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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russischer Bürgerkrieg

    Russischer Bürgerkrieg

    Der russische Bürgerkrieg, der nach dem Oktoberumsturz ausbrach, veränderte den eurasischen Großraum zwischen Berlin und Wladiwostok, Budapest und Peking, Murmansk und Teheran tiefgreifender als der Erste Weltkrieg. Er bildete den Kern einer Weltrevolution, die dem 20. Jahrhundert ihren (selbst)zerstörerischen Stempel aufdrückte. In der Erinnerungslandschaft Russlands und Europas hat der Krieg seinen Platz allerdings noch nicht gefunden. Seiner angemessen zu gedenken bedeutet zugleich, ihn nicht länger wie eine Randglosse zu der Friedensordnung zu betrachten, die nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles und anderen Pariser Vororten ausgehandelt wurde.


    Am 25. Mai 1918 traf an der Bahnstation der Wolgastadt Samara um 23 Uhr aus Moskau ein Befehl an alle „Räte“ und „örtlichen Kriegskommissare“ entlang der Strecke Pensa – Omsk ein. Unter Androhung drakonischer Strafen, sollten „die Tschechoslowaken“ unverzüglich „entwaffnet werden“. Jeder, der unter Waffen angetroffen würde, sei standrechtlich zu erschießen und seine Einheit in ein Kriegsgefangenenlager zu verbringen. Wer seiner Pflicht nicht nachkam, sollte wegen „ehrlosen Verrats“ zur Rechenschaft gezogen werden. Kein einziger Waggon mit tschechoslowakischen Soldaten durfte nach Osten passieren.

    Ein Befehl und seine Folgen

    Den Aufruf zur Gewalt gegen Bürger der damaligen Donaumonarchie unterzeichnete Lew Trotzki, Volkskommissar für Militärangelegenheiten der bolschewistischen Revolutionsregierung. Die Tschechoslowaken hatten im Weltkrieg an der Seite Russlands und der Alliierten gekämpft. Teile dieser „Legion“ gerieten 1917 in die revolutionären Wirren. Moskau war mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk aus dem Krieg ausgeschieden, und die Tschechoslowakischen Corps wollten nun über den Fernen Osten an die Westfront gelangen. Dort wollten sie an der Seite Frankreichs für den Sieg der Alliierten gegen die Mittelmächte, vor allem aber für einen eigenen Staat weiterkämpfen. Sie vereinbarten mit Wladimir Antonow-Owsejenko, dem Kommandeur der Roten Garden im Süden, freies Geleit bei gleichzeitiger Teilentwaffnung. Indessen gerieten tschechoslowakische Einheiten, die sich bereits auf dem Weg nach Sibirien befanden, entlang der Bahnlinie wiederholt in Scharmützel mit probolschewistischen Truppen.

    Trotzkis Befehl spitzte die Lage extrem zu. In der Legion kehrte sich die Stimmung endgültig gegen die Bolschewiki. Die Tschechoslowaken  waren an der Eroberung von Wolgastädten beteiligt, in denen kurzfristig oppositionelle Sozialisten die Macht übernahmen. Ein Schulterschluss mit den Truppen des Admirals der Weißen Armee in Sibirien, Alexander Koltschak, kam allerdings im Herbst 1918 trotz eines Appells der Alliierten nicht zustande.

    Säkulare Katastrophe

    Die Episode mit der Tschechoslowakischen Legion war symptomatisch für die Eskalation der Gewalt beim Übergang vom äußerem zum inneren Krieg. In Bürgerkriegen wird stets um vieles zugleich gekämpft – um „Freiheit“, „soziale Gerechtigkeit“, „wahre Demokratie“, „nationale Selbstbestimmung“ und staatliche Unabhängigkeit. Frieden kann es erst geben, wenn alle Kräfte erschöpft sind und eine Macht sich zum Sieger erklärt. Wohl hatten die Bolschewiki allen politischen Gegnern den Krieg erklärt. Aus ihrer Sicht wurde ein „Krieg der Klassen“ geführt, in dem die Partei des historischen Fortschritts unbedingt triumphieren musste. Vieles spricht allerdings dafür, dass der Bürgerkrieg längst im Gange war, als sie die Macht im Oktober 1917 eroberten. In Briefen und Tagebüchern, Erzählungen und Romanen, Presseberichten und diplomatischen Depeschen spiegeln sich unverbundene Ereignisse an weit verstreuten Orten, die scheinbar einzig von „Anarchie“ und „Chaos“ zeugten. An welcher Stelle auch immer man sich diesem Geschehen nähert, sie führt ins Zentrum einer säkularen Katastrophe.

    Bürgerkrieg: total, global, brutal

    Propagandaplakat der Koltschak-Armee
    Propagandaplakat der Koltschak-Armee

    Im Unterschied zum „Großen Krieg“ breitete sich der Bürgerkrieg über das gesamte Territorium des untergegangenen Zarenreiches aus. Der Bürgerkrieg erfasste Russland schrittweise, sowohl vom Zentrum aus als auch von der Peripherie. Er war „total“, weil er alle Ressourcen des Landes aufbrauchte, und „global“, weil er über Europa und Nordasien hinaus in transatlantische und transpazifische Regionen ausstrahlte. Anstelle einer Demobilisierung sickerten die Weltkriegswaffen in die zivilen Räume des weitläufigen Hinterlandes, aufgerüstet durch Zukäufe aus Mitteln erbeuteter Teile des Staatsschatzes, geplünderter Industriebetriebe und den Bauern abgepresster Lösegelder. Bruchlos verschoben sich die Kämpfe von den Weltkriegsfronten ins Landesinnere und verstrickten verbliebene oder neuentsandte reguläre Truppen ausländischer Mächte in diesen „anderen“ Krieg.

    Was Deutsche, gefolgt von Briten, Franzosen, Amerikanern und Japanern in ihm gewinnen wollten, war zunehmend unbestimmter. Zu ihnen gesellten sich internationale „rote“ Brigaden, angeworbene Kriegsgefangene, lettische Schützen und chinesische Söldner. Die Trennungslinie zwischen Hinterland und Front löste sich auf. Deportation, Vertreibung, Geiselnahme und Pogrom, nicht unbekannt schon im Weltkrieg, häuften sich in den regellosen Kämpfen, verstärkt durch eine Propaganda, die überall „innere Feinde“, „Verräter“ und „Spione“ wähnte.

    Selbstlos und tapfer gegen das Böse

    Auf allen Seiten gehörte der Typus des „Freiwilligen“ zu den wirksamsten Leitbildern. Er kämpfte „selbstlos“ und „tapfer“ gegen „das Böse“ in all seinen Schattierungen. So kämpfte ein „roter“ Freiwilliger gegen den „Klassenfeind“ des „Proletariats“, gegen die „Söldner“ der Entente, gegen Gutsbesitzer, Kapitalisten, Generäle und Popen. Was dies in letzter Instanz meinte, erklärte ein Flugblatt vom Kriegskomitee des Gouvernements Wjatka aus dem Jahre 1918: „Jeder Bauer und jeder Arbeiter, der den Weißen hilft, hilft seinen schlimmsten Feinden und verrät die Sache des Volkes.“

    Bei den „Weißen“ erscheint der Freiwillige als stolzer Ritter. Dieser erhebt das Schwert gegen „jüdische Kommissare“, „chinesische Tschekisten“ oder „unrussische“, „ehrlose“, „heimatlose“, „gottlose“, „schmutzige“, „zu Tieren verkommene“ Bolschewiki, nicht zuletzt aber auch gegen die Feinde des „einigen, unteilbaren Russlands“, gegen „Nationalisten“ und Abtrünnige wie die „Ukrainisierenden“.

    „Die Weißen geben nur ein Pfund, aber uns gibt man zwei Pfund“

    Wie bei einem Eisenbahnzug gab es indessen nicht nur Fernreisende, sondern ein ständiges Ein- und Aussteigen. Truppenkommandeure beklagten Verluste von bis zu 80 Prozent durch Desertion. Selbst „Sperrabteilungen“ aus zuverlässigen Soldaten, die mit Maschinengewehren hinter den Frontlinien postiert waren, konnten auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs im Sommer 1919 den Sog zur Flucht nicht bremsen. Eine Instruktion des Revolutionären Kriegsrats der 13. Armee warnte: „Einheiten können und müssen in ihrer Gesamtheit untergehen, aber sie dürfen nicht zurückweichen.“ Die Rote Armee sah sich einem erbitterten Guerillakrieg ausgesetzt, der nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs 1921 andauerte. Erst Massenerschießungen, die Einrichtung von „Konzentrationslagern“ und kollektive Strafaktionen, die ganze Dörfer verheerten, brachen den bäuerlichen Widerstand.

    Auch die Weißen Armeen kannten Massendesertion. Ein Rotarmist notierte am 13. Juni 1919: „Jeden Tag laufen weiße Offiziere zu uns über, weil sie bei denen kein Brot haben. Die Weißen geben nur 1 Pfund, aber uns gibt man 2 Pfund.“ Es bedurfte hartnäckiger Überzeugungsarbeit, fanatische weiße Offiziere davon abzuhalten, Kriegsgefangene oder übergelaufene Rotarmisten unterschiedslos erschießen zu lassen. General Lawr Kornilow hatte schon im Januar 1918 die Losung ausgegeben, im Kampf gegen die Bolschewiki „keine Gefangenen zu machen“.

