolution entscheidend abhing, gehörten viele nicht der Partei der Bolschewiki an. In manchen Fällen zum Beispiel sprachen sich die gleichen Leute, die Kerenski im Juli noch unterstützt hatten, im September gegen ihn aus.
Ich würde nicht sagen, dass sich die Partei der Bolschewiki vollständig in der Illegalität befand. Die Situation war überall im Land unterschiedlich. Aber selbst in Petrograd schaffte es die Partei, eine Zeitung herauszubringen, die zwar immer wieder eingestellt wurde, aber jedesmal unter anderem Namen neu erschien.
Am Anfang sehen wir den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen
Und eigentlich geht es nicht um die Bolschewiki, sondern um die Macht. Unsere Sicht ist zu sehr auf die Bolschewiki und auf Lenin verengt. Man muss auch das Verhalten ihrer Gegner betrachten – und das Verhalten derjenigen, die demobilisiert wurden. Wir schauen – glücklicherweise meist im Fernsehen – auf Revolutionen in anderen Ländern. Am Anfang sehen wir eine ungeheure Begeisterung, den Glauben an das Wunder der Revolution, die alles verändern wird. Später zeigt sich dann, dass die Dinge nicht ganz so gut stehen – die Wirtschaft, die Kriminalität und so weiter und so fort.
Ohne diese naive Begeisterung ist beispielsweise das Phänomen Kerenski gar nicht vorstellbar – ein Führer und Retter, an den alle glauben. Nach einiger Zeit sind dann die einen nach rechts abgewandert, in Richtung Konterrevolution. Sehr viele (ich würde sogar sagen, die meisten) haben die Politik ganz aufgegeben: Sie hatten die ständigen Diskussionen satt, waren müde davon. Der Winter stand vor der Tür, die Leute kümmerten sich um Heiz- und Lebensmittel sowie um ihre Lieben, und dann nahm auch noch die Kriminalität zu.
Bei einigen hielt sich die Revolutionsbegeisterung. Etwas klappt nicht? Dann muss man eben noch härter und entschlossener handeln. Eine solche Radikalisierung der Linken spielte den Bolschewiki und ihren Verbündeten in die Hände.
Ja, unser Bild von diesen Geschehnissen ist wohl tatsächlich zu stark vereinfacht. Und es ist normal, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Kräfte die Initiative übernehmen und die Sympathie der Gesellschaft gewinnen.
Es geht nicht nur um Sympathie, es geht um den Grad der Beteiligung. Die einen unterzeichnen per Mausklick eine Petition. Andere nehmen an Kundgebungen teil. Und wieder andere beteiligen sich an Protestaktionen. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.
1917 drückten die einen ihre Sympathien aus, indem sie zu Hause Zeitung lasen und die Passagen, die ihnen gefielen, rot anstrichen. Andere gingen auf die Straße. Manche nahmen die Organisationsarbeit in die Hand. Manche stellten Geld zur Verfügung.
Die Sympathie für eine populäre Person kommt nicht immer in Form aktiver politischer Handlungen zum Ausdruck. Politik ist eine vielschichtige und mehrdimensionale Angelegenheit.
dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.
„Um mich herum sind Verrat, Feigheit und Betrug“1, notierte Zar Nikolaus II. am Abend des 2. März 1917 in sein Tagebuch, nachdem er am Tag zuvor in der alt-russischen Stadt Pskow in einem Eisenbahnwaggon seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Die dramatischen Entwicklungen, die diesem Tag vorausgegangen waren, sind als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen. Mit ihr endete die über dreihundert Jahre währende Herrschaft des Hauses Romanow im Russischen Reich. Gleichzeitig läutete sie die Phase der spannungsreichen Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten ein.
In den Jahren 1916/1917 erlebte Russland seinen dritten, in diesem Jahr besonders kalten Kriegswinter. Die Last des Ersten Weltkrieges, eingefrorene Verkehrswege und streikende Arbeiter führten zu einer dramatischen Versorgungskrise in der Hauptstadt. Die angekündigte Rationierung der Brotvorräte trieb die Menschen in Petrograd auf die Straßen. Es kam zu Brotkrawallen und Protestmärschen. Einer Demonstration von Textilarbeiterinnen und Hausfrauen am Internationalen Frauentag (23. Februar/8. März) schlossen sich in den Außenbezirken eine große Zahl von Arbeitern an.
In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage in der Hauptstadt dramatisch zu. Jeden Tag schlossen sich mehr Menschen den Protestmärschen an. Am 24. Februar traten etwa 210.000 Arbeiter in den Ausstand, am folgenden Tag herrschte in Petrograd praktisch Generalstreik. Der Protest nahm zunehmend politischen Charakter an. Die Demonstranten „eroberten“ das Denkmal für Zar Alexander III. auf dem Snamenskaja-Platz, hissten rote Fahnen und proklamierten „Nieder mit dem Krieg!“ und „Nieder mit der Autokratie!“
Nach Jahren eines entbehrungs- und verlustreichen Krieges war die Autorität der Zarenregierung untergraben. Das Russländische Reich steckte in einer tiefen Systemkrise. Ungeachtet umfassender Agrarreformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die russische Landfrage nach wie vor ungelöst. Hinzu kamen prekäre Lebensbedingungen der wachsenden Zahl an Industriearbeitern und sich verschärfende Nationalitätenkonflikte an den Rändern des Vielvölkerreiches. Auch liberale Kräfte aus den gebildeten Schichten der Städte wandten sich zunehmend von der herrschenden Dynastie ab. Gerüchte kursierten, die Kaiserin stehe in Kontakt mit der Regierung des Deutschen Reiches und plane, Russland an den Feind zu verraten.
Spirale der Gewalt
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Lage zuspitzte, ist unter anderem damit zu erklären, dass Nikolaus II. nicht vor Ort, sondern im Hauptquartier der Truppen im weißrussischen Mogiljow weilte. Vom Ernst der Lage in Petrograd machte er sich offenbar keine Vorstellung, Stadtregierung und Militärs informierten ihn nur bruchstückhaft über die sich ausbreitende Anarchie in der Hauptstadt. Der Befehl des Zaren vom 25. Februar, die Demonstranten mit Hilfe des Militärs auseinanderzutreiben, erwies sich als fatal. Gegebenenfalls wäre es möglich gewesen, die Protestwelle durch ausgleichende Maßnahmen und eine Verbesserung der Lebensmittelversorgung einzudämmen. So drehte sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Am folgenden (zweiten) Blutsonntagder russischen Geschichte (26. Februar 1917) kamen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und zarentreuen Truppen bereits unzählige Menschen ums Leben. Einen Wendepunkt markierte die Entscheidung meuternder Soldaten, nicht auf Zivilisten und „unsere Mütter und Schwestern“ zu schießen. Die Unterstützung durch diese bewaffneten Regimenter verlieh der Protestbewegung Stärke und Organisation.
Als am 27. Februar bewaffnete Arbeiter und Soldaten Arsenale, Waffenfabriken, die Telefonzentrale sowie einige Bahnhöfe besetzten und über 8.000 Häftlinge aus den Gefängnissen befreiten, hatte die Zarenregierung die militärische Herrschaft über die Hauptstadt so gut wie verloren. Auf den Straßen herrschten nun anarchische Zustände. Auf der Peter und Pauls Festung wehte am 28. Februar die revolutionäre Rote Fahne.
Der Gewalt fielen nicht nur Denkmale und Symbole der Autokratie zum Opfer. Marodierende Demonstranten plünderten Geschäfte und machten Jagd auf Aristokraten und Menschen in „bürgerlicher Kleidung“. Die Aktionen waren dabei von keiner revolutionären Partei oder Führung gelenkt, sondern eine relativ spontane Reaktion auf die Versorgungskrise und den Missbrauch beziehungsweise den dramatischen Verfall der Ordnungsmacht der Autokratie. In den Februartagen gab es in Petrograd mehr Tote als während der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917.
Neue Machtzentren
Angesichts der chaotischen Zustände in der Hauptstadt formierten sich am 27. Februar in den gegenüberliegenden Flügeln des Taurischen Palastes zwei neue Machtzentren. Im linken Trakt tagte der Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten, der sich als Vertretung der demonstrierenden Arbeiter und Soldaten verstand und dessen Exekutivkomitee von sozialistischen Kräften dominiert wurde. Im rechten Flügel formierte sich aus dem Progressiven Block des russischen Parlaments (Duma) eine zwölfköpfige Abgeordnetengruppe, die als Provisorische Regierungfür die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in der Hauptstadt sorgen wollte. Nachdem der Ministerrat der Zarenregierung am 27. Februar seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde in der Duma der Ruf nach Abdankung des Zaren laut.
