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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Chinesisch für Anfänger

    Chinesisch für Anfänger

    Russland ist zum Westen auf Distanz gegangen – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2012 bereitete Putin eine „Wende nach Osten“ vor, um „chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen”. Doch China reagiert weniger enthusiastisch, als man erwartet hatte.

    Das erste Jahr der „Wende gen Osten“ ist um, und kaum jemand lässt ein gutes Haar daran. Nach Meinung der meisten von Kommersant-Wlast befragten Politiker und Unternehmer ist das Projekt gescheitert, sogar einige Beamte sind der gleichen Meinung. Das ist zwar nur eine subjektive Wahrnehmung (im Vorfeld waren keine Erfolgskriterien festgelegt worden), aber deswegen nicht weniger bemerkenswert.

    Vor dem Hintergrund der eindeutigen politischen Erfolge wirkt das vielleicht seltsam: Schließlich haben Wladimir Putin und Xi Jinping im Mai 2015 eine Kooperation zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und dem Wirtschaftsgürtel entlang der Seidenstraße vereinbart, und beide Staatsführer besuchten die jeweiligen Militärparaden in Moskau und Peking am 9. Mai und 3. September.

    Obwohl keiner offiziell eine Wende nach Osten verkündet hat, ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China stark gewachsen.

    Auch die traditionelle Zusammenarbeit im Militärbereich hat sich positiv entwickelt: China war der erste ausländische Käufer von S-400 Luftabwehrsystemen und Kampfjets des Typs SU-35. Und das Unterwasserkabel für die vom Stromnetz getrennte Krim wurde auch in China hergestellt, bei Jiangsu Hengtong. Was also ist hier schiefgegangen?

    Putin richtet 2012 Kurs auf Osten

    Der Grundstein für die Wende wurde bereits 2012 im Vorfeld des APEC-Gipfeltreffens in Wladiwostok gelegt. Ein halbes Jahr zuvor, im Februar 2012, hatte Putin im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen einen Artikel veröffentlicht und darin bemerkt, Russland habe nun „die Chance, chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen“. Drei Monate später wurde offiziell das Ministerium für Ostentwicklung eröffnet, zu dessen Aufgaben die Anwerbung von asiatischen Geldern zählte, insbesondere von chinesischen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ländern entwickelte sich jedoch ziemlich schwach, abgesehen vom Energiesektor (Rosneft-Verträge von 2013 und 2014). Russische Unternehmer und Beamte waren misstrauisch gegenüber ihren chinesischen Partnern. Die Verhandlungen mit ihnen nutzten sie in erster Linie als Druckmittel gegenüber den Europäern in Energiepreisfragen.

    Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war eher zurückhaltend und kühl.

    Alles änderte sich nach der Einführung der westlichen Sanktionen gegenüber Russland nach der Angliederung der Krim. „Obwohl keiner offiziell eine Wende gen Osten verkündet hat und der erste Vize-Premier Igor Schuwalow diese im Juni 2015 sogar bestritt“, erinnert sich für Kommersant-Wlast der Leiter des Asien-Programms des Carnegie-Zentrums in Moskau Alexander Gabujew, „ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China spürbar gewachsen.“

    Zum „asiatischen Davos“ in Bo’ao im April 2014 reiste zum ersten Mal eine riesige russische Delegation an, unter der Leitung des Vize-Premiers Arkadi Dworkowitsch. Gazprom und CNPC, die sich zehn Jahre lang nicht über Gaslieferungen nach China einigen konnten, unterschrieben im Schnellverfahren einen Vertrag mit einer Laufzeit von 30 Jahren über die Lieferung von 38 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich, der auch den Bau der Pipeline Sila Sibiri umfasst. Ein Jahr später, am 8. Mai 2015, wurde er um einen Vertrag über den Bau eines zweiten Pipelinestranges und am 3. September um ein Memorandum über einen dritten Pipelinestrang ergänzt.

    Obwohl diese Vereinbarungen eine starke politische Komponente hatten sowie ernsthafte Fragen bezüglich ihrer Wirtschaftlichkeit aufwarfen, vermittelten sie das Gefühl einer wachsenden Kooperation und der Bereitschaft Chinas, langfristig in Russland zu investieren. Dies wiederum schaffte die angenehme Illusion, dass im Fall der Fälle Peking aktiv an der finanziellen Unterstützung Russlands interessiert bleiben würde, und sei es nur, um die investierten Mittel nicht zu verlieren.

    China findet wenig Anreize, in Russland zu investieren

    Aber schon Ende 2015 hat sich durch unbarmherzige Zahlen das ganze Pathos der unzerstörbaren russisch-chinesischen Freundschaft in den Augen von Experten in Luft aufgelöst. Zwar gab es Vereinbarungen über eine ganze Reihe von Großprojekten in der Maschinenbau- und Energiebranche, durch den Rubelverfall konnte man aber keinen Nutzen aus diesen Erfolgen ziehen. Der Rückgang des Handelsvolumens mit China wird 2015 circa 30 Prozent betragen.

    Chinesische Investoren machten sich nicht einmal den Preisverfall für russische Aktiva zunutze. Gerade mal 0,7 Prozent (794 Millionen US-Dollar von 116 Milliarden) aller chinesischen Auslandsinvestitionen wurden in Russland getätigt. Die Öllieferungen nach China sind zwar um 30 Prozent gestiegen, jedoch sanken aufgrund des Rubelverfalls die daraus resultierenden Einnahmen im gleichen Maße. Die Flüssiggaslieferungen fielen von Januar bis September 2015 um 51,3 Prozent, was im Geldäquivalent einem Rückgang von 71,5 Prozent entspricht. Und was den Bau des zweiten Pipelinestranges betrifft, so dringen in regelmäßigen Abständen beunruhigende Nachrichten über Verzögerungen und merkwürdige Kapriolen der chinesischen Partner durch und lassen um das Schicksal des Projekts bangen.

    Auch die Versuche russischer Staatsunternehmen, versiegte Kreditströme aus Europa durch chinesische zu ersetzen, blieben erfolglos. Chinesische Banken wissen ihre guten Beziehungen zu amerikanischen Kollegen zu schätzen (mit Ausnahme der ExIm Bank und China Development Bank, chinesischen Entsprechungen der russischen staatlichen Wneschekonombank VEB und VTB-Bank, bei deren Handeln politische Motivationen eine Rolle spielen). Sie schlossen sich faktisch den anti-russischen Sanktionen an und setzten alles daran, um Kreditvergaben herumzukommen.

    Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor.