    Die Bilanz der menschlichen Katastrophe, die Russland zwischen 1914 und 1921 erlebte, ist nur ungefähr zu beziffern: Krieg, Terror, Epidemien, und Hunger forderten schätzungsweise zwölf bis dreizehn Millionen Opfer. Heerscharen von Waisen und Versehrten, Flüchtlingen und Obdachlosen bevölkerten Städte und Dörfer, die in archaische Lebensformen zurückfielen. Die Industrie lag am Boden, die Landwirtschaft war zerrüttet. Aus dem jahrelangen Ausnahmezustand resultierte ein latentes Überlebenssyndrom, das jederzeit abrufbar war, etwa mittels Kampagnen gegen innere und äußere „Feinde“. In der Nachkriegsgesellschaft hielt sich eine militarisierte Sprache, die das Unbedingte und Alternativlose betonte. Zu den Verlusten gehören aber auch die zahllosen Emigranten und Exilierten, die einen lange nachwirkenden Aderlass an Expertise und Wissen bedeutete. Nach Schätzungen waren dies bis zu drei Millionen aus Russland – meist Militärs, Kosaken, Geistliche, Adelige, Staatsbedienstete, Unternehmer und Geistesschaffende mit ihren Familien. Rechnet man Bewohner ehemaliger Reichsteile hinzu, liegt die Zahl noch deutlich höher.

    Bürgerkrieg der Erinnerung

    Was hielten die Zeitgenossen von diesem heillosen Krieg im öffentlichen Gedenken wach und gaben es an nachfolgende Generationen weiter? Denkmäler wurden zur Sowjetzeit lediglich für Rotarmisten und an Erinnerungsorten siegreicher Gefechte errichtet. In der weltweit verstreuten Emigration wurde eine Gegenüberlieferung gepflegt. Die sozialen, kulturellen, nationalen, ethnischen, religiösen und regionalen Gegensätze lösten sich indessen im Kosmos sowjetischer Werte nicht einfach auf. Sie überdauerten das Ende des Bürgerkriegs und seine Wiederauflage in der Modernisierungsschlacht Stalins. Der große Sieg im Zweiten Weltkrieg überwölbt das Erbe, ohne es bewältigen zu können. Latent wirkt es bis heute fort.

    Versuche, nach dem Ende des Kalten Krieges eine Brücke zu schlagen, sind nur partiell vorangekommen. Das Projekt eines Denkmals der Versöhnung, das 2017 zum 100. Jahrestag der Revolution auf der Krim errichtet werden sollte, wurde zurückgestellt. Es war nicht nur umstritten, weil es Unvereinbares zusammenführen und allen Seiten gleichermaßen einen „Dienst am Vaterland“ zugestehen wollte, sondern offenkundig auch gesellschaftlich unzureichend vorbereitet. Die wissenschaftliche Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte kann nicht aufwiegen, was an schulischer und öffentlicher Vermittlung ausgeblieben ist. Sie hat aber vor Augen geführt, dass in die Bilderwelt des „neuen Dreißigjährigen Kriegs“ maßgeblich Motive des russischen Bürgerkriegs einflossen. Zeitgenossen rekapitulierten die Apokalyptischen Reiter und den Leviathan, verstanden sie als gültigen Ausdruck ihrer individuellen und kollektiven Erfahrung, als Zeichen überwältigender Bedrohung.

    Ansonsten würdigen neue Denkmäler der postsowjetischen Zeit auch einzelne Persönlichkeiten der Weißen, meist in der Provinz, aber mit Unterstützung der Zentralregierung. Ebenso wurden für Gefallene der „Legion“ Monumente errichtet oder Gedenktafeln angebracht, die  auf die gemeinsame Initiative der tschechischen und der slowakischen Regierung mit russischen Regionalbehörden zurückgehen.

    Bipolare historische Wahrnehmungsmuster

    Wohl niemand zweifelt daran, dass eine Auseinandersetzung mit dem hochbelasteten Erbe, das Familien spaltete, Freundschaften zerriss, Nachbarn verfeindete, ganze Bevölkerungsgruppen verfemte und unersetzliche Kulturschätze vernichtete, schmerzlich sein muss. Soll diese Vergangenheit ruhen? Die Überlebenden richteten sich unter den „Siegern“ ein, gingen ins Ausland oder wurden dorthin vertrieben. Wer blieb und anderer Meinung war, schwieg oder verleugnete sich.

    „Dialogisches Erinnern“ könnte die Asymmetrie im historischen Gedächtnis aufheben, wenigstens jedoch einen „Konsens im Dissens“ (Aleida Assmann) anstreben. Verordnet werden kann das nicht. Bipolare historische Wahrnehmungsmuster, die vor allem zwischen „Siegern“ und „Verlierern“ oder „Helden“ und „Schurken“ unterscheiden, werden einer Tragödie, wie sie der Bürgerkrieg gewesen ist, ebenso wenig gerecht wie eine Reduktion des Bürgerkrieges auf seine militärischen Aspekte. Vielmehr erfordern die erbitterten Kämpfe um Ideen und Utopien sowie die darin mehrfach gebrochenen Biographien, in denen „Opfer“ zu „Tätern“ wurden und umgekehrt, eine Überwindung der Sprache einer brutalen und erbarmungslosen Epoche. 
     

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  • Video #20: Russischer Bürgerkrieg

    Video #20: Russischer Bürgerkrieg

    Die Ereignisse im ehemaligen Russischen Reich, die dem Oktoberaufstand und der bolschewistischen Machtübernahme in St. Petersburg folgten, sind als Russischer Bürgerkrieg in die Geschichte eingegangen. Der Krieg ist schwer zu datieren, die Kriegsparteien schwer zu benennen. Das russische aufklärerische Medien-Projekt Karta istorii (dt. „Karte der Geschichte“), das aus dem Project1917 hervorgegangen ist, zeigt in einem Erklärvideo das Chaos, in dem Russland nach der Oktoberrevolution versank und das mehreren Millionen Menschen das Leben kostete.



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  • Hier stirbt die Demokratie!

    Hier stirbt die Demokratie!

    Auf dieses Ereignis hatte die russische Gesellschaft fast ein ganzes Jahr gewartet, seit der Abdankung von Nikolaus II. im März 1917: Am 5. Januar (18. Januar) 1918 trat im Taurischen Palais in Petrograd die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Bis dahin hatte die Regierung, die im Zuge der Februarrevolution an die Macht gekommen war, sich als „provisorische“ bezeichnet. Die damaligen Regierungsmitglieder waren nämlich der Ansicht, dass über die Regierungs- und Verfassungsform in Russland erst noch ein Organ entscheiden soll, das durch eine allgemeine, freie und geheime Wahl bestimmt wird – die Verfassunggebende Versammlung.

    Die meist schwierigen Vorbereitungen dafür liefen über das Revolutionsjahr hinaus und auch der Oktoberumsturz der Bolschewiki stoppte sie nicht.

    Inwiefern die Wahlen Ende 1917 schließlich ihren demokratischen Ansprüchen entsprachen, darüber streiten Historiker immer noch. Tatsache ist aber: Die Bolschewiki, die seit Ende Oktober an der Macht waren, bekamen nur circa 22 Prozent der Stimmen und standen am 5. Januar im Taurischen Palais als Opposition da. Für Lenin war dies ein Rückschlag. Die Demonstrationen, die den Start der Versammlung unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen. Und schon am kommenden Tag unterschrieb Lenin ein Dekret zur Auflösung der Versammlung. Der russische Parlamentarismus war Geschichte.


    Quelle: Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Padeborn, S. 237-238

    Maxim Gorki, schon damals ein landesweit bekannter Schriftsteller, leitete zu der Zeit die parteiunabhängige, aber sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung Nowaja Shisn. Dort vergleicht er in seinem Artikel 9. Januar – 5. Januar die Niederschlagung der Arbeiterdemonstrationen mit dem Blutsonntag vom 9. Januar 1905 – und sagt das Ende der demokratischen Entwicklung in Russland voraus.

    Am 9. Januar 1905, als eingeschüchterte, geknechtete Soldaten auf Befehl des Zaren in eine Menge unbewaffneter, friedlicher Arbeiter schossen, liefen gebildete, kritisch denkende Arbeiter auf sie zu und schrien den Soldaten – unfreiwilligen Mördern – direkt ins Gesicht:

    „Was macht ihr Verfluchten? Wen bringt ihr da um? Das sind doch eure Brüder, sie sind unbewaffnet, sie haben nichts Böses im Sinn. Sie gehen zum Zaren, um ihn auf ihre Not aufmerksam zu machen. Sie fordern nicht einmal, sondern bitten, ohne Drohung, arglos und ergeben! Kommt zur Vernunft, was macht ihr nur, ihr Idioten!“ 

    Man sollte meinen, diese einfachen, klaren Worte, ausgelöst durch Kummer und Schmerz über unschuldig getötete Arbeiter, hätten Zugang zum Herzen des „sanftmütigen“ russischen Mannes im grauen Soldatenrock finden müssen.

    Doch der sanftmütige einfache Mann hat die besorgten Leute entweder mit dem Gewehrkolben geprügelt oder mit dem Bajonett auf sie eingestochen, oder er brüllte, zitternd vor Hass:
    „Auseinander, wir schießen!“

    Sie wichen nicht aus, und da schoss er gezielt, streckte Dutzende, ja Hunderte Leichen aufs Pflaster nieder.

    Der Großteil der Soldaten des Zaren antwortete auf die Vorwürfe und Anpfiffe niedergeschlagen und fügsam:
    „Befehl von oben. Wir wissen nichts – uns wurde befohlen …“

    Und wie Maschinen schossen sie in die Menschenmengen. Ungern vielleicht, widerwillig, aber sie schossen.

    Am 5. Januar 1917 demonstrierte eine unbewaffnete Sankt Petersburger Demokratie – Arbeiter, Hausangestellte – friedlich für die Verfassunggebende Versammlung.   