Um in diesen schweren Stunden näher bei seiner Familie zu sein, machte sich Nikolaus II. am 28. Februar im kaiserlichen Zug auf den Weg von Mogiljow in Richtung Petrograd. Da Revolutionäre jedoch bereits einen Teil der Bahnlinie in die Hauptstadt erobert hatten, war ihm der Weg dorthin versperrt. Die Reise endete am 1. März in Pskow. Hier, circa 200 Kilometer südlich der Hauptstadt, wollte Nikolaus die weitere Entwicklung abwarten. Mittlerweile hielt jedoch auch die Armeeführung den von der Duma geforderten Rücktritt des Zaren für unumgänglich. Nachdem ihm alle Frontkommandeure zu diesem Schritt geraten hatten, unterzeichnete Nikolaus am folgenden Tag im Salonwagen seines Zuges schweren Herzens seine Abdankungsurkunde zugunsten seines Bruders Michail. Dieser verzichtete jedoch einen Tag später ebenfalls auf den Thron.
„Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr“
Im Anschluss, so erinnert sich sein Adjutant, saß Nikolaus „friedlich und ruhig da. Er hielt die Unterhaltung in Gang, und nur seine Augen, die traurig und nachdenklich waren und in die Ferne starrten, und seine nervösen Bewegungen, wenn er nach einer Zigarette griff, verrieten seine innere Verstörtheit“.2 Wenig später verließ der Zug der Sondergesandten der Duma, die die Abdankungsurkunde entgegengenommen hatten, den Bahnhof von Pskow in Richtung Petrograd. Später erinnerte sich der Hofhistoriograf Dimitri Dubenski an die Szene: „Eine kleine Menschengruppe beobachtete die Abfahrt. Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr.“3
Die Provisorische Regierung hatte zwar die Verantwortung für die politische Führung des Landes übernommen, verfügte de facto jedoch nur über beschränkte Macht. Der Petrograder Sowjet, andererseits, etablierte sich immer deutlicher als wichtiges Zentrum der Macht, weigerte sich jedoch zunächst, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Hinzu kam, dass dieProvisorische Regierung grundlegende Entscheidungen über die Neuordnung des Landes einer verfassungsgebenden Versammlung übertragen wollte, deren Wahl sich lange verzögerte. Auch vor einer Beendigung des verhassten Weltkrieges schreckte die neue Regierung, auch auf massiven Druck der verbündeten Mächte Großbritannien und Frankreich, zurück. So entstand eine politische Konstellation, die radikalen Kräften von rechts und links neue Spielräume für politische Agitation und Angriffe auf die neue, labile Ordnung bot.
Mordvinov, Anatolij A. (1923): Otryvki iz vospominanii, in: Russkaja letopis´ Nr. 5 (1923), Paris, S. 65-177, Zitat: S. 113. Dt. Übers. nach: Figes, Orlando (2001): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München, S. 369 ↩︎
Dubenskij, Dmitrij N. (1927): Kak proizošel perevorot v Rossii, in: Ščegolev, P.E. (Hrsg.): Otrečenie Nikolaja II. Vospominanija očevidcev, Leningrad (Repr. Moskau 1990), S. 37-84, Zitat: S. 72 ↩︎
„Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen …“, erklärt Boris Kolonizki, renommierter Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg, über die dramatischen Ereignisse vor 100 Jahren im damaligen Petrograd, die zur Februarrevolution führten.
Zu Beginn des Jahres 1917 erwächst aus Protestmärschen und Streiks eine Protestbewegung, die Zar Nikolaus II. den Thron kostet. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen am 27. Februar zentrale Knotenpunkte der Stadt, darunter Waffenarsenale, die Telefonzentrale und Bahnhöfe. Die Regierung verliert ihre Macht und Kontrolle, aus der Duma wird die Forderung nach Abdankung des Zaren laut – der er sich kurz darauf beugt.
Die Februarrevolution krempelt die politischen Verhältnisse um: Die 300-jährige Herrschaft der Zarenfamilie Romanow endet. Russland ist keine Monarchie mehr.
Boris Kolonizki ist auf dem Feld der Revolutionen von 1917 führender Experte in Russland. Im ersten Teil eines Longread-Interviews mit The Village, geht er vor allem auf die Stimmung jener Zeit ein, warum sie damals so dramatisch hochkochte, welche Symbole eine wichtige Rolle spielten und wie das Jahr 1917 gegenwärtig wahrgenommen wird.
Alexey Pavperov: Welche der beiden Revolutionen, deren Jahrestage dieses Jahr begangen werden, ist Ihrer Meinung nach von größerem Interesse für die Öffentlichkeit? Es sieht so aus, als würde von seiten der Regierung die Oktoberrevolution mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Boris Kolonizki: Das hängt ganz davon ab, wie man die Geschehnisse betrachtet. Viele meinen, es war ein zusammenhängender Revolutionsprozess. Die Frage ist, wie wir die Revolution begreifen, wie wir den Begriff definieren. Ich denke, sowohl der Februar als auch der Oktober wecken Aufmerksamkeit bei den Menschen und den Medien. Möglicherweise hat es sich aus der Historie heraus so ergeben, dass viele meinen, besser über die Ereignisse des Oktobers informiert zu sein. Aber das ist bei weitem nicht immer der Fall.
Für die derzeitige Regierung ist die Revolution kein angenehmes Thema. Es spaltet eher, als dass es verbindet. Ich erwarte einige Kontroversen
Man wird sehen. Für die derzeitige Regierung ist es im Grunde kein angenehmes Thema: Es spaltet die öffentliche Meinung eher, als dass es verbindet. Wie Sie wissen, haben viele auf irgendein Signal gewartet, und in der Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlunghaben sie eines bekommen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass man auf dieser Grundlage zu einer nationalen Einheit kommen wird, daher erwarte ich einige Kontroversen. Schwer zu sagen, was da kommt.
Ich meine damit nicht nur den gesamtpolitischen Kontext, sondern auch unvorhersehbare Ereignisse. Zum Beispiel hätte ich absolut nicht damit gerechnet, dass der Kinofilm Mathilda so viel Aufsehen erregen und Publicity bekommen würde. Gut möglich, dass noch andere Überraschungen warten.
I. Die Stimmung in St. Petersburg vor 100 Jahren
„Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues.“ Dies trieb die Menschen auf die Straße, hier in Petrograd im Februar 1917
Wir unterhalten uns heute im Februar 2017. Können Sie bitte beschreiben, wie die Stimmung in der Hauptstadt etwa zur gleichen Zeit vor 100 Jahren war? Bis zur Revolution blieb noch knapp ein Monat, die Hungerrevolten brachen erst in der letzten Februar-Dekade aus. Was bewegte die Stadt in dieser Phase?
Kleinere Revolten und Lebensmittelknappheit waren nichts Neues. Doch die Versorgungsengpässe waren jetzt deutlich spürbar. Das betraf nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz und Kohle – die Versorgung hing davon ab, dass die Infrastruktur funktionierte. Es gab Schwierigkeiten mit dem Transport, Zeitzeugen berichteten von einer Eisenbahnkrise. Dabei deutet in der Statistik nichts auf eine Krise hin, dank der Professionalität ihrer Mitarbeiter wurde die Russische Eisenbahn immer besser. Immer schwieriger aber wurde es, die Armee zu versorgen – entsprechend litt der Binnentransport. Außerdem herrschten schwierige Witterungsverhältnisse in verschiedenen Regionen des Landes und die Schienen mussten vom Schnee freigeschaufelt werden. Auch der teilweise sehr unübersichtliche organisatorische Überbau und der ungeregelte Markt hatten negative Auswirkungen.
Die Menschen strömten nach St. Petersburg: Flüchtlinge, Soldaten, Deserteure
Eine weitere Besonderheit war der Alltag in der Stadt. Die Menschen strömten hierher: Flüchtlinge in Not, Soldaten auf Fronturlaub oder nach einem Krankenhausaufenthalt, Deserteure. Die Grenze zwischen entlassenen oder beurlaubten Militärs auf der einen und Fahnenflüchtigen auf der anderen Seite war manchmal recht schwer auszumachen. Zwar stieg die Kriminalität nicht so stark an, wie es dann in der Folgezeit der Fall war, insgesamt jedoch war eine höhere Instabilität zu spüren. Spekulationsgeschäfte und Korruption florierten.