    Außerdem wurden, wie Kommersant-Wlast vom Geschäftsführer des Russland-ACEAN Business-Rates Viktor Tarussin erfuhr, viele Russen gezwungen, ihre Konten bei chinesischen Banken zu schließen und die Mittel zu anderen Banken zu transferieren. Und Gazprom verkündete, enttäuscht von den asiatischen Kollegen, am 9. Dezember, der alljährliche Investorentag, der 2015 in Singapur und Hong Kong stattgefunden hatte, würde nach London und New York zurückverlegt. Als Grund dafür nannte Gazprom Interfax „die Unentschlossenheit und den Konservativismus der asiatischen Investoren“.

    China hat kaum Gründe, aktiv in Russland zu investieren. Peking lässt sich meist von harter Wirtschaftslogik leiten und investiert normalerweise entweder in die Staaten der Ersten Welt, die in der Lage sind, Technologien oder Management-Knowhow zur Verfügung zu stellen (USA) oder Dritte-Welt-Staaten, die sich vergleichsweise billig und ohne arbeitsrechtliche Sperenzchen von Ressourcen und Anbauflächen trennen (Sudan, Simbabwe). Russland gehört weder zur ersten noch zur zweiten Kategorie.

    Im Ranking zur Geschäftsfreundlichkeit, dem Doing Business-Index, bei dem Russland im Oktober auf Platz 51 gestiegen ist, liegt China im Umfeld von Singapur (Platz 1), Hong Kong (Platz 5), Südkorea (Platz 4), Taiwan (Platz 11) und Malaysia (Platz 18). Im Global Opportunity-Index, der die Investitionsattraktivität eines Staates misst, belegt Russland den 81. Platz, Singapur den 1., Hong Kong den 2., Malaysia den 10., Südkorea den 28. und Japan den 17. Wenn es um Rechtstaatlichkeit geht, rutscht Russland sogar auf Platz 119 und landet damit in der Nachbarschaft von Nigeria und Mosambik.

    Russland hat die chinesischen Bedürfnisse falsch eingeschätzt

    Durch all die politischen Vereinbarungen und die pompösen gegenseitigen Freundschaftserklärungen entstand sowohl bei russischen Unternehmern als auch bei der Staatsbürokratie der Eindruck, nun würden die chinesischen Firmen von oben Anweisung bekommen, mit Russland Verträge unter dem Marktwert abzuschließen. Dies ist nicht geschehen.

    „Ich denke, Russland hat zu emotional auf die Verkündung der Wende gen Osten reagiert. Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war dann eher zurückhaltend und kühl“, so Irina Sorokina, geschäftsführende Leiterin der Russisch-chinesischen Kammer zur Förderung des Handels in der Maschinenbau- und Innovationsindustrie. „Wir haben eine Investitionsflut aus China erwartet, aber dort zögert man lieber erst einmal und wiegt alles sehr sorgfältig ab.“

    Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für Verhandlungen.

    Ihrer Meinung nach ist für chinesische Unternehmer – egal bei welchem Projekt – die Rentabilität ihrer Investitionen am wichtigsten. Außerdem schätzen sie die Bereitschaft der Partner, auch finanziell einzusteigen, doch dazu sind russische Unternehmer oft nicht bereit. „Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet und von den Partnern Geld als Anteil für das gemeinsame Unternehmen verlangt, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor“, ergänzt Irina Sorokina.

    Wegen der Probleme bei der Wende nach Osten entstand in der russischen Staatsführung offensichtlich der Wunsch, die Situation zu verbessern. „Die Regierung hat versucht, gezielt Expertise aufzubauen“, sagt Alexander Gabujew. „Also wurde ein Ausschuss für die Förderung der Wirtschaftsinteressen in der Asien-Pazifik-Region gegründet. Ansonsten haben die unter dem ersten Vize-Premier Igor Schuwalow im Vorjahr eingeführten Gremien ihre Arbeit fortgesetzt.“ Nach Meinung von Experten reichen diese Bemühungen jedoch nicht für grundlegende Veränderungen.

    Es gibt einzelne Erfolgsbeispiele

    Gelingt der Zugang zu den chinesischen Partnern, sind die Ergebnisse oft interessant. Maxim Sokow, Generaldirektor des Metall-, Bergbau- und Energiekonzerns En+, ist überzeugt, dass es zwar nicht einfach sei, sich an die Eigentümlichkeiten des chinesischen Geschäftsgebarens zu gewöhnen, aber durchaus möglich. „Man muss bedenken, dass man mit China nicht von heut auf morgen Geschäftsbeziehungen aufbauen kann. Du musst mit den Menschen zunächst große Mengen Tee trinken und viele Worte des Respekts äußern, doch dann geht alles ziemlich schnell“, so Sokow im Gespräch mit Wlast. „Das russische Sprichwort ‘Wer langsam einspannt, der fährt schnell’ hat in China eine Entsprechung.“ Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für den nächsten Verhandlungsschritt, so Sokow.

    Im Jahr 2015 gab es eine Vereinbarung über die Gründung eines Zentrums für Datenverarbeitung. Beteiligt waren die Konzerne En+ und Lanit, die Regierung der Region Irkutsk sowie die chinesischen Unternehmen Huawei und Centrin Data Systems. Schon im Sommer 2016 soll das Rechenzentrum in Betrieb gehen. Es wird Informationen chinesischer Firmen auf von Huawei gelieferten Anlagen verarbeiten.

    Im Gegensatz zur teilweise „politischen“ Pipeline Sila Sibiri steht dieses Projekt auf rein kommerziellen Füßen und hat somit gute Aussichten auf Erfolg. Das ökonomische Kalkül ist einfach: kaltes sibirisches Klima (Server brauchen ständige Kühlung) plus billiger Strom aus sibirischen Wasserkraftwerken (hierauf entfallen 60 Prozent der Selbstkosten des Zentrums) plus der unendliche chinesische Markt, der nach immer mehr Rechenkapazität verlangt.

    Ob Russland und China sich wirklich wirtschaftlich aufeinander zubewegen, ist offen

    Das wichtigste Ergebnis des Jahres ist, dass russische Beamte und Unternehmer Asien für sich entdeckt haben und und nun beginnen, sich für die landesspezifischen Businessregeln zu interessieren. „Der Osten wurde ein Thema in Strategiesitzungen großer Unternehmen, und nicht nur in Staatsbetrieben. Wobei die Überlegungen dort bisher noch nicht sehr qualifiziert sind“, so die Beobachtungen von Dimitri Ontojew, dem Leiter des Labors für regionale Studien im Institut für Schwellenländer an der Skolkowo School of Management in Moskau. „Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt, daher sind russische Firmen jetzt gezwungen, ziemlich entschieden mit den Ellbogen zu arbeiten, worauf sie nicht vorbereitet waren.“

    Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt.