    Die besten russischen Leute hatten fast hundert Jahre lang von der Idee der Verfassunggebenden Versammlung gelebt – eines politischen Organs, das der gesamten russischen Demokratie Gelegenheit gegeben hätte, ihren Willen frei zu äußern. Im Kampf für diese Idee starben in Gefängnissen, in Verbannung und Zwangsarbeitslagern, an Galgen und durch die Kugeln der Soldaten tausende Intellektuelle und zigtausende Arbeiter und Bauern. Auf dem Opfertisch dieser heiligen Idee wurden Ströme von Blut vergossen – und die „Volkskommissare“ befahlen, die Demokratie zu erschießen, die für diese Idee demonstrierte. 
    Ich möchte daran erinnern, dass viele dieser „Volkskommissare“ selbst ihre gesamte politische Tätigkeit hindurch den Arbeitermassen die Notwendigkeit eingebläut hatten, für die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu kämpfen. 
    Die Prawda [dt. „Wahrheit“ – dek] lügt, wenn sie schreibt, die Demonstration am 5. Januar sei von der Bourgeoisie organisiert worden, von Bankiers und dergleichen, und zum Taurischen Palais seien vor allem Angehörige der Bourgeoisie und Kaledin-Anhänger marschiert.        
    Die Prawda lügt – sie weiß nur zu gut, dass für die Bourgeoisie die Eröffnung einer Verfassunggebenden Versammlung kein Grund zur Freude wäre, dass sie inmitten von 246 Sozialisten einer Partei und 140 Bolschewiki nichts zu suchen hätte. 
    Die Prawda weiß, dass an der Demonstration Arbeiter des Obuchow-Werks, der Munitionsfabrik und anderer Betriebe teilnahmen, dass unter den roten Bannern der Sozialdemokratischen Partei Russlands Arbeiter aus dem Wassileostrowski Rajon, dem Wyborgski und anderen Rajons zum Taurischen Palais zogen.

    Und genau diese Arbeiter wurden erschossen. Und wie viel die Prawda auch lügen mag, diese schändliche Tatsache wird sie nicht verbergen können.

    Die Bourgeoisie hat sich vielleicht gefreut, als sie sah, wie Soldaten und Rote Garden den Arbeitern die Revolutionsbanner aus der Hand rissen, darauf herumtrampelten und sie verbrannten. Möglicherweise freute jedoch auch dieser willkommene Anblick nicht alle „Bourgeoisen“, denn es gibt ja auch unter ihnen ehrliche Leute, die ihr Volk und ihr Land aufrichtig lieben.

    Einer von ihnen war Andrej Iwanowitsch Schingarjow, der von irgendwelchen Bestien heimtückisch ermordet wurde.

    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen
    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen

    Also, am 5. Januar schossen sie auf Arbeiter von Petrograd, auf unbewaffnete. Sie schossen ohne Vorwarnung, schossen aus dem Hinterhalt, durch Zaunritzen, feige, wie richtige Mörder.

    Und genau wie am 9. Januar 1905 fragten Menschen, die Gewissen und Verstand nicht verloren hatten, die Schießenden:
    „Was macht ihr Idioten? Das sind doch eure Leute? Seht doch – überall rote Fahnen, und kein einziges Plakat, das sich gegen die Arbeiterklasse wendet, kein einziger feindseliger Ruf gegen euch!“

    Und genau wie die Soldaten des Zaren antworteten auch diese Auftragsmörder: 
    „Befehl! Uns wurde befohlen zu schießen.“
    Und genau wie am 9. Januar 1905 staunte der Biedermann, dem alles egal ist und der bei der Tragik des Lebens immer nur Zuschauer bleibt:
    „Klasse, sie sperren sie ein!“ 
    Und überlegte hellsichtig:
    „Bald werden sie sich gegenseitig erschlagen!“

    Ja, bald. Unter den Arbeitern kursieren Gerüchte, dass die Rote Garde des Telegrafieunternehmens Ericsson auf Arbeiter im Rajon Lessnoi geschossen hätten und Arbeiter von Ericsson wiederum von der Roten Garde irgendeiner anderen Fabrik beschossen worden seien.

    Solche Gerüchte gibt es viele. Vielleicht sind sie nicht wahr, doch das hindert sie nicht daran, die Masse der Arbeiter auf ganz bestimmte Weise psychologisch zu beeinflussen.

    Ich frage die „Volks“-Komissare, in deren Reihen sich doch anständige und vernünftige Leute finden müssen:

    Ob ihnen klar ist, dass sie, sobald sie ihren eigenen Leuten die Schlinge um den Hals legen, unvermeidlich die gesamte russische Demokratie erdrosseln, alle Errungenschaften der Revolution zunichte machen?

    Ob sie das verstehen? Oder ob sie denken: Entweder wir sind an der Macht, oder es sollen doch alle und alles zugrunde gehen?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Alte und neue Zeitrechnung

    Alte und neue Zeitrechnung

    Im Jahr 1840 verließ der deutsche Astronom Johann Heinrich Mädler die Berliner Sternwarte, und machte sich auf den Weg ins Russische Reich. In dem Land, wo viele deutsche Wissenschaftler tätig waren, übernahm er die Leitung der Sternwarte Dorpat (heute Tartu in Estland). Er hatte große wissenschaftliche Pläne. Ihn erwartete in Russland nicht nur moderne Technik, sondern auch ein altertümlicher Kalender.

    Während in den meisten europäischen Ländern zu der Zeit der gregorianische Kalender galt, lebte Russland noch mit dem alten julianischen. Und der Unterschied war groß: Zwölf Tage, und seit 1900 sogar 13. Da Russland aber nicht nur Handel, sondern auch viele politische und wissenschaftliche Beziehungen mit Europa pflegte und in den Städten außerdem viele Europäer lebten, musste man oft beide Daten im Blick behalten. In einem Aufsatz schrieb Mädler: „Unser heutiger Kalender ähnelt einer Uhr, die nicht nur ständig nachgeht, sondern auch falsch funktioniert“.1 Er unterbreitete den Vorschlag zu einer innovativen Kalenderreform, die dem „chronologischen Doppeldenken“ ein Ende setzen und auch die Fehler im gregorianischen Kalender korrigieren sollte. Russland hat jedoch erst nach dem Oktoberumsturz die fehlenden Tage nachgeholt. Mit dem Doppeldenken aber ging es weiter – noch heute sind seine Spuren sichtbar.

     

    Der Vorschlag, den in Russland geltenden julianischen Kalender dem europäischen anzupassen, wurde auch schon vor Mädler gemacht. So regte die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften bereits 1830 an, eine solche Reform durchzusetzen. Der damalige Bildungsminister Karl von Liven warnte diesbezüglich Zar Nikolaus I., dass die Reform zu „unerwünschten Unruhen“ führen könne.2 Solch radikale Veränderungen könnten von der orthodox geprägten Bevölkerung negativ aufgefasst werden. Selbst den Übergang zum julianischen Kalender, der 1700 im Zuge der Reformen von Peter dem Großen geschah, bezeichnete man oft als antichristlich.

    Kalender als russische Mission

    Das Entscheidende für das Ablehnen aller Vorschläge jedoch war die Position der Russisch-Orthodoxen Kirche. Diese war vor allem wegen der Bestimmung der Ostertage dagegen. Nach dem gregorianischen Kalender fiel Ostern – wenn auch sehr selten – mit dem alttestamentarischen Pessach-Fest zusammen, was der orthodoxen Kirche nicht annehmbar schien.

    Die kompromisslose Position der Kirche besiegelte zunächst auch das Schicksal von Mädlers Vorschlag – der erst nach dessen Tod in der neu geschaffenen Kommission zur Kalenderreform 1899 ernsthaft diskutiert wurde. Auch wenn renommierte Wissenschaftler wie Dimitri Mendelejew für die Reform plädierten, konnte man sie zunächst nicht durchsetzen. „Die kulturelle Mission Russlands besteht in dieser Frage darin, den julianischen Kalender noch einige Jahrhunderte am Leben zu halten und damit den westlichen Völkern die Rückkehr zu erleichtern, weg von der gregorianischer Reform, die keiner braucht, zum unverdorbenen alten Stil“,3 so argumentierte der Vertreter der Synode Wassili Bolotow bei einer Kommissionssitzung.

    Die Tatsache, dass von der Regierung eine Kommission und damit auch ein Diskussionsraum geschaffen worden war, war bereits ein Zeichen, dass das Problem als solches erkannt wurde. Meteorologische Dienste und auch viele Behörden, vor allem die, die mit Außenbeziehungen und Handel zu tun hatten, waren bereits im 19. Jahrhundert zum gregorianischen Kalender übergegangen. In Zeitungen und Zeitschriften schrieb man beide Daten. Auch wenn das alltägliche und vor allem religiöse orthodoxe Leben im Land nach der alten Zeitrechnung verlief, war der sogenannte „neue Stil“ in der Öffentlichkeit durchaus präsent.

    Symbolischer Bruch mit dem Zaren

    Am 18. April 1917 schrieb der bereits entmachtete Nikolaus II. in seinem Tagebuch: „Im Ausland ist heute 1. Mai, deswegen haben unsere Tölpel entschieden, diesen Tag mit Umzügen, Chormusik und roten Fahnen zu feiern.“4 Das war nicht nur die erste legitime Feier des Tags der Arbeit in Russland, sondern auch das erste Mal, dass der „neue Stil“ dem alten vorgezogen wurde. Die Datierungen der revolutionären Ereignisse waren aber nicht konsequent. So fanden nach gregorianischem Kalender die Februarrevolution erst im März (23. Februar/8. März) und der Oktoberumsturz (25. Oktober/7. November) erst im November statt.  