In der Stadt begegneten einem zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter in Zivil oder in Uniform, die fernab der Gefahren an der Front lebten. Durch Schmiergelder oder dank guter Verbindungen konnten sich viele einer Einberufung entziehen. Eine Mobilisierung von solchem Ausmaß, wie sie einem auf den Straßen von Paris oder London ins Auge fiel, gab es in St. Petersburg nicht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften und Spekulationen. Zum Beispiel war damals in Russland ein großer Mangel an Medikamenten spürbar. Bis zum Krieg waren sie vorwiegend aus Deutschland importiert worden. Führte man diese wertvollen Waren über Skandinavien ein, um sie für ein Heidengeld hier weiter zu verkaufen, konnte man davon in Saus und Braus leben. Der Aufstieg von Neureichen – den Marodeuren im Hinterland, wie sie damals in Russland genannt wurden – war bezeichnend in der Kriegszeit. Diese Aspekte der Krise bleiben häufig außen vor. Krieg ist immer ungerecht, aber hier war er vielleicht besonders ungerecht.
Viele in der Hauptstadt schlugen Profit aus Kriegsgeschäften. Krieg ist immer ungerecht. Aber hier war er vielleicht besonders ungerecht
Hinzu kamen innerstädtische Verkehrsprobleme. Zeichnungen von damals zeigen Menschenmassen, die Straßenbahnen stürmen. Die Spannungen im Alltag spitzten sich zu.
Ich möchte noch einmal betonen, dass das Kinkerlitzchen waren im Vergleich zu den darauffolgenden Jahren. Aber Menschen können nun mal ihre aktuelle Situation nicht mit der Zukunft vergleichen.
Noch etwas machte die Stadt damals besonders aus: die Gerüchte. Gerüchte über Verrat, über Spione, Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, Gerüchte über das Vorhaben, einen Sonderfrieden zu schließen, darüber, dass die Zarin eine Agentin des Feindes sei, und über ihre Protektion durch den Zaren. Man munkelte, es gebe eine Verschwörung.
Heute streiten die Historiker über deren tatsächliches Ausmaß, allerdings können Gerüchte über Verschwörungen manchmal genauso bedeutsam sein wie die Verschwörungen selbst.
II. Zunahme der Gewalt und Proben für die Revolution
„Während der Februarrevolution gab es ziemlich viel Vandalismus.“ Zerstörtes Polizeigebäude in Petrograd
Wie stand es um die Gewalt in der Stadt, wie alltäglich war sie? Lew Lurje beispielsweise spricht in diesem Kontext oft von Hooligans und dass junge Arbeiter oft und gerne Gewalt angewandt hätten.
Ich denke, wir können zu jener Zeit nicht von einer einheitlichen Subkultur der Arbeiterklasse sprechen. Es gab zum Beispiel Textilarbeiter, die vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich saisonal beschäftigt waren. Wenn es im Dorf nichts zu tun gab, zog es sie in die Stadt. Sie waren Arbeitsmigranten, die Geld nach Hause schickten und die Verbindung zu ihren Dörfern nicht abreißen ließen.
Es gab aber auch ausgebildete Arbeiter, die sich teilweise selbst als Arbeiter-Intelligenzija bezeichneten. Sie hatten ein gutes Einkommen, das mitunter dem eines Staatsbediensteten gleichkam. Manche von ihnen konnten ihre Kinder auf Gymnasien schicken. Diese Arbeiterelite, die in England Arbeiteraristokratie genannt wurde, bestand aus gebildeten, politisierten Menschen, die Karriere gemacht hatten. Dabei waren sie oft oppositionell eingestellt. Die Arbeiterklasse war also vielfältig und umfasste verschiedene Generationen.
Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten zu werfen
Lurje hat aber absolut recht: Für jugendliche Arbeiter war es ein Fest für die Seele, mit einem Eisstück nach einem Polizisten oder mit einer Schraubenmutter nach dem Meister zu werfen.
Die amerikanische Forscherin Joan Neuberger hat ein Buch mit dem Titel Hooliganism geschrieben: Dieses englische Fremdwort ist Anfang des 20. Jahrhunderts in den russischen Sprachgebrauch eingegangen; seine Bedeutung war damals allerdings eine andere als heute.
Hooliganismus ist kulturell ritualisierte Gewalt. Das heißt, junge Leute aus Arbeitervierteln, die sich in ihrer Nachbarschaft durchaus anständig verhalten, die sich gut anziehen und eventuell gut verdienen, begeben sich auf das Territorium des Klassenfeindes, ins Stadtzentrum oder in einen Datschenvorort, um Vertreter einer anderen sozialen Gruppe zu provozieren.
Lassen sich die steigende Kriminalität und die spontanen Gewaltausbrüche als eine Art Probe für die Ereignisse Ende Februar deuten?
Proben für die Februarrevolution gab es im ganzen Land und viele. Eine Probe, die häufig vergessen wird, gab es auch in St. Petersburg: ein großer Streik im Sommer 1914. Dabei wurden Telegrafenmaste abgesägt, Barrikaden in Arbeitervierteln errichtet, Bahnwaggons umgekippt und unter Revolutionsgesängen Gebäude gestürmt.
Der Unterschied zur Revolution bestand darin, dass die Arbeiter zu jenem Zeitpunkt vom Großteil der Bevölkerung isoliert waren, von der Bildungsschicht, der Mittelschicht, den Liberalen. Liberale Zeitungen äußerten Entrüstung, nach dem Motto: Was für ein unerhörter unzivilisierter Vandalismus, wo wir doch Steuern zahlen, es sind unsere Telefonleitungen und unsere Straßenbahnen!
Während der Februarrevolution haben die Arbeiter dann haargenau dasselbe gemacht. Vielleicht haben sie keine Barrikaden errichtet, dafür aber Straßenbahnen blockiert, hier und da Waggons umgekippt, es gab ziemlich viel Vandalismus.
Ein wichtiges Moment der Februarrevolution waren Pogrome: Lebensmittelläden oder Bäckereien wurden verwüstet. Wissen Sie, die Kruste des französischen Brötchens krachte ziemlich laut. Es kam zu Überfällen auf Juwelierläden, manchmal wurden aber auch nur Schaufenster eingeschlagen.
Auch den Machthabern war ein ebensolches Maß an Gewalt nicht fremd.
Natürlich, und das ist sehr entscheidend. Gewalt galt auch auf der anderen Seite als probates Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die Machtorgane bei jeglichen Konflikten in der Regel sehr hart durchgriffen.
Charakteristisch für Russland war, dass es ein Polizeistaat mit einem Mangel an Polizisten war. Sogar in St. Petersburg, wo es eigentlich ein hohes Polizeiaufkommen gab, kam man bei Unruhen nicht ohne die Armee aus. In erster Linie wurden Kosakentrupps eingesetzt, wobei uns bekannt ist, dass auch die Infanterie hinzugezogen wurde. Das heißt, die Armee wurde zu Polizeizwecken eingesetzt. Aber in der Armee lernt man andere Dinge: mit einem Bajonett zu stechen, mit einem Gewehrkolben zu schlagen und – im Extremfall – zu schießen.
Unterm Strich liefen bereits Jahrzehnte vor der Februarrevolution auf beiden Seiten Vorbereitungen zum erbitterten Kampf. Ich mache mir derzeit viele Gedanken zu Konfliktkultur: Wie haben unterschiedliche Länder die Krisen überwunden. Schließlich war Russland nicht das einzige Land, in dem es während des Ersten Weltkriegs Spannungen gab. Aber in Russland bereiteten schon viele kleine Bürgerkriege, an denen sich viele, viele Menschen beider Seiten beteiligten, die Revolution mit vor.
Gerade wurde im Bolschoi Dramatitscheski Teatr das Stück Der Gouverneurnach der gleichnamigen Erzählung von Leonid Andrejew inszeniert. Darin befiehlt der Gouverneur, Streikende, einschließlich Frauen und Mädchen, zu erschießen. Ab diesem Zeitpunkt wird er von ihnen regelrecht verfolgt. Nach den blutigen Ereignissen wartet die ganze Stadt darauf, dass der Gouverneur erschossen wird: Damit endet das Stück. Es zeigt eindringlich, wie die Gesellschaft Terror bestraft und wie Gewaltspiralen ausgelöst werden.
Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite
Natürlich gab es einerseits die aggressive Subkultur der Arbeiterklasse. Und in manchen Teilen Russlands war das Ausmaß der Gewalt noch wesentlich größer als in St. Petersburg. Nehmen Sie zum Beispiel die Beschreibungen der Streiks auf dem Gebiet des heutigen Donbass. Andererseits ist es aber den Machtorganen auch zu keinem Zeitpunkt gelungen, für Verhandlungen, Kompromisse oder Deeskalation zu sorgen. Eine Kompromisskultur gab es weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Sicher, die Bolschewikihaben in der russischen Geschichte eine ungeheuer große Rolle gespielt. Doch gerade die Rahmenbedingungen – eine Bürgerkriegskultur und der Mangel an Kompromissbereitschaft – waren Wind in ihren Segeln.
III. Der zunehmende Konflikt zwischen Regime und Gesellschaft
„Viele Probleme wurden unnötig politisiert.“ Demonstration auf dem Marsfeld, nach der Abdankung des Zaren
Kann man sagen, dass 1917 von vielen als ein Jahr wahrgenommen wurde, in dem es zu umfassenden Veränderungen kommen musste – ohne dass man in dem Moment hätte sagen können, wie die aussehen?
Zum einen sagten viele, dass das Leben so nicht weitergehen könne. Zum anderen kam die Revolution recht unerwartet. Alle hatten eine Krise erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in dieser Situation. Es kam, wie man so schön sagt, eins zum anderen – ein Konflikt, dann ein zweiter, ein dritter …
Zum Teil lag die Schuld bei der Regierung: Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert.
Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit.
Viele Probleme wurden nicht gelöst, indem man sie sachkundig erörterte. Stattdessen wurden sie unnötig politisiert. Das ist eine wichtige Lehre auch für unsere Zeit
Beispielsweise wird jetzt über einen Zusammenschluss zweier Bibliotheken geredet, der Petersburger Publitschka und der Moskauer Leninka. Es gibt keinerlei rationale Argumente für eine Vereinigung dieser beiden Giganten; Probleme und Errungenschaften finden sich bei beiden. Enden wird alles damit, dass in St. Petersburg schließlich eine Menge Leute aufheulen werden: „Das ist unsere Stadt – was sollen bloß diese Moskauer Pöbeleien?!“
Im Jahr 1917 gab es noch weit mehr solcher Fälle. Viele wollten ihre privaten Angelegenheiten regeln, die dann ohne Notwendigkeit politisiert und ideologisiert wurden, was dann wiederum die Machthaber ausbaden mussten.
Mich hat das Buch Les Français dans la Grande Guerre des Historikers Jean-Jaques Becker sehr beeindruckt. Wir fragen uns, warum es in Russland zur Revolution gekommen ist und wie das hätte verhindert werden können. Und er fragt, wie wir – wir Franzosen – es hingekriegt haben, während des Ersten Weltkrieges eine Revolution zu vermeiden.
Er beschreibt die Konflikte und du erkennst, wie alles am seidenen Faden hing. Manchmal wollten die Streikenden einfach Ärger machen und die örtlichen Verwaltungen versuchten mit unglaublicher Geduld, diese Konflikte zu lösen: mit Hilfe von Lehrern, mit Hilfe der Kirche, mit Hilfe von Schriftstellern, die sie hatten hinzuziehen können. Das ist eine enorme Leistung, die Tradition des demokratischen Diskurses hat die Lage stabilisiert.
Und was geschah in Russland, als diese Konflikte begannen? Im Gouvernement Tomsk beispielsweise kam es während der Mobilisierung zu Unruhen und Zusammenstößen, halb Barnaul wurde abgefackelt. Und in Moskau kam es zu einem antideutschen Pogrom – auch hier setzten die Truppen Waffengewalt ein. In den Textilfabriken in der Provinz kam es zu Konflikten – und wieder Truppen, wieder Waffen.
Ganz zu schweigen von dem Aufstand 1916 in Turkestan, der durch den idiotischen Befehl ausgelöst wurde, die örtliche Bevölkerung zu Arbeitseinsätzen zu rekrutieren. Schlecht durchdacht, schlecht umgesetzt und entsprechend begleitet von Korruption. Die Behörden haben alles Mögliche getan, damit es zu einem Konflikt kam.
Lässt sich das Erbe der Leibeigenschaft als Grund für das Unverständnis und die Spaltung ausmachen, als Grund vieler damaliger Konflikte?Es gab sehr viele Bauern in der Stadt; zwischen ihnen, den Offizieren und den Soldaten herrschte ein grundlegendes Unverständnis.
Die Leibeigenschaft ist sicher wichtig, allerdings gab es in Petersburg viele Arbeiter, die aus Regionen kamen, in denen es nie Leibeigenschaft gegeben hatte, oder eine ganz andere als in Russland. In der Hauptstadt lebten damals viele finnische Arbeiter und Balten …
Aber ich stimme Ihnen insofern zu, als dass es wohl eher eine kulturelle Frage war. Mir scheint: Länder, die eine stürmische Urbanisierung erleben, sind ganz prinzipiell sehr verwundbar.
Die wichtigste Veränderung in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war die Umsiedlung Russlands in die Städte. Für die erste, und manchmal auch für die zweite Generation der neuen Städter ist das ein sehr schwieriger Prozess, mitunter schwieriger als eine Emigration. Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion.
Viele der Zugezogenen zerbrechen psychisch an der Urbanisierung. Die Überlebenstaktik ist eine völlig andere, die Moral, die Religion
Wenn jemand auf dem Land lebt, dann ist die Gemeinde mit dem Dorf und dessen Umgebung kongruent, alle kennen einander mehr oder weniger. Dann kommt er in die anonyme Stadt, in der nicht mal der Bau von Kirchen mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten kann. Zum einen gibt die Stadt viele Möglichkeiten und Freiheiten. Zum anderen bedeutet sie eine große Prüfung und riesigen Stress.
Schauen Sie: Das Spanien, in dem ein Bürgerkrieg ausbricht, die iranische Revolution, der aktuelle arabische Frühling – das alles sind Menschen, die aus traditionellen Gesellschaften in modernisierte Städte gelangen. Die können in verschiedene Richtungen driften.
IV. Über die Effektivität der Bolschewiki und die Schwäche der Regierung
In einem Interview sprachen Sie vom kreativen Gehalt der Revolution; sprich, dass die Kräfte, die um die Macht kämpfen, auch miteinander um die Kreativität der Rhetorik und Propaganda konkurrieren, um die Ideologie und die Kreativität des eigenen Handelns. Kann man sagen, dass die Bolschewiki ihren Konkurrenten hier einiges voraus hatten?
Vor der Revolution war über Jahrzehnte hinweg eine hoch entwickelte Subkultur, ein revolutionärer Untergrund entstanden, insbesondere seit den 1870er Jahren, seit der Bewegung Narodnaja Wolja. Es gab Bestseller des revolutionären Untergrunds, Bücher, mit denen die radikale Jugend erzogen wurde. Es gab Lieder, städtische Mobilisierungsrituale. Diese Kultur hatte ihre Berührungspunkte mit der russischen Hochkultur, ob uns das gefällt oder nicht.
Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein politischer Pluralismus. Ja, die monarchistischen rechten Parteien waren zwar am Drücker, viele Zeitungen waren verboten, aber man konnte im Großen und Ganzen alles sagen, was man wollte – es bestand absolute Freiheit.
Und wenn wir uns die Symbolik anschauen, dann war diese von Anfang an von der revolutionär-politischen Kultur geprägt. Manche Leute bezeichneten diese Revolution als eine bürgerlich-demokratische, doch die dominierende Symbolik war eine sozialistische. Das wiederum schafft einen Rahmen, der vor allem den Radikalen entgegenkommt, in diesem Fall den Bolschewiki und ihren Verbündeten.
Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme
Die Menschewiki waren in einer sehr schwierigen Lage: Einerseits waren es ihre Lieder und ihre Subkultur. Andererseits war ihnen bewusst, dass sie den politischen Prozess radikalisieren könnten, und davor hatten sie Angst. Ihre Botschaft war folgende: Leute, das sind jetzt nur Symbole; fasst das nicht als direkte Handlungsanleitung auf. Schließlich verstehen die Franzosen die recht blutrünstige Marseillaise ja auch nicht als unmittelbare Anleitung zur Revolution.
Das war damals ein etwas naiver Aufruf. Die Politisierung nach dem Februar 1917 geschah mit Hilfe von Liedern und Ritualen. Erst danach lasen die Leute die Parteiprogramme. Das war dann der Radikalisierungsfaktor.
Warum war der Stabilitätspuffer des gesamten Systems so schwach? Anfang 1917 war die Situation in Petrograd längst nicht katastrophal. Die Аnsprachen der Arbeiter führten zu der Kundgebung auf dem Snamenskaja-Platz, allerdings hatte diese Demonstration größtenteils symbolischen Charakter. Die Autokratie zu stürzen, war anfangs gar nicht das Ziel. Für die meisten politischen Akteure kamen die anschließenden Ereignisse völlig überraschend. Warum lag das Regime des Zaren buchstäblich innerhalb einer Woche am Boden? Warum erhob sich niemand, den Thron zu verteidigen?
Was den Ort angeht, so war traditionell der Platz vor der Kasaner Kathedrale die Bühne für politischen Protest. Der Snamenskaja-Platz allerdings fungierte wie ein gigantisches Sammelbecken. Leute aus gleich mehreren Arbeitervierteln – aus den Stadtteilen Newskaja Sastawa, Moskowskaja Sastawa, Ochta – konnten gar nicht anders, sie mussten an diesem Platz vorbei, wenn sie zum Newski-Prospekt gelangen wollten.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht. An der Oktoberrevolution ist das noch deutlicher zu sehen. Wenn wir uns die revolutionären Ereignisse jener Zeit anschauen, erkennen wir, dass in den Städten kein sonderlich großer Teil der Bevölkerung mobilisiert wurde. Und auch im Februar 1917 ging nur ein bescheidener Teil der Bevölkerung auf die Straße; allerdings war das eine recht aktive und sichtbare Minderheit.
Wir beschreiben die Revolution gewöhnlich durch das Handeln der Hauptakteure. Dabei werden viele Revolutionen von einer Minderheit verwirklicht
Eine Revolution – das ist eine sehr wichtige These für mich – bedeutet, dass gleichzeitig die einen sehr schnell mobilisiert werden, während die anderen – jene, die sich dem revolutionären Prozess entgegenstellen oder ihn wenigstens hemmen könnten – ganz erheblich demobilisiert werden. Mit anderen Worten: Der Grund für die Februarrevolution lag darin, dass ihr nicht massiv entgegengewirkt wurde, selbst von jenen nicht, die das ureigentlich hätten tun müssen. Da waren Generäle, die mit Entscheidungen zögerten, Offiziere, die Befehle nicht weitergaben, Kosaken, die nur so taten, als ob sie Befehle ausführen …
Und dann noch die Gerüchte! Nicht wenige Offiziere der kaiserlichen Armee nahmen ernsthaft an, dass mit der Zarin nicht alles in Ordnung sei. Es wurden Pläne diskutiert, die Herrscherin mit Hilfe von Gardeoffizieren zu verhaften. Vor dem Krieg wäre so etwas kaum denkbar gewesen.
dekoder dankt Robert Kindler für seine Unterstützung bei der Aufbereitung des Interviews.
Am frühen Morgen des 25. Oktober (7. November) 1917 erklärten die Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin die Regierung in Petrograd für abgesetzt und noch am selben Tag besetzten sie die wichtigsten infrastrukturellen Punkte der Stadt: den zentral gelegenen Nikolajewski Bahnhof, die Telefonzentrale, das zentrale Elektrizitätswerk und die Staatsbank. Die Regierungsmitglieder – im Amt war eine parlamentarische Übergangsregierung unter Führung von Alexander Kerenski – wurden in der folgenden Nacht im Winterpalast festgenommen. Kerenski selbst konnte fliehen.
Die Geschehnisse dieser zwei Tage, der Umsturz und die Machtübernahme der Bolschewiki, sind unter dem Namen Oktoberrevolution in die Geschichte eingegangen. Ereignisse, die unter Historikern bis heute Kontroversen produzieren. Russland erlebte damit bereits die zweite massive Umwälzung politischer Verhältnisse innerhalb kürzester Zeit, denn erst im Februar 1917 war die herrschende Zarenfamilie zu Fall gebracht und das Land seitdem provisorisch von der parlamentarischen Übergangsregierung geführt worden.
Nach Machtergreifung der Bolschewiki nun war einer der ersten Schritte die Einführung einer Zensur. Der Beschluss fiel bereits am 27. Oktober: In einem Dekret über die Presse erklärte das bolschewistische Revolutionskomitee, es sähe sich gezwungen, „eine ganze Reihe an Maßnahmen gegen konterrevolutionäre Presse aus verschiedenen Richtungen“ zu unternehmen. Einige Medien, wie etwa die liberalen Zeitungen Retsch und Birshewyje wedomosti, wurden unmittelbar nach der Machtübernahme geschlossen. Viele Zeitungen verschwanden oder passten sich in ihrer politischen Ausrichtung im Laufe des Jahres an.
Die Zeitungen, die noch im Dazwischen des Machtwechsels – am 26. Oktober – erscheinen konnten, bieten eine Möglichkeit, hinter die Kulissen dieses historischen Datums zu schauen. Dazu haben wir aus dem Zeitungsarchiv der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg eine Historische Presseschau zusammengestellt.
Rabotschi put (Prawda): Der Kampf hat erst begonnen
Die Tageszeitung Rabotschi put (Prawda) berichtete direkt am 26. Oktober (8. November), dass die Provisorische Regierung gestürzt worden sei und wies zugleich auf die unsichere Stellung der neuen Machthaber hin. Das Blatt war das Parteiorgan der Bolschewiki und forderte, an diesem Punkt dürfe nicht nachgelassen, der Kampf gegen die Bourgeoisie müsse fortgesetzt werden.
[bilingbox]Die Kerenski-Regierung ist gestürzt. In Petrograd hat die Revolution gesiegt. Bedeutet das etwa, dass die Revolution schon endgültig gewonnen ist, dass der Sieg feststeht?
Nein, es wäre ein Verbrechen, sich jetzt auf den Lorbeeren auszuruhen und zu glauben, die Kräfte der Revolutionsfeinde seien schon zerstört.
Auf keinen Fall sollte einer Konterrevolution einfach so das Feld überlassen werden. Für die Gutsbesitzer und Kapitalisten steht nun wirklich alles auf dem Spiel. Die Bourgeoisie, sie ist ein beharrlicher, hartnäckiger und findiger Feind. Kaum den Rückzug angetreten, bereitet sie sich schon auf einen neuen Angriff vor.
Die Kerenski-Regierung hat die Flucht ergriffen. Wir zweifeln jedoch nicht daran, dass sie einen Einmarsch in Petrograd vorbereitet. Wir sind davon überzeugt, dass die gestürzten konterrevolutionären Interimsherren nicht einen Gedanken daran verschwenden werden, gegen die Deutschen Front zu machen, nur um über das eigene Volk einen blutigen Sieg zu erringen.
Der Kampf hat erst begonnen – der Kampf geht weiter.~~~Правительство Керенского низложено. Революция победила в Петрограде. Означает ли это, что революция уже победила окончательно, что победа ее закреплена?
Нет, преступлением было бы успокоиться теперь “на лаврах” и считать силу врагов революции уже уничтоженной.
Контр-революция так легко ни в коем случае не уступит поля битвы. Для помещиков и капиталистов все, ведь, поставлено на карту. Буржуазия – враг настойчивый, упорный и ловкий. Отступая, она немедленно готовит новое наступление.
Правительство Керенского бежало. Но мы ни минуты не сомневаемся в том, что оно готовит поход на Петроград. Мы не сомневаемся в том, что низложенные контр-революционные времещники не задумаются ни на минуту открыть фронт немцам, лишь бы одержать кровавую победу над собственным народом.