    Das Jahr 2016 hat vielversprechend begonnen: Am 18. Januar lud die russische Delegation im Asia Society Hong Kong Center in Hong Kong zu einer Veranstaltung ein namens Russlands Platz im Wirtschaftsmodell der Asien-Pazifik-Region – neue Möglichkeiten für Wachstum und Investitionen. Vize-Premier Arkadi Dworkowitsch und der Magnat Viktor Wexelberg versuchten, die Teilnehmer aus einflussreichen asiatischen Wirtschaftskreisen zu überzeugen, dass sich Investitionen in Russland lohnen.

    Das Auditorium reagierte zugänglich. Aber mit einer Antwort, die er auf eine Frage des Moderators Ronnie Chan gab, plauderte Arkadi Dworkowitsch zufällig das wichtigste russische Staatsgeheimnis aus: das Fehlen einer langfristigen Planung. „Wie sehen Sie Russland in 10 bis 20 Jahren?“, fragte Ronnie Chan und fügte hinzu, dass Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping auf diese Frage wohl wie aus der Pistole geschossen antworten würde. Arkadi Dworkowitsch sagte: „Als einen normalen Staat.“ Um dann zu präzisieren: „Stark und offen für die Weltgemeinschaft.” Ob diese Antwort die asiatischen Investoren zufrieden gestellt hat, sehen wir dann an den Ergebnissen des Jahres 2016.

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  • Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt, dass die Konsumbereitschaft der Privathaushalte weiter sinkt. Es mangelt an Ressourcen. Marina Krassilnikowa, Leiterin der Abteilung für Einkommens- und Konsumstudien des unabhängigen Instituts, erläutert die Daten. Alles deutet darauf hin: Die Krise ist in den Köpfen angekommen.

    Im Verlauf des vergangenen Jahres haben die von uns befragten Personen über sinkende Einkommen berichtet, die Einschätzung des eigenen Wohlstands hat sich kontinuierlich verschlechtert. Beides beeinflusste selbstverständlich das Konsumklima. Unsere Mitbürger haben endgültig realisiert, dass die Krise lange anhalten wird: 75 % der Bevölkerung sind überzeugt, dass sie erst in einigen Jahren überwunden werden kann, während der Anteil der Optimisten, die glauben, dass sich die Lage schon in etwa anderthalb Jahren verbessern könnte, bei ca. 20 %  liegt.

    Diese Stimmungen beeinflussen auch das Verhalten: Der Dezember – eigentlich der Monat, in dem seit jeher die Neujahrsgeschenke1 gekauft werden – war im Jahr 2015 geradezu ein Fiasko. Der Anstieg des Konsums fiel mit lediglich 2 % geringer aus als zu dieser Jahreszeit üblich. Hier schließe ich mich der Meinung einiger Kollegen an, dass die Konsumenten in einen Sparmodus geschaltet haben. Wobei das natürlich jeder auf seine Weise tut, je nach materieller Situation. Allerdings sparen so gut wie alle bei den Lebensmitteln.

    Ressourcenmangel zwingt zur Konsumbeschränkung

    Mit Sparen ist hier jedoch nicht gemeint, dass weniger gekauft wird. Oft versuchen die Menschen einfach, günstiger einzukaufen. Der Preis ist inzwischen das wichtigste Kriterium bei der Produktwahl. Was schade ist: Die russischen Verbraucher hatten sich gerade ein kleines Stück von diesem „Armutsschema“ entfernt und angefangen, mehr auf Qualität und Marke zu achten, und schon geht es wieder rückwärts.

    Wird das Verbraucherverhalten rationaler? In gewissem Sinne ja, aber es ist eine erzwungene Rationalität, wenn man spart, nicht, weil man geschickt mit Geld umgeht und seine Haushaltskasse kalkuliert, sondern einfach, weil man kein Geld hat.

    Einen festen Platz hat weiterhin der Geltungskonsum – die Demonstration von sozialem Status durch Anschaffungen. Allerdings können wir hier strukturelle Veränderungen beobachten. In den Nullerjahren, vor der Krise, gehörten zum demonstrativen Massenkonsum die Anschaffung von Kleidung und Urlaubsreisen ins Ausland. Heute demonstrieren Menschen, deren Geld gerade so zum Leben reicht, ihren Konsumstatus eher, indem sie teurere Lebensmittel kaufen. Das spricht natürlich Bände.

    Kaum Aussicht auf Belebung des Konsums

    Was die Prognose für die kommenden Monate angeht, gibt es bisher keine guten Nachrichten. Im Januar ist der Index des Konsumklimas, den das Lewada-Zentrum monatlich auf Basis von Umfragen unter der Bevölkerung Russlands erhebt, im Vergleich zum Dezember um 13 % gesunken. Dies deutet darauf hin, dass die Menschen vermehrt auf Konsumausgaben verzichten werden. Zugleich werden die Inflationserwartungen weiter ansteigen und der „Sparmodus“ andauern.

    Bisher hatten die Menschen in einer Wirtschaftskrise versucht, Geld auszugeben, um die Ersparnisse in Sachgüter zu verwandeln und sie so vor der Inflation zu schützen. Dieses Verhaltensmuster verschwindet jetzt. Heute hält man an seinen Ersparnissen fest, auch wenn sie bescheiden sind. Und darin liegt das Dilemma der aktuellen Krise: Es gibt Ersparnisse, aber niemand möchte sie ausgeben. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass sich die Wirtschaft durch Ankurbeln des Konsums wieder in Schwung bringen ließe, vorerst nur eine Hoffnung.


    1.In Russland werden die meisten Geschenke nicht zu Weihnachten, sondern zum Neujahrsfest gemacht.

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  • „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Wladislaw Inosemzew gilt als herausragender Wirtschaftsexperte und politischer Denker. Bekannt ist der Wissenschaftler, der auch Mitglied der liberalen Partei Prawoje delo (dt. Die Rechte Sache) ist, vor allem für seine permanente Kritik an der Wirtschaftspolitik des Kreml.

    Im Interview mit Jewgeni Senschin entfaltet er in prägnanten Thesen ein Panorama des aktuellen Russland.

    Das russische System ist im Verfall begriffen: Russland ist nicht in der Lage, etwas zu neuen technischen Entwicklungen beizutragen, die Erdölpreise, von denen das Land abhängt, sinken. Sie betonen aber immer wieder, dass die Lage bisher ziemlich stabil ist.