    Der erste Mai als revolutionäre Zeitenwende / Foto © Michail Woronin/St. Petersburg
    Der erste Mai als revolutionäre Zeitenwende / Foto © Michail Woronin/St. Petersburg

    Die Kalender-Reform wurde schließlich erst nach dem Oktoberputsch von den Bolschewiki per Dekret durchgeführt. Diesmal ohne große Diskussionen oder gar Rücksprache mit der Kirche. „Als erster Tag nach dem 31. Januar gilt nicht der 1. Februar, sondern der 14. Februar“, hieß es im Dekret vom 26. Januar (8. Februar) 1918. Die Bolschewiki hatten wohl die proletarische Weltrevolution im Kopf, die „im Gleichschritt“ stattfinden musste – auch in kalendarischer Hinsicht. Sie hatten aber auch noch ein weiteres Ziel. Mit diesem Dekret, so der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, war auch „symbolisch auf der Ebene der Zeitrechnung der Bruch mit dem Zarenregime vollzogen“.4

    Doppelherrschaft der Zeitregime

    Der Kalender listet nicht nur die Reihenfolge der Tage und Monate, er beinhaltet auch die Feiertage, die das gesellschaftliche Leben organisieren und strukturieren. Während vor der Revolution hauptsächlich kirchliche Feiertage begangen wurden, begann im Jahr 1917 „die Arbeit an einem neuen Zeitregime, einer neuen Zeitordnung, die sich vor allem gegen die von der Russisch-Orthodoxen Kirche geprägten Feiertage richtete“.5 1930, als alle kirchlichen Feiertage aus dem Kalender gestrichen wurden, schien diese Aufgabe offiziell erledigt zu sein.

    Die Russisch-Orthodoxe Kirche blieb allerdings bei der alten Zeitrechnung und legte dies schon beim Allrussischen Landeskonzil der Kirche 1918 fest. „Die Einführung des neuen Stils im zivilen Leben der russischen Bevölkerung darf den kirchlichen Menschen nicht daran hindern, seine kirchliche Lebensweise beizubehalten und sein religiöses Leben nach altem Stil fortzusetzen“6, hieß es in der Begründung. Da die Bevölkerung Russlands jedoch stark orthodox geprägt war und sich an der alten Kultur der Festtage orientierte, entstand ein komisches Phänomen: die gleichzeitige Existenz von zwei Zeitordnungen, der „julianisch-orthodoxen“ und der „gregorianisch-bolschewistischen“, die Schlögel als „Doppelherrschaft der Zeitregime“ bezeichnet.7 Man feierte also die staatlich-revolutionären und die kirchlichen Feiertage parallel. Auch wenn letztere verboten wurden.

    Betroffen von diesem Verbot waren unter anderem Weihnachten und das Neujahrsfest. Nach neuer Zeitrechnung wurden die Daten der alten Feiertage umgerechnet, Weihnachten entsprechend am 7. Januar und Neujahr am 14. Januar nach neuem Stil gefeiert. Teilweise ziehen es orthodoxe Gläubige noch heute vor, Neujahr erst am 14. Januar zu begehen. Denn in der orthodoxen Tradition geht Weihnachten eine Fastenzeit voraus, die das Feiern ausschließt. Für den 14. Januar entstand in Anspielung auf den „alten Stil“ der Begriff Altes neues Jahr.

    2016 hatte laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums fast die Hälfte der Russen vor, Neujahr zwei Mal zu feiern.8 Am 14. Januar allerdings viel bescheidener als am 31. Dezember, weil man am nächsten Morgen meist früh zur Arbeit muss.


     

     

     

     

    1. zit. nach: Klimišyn, Ivan (1985): Zametki o našem kalendare ↩︎
    2. zit. nach: Ibid ↩︎
    3. zit. nach: Chulan, Wladimir (2016): „Kalendarnyj vopros“: sobornyje diskussii v istorii i sovremennosti in: Gosudarstvo, religija, cerkov´ v Rossii i za rubežom, Nr. 1 (34), S. 193 ↩︎
    4. Schlögel, Karl (2017): Das Sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 581 ↩︎
    5. Ibid. S. 582 ↩︎
    6. Swjaščennyj Sobor Pravoslavnoj Rossijskoj Cerkvi. Dejanija. Kniga VI: Dejanija LXVI-LXXVII, Moskva, 1918 ↩︎
    7. Schlögel, S. 582. Der Begriff „Doppelherrschaft der Zeitregime“ ist eine Anspielung auf die Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und der Räte, die zwischen Februar- und Oktoberrevolution in Russland existierte. ↩︎
    8. interfax.ru: Meneje poloviny rossijan sobralis´ otmečat´ Staryj Novyj God ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Sprache und Revolution

    Sprache und Revolution

    Alten Denkmustern durch eine neue Sprache die Grundlage entziehen – dieses Kalkül der kommunistischen Revolutionäre ist in der Orthographiereform des Russischen besonders augenfällig. Bezeichnenderweise wurde die radikale Sprachreform nur wenige Wochen nach dem Oktoberumsturz, am 23. Dezember 1917 (05. Januar 1918) verabschiedet. Die Reform, der viele Buchstaben zum Opfer fielen, wurde jedoch oft als Plagiat verspottet: Die Vorbereitungen liefen schon vor den Bolschewiki, ab dem Jahr 1904.

    Und doch wird diese Reform mit der Revolution assoziiert: Schließlich gingen mit ihr auch tiefgreifende sprachliche Umwälzungen einher. Fast unbemerkt schlichen sie sich in den Sprachgebrauch ein und beeinflussen das Russische und seine Sprecher bis heute.

    Die Rechtschreibreform 1917/1918 hatte eine lange Vorgeschichte. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert klagten viele Lehrer über die Unregelmäßigkeiten und Ausnahmen in der russischen Orthographie, die den Schülern viel Auswendiglernen abverlangten. Erst auf eine Anfrage der Hauptverwaltung der Militärischen Ausbildungsstätten hin wurde die Akademie der Wissenschaften aktiv und setzte im Jahr 1904 eine 50-köpfige Expertenkommission ein. Das Thema der Reform ging aber erst einmal in heftigen Diskussionen unter.

    Streit um einen Buchstaben

    Die alte russische Rechtschreibung basierte auf einer Mischung aus phonetischem und etymologischem Prinzip, die häufig in Konflikt miteinander standen. So traten im Russischen mehrere Buchstabenpaare mit demselben Lautwert auf: Der Vokal [i] wurde beispielsweise mit drei unterschiedlichen Buchstaben wiedergegeben, nämlich И, і und Ѵ.

    Der Buchstabe Jat‘ Ѣ mit dem Lautwert [e] avancierte zum Symbol für den Streit zwischen den Traditionalisten und den Befürwortern der Reform. Er fiel nicht nur durch seine Form und Verwendungshäufigkeit auf, sondern spiegelte in gewisser Weise auch die Entstehungsgeschichte der russischen Standardsprache wieder. Ähnlich wie Schwyzerdütsch und Hochdeutsch befand sich das Russische als Volkssprache jahrhundertelang in einer Diglossiesituation mit dem Kirchenslavischen. Die Russische Standardsprache vereinigte schließlich Merkmale aus beiden Sprachen – und behielt die Buchstaben Ѣ und E bei, die in beiden Vorgängersprachen vorkamen und in früheren Zeiten zwei unterschiedliche Laute repräsentierten. Im 19. Jahrhundert standen jedoch beide für den Vokal [e], sodass Schüler mühsam auswendig lernen mussten, in welchen Wörtern welcher Buchstabe zu schreiben war. Befürworter der Reform argumentierten, dass die Abschaffung von „unnötigen“ Buchstaben den bildungsfernen Schichten das Erlernen der Orthographie erleichtere. Die Traditionalisten dagegen setzten ihre Streichung gleich mit einer Verleugnung der literarischen Tradition und der Orthodoxie.

    Im Jahr 1912 legt die Expertenkommission einen Reformvorschlag vor, der jedoch unbeachtet blieb. Auch eine Nachfrage des ersten Allrussländischen Kongresses der Lehrer zur Jahreswende 1916/17 bleibt erfolglos. Erst die Provisorische Regierung führt im Mai 1917 eine Rechtschreibreform durch. Neben der Abschaffung der Dubletten im Alphabet sieht sie auch eine Vereinfachung in der Deklination der Adjektive und Pronomen vor. Die Umsetzung verlief allerdings schleppend.

    Requisition der Buchstaben

    Schließlich greifen die Bolschewiki die Idee auf eine radikale Weise auf. Die Reform solle breiten Volksmassen den Erwerb des Lesens und Schreibens erleichtern und die Schule vom „unnötigen und unproduktiven Zeit- und Kraftverschwenden beim Erlernen des Rechtschreibens“ befreien, so das Dekret vom 23. Dezember 1917 (5. Januar 1918 nach neuer Zeitrechnung). Der einzige „Mehrwert“ der Reform bestand letztlich darin, dass die Nutzung der neuen Orthographie ab Januar 1918 für die Veröffentlichungen aller Staats- und Regierungsorgane verpflichtend wurde. Die endgültige Umsetzung dauerte jedoch an und bedurfte noch eines zweiten Dekrets, das im Herbst 1918 verabschiedet wurde. Ab dem 15. Oktober waren die fraglichen Buchstaben endgültig verboten, und die neue Orthographie setzte sich durch. Kritiker bezeichneten beide Dekrete als Plagiat.

    Revolutionär gesinnte Matrosen, die die Reform als Symbol für das Abschneiden alter, orthodoxer Zöpfe und das Anbrechen einer neuen Zeit betrachten, requirieren in den Druckereien die verbotenen Buchstaben. Dabei schlugen sie allerdings über die Stränge: Am Wortende maskuliner Substantive stand das harte Zeichen ъ. Da es längst keine mehr Funktion hatte, wurde diese Position in der Reform bereinigt und die Revolutionäre entwendeten den Druckereien auch das  Zeichen ъ. Innerhalb einzelner Wörter allerdings ist es für die Bedeutungsgliederung notwendig, sodass die Drucksetzer in ihrer Not das Apostroph als Ersatz verwenden. Auch das Wort съезд (s-ezd – dt. ‘Tagung, Kongress’), das zu den Lieblingswörtern der sowjetischen Kollektivorganisationen gehörte, war betroffen und wurde vorläufig als с’езд gedruckt.