Борьба началась – борьба не кончена.[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 46
Nowaja shisn: Die Machthaber müssen auch Opfer verlangen
Wassili Desnizki (er schrieb unter dem Pseudonym W. Strojew) sympathisierte in seinem Artikel in der Nowaja shisn offen mit den Bolschewiki. Die erst im April 1917 gegründete Tageszeitung, die sich zu den Reihen der Sozialdemokraten gezählt hatte, befürwortete die Umwälzungen im Land. Desnizki, Publizist und selbst Revolutionär, forderte in seinem Text, die Bolschewiki müssten – auch wenn das viele Opfer verlange – alles tun, damit das politische Programm und eine neue Regierung auch von anderen akzeptiert werde.
[bilingbox]Also, zumindest für Petrograd ist die Sache entschieden: Die Übergangsregierung, die durch die Koalition der Demokraten mit den Vertretern der besitzenden Klassen zustande kam, besteht allem Anschein nach nicht mehr! Der Kongress hat nun die Aufgabe, die Regierung auf der Grundlage des von den Aufständischen verkündeten Programms zu organisieren.
Dieses Programm, das die Ziele der neuen Regierung in ganz allgemeiner Weise formuliert, ist für die revolutionäre Demokratie sicherlich akzeptabel. Nun kommt es darauf an, ob es angesichts des unausweichlichen Bürgerkriegs von den demokratischen Kräften des gesamten Landes akzeptiert wird – ob das Land und die Armee die Regierung anerkennen, die gebildet wird, um es zu verwirklichen. […]
Frieden, Brot und Freiheit kann man dem Land nicht mit einem Federstrich geben. Diese Ziele lassen sich nur durch die lange, harte Arbeit einer entschlossenen, demokratischen Regierung erreichen. Nachdem sie von Worten zur Tat geschritten ist, darf die Macht den Volksmassen nicht nur verlockende Perspektiven für die nahe Zukunft in Aussicht stellen. Sie wird auch Opfer verlangen müssen. Sie wird zu harten Zwangsmaßnahmen greifen müssen, wenn dies zum Wohl der Revolution erforderlich ist.~~~Итак, для Петрограда, по крайней мере, вопрос решен: Вр. Правительство, созданное на основе коалиции демократии с представителями имущих классов, по-видимому, более не существует! И перед Съездом стоит задача организации власти на основе программы, провозглашенной восставшими.
Программа эта, формулируя задачи новой власти в самой общей форме, несомненно приемлема для революционной демократии. Вопрос в том, чтобы в условиях неизбежной гражданской борьбы она была принята демократией всей страны чтобы страна и армия признали ту власть, которая будет создана для ее проведения в жизнь. […]
нельзя одним росчерком пера дать стране мир, хлеб и свободу. Эти задачи могут быть выполнены только в процессе длительной упорной работы, осуществляемой решительной демократической властью. Власть, перешедшая от слов к делу, должна будет показать народным массам не только заманчивые перспективы близкого будущего. Она должна будет потребовать и жертв, должна будет прибегать и к суровым мерам принуждения, раз это потребуется во имя блага революции.[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 163 (157)
Wolnost: Todeskampf eines freien Russlands
Die Tageszeitung Wolnost, die von dem Schriftsteller und Publizisten Alexander Amfiteatrow herausgegeben wurde, sah in dem Oktoberumsturz das Ende der Februarrevolution und wies auf deutsche Spuren dabei hin – [gnose-4315]Lenin war vor der Revolution aus dem Exil[/gnose] über Deutschland nach Petrograd gelangt.
[bilingbox]Die bolschewistische Verschwörung gegen die Revolution, Freiheit und Verteidigung des Landes war ein glänzender Erfolg. Die aus der Februarrevolution hervorgegangene Regierung gibt es in Russland nicht mehr. Damit ist die Februarrevolution tot, vergewaltigt, frevelhaft geschunden und den Schikanen von Russlands Feinden zum Opfer gefallen.
Die Februarrevolution ist tot. Und die neue Etappe können wir nur als den Todeskampf eines freien Russlands bezeichnen. Ein Wesen im Todeskampf kann sich noch bewegen, kann noch Leben simulieren und das eigene Dasein vortäuschen. Doch über seinem Kopf hat sich bereits der Tod erhoben, aus dessen knochiger, fest zupackender Hand es niemand mehr befreien wird. […]
Wir haben nur noch sehr wenig Grund, zu hoffen, dass dieser Wahnsinn auf Widerstand stoßen wird. Die letzte Hoffnung richtet sich auf Moskau und das restliche Russland. Doch die neue Regierung, die voller Wucht und Druck operiert und beim Einsatz ihrer Mittel nicht wählerisch ist, wird wissen, wie sie das Land zunächst terrorisiert und fest in den Griff kriegt. In den Griff von Händen, auf denen sich noch glühend der Druck des deutschen Handschlags abzeichnet, von der Durchreise ihrer Vertreter durch Deutschland. Und überrascht werden wir nicht sein, wenn Russland angesichts der allgemeinen Raserei genötigt sein sollte, die Machtübernahme neuer Interimskräfte vorerst zu akzeptieren.~~~Большевистский заговор против революции, свободы и обороны страны удался блестяще. В России больше нет правительства, рожденного февральской революцией. И с этой минуты, февральская революция умерла, изнасилованная, кощунственно замученная, павшая жертвой издевательства врагов России.
Февральская революция умерла. И новый ее этап мы не можем иначе назвать, как агонией свободной России. Агонирующий ещё может делать движения, еще способен имитировать жизнь и обманывать видимостью своего бытия. Но смерть встала уже над головой, и никто не устранит ее костлявой, сжимающей руки. […]
Очень мало осталось у нас надежд на то, что это безумие встретит отпор. Последняя надежда на Москву и всю остальную Россию. Но, действуя нахрапом и напором, не разбираясь в средствах, новая власть, вероятно, сумеет на первых порах терроризировать страну и крепко держать ее в своих руках, на которых так ярко горят следы пожатий немецких рук при проезде ее представителей через Германию. И мы не удивимся, если, при всеобщем безумии Россия принуждена будет пока признать власть новых временщиков.[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 163 (157)
Retsch: Stadium einer Vivisektion
Die liberale Tageszeitung Retsch, die von der Partei der Volksfreiheit (Konstitutionelle Demokraten) herausgegeben wurde, sah in der Machtübernahme der Bolschewiki politischen Wahnsinn am Werk – der fatale Folgen haben würde.
[bilingbox]Die Würfel sind also gefallen. Einem von drei Kriegsjahren geplagten und ausgezehrten Land, das die Konvulsionen einer Revolution durchlebt hat, das verelendet ist und den äußersten Grad wirtschaftlicher und industrieller Zerrüttung erreicht hat – einem Land, das keine stabile und dauerhafte Regierung hat und zum Schauplatz von Anarchie und Pogromen geworden ist – diesem armen, zugrunde gehenden Land steht eine neue Etappe auf seinem Leidensweg bevor. Wir befinden uns bereits in einem neuen Stadium eines Vivisektions-Versuchs, was das Land betrifft. […] Es hat eine neue, tiefgreifende Erschütterung gegeben, und deren Folgen für die innere und internationale Situation sind unabsehbar.
Bis zum letzten Augenblick wollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Kelch weiterer Prüfungen an unserem Land vorübergehen möge. Auch wenn die Hoffnung noch so gering war, schien uns doch, dass selbst blinder Parteifanatismus seine Grenze dort finden würde, wo der Untergang des ganzen Landes auf dem Spiel steht. […] Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. […]
Ganz gleich was der morgige Tag uns bringt, welche Formen die Staatsmacht annimmt, in wessen Hände sie fällt, ES IST JETZT SCHON VOLLKOMMEN KLAR, dass diese Machthaber zwangsläufig vor genau denselben Aufgaben stehen werden. […] Sie sind unausweichlich, man kann sie sich nicht mit billigen Phrasendreschereien auf Versammlungen vom Hals schaffen, und man kann sie nicht durch trügerische und unerfüllbare Versprechungen ersetzen. Vor diesen Aufgaben werden auch die Herren Lenin und Trotzki stehen, wenn ihr umstürzlerisches Vorhaben gelingt. Dann wird das Land erneut Konvulsionen erleiden und die bitteren Früchte des politischen Irrsinns und Abenteurertums kosten müssen – und wer weiß, ob es sich von dieser neuen Dosis Gift je wieder erholen wird.~~~Итак, жребий брошен. Стране, измученной и истерзанной тремя годами войны, пережившей судороги революции, обнищавшей, дошедшей до последней степени экономического и промышленного расстройства, – стране, лишенной твердой и прочной власти, стране, ставшей ареной анархических и погромных движений, – этой несчастной гибнущей стране предстоит новый этап крестного пути. Мы уже вошли в полосу нового опыта вивисекции над нею. […]
Произошло новое глубокое потрясение, и его последствия для внутреннего и для международного положения страны неисчислимы.