    Erodierende Systeme sind gerade deshalb ziemlich stabil, weil sie den Verfallszustand kennen und daran gewöhnt sind. Nehmen wir mal an, Sie sind in einem europäischen, wirtschaftlich prosperierenden und wohlhabenden Land und plötzlich ereignen sich dort Dinge, die all das erschüttern. Zum Beispiel die Einkommen sinken um ein Drittel oder ein Teil des Territoriums muss abgegeben werden. Dann treten alle möglichen Formen der Störung auf.
    Wenn Sie aber über Jahrzehnte in einem Land leben, in dem das Volk der Regierung absolut egal ist, in dem Gewalt immer die Norm gewesen ist, in dem der Staat vor 70 Jahren 20 Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung umgebracht hat, in dem man nie im Reichtum gelebt hat und nie etwas von der Welt gesehen hat: Wovor soll man sich dann fürchten?
    Etwa davor, dass ein neuer Krieg ausbrechen oder es massenhafte Repressionen geben könnte? Nichts dergleichen steht uns bevor. Unter diesen Umständen lässt sich dieses System nur schwer aus dem Gleichgewicht bringen.

    Ich sehe weder die Möglichkeit für eine Palastrevolution noch für einen Volksaufstand noch für sonstwas. Meines Erachtens gibt es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Situation: Das System wird von selbst zusammenbrechen, wenn es nichts mehr zu holen gibt. Es muss an seiner eigenen Sinnlosigkeit sterben.

    Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten

    Aber der Lebensstandard und die Einkommen sinken. Die Menschen vergleichen doch, wie sie vor, sagen wir, fünf Jahren gelebt haben und wie sie jetzt leben. Die Ergebnisse fallen nicht zugunsten der Gegenwart aus. Wirft denn auch das keinen Schatten auf Putins Lage?

    Möglicherweise stimmt das, was Sie sagen. Aber leider hat es bei den Menschen keine Folgen, wenn sie so etwas merken. Niemand versucht, Putin die Schuld zu geben dafür, dass es dem Volk schlechter geht. Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten: Dem sei es ein Gräuel, dass sich Russland „von den Knien erhebt“ und eine wichtige Rolle im Weltgeschehen spielt.

    Was ein mögliches Sinken der Umfragewerte des Präsidenten betrifft, so muss man verstehen: Umfragewerte sind das eine und Wahlergebnisse das andere. Hier sind Polittechnologen am Werk. Daher denke ich nicht, dass Putin bedroht ist. Und ich habe bisher keinen einzigen seriösen Experten gehört, der die These vertreten hätte, dass Putin vor 2018 gehen würde. Abgesehen von dem werten Herrn Kasparow, von Piontkowski und solchen Leuten. Ich schließe nicht aus, dass es nach 2018 irgendwelche Veränderungen geben kann, aber bis zu diesem Zeitpunkt im Grunde nicht.

    Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte

    Was halten Sie von dieser Variante: Nach einer Aussöhnung mit dem Westen, tritt Putin 2018 als großer Sieger ab – denn danach wird alles bedeutend schlimmer, und das würde seine historische Bedeutung gefährden.

    Die beste Variante zum Rücktritt wäre für Putin 2008 gewesen. Aber diese Chance hat er nicht genutzt. Die Frage ist eine andere. Ich wiederhole: Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte. Vor allem, weil die Bevölkerung bereit ist, das gegenwärtige Regime noch lange zu ertragen.
    Vielleicht entscheidet er sich ja selbst gegen eine erneute Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit dafür meiner Einschätzung nach bei 0,0001 %. Denn Wladimir Wladimirowitsch ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Er glaubt fest daran, dass alle Schwierigkeiten vorübergehend sind und es keinen Anlass für einen Rücktritt gibt.

    2015 bleibt als ein Jahr der Korruptionsskandale im Gedächtnis. Da ist der Prozess gegen Jewgenija Wasiljewa, der ehemaligen Leiterin der Abteilung für Vermögensverhältnisse des Verteidigungsministeriums. Die Inhaftierung der Gouverneure von Sachalin, Komi und des ehemaligen Regierungschefs von Karelien. Der Ex-Gouverneur der Oblast Brjansk wurde verhaftet. Und schließlich ist da Nawalnys Film über die Geschäfte der Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika.

    Beeinflussen solche Ereignisse die Gesellschaft und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Machthabern? Oder ändert sich dadurch nichts Wesentliches?

    Der Kampf gegen die Korruption führt weder bei den Eliten noch in der Bevölkerung zu irgendwelchen Reaktionen. Den Film von Nawalny über die Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika haben angeblich Millionen gesehen. Na und?

    Die Gesellschaft betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales

    Sie erwarten eine Reaktion der Eliten, und dabei gibt es nicht einmal eine Reaktion der Bevölkerung. Denn die Gesellschaft hat sich vollkommen an diese Vorgänge gewöhnt und betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales.
    Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Korruption in Russland nicht nur den Eliten zu Gute kommt, sondern auch den einfachen Leuten. Denn wenn es die Korruption nicht gäbe und auch nicht die Möglichkeit, mit der Staatsmacht zu verhandeln, dann wäre das Leben der komplette Wahnsinn.
    Das bedeutet, das ganze System gründet darauf, dass die Leute klauen und die diebischen Oberen sie nicht daran hindern, sich mehr oder weniger bequem damit einzurichten. Und das stützt das System. Es nützt nicht nur denen da oben, sondern auch denen da unten, und deshalb wird es keine Reaktion der Bevölkerung auf die Korruption geben.
    Und wenn ihr euch später über den Anschluss der Krim freuen wollt, bekommt ihr auch einen wie Tschaika: Denn es ist das gleiche System und es wird von den gleichen Leuten gemacht.

    Ich sage Ihnen mal, warum Russland meiner Meinung nach versucht, in die Konflikte im Ausland einzusteigen: Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt, für den Träger einer globalen Mission, für den Hort der geistigen Werte in den Zeiten der Apokalypse. Der Grund dafür ist im orthodoxen Erbe und in der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom zu finden. Da die Kirchenleute die heutigen Kremlbewohner auf diese Weise erhöht haben, sind die davon überzeugt, ihre Nase überall hineinstecken zu müssen.