    „Good guy“ versus „bad guy“

    Die Veränderungen der Sprache beschränken sich jedoch nicht auf einzelne Buchstaben oder neue Wörter und stilistische Merkmale. Die Revolution von 1917 markiert den Start für die Entwicklung einer neuen ideologisch geprägten Sprache, die oft in Anspielung auf Orwells 1984 als Newspeak oder schlicht als ideologische Sprache bezeichnet wird. Die abstrakten Redewendungen, die die bolschewistische Macht legitimieren müssen, waren am Anfang für viele Menschen unverständlich und wurden als fertige Sprachformeln unkritisch wahrgenommen und reproduziert. Ihre Gestalter hatten sie als Handlungsanleitung für die soziale Interaktion gedacht. Und diese Handlungsanleitung polarisierte.

    Auch wenn es hier zum größten Teil um die üblichen Elemente der Propagandasprache geht, die auf einer Gegenüberstellung von „good guy“ und „bad guy“ aufgebaut ist, wird diese Dichotomie „nirgendwo sonst so konsequent realisiert wie im sowjetischen Diskurs“.1 Viele Wörter und Wortbeziehungen werden politisch und ideologisch aufgeladen, und selbst die Wörter, die Synonympaare bilden, bekommen unterschiedliche politische Konnotationen.

    Während die Sowjetunion beispielsweise auf Basis der miroljubije (dt. wörtlich ‘Friedensliebe’) außenpolitisch agiert, spiegelt der politische Gegner pacifizm ‘Pazifismus’ vor.2 Nachdem mit der Abdankung des Zaren die Zeit des Untertanentums Poddanstwo vorbei war, feiert die sowjetische Propaganda das Konzept der Grashdanstwo ‘Staatsbürgerschaft’ – abgeleitet von Grashdanin, dem Bürger mit Rechten und Pflichten. Poddanstwo wird forthin für Angehörige von Staaten verwendet, die es noch aus den Fängen der Monarchie oder des Kapitalismus zu befreien galt. Selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion findet sich Poddanstwo auch noch einige Zeit auf den Migrationskarten, die Ausländer bei der Einreise in die Russische Föderation auszufüllen hatten.

    Mit der Reform von 1917 gingen tiefgreifende sprachliche Umwälzungen einher / Foto © FAndrey/flickr.com
    Mit der Reform von 1917 gingen tiefgreifende sprachliche Umwälzungen einher / Foto © FAndrey/flickr.com

    Das metaphorische Freund-Feind-Bild funktioniert ähnlich: kommen beim „verfaulenden Kapitalismus“ oder den „Haifischen des Kapitalismus“ Bilder von Fäulnis, Aas oder Raubtieren zum Einsatz, leisten sich die Sowjetvölker „brüderliche Hilfe“. Wird dem Marxismus der Superlativ der „fortschrittlichsten Lehre“ zugeschrieben oder Parteitagsbeschlüssen mit der Tautologie „gänzlich und vollständig“ die Unterstützung ausgesprochen, soll die Wortwahl die Einheit und Stabilität des Sowjetsystems widerspiegeln.

    Viele Propagandatexte zeichnen sich durch eine vage Anbindung an Zeit und Kommunikationssituation aus: Liest der Passant die Losung Von Lenin lernen heißt siegen lernen! bleibt unklar, ob es sich um einen Appell oder eine Feststellung handelt. Zusätzlich werden für das sozialistische Lager Wörter wie alle, jeglicher, sämtlich, voll, geeint verwendet, während man für die Beschreibung des Gegners Ausdrücke benutzt, die Partialität und Vereinzelung widerspiegeln: irgendein, ein gewisser, mancher et cetera.3 Wenn also auf Parteitagen davon gesprochen wird, dass „sich einige maskierte Feinde unter uns befinden“, muss der Zuhörer sich selbst prüfen, ob er zu den Feinden oder der Wir-Gruppe gehört.

    Veteranen der Arbeit und weitere Militarismen

    Da sich der Kommunismus schon vor der Revolution von 1917 im Kampf gegen Monarchie und Kapitalismus befand, finden sich Militarismen von Anbeginn an in der Sprachverwendung wieder. Verdiente Arbeiter werden als Veteranen der Arbeit bezeichnet und die Brigade dient als Organisationseinheit des Arbeitskollektivs. Im Bürgerkrieg wird die Militarisierung der Sprache noch weiter vorangetrieben und vermischt sich teilweise mit einer Vorliebe für technische Begriffe: die Alphabetisierungskampagne in den 1920er Jahren wird somit zur Liquidierung des Analphabetismus stilisiert. Bei einigen Militarismen, wie Komandirowka für Dienstreise oder Putjowka als Reisegutschein – ursprünglich das Dokument, das Soldaten auf der Reise mit sich trugen – ist die militärische Herkunft heute verblasst.

    Die ideologische Sprache wurde nicht nur konsequent, sondern auch nachhaltig umgesetzt, und wirkt bis in die Gegenwart hinein. Die Folgen sind nicht nur für Sprachwissenschaftler sichtbar. Und nach dem Zerfall der UdSSR blieb die sowjetische Epoche erhalten in der Sprache, die unter anderem auch im russischen Parlament zu hören ist.4


    1. Weiss, Daniel (2017): Einheitlich bipolar: Die Sprache des Sowjetsystems aus linguistischer Sicht, in: Osteuropa Nr. 6-8/2017, S. 428 ↩︎
    2. dies und das folgende vgl. Weiss, Daniel (1986): Was ist neu am „newspeak“? Reflexionen zur Sprache der Politik in der Sowjetunion, in: Slavistische Linguistik 1985, München, S. 247-321 ↩︎
    3. mehr dazu: Weiss, Daniel (2017), S. 428–429 ↩︎
    4. nashagazeta.ch: „Professor Daniel Weiss: «the soviet language», great and powerful… ↩︎
    5. ↩︎

    6. ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Podcast #1: Hundert Jahre Revolution

    Podcast #1: Hundert Jahre Revolution

    100 Jahre Russische Revolution: Über „plombierte Züge“ und andere Mythen – und warum in Russland das Erinnern heute so schwerfällt.

    Katrin Rönicke im Gespräch mit Dr. Robert Kindler (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin) und dekoder-Wissenschaftsredakteur Leonid A. Klimov

     

     

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    Zum Weiterlesen:

    Revolutions-Dossier mit Wissenswertem rund um das Thema Revolution in Russland: 1917/2017 – 100 Jahre Revolution


    erschienen am 14.12.2017

     

    Diese Podcast-Folge wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kunst und Revolution

    Kunst und Revolution

    „Dies war meine Revolution.“1 Die Worte des futuristischen Dichters und Künstlers Wladimir Majakowski widerspiegeln programmatisch das Engagement vieler russischer Künstler für und ihren Glauben an die Oktoberrevolution von 1917. Gerade die avantgardistischen Künstler, die im späten Zarenreich Restriktionen und Ausgrenzung erfahren hatten, erkannten in der bolschewistischen Revolution die Möglichkeit, sich aktiv in die Gestaltung von Kultur und Politik einzubringen. Viele stellten ihr Schaffen unter das Banner der Revolution und trugen zum „Kampf an der dritten Front“2 bei, wie die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens und die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft oft genannt wurde.

    Die Liaison zwischen Künstlern und Politik war aber von Anfang an auch problematisch, denn nicht alle Kunstschaffenden waren bereit, ihr Werk ideologisch vereinnahmen zu lassen. Dass auch diese Revolution ihre Kinder fraß, mussten die Künstler am eigenen Leib erfahren: Die politischen Säuberungen der Stalinära machten auch vor den einstigen Vorkämpfern der Revolution nicht Halt. Spätestens die Doktrin des Sozialistischen Realismus von 1932 setzte dem künstlerischen Höhenflug ein Ende.

    Die bolschewistische Revolution markiert eine Zäsur in der Kunstproduktion Russlands und anderer Regionen des ehemaligen Russischen Reichs, auch wenn die ästhetische Revolution 1917 schon lange vollzogen war. Bereits seit der Jahrhundertwende beschritten die russischen Künstler der Avantgarde den Weg in die Moderne, zunächst noch geprägt durch die intensive Auseinandersetzung mit den Kunstströmungen des Westens, ab 1914 dann weitestgehend autonom. Der gegenstandslose Suprematismus von Kasimir Malewitsch und die raumgreifenden Konterreliefs aus kunstfremden Materialien von Wladimir Tatlin hatten 1915 schließlich den endgültigen Bruch mit der Kunst der vorherigen Jahrhunderte proklamiert. Aber die Aufgaben und Themen der Kunst sowie die gesellschaftliche Stellung des Künstlers sollten sich mit der Oktoberrevolution in Russland drastisch ändern. 


    Staat als Auftraggeber


    An die Stelle der bürgerlich-aristokratischen Käuferschicht trat nun der Staat als Auftraggeber. Gefordert war eine Kunstproduktion, die den Zielen der staatlichen Agitation und Propaganda, kurz Agitprop, entsprach. Gesteuert wurden die Aktivitäten durch das Narkompros, das bereits am Tag der Machtübernahme der Bolschewiki eingerichtet wurde. Dessen erster Leiter, Anatoli Lunatscharski, rief die Künstler und Kulturschaffenden auf, über die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung zu diskutieren. Schon bald war ein Großteil der in Petrograd lebenden avantgardistischen Künstler an den Arbeitsprozessen der zahlreichen Unterabteilungen des Narkompros beteiligt: Die bis dahin unabhängige Avantgarde wurde institutionalisiert. Viele andere Künstler, darunter auch Literaten und Komponisten, gingen mit den Zielen der Bolschewiki hingegen nicht konform. Reihenweise emigrierten sie in den Westen. 

    ROSTA-Fenster von Majakowski / Foto © wikimedia
    ROSTA-Fenster von Majakowski / Foto © wikimedia

    Die Kunstproduktion der Zeit greift das Thema der Revolution vielfältig auf. Engagierte Künstler wie Majakowski gestalteten politische Plakate, die gegen die neuen Feinde der Revolution – den feisten Bourgeois und den reaktionären Monarchisten – hetzten und die Helden der Roten Armee feierten. Die ROSTA-Fenster etwa verbanden die Ästhetik der Avantgarde mit der Tradition des volkstümlichen Lubok zu wirkungsvollen Mitteln der Agitation und Volksaufklärung. Diese mehrteiligen Plakate wurden von Künstlerkollektiven für die russische Telegrafenagentur ROSTA gefertigt und setzten deren Nachrichten mit eingängigen Bildergeschichten visuell um.