До последнего времени мы не хотели терять надежду на то, что нашу родину минует чаша новых испытаний. Как ни мала была эта надежда, все же нам казалось, что и для ослепленного партийного фанатизма есть пределы, за которыми чувствуется гибель всей страны. […]
Чтобы не принес нам завтрашний день, какие бы формы ни приняла власть, в какие бы руки она ни перешла, ВСЕ УЖЕ СОВЕРШЕННО ЯСНО, что перед этой властью, неизбежно должны встать одни и те же задачи. […] Они неотвратимы, от них нельзя отделаться дешевой риторикой митингового пустословия, их нельзя подменить обманными и неисполнимыми обещаниями. Они встанут и перед гг. Лениным и Троцким, если им удастся их мятежный замысел. И тогда стране придется выстрадать новые судороги, вкусить горькие плоды политического безумия и авантюризма, – и кто знает, оправится ли она от этой новой дозы яда.[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11) 1917, Nr. 252 (3994)
Rabotschaja gaseta: Dies ist keine Revolution, das ist ein Militärkomplott
Die Tageszeitung Rabotschaja gaseta, die das Zentralorgan der Partei der Menschewiki war, sprach sich dagegen aus, den Oktoberumsturz als Volksaufstand und Heldentat des Proletariats zu bezeichnen. Sie sah darin allein eine verschwörerische Machtergreifung.
[bilingbox]Dies ist keine Revolution, ja, nicht einmal ein Aufstand. Dies ist ein Militärkomplott, wie man es von den Jungtürken oder aus der Geschichte Spaniens und der südamerikanischen Republiken kennt. Dass es sich nicht um einen Volksaufstand, sondern um ein Militärkomplott handelt, zeigt sich daran, dass der Umsturz bislang so leicht vonstatten geht. Aber eben deshalb ist das bolschewistische Abenteuer auch so ephemer und leichtfertig. Das Unterfangen der Bolschewiki ist keine Kommune, kein heroischer Zusammenschluss des Proletariats mit dem Kleinbürgertum gegen die reaktionäre Bourgeoisie und den äußeren Feind, sondern eine rein konspirative Machtergreifung.~~~Это не революция и даже не восстание. Это – военный заговор, в роде младотурецкого или тех, какие знает история Испании и южно-американских республик. Именно в том, что это не народное восстание, а военный заговор заключается причина той легкости, с какой пока совершается переворот. Но именно в том и заключается весь эфемерный, легкомысленный характер большевистской авантюры. Их попытка – не коммуна, не геройское выступление пролетариата в союзе с мелкой буржуазией против реакционной буржуазии и внешнего врага, а именно чисто заговорщицкий захват власти[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (07.11) 1917
Delo naroda: Ratlosigkeit und Ohnmacht
Die Tageszeitung der Sozialrevolutionäre Delo naroda berichtete über die Selbstisolation der Bolschewiki von anderen revolutionären Kräften und zweifelte daran, dass die neuen Machthaber in der Lage seien, das Land zu regieren und innen- wie außenpolitische Probleme zu lösen.
[bilingbox]Der Aufstand der Bolschewiki in Petrograd ist erfolgt. […] Mit diesem Schritt haben sie sich von allen nicht-bolschewistischen Teilen der revolutionären Demokratie isoliert und übernehmen so die ganze schreckliche Verantwortung für all seine Folgen. […]
Pompös feiern die Bolschewiki ihren Sieg: Endlich, die Feinde der Arbeiterdemokratie sind zu Fall gebracht, die Paladine des Bolschewismus werden an die Macht kommen.
Eine Bank, Bahnstationen und Kraftwerke zu besetzen oder sogar die Provisorische Regierung zu erschießen, bedeutet allerdings noch nicht den Sieg. Das heißt bloß, dass man eine Reihe bekannter materieller Handlungen ausführt, die erst dann einen politischen Sinn erhalten, wenn die am Umsturz Beteiligten ein konkretes Programm und eine Vorstellung von dessen praktischer Umsetzung haben.
Wir wissen nicht, als was für Staatsführer die Bolschewiki sich erweisen werden, wie sie dieses große Land regieren wollen, das äußerlich wie innerlich unter unvorstellbar schrecklichen Bedingungen lebt. Doch ihr erster Probeauftritt, wenn man das so nennen mag, als Herrscher erweckte bei nahezu allen Beobachtern einen bedrückenden Eindruck von Ratlosigkeit und Ohnmacht.~~~Восстание большевиков в Петрограде состоялось. […] Своим шагом они изолировали себя от всей не-большевистской части революционной демократии и тем самым взяли на себя всю страшную ответственность за все его последствия. […]
Большевики громко торжествуют свою победу: наконец-то, враги трудовой демократии ниспровергнуты, и у власти становятся паладины большевизма.
Однако, занять банк, железнодорожные и электрические станции, даже расстрелять Временное Правительство еще не значит победить. Это лишь значит совершить ряд известных материальных действий, которые получают политический смысл лишь тогда, когда у людей, совершающих переворот есть определенная программа и практическое понимание способов ее осуществления.
Не знаем, какими государственными деятелями окажутся большевики, как они примутся управлять великой страной, переживающей невероятные внешние и внутренние условия. Но первое, если можно так выразиться, пробное выступление их в качестве людей власти произвело почти на всех свидетелей этого выступления самое тягостное впечатление растерянности и беспомощности.[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 189
Sowremennoje slowo: Sprung in den bodenlosen Abgrund
Die Tageszeitung Sowremennoje slowo, die sich selbst als eine unparteiisch-demokratische Zeitung bezeichnete und der liberalen Partei der Volksfreiheit nahestand, ordnete den Oktoberumsturz in die Reihe der Ereignisse des Jahres 1917 ein. Sie sah darin keine neue, sondern das Ende der Revolution und befürchtete für „das große Russland“ den Untergang.
[bilingbox]Die russische Revolution hat ihr Werk vollendet. Sie begann als landesweite Erhebung gegen die zarische Autokratie. Sie war Volksprotest gegen Sklaverei, Niederlage und Schande. […] Aber sehr bald schon wurden diese Ziele durch die Übergriffe einzelner Gruppen und Parteien blockiert. Auf dem Banner der Revolution wurden Parteilosungen zur Schau gestellt, und die vom alten Regime in Unwissenheit aufgezogenen Massen erlagen nur allzu leicht allen möglichen unrealistischen Versprechungen im Geiste der Internationale und des extremen Sozialismus.
Die Revolution wurde immer mehr zur Parteisache. […] Der entscheidende Sieg, den der Bolschewismus jetzt feiert, trägt alle Züge […] der letzten Phase einer Revolution, hinter der sich ein finsterer Abgrund auftut. […]
Nur Einzelne können darin das Wirken einer neuen Revolution sehen. Nur wer die Augen vor dem verschließt, was der kommende Tag für Russland bereithält, kann ignorieren, welche Folgen dieser Umsturz für den Staat, für das äußere Ansehen des Landes, für seine Wirtschaft und seine Verteidigung haben wird. Dieser Umsturz – er ist keine Etappe auf dem Weg in ein Reich der Freiheit und des Sozialismus, sondern ein Sprung in den bodenlosen und finsteren Abgrund. Er ist kein erneuter Sieg, keine „Weiterentwicklung“ der Revolution, sondern etwas anderes, was das Land zum alten, verfluchten Regime zurückführen kann.
Und in dieser furchtbaren Stunde der russischen Geschichte haben wir nur einen Wunsch: dass der Preis, den Russland für diesen „Sieg“ zahlt, nicht zu hoch sein möge; dass die Prüfungen, die dem Land bevorstehen, möglichst wenige Opfer fordern und Russland, das große Russland, vor dem endgültigen Untergang errettet werden möge.~~~Русская революция завершила свое движение. Она началась общенациональным подъемом, направленным против царского самодержавия. Она была народным протекстом против рабства, поражения и позора. […] Но очень скоро эти цели оказались парализованными домогательствами отдельных групп и партий. Партийные лозунги были выставлены за знамени революции, и массы, воспитанные старым режимом в невежестве, легко поддались на всякого рода невыполнимые обещания, в духе интернационала и крайнего социализма.