    Wenn Sie sich darauf vorbereiten, die ganze Welt zu retten, dann müssen Sie das mit Hilfe von universellen Ideen tun, die von der Mehrheit verstanden werden. In diesem Sinne war die Sowjetunion, unabhängig davon, wie wir sie nun fanden, ein Staat, der über eine solche universelle und globale Ideologie verfügte – den Kommunismus. Ihre weltweite Expansion mit Hilfe des Kommunismus war also in gewisser Weise verständlich.

    Putin bietet der Welt heute die Doktrin von der Russischen Welt. Das ist jedoch eine lokal sehr begrenzte Idee. Wenn man die Idee von einer Russischen Welt in den Vordergrund stellt, muss man sich von einer globalisierten Welt verabschieden. Die Russische Idee steht für Autarkie, Autoritarismus, Abwesenheit ideologischer und religiöser Alternativen, täglich dreimaligen Kreuzgang um den Kreml und so weiter. Im globalen Denken einer modernen Welt erscheint das wohl kaum attraktiv. Zu einem solchen Europa hat die Russische Welt keinerlei Beziehung und wird von ihm niemals verstanden und akzeptiert werden. Aber wenn das so ist, dann kümmert euch halt um eure Sachen, oder habt ihr keine Probleme mehr?

    Europa hat es nicht eilig, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Können Sanktionen überhaupt bewirken, dass Russland die europäischen Spielregeln annimmt und sich wieder Europa zuwendet?

    Wenn es darum geht, ob die Sanktionen die russische Regierung dazu bringen können, etwas gegen ihren Willen zu tun, dann können sie das selbstverständlich nicht. Und die russische Regierung weiß, dass das nicht das Wesentliche ist. Die Europäer werden die Sanktionen so oder so wieder aufheben, weil sie keine Freunde der Konfrontation sind. Offen gestanden sind sie für sie überflüssig wie ein Kropf. Wenn aber in der heutigen Welt eine Seite eine andere überfällt, dann muss es darauf eine Reaktion geben. Die Europäer konnten nicht gegen Russland kämpfen, aber sie mussten irgendwie reagieren und haben deshalb die Sanktionen verhängt.

    Aber selbst, wenn die Sanktionen wieder aufgehoben werden, wird das nur wenig ändern. Die Sanktionen sind ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor. Und sie untergraben zweifellos einige unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber das ist nicht das Entscheidende in unserer Situation.

    Es sind nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen

    Derzeit ist es den europäischen Banken verboten, Kredite an russische Unternehmen zu vergeben, doch das bedeutet nicht, dass die europäischen Banken nach dem Ende der Sanktionen mit Krediten nach Russland angerannt kommen. Die hatten in der Zwischenzeit hervorragend Gelegenheit, sich nach neuen Märkten umzusehen.
    Außerdem ist der Preis für unsere wichtigste Ressource, das Erdöl, auf ein Drittel gesunken. Und wo bitte liegen die Vorzüge unserer Wirtschaft, mit denen wir ausländische Unternehmen anlocken könnten? Es gibt schlicht und ergreifend keine! Das ist das Erste.
    Zweitens sind es nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen, sondern die Versuche, das eigene Unternehmertum umzubringen. Alle haben schon lange erkannt, wie risikobehaftet Geschäfte in Russland sind. Die Aufhebung der Sanktionen wird also nichts Grundsätzliches ändern.

    Mit dem Referendum auf der Krim und der Unterstützung der Volksmilizen in der Ukraine hat die russische Regierung dem Westen gezeigt, dass Russland sich von den Knien erhoben und auf globaler Ebene zu einer entscheidenden geopolitischen Rolle zurückgefunden hat. Sie sind häufig in den USA, sagen Sie, was denkt man dort darüber? Ist es Putin gelungen, zu zeigen, dass er, wie Chruschtschow, mit dem Schuh auf den Tisch donnern kann? Inwiefern ist Russland für Amerika von Interesse und in welcher Form zeigt sich das?

    Ich kann ein ganz simples Beispiel nennen. In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit vielen amerikanischen Russisten gesprochen, und als erstes, nachdem wir uns begrüßt und Kaffee bestellt haben, erzählen sie mir, dass ihnen alle Forschungsmittel zu russischen Themen zusammengestrichen wurden, weil das niemand brauche. Das höre ich von vielen Leuten. Da haben Sie die Antwort, inwiefern Russland derzeit von Interesse für die USA ist.

    Und im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen den Islamischen Staat?

    Die Europäer sind als Menschen mit gesundem Menschenverstand natürlich bereit, mit Russland im Kampf gegen den Terror zusammenzuarbeiten. Wenn vorgeschlagen wird, ein gemeinsames Bodenkontingent für den Kampf gegen den IS zu schaffen, dann sind alle ausnahmslos dafür. Aber wir wollen das nicht. Wir wollen dorthin fliegen und dort schießen, wo uns Assad hinschickt. Aber die Europäer lassen sich aus guten Gründen nicht zwingen, Assad zu lieben. Also, was für eine Art von Koalition könnte es hier im Kampf gegen den Terror geben?

    In Bezug auf die geopolitische Rolle Russlands ist, wie Obama es kürzlich treffend ausgedrückt hat, unser Land ein regionaler Akteur. Es spielt seine Rolle in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum. Und genau so wird es wahrgenommen. Aber darüber hinaus, was ist da?

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy. Als solcher wurde Putin kürzlich von Hillary Clinton bezeichnet. Russland versuchte zu jenem Zeitpunkt einen unkonventionellen Zug. Es zog in den Kampf nach Syrien und wollte damit demonstrieren, dass es nicht nur eine Regionalmacht sei, sondern auch Interessen in anderen Regionen der Welt habe.
    Aber das hat nicht einfach so funktioniert, denn, wenn man gegen den internationalen Terrorismus kämpfen möchte, dann nach den Spielregeln des Westens. Zunächst musste Assad weg und anschließend der IS vernichtet werden. Und das alles in Abstimmung mit den USA. Dann wären die Amerikaner vielleicht bereit, sich mit Russland auszusöhnen, sogar in der Ukraine-Frage.
    Wenn Sie allerdings nach Syrien fliegen und dort die unglücklichen syrischen Turkmenen bombardieren, dann nimmt ihnen natürlich niemand mehr die ehrlichen Absichten im Kampf gegen den Terrorismus ab und keiner wird mehr mit ihnen zusammenarbeiten wollen.

    Europa ist unser wichtigster Absatzmarkt für Öl und Gas. Nicht nur für den Iran, sondern zum Beispiel auch für Katar oder die USA ist der europäische Markt ein Leckerbissen. Worauf müssen wir uns einstellen?