    Das zweite Russland

    Die in dieser Zeit entwickelten Symbole sollten die Alltagskultur der Sowjetunion nachhaltig prägen. Bald schon prangten sogar auf Tellern und Tassen wehende rote Banner, Hammer und Sichel sowie die Konterfeis der Revolutionsführer. Rauchende Fabrikschlote, aber auch dynamisch drängende, gegenstandslose Bildkonstruktionen kündeten vom Aufbruch in eine neue Zeit.

    Natan Altman, Russland. Arbeit (1921)
    Natan Altman, Russland. Arbeit (1921)

    In Natan Altmans Russland. Arbeit (1921, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie) sind die Bildelemente – Linien und Flächen, Zahlen und Lettern – zu einer aufwärtsstrebenden Konstruktion aufgetürmt. Das Wort ТРУД (TRUD, dt. Arbeit) im unteren Bilddrittel bildet das stabile Fundament aus dem heraus der kyrillische Buchstabe „Р“ für „Россия“ (Rossija, dt. Russland) erwächst. Die „2“ verweist auf das neue Zeitalter, das zweite Russland; die runde Form links erinnert in diesem Kontext an eine aufgehende Sonne, deren Strahlen die Hoffnung auf ein besseres Morgen symbolisieren. Komplexe Inhalte wie die Heroisierung des Arbeiters im revolutionären Russland oder die optimistische Zukunftsgewandtheit der Zeit verarbeitete Altman hier mit einer reduzierten Bildsprache.

    Neben der Zukunft galt es auch, das Gedenken an die Revolution künstlerisch zu inszenieren. Neue Formen des Gedenkens an die Ruhmestaten der Revolution wurden entwickelt. Derselbe Altman etwa entwarf Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution 1918 und der Regisseur Sergej Eisenstein inszenierte 1928 in seinem Film Oktober eine Erstürmung des Winterpalasts, die das historische Ereignis weit überbot. 

    Altman etwa entwarf auch Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution / Foto © Michail Woronin (St. Petersburg)
    Altman etwa entwarf auch Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution / Foto © Michail Woronin (St. Petersburg)


    Schon früh stieß der revolutionäre Eifer der avantgardistischen Künstler auf Grenzen. Vor allem die kühnen Bauprojekte wurden selten oder nie realisiert. Lissitzkys Lenin-Tribüne (1920) oder Tatlins Monument für die III. Internationale (1919/20) erstarrten zu Ikonen eines utopischen Revolutionsbegriffs. Die radikale Ästhetik der Avantgardisten traf zudem schon vor der Machtübernahme Stalins auf Vorbehalte aus der Politik; Lenin selbst bevorzugte eher traditionelle Formen des künstlerischen Ausdrucks. Sein Plan für eine „Monumentale Propaganda“, den er im Februar 1918 erstmalig vorstellte, sah die Errichtung repräsentativer Denkmäler bedeutender Figuren der Geschichte – etwa Robespierre – in abbildender Manier vor.

    Tatlins Monument für die III. Internationale / Bild © Russische Nationalbibliothek St. Petersburg
    Tatlins Monument für die III. Internationale / Bild © Russische Nationalbibliothek St. Petersburg


    Überhaupt war revolutionäre Kunst in Russland nicht unbedingt auch radikal moderne Kunst: Auch die traditionelle Tafelmalerei brachte Beispiele von revolutionärem Impetus hervor, wie Boris Kustodijews Gemälde Der Bolschewik (1920, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie) bezeugt. Sie sollte schließlich das ästhetische Fundament für den staatlich verordneten Sozialistischen Realismus bilden, während die abstrakte und ungegenständliche Kunst zunehmend unter Formalismusverdacht geriet. Aber auch die Avantgardisten waren Wegbereiter des stalinistischen Kunstverständnisses, folgt man der These des Kunsttheoretikers Boris Groys: Die Avantgardekünstler hätten mit ihrer Forderung „von der Darstellung der Welt zu ihrer Umgestaltung fortzuschreiten“3 Stalins Diktum des Schriftstellers als „Ingenieur der Seele“, der mit seinem Werk den Menschen formen könne, unfreiwillig vorbereitet.4 


    1. Majakovskij, Vladimir (1922/1928): Ja sam, in: Majakovskij, Vladimir: Moja revolucija, Moskau/Leningrad, Übersetzung vom Autor ↩︎
    2. Grabowsky, Ingo (2004): Agitprop in der Sowjetunion: Die Abteilung für Agitation und Propaganda 1920–1928, Bochum, S. 11 ↩︎
    3. Groys, Boris (1988): Gesamtkunstwerk Stalin: Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München, S. 19 ↩︎
    4. vgl. Westermann, Frank (2003): Ingenieure der Seele: Schriftsteller unter Stalin – Eine Erkundungsreise, Berlin ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Der Russische Impressionismus

    Erste Russische Kunstausstellung in Berlin

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Peredwishniki

  • Debattenschau № 59: Schweigen über 100 Jahre Revolution

    Debattenschau № 59: Schweigen über 100 Jahre Revolution

    Weltweit wird dieser Tage der Oktoberrevolution vor 100 Jahren gedacht. Doch Russland scheint sich mit diesem Erbe schwerzutun. Den 7. November als Feiertag, wie er zu Sowjetzeiten begangen wurde, hat Putin bereits 2005 abgeschafft. So gab es in Russland am Jahrestag der Revolution „business as usual“. Einige tausend Anhänger und auch Mitglieder Kommunistischer Parteien aus dem Ausland zogen mit Fahnen und Liedern durch Moskaus Innenstadt. Auf dem Roten Platz fand dagegen ein Reenactment der Militärparade vom 7. November 1941 statt – Kriegs- statt Revolutionsgedenken.
     
    In den Medien war der Jahrestag der Revolution kein großes Thema. Unter den Onlineportalen etwa hatten am 7. November überhaupt nur vereinzelte das Revolutionsjubiläum als Aufmacher auf ihrer Startseite. Die staatlichen Sender Perwy Kanal und Rossija 1 hatten jeweils eine Serie zum Thema aufgelegt, die staatliche Agentur TASS eine eigene Multimedia-Site.

    War die Revolution gut, war sie schlecht? Was soll da überhaupt erinnert werden? Und was sagt diese Form des (Nicht-)Erinnerns über das Heute aus? dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.

    RIA Novosti: Versöhnt euch!

    Der Kommentar von Radiojournalist Ilja Charlamow für die Agentur RIA Novosti ist ganz im Einklang mit der offiziellen „Versöhnungs“-Rhetorik:

    [bilingbox]Einige der sogenannten Historiker und Menschen aus der Politik rufen dazu auf, das sowjetische Erbe auszuradieren, die Revolution zu verurteilen, ebenso wie das aus ihr hervorgegangene Staats- und Gesellschaftssystem.  […]
    Das 100-jährige Oktoberjubiläum – wie sollte es nicht als Anlass dienen, sich zu versöhnen, nein, sich auszusöhnen mit der eigenen Geschichte und den eigenen ideologischen Gegnern. Zumindest sollte man das beharrlich versuchen. Unsere Geschichte ist so wie sie ist. Eine andere gibt es nicht und wird es nie geben.~~~Некоторые так называемые историки и политические деятели призывают перечеркнуть, вымарать советское наследие и осудить революцию, так же как и созданный в ее результате общественно-политический строй. […]
    Столетие Октября – чем не повод помириться, нет, примириться со своей историей и со своими идейными оппонентами. Во всяком случае, настойчиво попытаться это сделать. Она – наша история – такова. Другой нет и никогда не будет.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Republic: Eine externe Macht war’s

    Andrej Archangelski zieht auf Republic Parallelen zwischen dem Umgang mit der Revolution und der Ukraine:

    [bilingbox]Mehrere Varianten ein und desselben Ereignisses – es ist, als würde von dem eigentlichen Anlass abgelenkt. Es wurde eine Vielgestalt von Bewertungen der Revolution zugelassen, ja sogar befördert: Heute gibt es in den Staatssendern eine eher „rote“ Version der Revolution (die in offiziösen Verlautbarungen zart kritisiert wird); es gibt eine „weiße“, monarchistische; und es gibt eine Verschwörungsversion. Alle existieren in der Informationslandschaft zeitgleich. 

    Das hat den Diskurs über die Revolution auf eine neue dialektische Ebene gehoben – genau wie im Fall der antiukrainischen Propaganda, die die Formel „Man hat uns entzweit“ hervorbrachte. Es ist ein Universal-Verfahren in dem Moment, in dem alles Schreckliche schon getan und gesagt ist. Und die Verantwortung wird einer nicht benannten externen Macht zugeschoben.~~~Множество версий одного и того же события – как способ отвлечения внимания от единственной причины. Многовариативность в оценках революции, как мы видим, допускалась и даже поощрялась: сегодня в государственном эфире присутствует условно «красная» версия революции (которая мягко критикуется официозом), есть «белая», монархическая; есть, наконец, версия заговора – все они существовали в информационном поле одновременно. Это перевело разговор о революции на новый диалектический уровень – как и в случае с антиукраинской пропагандой, породив формулу «нас поссорили»; универсальный способ в момент, когда все ужасное уже было сделано и сказано, переложить ответственность на некую неназванную, могущественную силу снаружи.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Echo: Eine Revolution? Gab es nicht!

    Oppositionspolitiker Leonid Gosman dagegen prangert in seinem Blogeintrag, den Echo Moskwy veröffentlicht hat, das offizielle Schweigen an:

    [bilingbox]Urteilen Sie selbst.

    Ein Mensch lebt, solange man sich an ihn erinnert. Bei einem Ereignis ist es dasselbe – es lebt, solange man sich daran erinnert.