Революция становилась все более партийной. […] Решительная победа, которую ныне празднует большевизм, носит все черты […] конечного этапа революции за которым открывается темная бездна… […]
Только единицы могут видеть в этом действии новую революцию. Только деятели, которые закрывают глаза на то, что день грядущий готовит России, могут не учесть тех последствий, которые несет этот переворот для государства, для его внешнего престижа, для экономики и для обороны страны. Переворот – не этап в царство свободы и социализма, а прыжок в бездну, неизмеримую и темную. Это – не новая победа революции, не “углубление” ее, а нечто другое, что может возвратить страну к старому проклятому режиму.
И в этот страшный час русской истории мы желаем только одного, – чтобы эта “победа” не обошлась слишком дорого России, чтобы испытания, ей уготованные, не потребовали бы как можно меньше жертв и чтобы Россия, великая Россия, была спасена от окончательной гибели[/bilingbox]
erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 347 1
Zusammengestellt von Leonid A. Klimov. Übersetzungen: dekoder-Redaktion und Anselm Bühling
Eine Woche vor jenem Ereignis, das als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte eingehen sollte, notierte der Schriftsteller Maxim Gorki: „Eine unorganisierte Menge, die kaum weiß, was sie will, wird sich auf die Straße wälzen, und in ihrem Gefolge werden Abenteurer, Diebe und professionelle Mörder ‚die Geschichte der russischen Revolution machen‘.“1 Gorkis Furcht vor einer Gewaltexplosion sollte sich bewahrheiten. Die Geschichte der russischen Revolution und des daraus resultierenden Bürgerkriegs war eine Geschichte blutiger Konflikte und brutaler Auseinandersetzungen.
Die radikalsten unter den russischen Sozialisten, die Bolschewikiunter ihrem Führer Wladimir Lenin, waren dabei die treibenden Kräfte. Ihr Staat, die Sowjetunion, entstand aus der erbarmungslosen Gewalt, mit der sie ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten und die Bevölkerung des Vielvölkerreichs unterwarfen. Ungeachtet dessen verbanden Menschen in aller Welt mit dem Staatsbildungsprojekt der Bolschewiki das Versprechen auf eine bessere Zukunft. In dieser Perspektive markierte die Oktoberrevolution den Beginn einer neuen Zeitrechnung.
Zu Beginn des Jahres 1917 befand sich das Russische Imperium in einer tiefen Krise. Der seit 1914 andauernde Erste Weltkrieg überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Im Februar gingen in der russischen Hauptstadt Petrograd die Menschen auf die Straße und forderten eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln. Die Unruhen weiteten sich rasch aus und führten innerhalb weniger Tage zum Sturz des letzten russischen Zaren: die Februarrevolution in Russland. Nach der Abdankung Nikolaus‘ II. etablierte sich in Petrograd die sogenannte „Doppelherrschaft“. Formal übernahm eine Provisorische Regierung die Amtsgeschäfte, bis eine konstituierende Versammlung über die Zukunft des Reiches entscheiden sollte. Doch die Regierung war abhängig von den Räten der Arbeiter und Soldaten, den Sowjets. Diese verstanden sich als Vertreter jener, die die Revolution „gemacht“ hatten.
Im Verlaufe des Jahres 1917 radikalisierten sich die Sowjets zusehends angesichts der immer weiter um sich greifenden sozialen und militärischen Krise. Die Bolschewiki, die vor dem Ausbruch der Februarrevolution noch eine wenig bedeutende radikale Splittergruppe waren, profitierten davon. Ihre klaren Forderungen nach Brot, Frieden und Land wirkten anziehend auf viele, deren Hoffnungen sich nach der Februarrevolution nicht erfüllt hatten. Gleichzeitig wurden sie immer wieder als Handlanger der Deutschen bezeichnet; ein Verdacht der durch die spektakuläre Reise Lenins in einem verplombten Waggon durch die feindlichen Linien erhärtet wurde. Doch die öffentliche Meinung interessierte Lenin wenig. Er setzte auf den gewaltsamen Umsturz.
Mythos vom Ansturm auf das Winterpalais
Am 7. November 1917 war es soweit. Nach mehreren Tagen kaum verhüllter Vorbereitungen besetzten Soldaten und bewaffnete Arbeiter strategisch bedeutende Gebäude in der russischen Hauptstadt. Die Provisorische Regierung gebot schließlich nur noch über das Winterpalais am Ufer der Newa. Anders als die bildstarke Mythologisierung durch Sergej Eisensteins Film Oktober nahelegt, gab es keinen Ansturm der revolutionären Massen auf das Gebäude. Die wenig motivierten Verteidiger des Gebäudes ließen sich ohne große Gegenwehr entwaffnen. Lenin proklamierte vor dem in der Nacht zusammengetretenen Zweiten Allrussischen Sowjetkongress die Sowjetmacht. Denjenigen moderaten Sozialisten, die gegen diese Anmaßung protestierten, rief Leo Trotzki hinterher, sie sollten dorthin gehen, wo sie hingehörten: „Auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“
In ihren ersten Beschlüssen griff die neue Regierung, der sogenannte Rat der Volkskommissare populäre Forderungen auf. Die bolschewistischen Machthaber erklärten sich zu sofortigen Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingung mit den Mittelmächten bereit, sie verfügten, dass der Boden jenen gehören sollte, die ihn bearbeiteten, und sie sprachen den Nationalitäten des russischen Imperiums das Recht auf Selbstbestimmung zu. Einige Zeit später wurden überdies die Nationalisierung der Banken sowie die Einführung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken dekretiert. Indes verschärfte sich die Krise immer mehr: Der Krieg mit den Mittelmächten dauerte an, die Wirtschaft lag am Boden und die staatliche Ordnung war in weiten Teilen des Imperiums zusammengebrochen. Die Erosion etablierter Hierarchien führte in die Anarchie. Wie Gorki es prophezeit hatte, versank Russland in einem Chaos aus Gewalt, unkontrollierter Massenmigrationen, Epidemien, Versorgungsschwierigkeiten und militärischen Rückschlägen. Rasch wurde die Lage zu einer Bedrohung für die Bolschewiki selbst. Für die meisten Zeitgenossen im In- und Ausland stand deshalb fest, dass die neue Regierung bald der Vergangenheit angehören würde.
Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler und entschlossener als ihre Gegner vorgingen. Die im Januar 1918 zusammengetretene Verfassunggebende Versammlung ließen sie bereits nach einem Tag schließen, unliebsame Zeitungen wurden verboten und gegen massiven Widerstand in den eigenen Reihen war Lenin sogar bereit, den Mittelmächten weitreichende territoriale Zugeständnisse zu machen, um eine „Atempause“ für den Kampf im Inneren zu gewinnen. Das Regime errichtete eine brutale Gewaltherrschaft, die sich gegen tatsächliche und imaginierte Feinde richtete. Abertausende Menschen fielen dem Roten Terror zum Opfer und die Angst vor Repressionen trieb unzählige Angehörige der ehemaligen Eliten in die Emigration. Rücksichtslosigkeit war schließlich auch der Schlüssel für den Sieg im 1918 ausbrechenden Bürgerkrieg, der drei Jahre dauerte.
Handelte es sich beim Umsturz der Bolschewiki um eine Revolution oder war er nichts anderes als ein Putsch? Der Streit darüber ist so alt, wie das Ereignis selbst und er ist bis heute mehr als ein akademisches Problem: Hängt doch die Legitimität des gesamten sowjetischen Projekts nicht zuletzt von der Antwort auf diese Frage ab. Für die sowjetische Geschichtsschreibung war die Sache klar. Hier resultierte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ zwingend aus der Februarrevolution und markierte den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte; den Triumph der unterdrückten Klassen über die kapitalistischen Ausbeuter. Dagegen wurde mehrfach eingewandt, dass der Oktober eine radikale Abkehr von den demokratischen Prinzipien des Februars darstellte und direkt in die Diktatur der Bolschewiki führte. Weitere Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind die beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines „Kontinuums der Krise“ (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden.2 In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.
Gorki, Maxim (1972): Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt/Main, S. 87 ↩︎
Holquist, P. (2002): Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge ↩︎