    Russlands größter Konkurrent auf dem europäischen Gasmarkt sind weder der Iran noch Katar, sondern die alternativen Energiequellen. Wir haben gesehen, dass es in Deutschland bereits 2015 einige Tage gab, an denen mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs durch Wind- und Sonnenenergie abgedeckt wurde. Und die Beschlüsse, die von den Weltmächten auf dem UN-Klimagipfel in Paris Ende letzten Jahres gefasst wurden, sind ein Hinweis auf die enormen Investitionen, die in die alternativen Energien fließen werden. Das sollte uns durchaus beunruhigen.

    Sie sagen, dass Sie keine weltweite Krise erkennen können. Nun behaupten Wirtschaftswissenschaftler wie Sergej Glasjew aber das Gegenteil. Mehr noch, in ihren Augen ist die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise gerade deshalb so tiefgreifend und langanhaltend, weil sie mit dem Übergang in ein neues technisches Zeitalter verbunden ist – und dem Kampf verschiedener Wirtschaftssysteme und Staaten um den Platz an der Sonne. Ist das so?

    Tatsächlich stehen wir am Anfang eines neuen technischen Zeitalters. Dieser Prozess, der sich im Grunde genommen alle paar Jahrzehnte wiederholt, weil der Fortschritt nicht stillsteht, führt zum Einsatz neuer Technologien. Doch die andere Frage ist, wie diese neuen Strukturen mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen. Erinnern wir uns beispielsweise an das Aufkommen der Computertechnik in der ersten Hälfte der 80er Jahre, als Microsoft, Dell und Apple auf den Markt kamen. Auch damals gab es eine Krise, aber nicht wegen der neu aufgekommenen Computertechnik, sondern wegen des von den Arabern erklärten Ölembargos. Also bin ich mir nicht sicher, ob die Krise zwangsläufig der Begleiter eines neuen Zeitalters ist.

    Zu glauben, dass Russland seinen Durchbruch erlebt, das ist auf gewisse Art schizophren

    Was Russland betrifft, so sind Glasjew und seine Freunde aus mir nicht ersichtlichen Gründen der Meinung, dass es eine Chance für Russland gibt, in diesem neuen Zeitalter seinen Durchbruch zu erleben. Das ist auf eine gewisse Art schizophren.
    Denn wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir, dass jede neue Entwicklung, ob das nun Dampfmaschine, chemische Industrie, Fließbandproduktion, Computer oder Biotechnologie sind, dort stattfindet, wo die zuvor existierenden Technologien bis zum Ende ausgereizt worden sind. Das heißt, dass es niemals eine Situation gegeben hat, in der der Maschinenbau in Großbritannien die höchste Entwicklungsstufe erreicht hätte und anschließend Paraguay plötzlich eine führende Rolle in der Computerproduktion gespielt hätte.

    Ich kann kein einziges Indiz erkennen, das auf eine Führungsrolle Russlands im neuen technologischen Zeitalter schließen lässt. Vorreiter dieser neuen Zeit werden erneut die USA, Japan, Kanada, Deutschland und so weiter sein. Eben jene Länder, die das bereits in den vergangenen Jahrzehnten waren. Und das ist eigentlich alles, was es dazu zu sagen gibt.

    Welchen Platz wird Russland in dieser neuen Struktur einnehmen? Besser gesagt, welchen Platz möchte es von sich aus besetzen?

    Jedes Land sollte – abhängig von den vorhandenen Ressourcen – eine Strategie entwickeln, um maximalen Wohlstand zu erreichen. Wenn klar ist, dass man Erdöl hat, sollte man über die 15 Jahre, solange es teuer ist, Mittel einsetzen, um einen neuen Motor zu entwickeln, der die Wirtschaft ankurbelt. Den arabischen Emiraten ist das sehr gut gelungen – heute sind Unternehmen wie die Emirates Airways und der Flughafen Dubai die größten Steuerzahler. Sie haben ein hervorragendes Drehkreuz für den Personen- und Warenverkehr geschaffen und mit Dschabal Ali außerdem einen exportorientierten Fertigungsplatz. Sie haben eine Reihe neuer Städte gebaut, unter anderem Anziehungspunkte für Touristen.

    Russland hat bisher nichts Vergleichbares geschaffen. Und hat das, allem Anschein nach, auch nicht vor. Wir haben uns also selbst die Rolle des Rohstofflieferanten ausgesucht.

    Der Weg, den wir gewählt haben, ist perspektivlos

    Wenn wir bislang so gehandelt haben, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte: Wir könnten entweder westliche Unternehmen zu uns einladen, wie Kasachstan es tut, die Erdölförderung erhöhen, die Produktion weiterentwickeln und sie äußerst flexibel gestalten. Beispielsweise könnten wir entlang aller Küsten Fabriken zur Gasverflüssigung errichten, die weltweit größte Tankerflotte aufbauen und Erdöl- und Erdgaslieferant für die Regionen der Welt werden, die einen extrem dringenden Bedarf haben, und so global eine ausgleichende Funktion übernehmen. Ein Beispiel: Die Preise für Erdöl in Japan sind gestiegen, und wir haben unsere Tanker dorthin geschickt. Das ist eine mögliche Strategie.

    Es gibt auch eine andere Strategie. Und zwar: Überall Pipelines hinverlegen, die Hälfte des aufkommenden Schmiergelds in die eigene Tasche stecken und hoffen, dass sich an der Konjunkturlage nichts ändert. Das ist der Weg, den wir gewählt haben. In meinen Augen ist der absolut perspektivlos.

    Aber es gibt doch in Russland immer noch Menschen, die Hochtechnologien entwickeln und realisieren. IT-Spezialisten aus Russland beispielsweise sind heutzutage im Ausland sehr geschätzt. Existieren bei uns wirklich keinerlei Voraussetzungen oder Möglichkeiten, um in irgendeiner Weise den Anschluss an die neuen technologischen Entwicklungen zu finden?

    Alle diese weltweiten Entwicklungen bilden ein komplexes globales Netz. Das besteht aus den enormen Leistungen von hunderttausenden von Experten auf der ganzen Welt. Auch russische Fachleute können Teil dieses Netzes sein. Entwicklungen müssen sich aber in konkreten Produkten materialisieren. So wie die Computertechnologie in Chips, Mobiltelefonen und so weiter. Die neuen technologischen Entwicklungen werden unter anderem Medizin und Biotechnologie voranbringen. Aber beispielsweise die Nanotechnik ist ja nicht einfach die Ionisierung von Luft. Sie ist Maschinenbau unter Verwendung von Nanoteilchen und Nanozusatzstoffen. Das heißt, man braucht grundlegende Produktionsstrukturen, in die die Innovationen integriert werden. Die gibt es aber in Russland nicht.