    Wenn nun vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte sich das derzeitige Staatsoberhaupt heute an die Nation gewandt, hätte gesagt: Das und das sind die Lektionen, Schlussfolgerungen und so weiter. Hat sich aber nicht an die Nation gewandt.
    Wenn vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte es heute eine Schweigeminute gegeben, in Erinnerung der Opfer des damals losgetretenen Bürgerkriegs – Weißer, Roter, zufällig Involvierter. Hat es nicht gegeben. […]

    Die Machthaber haben unsägliche, paranoide Angst vor Revolutionen. Die Erinnerung daran, was vor 100 Jahren passiert ist, verletzt die zarten Seelen unserer Führungsriege. Also hat nichts stattgefunden. Eine Parade zu Ehren von 1941 hat stattgefunden. Hurra, Genossen!~~~Судите сами.

    Человек жив, пока о нем помнят. Событие тоже — живо, пока о нем помнят. 
    Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня нынешний глава государства обратился бы в связи с этим к нации — уроки, мол, итоги и прочее. Не обратился. 
    Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня объявлялась бы минута молчания в память жертв развязанной тогда гражданской войны — белых, красных, случайных. Ее не было. […]
    Власть фантастически, паранойяльно боится революции. Воспоминание о том, что случилось сто лет назад, ранит тонкие души нашего начальства. Значит, ничего и не было. А был парад 1941 года! Ура, товарищи![/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Izvestia: Offene Diskussionen

    Valentina Matwijenko wiederum, die Vorsitzende des Föderationsrats, findet in ihrem Beitrag in der staatsnahen Izvestia Gründe für das offizielle Schweigen zum 100. Jahrestag der Revolution:

    [bilingbox]Man kann mit aller Bestimmtheit sagen, dass es in unserem Land de facto eine gesamtgesellschaftliche Diskussion gegeben hat. Breit, offen und völlig frei von offiziösen und regulierenden Eingriffen. Nicht zuletzt durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien hatten alle die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, die das wollten. Und die Menschen haben, wie man so sagt, ihr Herz ausgeschüttet. Meiner Ansicht nach, hat das der Debatte einen besonderen Wert eingetragen. Im Grunde ist ein Panorama der politischen und der Ideenlandschaft des modernen Russland entstanden.~~~Можно со всей определенностью сказать, что в нашей стране фактически состоялась дискуссия общенационального масштаба. Она носила широкий, открытый характер, была полностью свободна от налета официоза, регулирования. В немалой степени благодаря современным информационно-коммуникативным технологиям возможность высказаться получили все, кто хотел это сделать. И люди, что называется, выплеснулись. На мой взгляд, это придало обсуждению особую ценность. По сути, мы получили панорамную картину идейного и политического ландшафта современной России.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Snob: Hass und Angst

    Fjodor Krascheninnikow hat sich für Snob das Kino- und Fernsehprogramm zur Revolution angeschaut:

    [bilingbox]Worüber schweigt der Staat, wo wird gebrüllt? Daran kann man ziemlich gut erkennen, was in den Köpfen der Ideologen des derzeitigen Regimes vor sich geht. […]

    Den Mächtigen ist die Revolution auf den Straßen verhasst. Sie drehen fast durch, so hassen sie die, die das „Boot ins Wanken“ bringen und radikale Losungen skandieren. Keinesfalls möchten sie zeigen, dass im Endeffekt die Revolutionäre siegen, und nicht die orthodoxe Monarchie mit ihren Gendarmen, Metropoliten und Kosaken. Deswegen sehen wir auf dem Bildschirm nur Karikaturen von Randfiguren, die aus der Emigration zurückgekehrt und bereit sind, sogar von Vaterlandsfeinden Geld zu nehmen. Aber wir sehen auf dem Bildschirm nicht die wahren Revolutionäre von 1917.~~~По тому, о чем власть молчит и о чем кричит, можно составить довольно полное представление о том, что происходит в голове у идеологов существующего режима.
    […]
    Власти ненавистна революция на улицах, она до истерики ненавидит тех, кто «раскачивает лодку» и выдвигает радикальные лозунги, и ей совсем не хочется показывать, что в итоге побеждают как раз революционеры, а не православная монархия с жандармами, митрополитами и казачеством. Поэтому на экранах мы увидим лишь приехавших из эмиграции карикатурных маргиналов, готовых брать деньги даже у врагов Отечества. Но мы не увидим на экране настоящих революционеров 1917 года […][/bilingbox]

     

    erschienen am 30. Oktober 2017

    7×7: Lenin vs. Stalin

    Der Archangelsker Journalist Leonid Tschertok kritisiert auf 7×7 den zunehmenden Stalinkult, auch wenn über die Revolution gesprochen wird:

    [bilingbox]Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Stalin mit den Jahren immer mehr Anhänger hat und Lenin immer weniger? Es stellt sich so dar, dass der schnauzbärtige effektive Manager die Fehler des Führers, der das R nicht rollen konnte, korrigierte, indem er die Industrialisierung und Kollektivierung in Gang setzte – anstelle der Wirtschaft des zerfallenen Imperiums, die durch den Bürgerkrieg und das Chaos der ersten Sowjetmacht-Jahre zerstört worden war. Übrigens, der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – was ist das, wenn nicht die Folgenbeseitigung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk? Hätten sie Deutschland damals ganz und gar geschlagen … dann wäre dort wohl kaum ein Platz für Hitler gewesen. […]

    Man sagt, dass 1991 verantwortungslose Abenteurer an die Macht kamen … und die von 1917 – was waren sie?~~~Вот ещё одна системная ошибка спорящих о революции. Сталинские репрессии – это впереди, мы же говорим о первопричине, что из чего вылупилось. Кстати, обратили внимание, что с годами всё больше защитников как раз у Сталина, и всё меньше у Ленина? Получается так, что усатый эффективный менеджер исправлял ошибки картавого вождя, введя индустриализацию и коллективизацию взамен разрушенной гражданской войной и общей бесхозяйственностью первых лет советской власти экономики павшей империи. Впрочем, как и победа в Великой Отечественной войне – что это, как не ликвидация последствий того самого «Брестского мира»? Добили бы тогда Германию окончательно… вряд ли в ней потом нашлось место Гитлеру. 
    Говорят, в 91-м к власти пришли авантюристы… а те, из 17-го, кем были?[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Vedomosti: Zerstörung aller Formen

    Der Philosoph Alexander Rubzow meint auf Vedomosti, dass der damalige Verlust einer rechtsstaatlichen Ordnung in gewisser Weise bis heute nachwirkt:

    [bilingbox]Nach einer Revolution geht es ganz allgemein darum, wieder zu einer Form zu finden. Ansonsten herrschen auf ewig Ausnahmezustand und gesetzlose Willkür, wo die Machthaber sogar die formalen Normen brechen, die sie selbst aufgestellt haben. […]     

    Durch den Oktober 1917 wurde nicht nur einfach eine konkrete Form zerstört, sondern das Verhältnis zu allem Formalen. […] Eine Revolution bricht stets das Gesetz und ist in diesem Sinne immer verbrecherisch. Doch wenn sie vorüber ist, schafft sie Raum für eine neue Form. Die Revolutionen im Westen waren weder sauberer noch humaner als unsere. Aber sie blieben zeitlich begrenzte Episoden und wurden nicht zur dauerhaften Existenzweise. […]      

    Zum Allgemeingut geworden, spiegelt sich die Vernachlässigung und Missachtung der Form überall wieder: Zum Beispiel im Sport, wo ein „klar überlegener Sieg“ „unwesentliche“ Formverstöße psychologisch nichtig werden lässt.~~~Выход из революции имеет и более общий смысл: восстановления формы, правильного отношения к ней. Без этого становится хроникой режим чрезвычайного положения и властного беззакония, когда власть легко нарушает даже те формальные нормы, что установлены ею самой. […]

    Октябрь 1917 г. обрушил не просто конкретную форму, но само отношение ко всему формальному. […] Революция всегда нарушает закон и в этом смысле всегда преступна, но, прекращаясь, она уступает место новой форме. Революции на Западе были не чище и не гуманнее нашей, но они были эпизодами, а не способом существования. […][/bilingbox]

     

    erschienen am 6. November 2017

    dekoder-Redaktion

     

     

     

    Diese Debattenschau wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    100 Jahre Revolution: In Deutschland widmen sich dieser Tage und Wochen Zeitungen, Radio, TV und Kulturinstitute dem Jahrestag – das Jubiläum der Oktoberrevolution findet einen adäquaten Programm-Platz. Und in Russland? Wird die Oktoberrevolution behandelt wie ein „Stiefkind“.

    Auf Republic zeigt Sergej Schelin den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund dieser Leerstelle auf.

    Der Oktober dieses Jahres wird uns nicht als kollektives Besinnen auf die große Revolution in Erinnerung bleiben, die vor 100 Jahren die Geschichte des Landes umgewälzt hat. Einverstanden? In Erinnerung bleiben wird der Skandal um das Melodrama Matilda. Der kostümierte Schwank aus dem Leben des Thronfolgers und der Ballerina interessiert Russland im 21. Jahrhundert offenbar weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren.

    Die Revolution wird, einer intellektuellen Pflicht Gehorsam leistend, von der Intelligenz diskutiert, obwohl die sich eigentlich mehr um das Heute sorgt. Die russisch-orthodoxe Kirche verflucht die Revolution, denn nicht erst der Mord, sondern schon die Entthronung des heiliggesprochenen Zaren war ein Sakrileg. Die Staatsführung gemahnt unterschwellig boshaft, dass das Jubiläum ein hervorragender Anlass zur nationalen Versöhnung sei – und fügt auf jeden Fall hinzu, dass einem nicht sanktionierten Machtwechsel stets eine Verschwörung äußerer und innerer Feinde vorausgeht.