    Die USA und China sind nicht nur zwei eng verbundene Volkswirtschaften, sondern auch geopolitische Konkurrenten. Hinzu kommt die Krise: der Zusammenbruch der Börse. Einige Experten sehen das als Vorzeichen für einen Weltkrieg. Denn der Zweite Weltkrieg war ja auch eine Reaktion auf die Große Depression.

    Ja, die weltweite Krise der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts endete mit dem Zweiten Weltkrieg, das ist so. Allerdings brach zum Beispiel der Erste Weltkrieg zu einem Zeitpunkt aus, als der Zustand der Weltwirtschaft ausgezeichnet war. 1913 gab es einen industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung und nichts deutete auf irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen hin. Ich kann keine festen Gesetzmäßigkeiten erkennen, die darauf schließen lassen, dass gerade eine Wirtschaftskrise zu einem Weltkrieg führen sollte.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann

    Daher ist die Vorstellung, dass die Welt an irgendeiner Schwelle zu irgendeinem Weltkrieg stehe, der Versuch, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung zu konstruieren. Und die wird gerade von Ländern und Regionen äußerst aktiv eingesetzt, die sich selbst irgendeine Art von Erschütterung wünschen. So versuchen sie, diese in irgendeiner Weise heraufzubeschwören.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann. Dass man es nicht als Wert an sich anerkennt, wenn auf der Welt alles in Ordnung ist. Ständig möchte man die Ursache irgendwelcher Probleme sein, damit man nur ja nicht übersehen wird.

    Die russische Führung versucht ja ganz offensichtlich, die Situation in verschiedenen Regionen der Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dann bemüht sie sich darum, mit den früheren westlichen Partnern über irgendetwas verhandeln zu können, nach dem Prinzip: Wenn wir nur irgendetwas Garstiges tun, dann werden sie schon gezwungen sein, mit uns zu verhandeln.

    Mit einem Wort: Es geht um die Idee, dass jeden Augenblick ein Krieg ausbrechen könnte. Das ist eine provinzielle Sichtweise, die aktiv von der russischen Propaganda geschürt wird. Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.

    Unser Gespräch hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl. In Ihren aktuellen Artikeln beschäftigen Sie sich immer wieder mit der Emigration der „Bevölkerung mit gesundem Menschenverstand“. Nur: Was tun, wenn es keine Möglichkeit zur Emigration gibt, auch wenn man hundert Mal einen gesunden Menschenverstand besitzt? Protestieren? Den Mund halten? Still und leise Geld für die Ausreise ansparen?

    Emigration, das ist eine schwere Entscheidung. Sie bedeutet, das Haus zu verkaufen und das Geschäft aufzugeben. Und wenn sich Menschen dazu entschlossen haben, darf man sie nicht verurteilen. Nur ist es sehr traurig, dass Russland diese Menschen verliert. Denn genau diese Menschen werden hier gebraucht, Menschen, die bereit sind, etwas auf die Beine zu stellen. Daher rate ich ganz und gar nicht dazu, aus dem Land wegzulaufen.

    Dennoch sehe ich sehr klar, dass sich der Trend zur Emigration verstärkt. Und ich verstehe diese Menschen und respektiere ihre Entscheidung. Und denen, die bleiben, rate ich zu schweigen, denn derzeit gibt es ganz objektiv keine Voraussetzungen dafür, dass sich irgendetwas ändert. Und ich würde derzeit auch niemandem empfehlen, zu versuchen, etwas zu verändern. Probleme gibt es so schon genug, weshalb sich dann auch noch der Verfolgung aussetzen?

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  • Die Untergangs-Union

    Die Untergangs-Union

    In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.

    Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.

    Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.

    Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.

    Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.

    Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.

    Nichts bleibt ohne Folgen

    Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“

    Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.

    Kasachstan zahlt einen hohen Preis

    Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben – sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.

    Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.

    Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.

    Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.

    Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.

    Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.

    Nicht alle lassen sich einspannen

    Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“

    „Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.

    Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.

    Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.

    Die Quadratur der Union

    Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken – wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.

    Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.

    Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz  ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.

    Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.

    Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.

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  • Alles Käse

    Alles Käse

    Die russische Wirtschaft ist stark von Importen abhängig. Das soll sich durch die Politik der Importsubstitution ändern, die u. a. als Antwort auf die westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Dabei sollen nicht nur importierte Industriegüter durch solche einheimischer Produktion ersetzt werden, sondern auch viele Nahrungsmittel. Das ist gerade für den Käse folgenreich.

    Wenn früher die Sowjetbürger von einem Paket aus dem Ausland träumten, schwärmten sie von Jeans und Kaugummi, während der einheimische Fetisch die Wurst war. Heute träumen die Russen nicht mehr von Jeans, Kaugummi und Wurst, sondern von Käse. Westlicher Käse ist vielen Russen lieb und teuer geworden, sich in Käsefragen auszukennen, gilt gerade in den großen Städten als Zeichen von Kultiviertheit und gutem Geschmack. Viel mehr als Träumen bleibt derzeit aber nicht: Importware wird an den Grenzen beschlagnahmt und vernichtet, während der russische Käse in den Läden meistens entweder nicht russisch oder kein Käse ist.

    Seit Anfang letzten Jahres seien 200 Tonnen sanktionierter Lebensmittel aus dem Handgepäck nach Russland einreisender Fluggäste und aus Paketen an Russen beschlagnahmt worden, meldete die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor im November nicht ohne Stolz. In der Pressemitteilung hieß es, dass unsere Landsleute noch nie in der Geschichte der Russischen Föderation so viel Käse importiert hätten – erlaubt sind 5 Kilogramm, doch meistens wird diese Menge überschritten.

    Seit August 2015 werden sanktionierte Lebensmittel vernichtet, wenn sie bei der Einfuhr auf russisches Territorium entdeckt werden. Im Herbst lernten die Russen das Wort „Incinerator“ – so heißen die Öfen, die bei der Verbrennung organischer Abfälle zum Einsatz kommen. Für den anfallenden Käse dachte man sich aber auch andere Vernichtungsmethoden aus. In Belgorod walzte man 9 Tonnen konfiszierten Käse mit einem Bulldozer platt, in Samara vergiftete man Edamer und Tilsiter mit dem Bleichmittel Belisna. Natürlich funktionierte es nicht überall: In Pulkowo wurden 20 Tonnen Käse zwecks Vernichtung beschlagnahmt, doch die Verantwortlichen kamen mit dem Auftrag nicht zurande, und der Käse wurde nicht vernichtet.