    Ein Kostümschwank interessiert Russland weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren

    Doch in den Köpfen der normalen Menschen hat die Revolution von 1917 keinen Platz. Und das liegt nicht nur daran, dass sie lang her ist und keine Augenzeugen mehr am Leben sind.

    Parteien, die auf jene zurückgehen, die einander 1917 oder im Vorfeld bekämpften, gibt es bei uns nicht. Lebendige Parteien gibt es bei uns heute eigentlich sowieso nicht. Aber auch in den 1990er Jahren, als es sie gab – war etwa damals auch nur eine Partei von Konstitutionellen Demokraten wie Miljukow und Nabokow inspiriert, oder meinetwegen von Sozialrevolutionären wie Tschernow oder Spiridonowa? Die postsowjetischen Politiker hatten mit den präsowjetischen absolut nichts zu tun. Dieses Erbe wollte keiner, nicht mal geschenkt. Und das war kein Zufall.  

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren?

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren? Ich vermute, wenige würden diese Frage bejahen. Dabei war die Partei der Sozialrevolutionäre 1917 die stimmenstärkste Partei. Mit ihrer legendären Vergangenheit in der Narodnaja Wolja, mit einer Million Aktivisten (ein Vielfaches der Bolschewiki) und mit massenhafter Unterstützung der bäuerlichen Wählerschaft erhielten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und hätten rein rechtlich das Land regieren müssen. Doch die Verfassunggebende Versammlung wurde zunächst von den Bolschewiki gesprengt, ihre Überreste ein Jahr später von General Koltschak.

    Die ersten zwei Jahrzehnte wurden die Sozialrevolutionäre von der Sowjetmacht systematisch verfolgt – zuerst die im Untergrund, dann die, die sich aus der Politik zurückgezogen hatten, und schließlich die, die sich zu den Bolschewiki gesellt hatten.

    Ebenso gründlich wurden ehemalige Weiße, ehemalige vorrevolutionäre und revolutionäre Bürgeraktivisten jeglicher nicht-bolschewistischer Couleur und überhaupt alle beseitigt, die nicht beweisen konnten, dass sie mit Leib und Seele auf die Seite der Sieger gewechselt waren.

    Der Terror tötete. In der ihn begleitenden Revolution qua Lebenslauf der 1920er und 1930er Jahre wurden massenhaft Biografien umgeschrieben. Eltern verbargen ihre Vergangenheit vor den eigenen Kindern, lebendiges Familiengedenken, das die Menschen mit der Geschichte viel stärker verbindet als jedes Lehrbuch, wurde fast gänzlich ausgelöscht.  

    Da ist schon lange niemand mehr, mit dem wir uns versöhnen könnten

    Seit Ende der 1980er Jahre bis zum heutigen Tag erklären sich findige Leute gern zu Adeligen, die kühnsten gar zu titelgeschmückten Aristokraten. Tatsächlich besteht das heutige Russland fast zu hundert Prozent aus Nachfahren von Roten und solchen, denen es gelang, mit ihnen zu verschmelzen. Echte Nachfahren von Weißen dagegen oder einfach Antibolschewiki, die sich die Erinnerung an ihr Weißsein und den Antibolschewismus über Generationen hinweg bewahrt haben, gibt es sehr wenige.

    Die „Versöhnung“, von dem die staatlichen Stimmen sprechen, ist eine fade und geistlose Show, die von zwei Mannschaften aus Clowns derselben Herkunft gespielt wird – die eine trägt rote, die andere weiße Kostüme. Natürlich gewinnt da die entzückende Matilda den Kampf ums Publikum. Die ist wenigstens unterhaltsam.      

    Zum echten Versöhnen gibt es also schon lange niemanden mehr. Aber das ist nur einer der Gründe, warum das Jahr 1917 dem Russland des 21. Jahrhunderts so unverständlich und so egal ist.

    Geschätzt werden bei uns vor allem siegreiche Regime und die Bedrohung durch Feinde von außen

    Auf der Champs-Élysées findet am Morgen des 14. Juli immer eine Parade statt, danach löst ein Vergnügen das andere ab, und am Abend werden die vom Feiern erschöpften Besucher mit einem Feuerwerk beglückt. Der Tag des Sturms auf die Bastille wurde erst Ende der 1870er Jahre, 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, endgültig zum großen Feiertag gemacht – als die Dritte Republik ausgerufen wurde und sich ihres Ursprungs besann, wobei sie vieles darin korrigierte und umschrieb.

    Der Kult der Französischen Revolution lebt, weil man darin zu Recht ein Ereignis sieht, das die Welt verändert hat, und zudem einen überwältigenden Ausdruck des französischen Nationalbewusstseins. Den halbverrückten Text der Marseillaise muss man ja nicht unbedingt ergründen. Das Wichtige ist, sie gemeinsam anzustimmen.

    In ähnlichem Stil unsere Revolution und die daraus erwachsene frühbolschewistische Ordnung darzustellen, das ist weitaus schwieriger. Zuviel Vernichtung und zweifelhafte Siege über die Mitbürger hat es von 1917 bis Anfang der 1920er Jahre gegeben. 

    Ganz zu schweigen davon, dass fast alle bolschewistischen Helden, Kommandanten und Heerführer aus der Geschichte gelöscht wurden, zuerst als Trotzkisten, dann als Volksfeinde aller Art. Die nachträgliche Rehabilitation hat sie nicht zurück in Schlüsselpositionen gebracht.

    Was die Weißen angeht, waren Denikin, Koltschak und Wrangel von Anfang an nicht beliebt beim Volk und werden das auch nie sein. Das sind Vertreter fremder Klassen, die ihren Krieg verloren haben, dessen Ziele die einfachen Leute gar nicht verstanden haben. 

    Die Revolution von 1917 ist zu unserem historischen Stiefkind geworden

    Eine kohärente Vorstellung von den Geschehnissen 1917 hat der heutige Bürger Russlands nicht, und er hat auch kein Verlangen, sich eine zuzulegen. Das war sieben Jahrzehnte lang anders. Ein Volksfest zum 7. November im französischen Stil – nicht nur als Tag der Grundlegung von Regime und Staat, sondern auch als Ereignis, das die Welt veränderte – fand bis zum Jahr 1990 statt. Damals marschierte die letzte Revolutionsparade über den Roten Platz. Das Tempo, mit dem die Menschen diesen Feiertag vergaßen, sobald er kein offizieller mehr war, zeugt davon, dass er in ihren Köpfen längst nicht mehr verankert war. Der Zauber der Russischen Revolution entpuppte sich als bei weitem nicht so stabil wie jener der Französischen, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen ist.

    Noch in den 1990er Jahren wurde zunehmend der 9. Mai als Tag der Staatsgründung begriffen, und dementsprechend Stalin als Gründervater. Das siegreiche Jahr 1945 wird in der Ära Putin zudem präsentiert als fortwährender Triumph des gegenwärtigen Regimes, das sich als Sieger eines Krieges darstellt, den es ja gar nicht gewonnen hat.

    Doch die grandiose Revolution, die von den ersten Monaten 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs dauerte, ist quasi aus dem willkommenen Lauf der Dinge gestrichen und zu unserem historischen Stiefkind geworden.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand

    Die Schwierigkeit besteht allein darin, dass gigantische Massen derer, die 1917 und in den Folgejahren sozial begünstigt waren, in den 1930er Jahren Opfer des Regimes wurden. Bauern, die sich im Sommer 1917 die Ländereien der Gutsherren teilen durften, wurden kollektiviert, entkulakisiert und tödlichen Hungersnöten ausgesetzt. Die revolutionäre Beamtenschaft, die hunderttausende frei gewordene Führungspositionen eingenommen hatte, wurde niedergemetzelt. In Beschuss geriet damals auch eine beachtliche Menge an Fachleuten, die ihre Spezialisierung dem Zugang zu Bildung verdankte, den die Revolution für die Massen ermöglicht hatte.

    Gegen Ende der Sowjetzeit gab es bei uns in verschiedenen Schichten relativ viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation durchaus zufrieden waren. Doch führten sie ihr Wohlergehen keineswegs auf die Taten ihrer Vorfahren im Revolutionsjahr 1917 zurück.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand. Von der gibt es wenige, aber es werden mehr. Und weil unser aktuelles Regime absolut alle seine ideologischen Ressourcen in die Konterrevolution steckt, wird die Zahl der 1917-Sympathisanten nicht nur von Trotzki-Sympathisanten aufgestockt werden, sondern noch von vielen anderen, die gegen dieses Regime sind.  

    Eine längst vergangene, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern

    Eine längst vergangene, man sollte meinen, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern. Das haben wir kürzlich in den USA beim Konflikt um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle beobachtet. Derzeit befindet sich die Russische Revolution sozusagen im Alter ihrer geringsten ideellen Attraktivität. Doch nach historisch kurzer Zeit kann sie wieder Teil des nationalen Mythos werden. 

    Wo die Revolution nun Jubiläum hat, sollten wir über ihre Lehren sprechen. Das ist so üblich, auch wenn man aus der Geschichte bekanntlich keine Lehren ziehen kann. Trotzdem ist es ein netter Brauch.

    Man kann zum Beispiel daran erinnern, dass der Zarismus als Regime verurteilt war, und es ist klar, warum. In seinem letzten Jahrzehnt hatte er keine Chance mehr. An einer linken Revolution führte in Russland kein Weg mehr vorbei. Aber sie hätte nicht unbedingt so sein müssen, wie sie war. Das bei allen revolutionären Umschwüngen siegende Prinzip The Winner takes it all führte innerhalb weniger Jahre, schon gegen Ende 1918, zu einer totalitären Diktatur. Und der rückhaltlose Glaube der Sieger, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und bleiben würde, lockte sie in die historische Falle.

    In der Geschichte Russlands, die jetzt neu geschrieben und immer wieder umgeschrieben wird, gesteht man diesen Ereignissen einfach keinen Platz zu. In unserem heutigen Klima ist das logisch und nachvollziehbar. Morgen oder übermorgen wird man sich sehr darüber wundern.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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