    Am bedauernswertesten aber ist gar nicht das Schicksal des importierten, sondern das des russischen Käses. Das Produkt, das beim World Cheese Award schon vorher nicht für Medaillenklimpern sorgte, hat seit dem Beginn der Gegensanktionen hoffnungslos an Qualität eingebüßt, und statt Büffel-, Kuh- oder Schafmilch ist nun Palmöl der meistverwendete Rohstoff.

    Bürgermeisterkäse

    Auf der Straße beim finnischen Konsulat in St. Petersburg tauchte ein Werbeplakat in finnischer Sprache auf. Ein grauhaariges Großmütterchen mit einem Stück Butter auf einem Teller lächelt verschmitzt unter einer Aufschrift, die übersetzt lautet: „Wir können das genau so gut wie ihr.“ Die gleiche Reklame tauchte jeweils auf Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen auch bei Dutzenden anderer Botschaften und Konsulate in St. Petersburg und Moskau auf. Damit wollten die Besitzer der neuen Marke Baba Valja die Konkurrenz auf den Arm nehmen. Der nächste Schritt der Troll-Marke war eine virale Reklame darüber, dass die Oma von den Plakaten, Valentina Konstantinowna, als Qualitätschefin der Firma eingestellt worden sei.

    Der finnische Milchfabrikant Valio findet die Witze dieses Produzenten nicht amüsant: Dem Betrieb zufolge kopiere Baba Valja sein Markenzeichen, die Qualität von Butter, Mayonnaise und Käse sei aber ungleich schlechter. In der russischen Firma erklärt man, dass man es humorvoll möge und nicht vorhabe, mit den Witzen aufzuhören. „Wir werden mit Valentina Konstantinowna auf jeden Fall weitere lustige Aktionen auf die Beine stellen“, kündigt der Vertreter der Firma Stanislaw Alexejew an.

    Auch der neue Käsefabrikant Oleg Sirota – der Schwiegersohn von German Sterligow, einem der ersten russischen Multimillionäre – mag es humorvoll. Er hat die Käserei Russischer Parmesan eröffnet und darauf eine Flagge Neurusslands gehisst und erzählt nun Journalisten, dass er für seine Ziege Merkel auf der Suche sei nach einem Bock Obama. Sirota verhehlt nicht, dass er ohne Embargo nicht in dieses Business eingestiegen wäre, und ist voll des Lobes über die Gegensanktionen. Die Eröffnung der Fabrik war sogar auf den Jahrestag der Sanktionen abgestimmt. „Mein größter Alptraum ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden könnten“, hat Sirota in Medieninterviews mehrmals gesagt.

    Der leidenschaftliche Imker und ehemalige Bürgermeister Moskaus Juri Lushkow hat ebenfalls bekanntgegeben, dass er auf seinem Bauernhof in der Oblast Kaliningrad mit der Herstellung von Pendants europäischer Spitzenkäse beginnen will. Und dass die erste Sorte zu Ehren seiner Gattin Elena Baturina vielleicht Elena heißen wird. Wobei auch eine zweite, für die Käufer verständlichere Namensvariante in Erwägung gezogen werde – Lushkowski.

    Die in der Käseproduktion führende Region Altai meldet ein so starkes Produktionswachstum, dass es dort unterdessen an Rohmilch fehlt. Letztes Jahr wurden in diesem Gebiet 72.000 Tonnen Käse erzeugt – 16 Prozent der gesamten russischen Produktion. Dieses Jahr ist das Käsevolumen um ein Drittel gewachsen. Übrigens hat der Ankauf von Rohmilch und der dann erfolgende Weiterverkauf an verarbeitende Betriebe letztes Jahr einige Bewohner der Gegend zu Milliardären gemacht. In der Region Altai gibt es davon jetzt fünf, früher war es nur einer.

    Insgesamt wuchs die Käseproduktion im ganzen Land im vergangenen Jahr um mehr als 21,6 Prozent. Auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht bei allen 500.000 Tonnen russischen Käses tatsächlich um Käse handelt.

    Ein spezielles Rezept

    Der Importkäse verschwand nach der Bekanntgabe der Gegensanktionsmaßnahmen vom 7. August 2014 nicht sofort aus den russischen Theken – es waren Vorräte für einige Monate vorhanden, die dann allmählich zur Neige gingen. Eine Zeitlang lief der Verkauf durch das Thema „laktosefrei“ weiter. Zur Erinnerung: Laktosefreie Milchprodukte fallen nicht unter das Embargo, und bei den meisten Hartkäsesorten muss nicht einmal groß getrickst werden, weil sie aufgrund ihrer besonderen Herstellung laktosefrei sind. Doch dieses Schlupfloch wurde im Juni 2015 bei der Verlängerung des Embargos gestopft. Daraufhin versuchten die Einzelhändler zu beweisen, dass das Antisanktionsgesetz nur die Einfuhr von Käse nach Russland verbietet, nicht aber den Verkauf – und dem Petersburger Supermarkt Magnit gelang es sogar, eine Buße von 30.000 RUB [360 EUR] wegen des Verkaufs von französischem Schafskäse anzufechten. Dennoch beschlagnahmte der föderale Verbraucherschutz weiterhin Waren in den Läden, und Pawel Sytschew, erster stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaftlichen Kammer zur Unterstützung von Familie, Kindern und Mutterschaft, regte sogar an, das Verkaufen sanktionierter Ware mit Gefängnis zu bestrafen. Der Vorschlag wurde bislang nicht umgesetzt, aber im Herbst gelangte deutlich weniger „verbotenes Gut“ in die Supermarktketten. Importierter Käse kommt zum größten Teil (81 Prozent) aus Weißrussland, den Rest machen teure Käse aus der Schweiz, Argentinien und einigen anderen Ländern aus.

    Nach einer Analyse der in den Regalen verbliebenen Käsesorten erklärte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde in einer offiziellen Pressemeldung unerwartet, dass 78,3 Prozent der Produkte Imitate seien. Später präzisierte die Behörde, die Untersuchung sei noch nicht allzu aussagekräftig: Spezialisten hätten 23 Käseproben überprüft und in 18 von ihnen Pflanzenfette gefunden.

    Das Ministerium für Landwirtschaft vertritt seinerseits die Meinung, der russische Käse sei durchaus von guter Qualität, nur 10 bis 15 Prozent seien Imitate; nach Angaben des nationalen Milchindustrieverbands Sojusmoloko wiederum sollen es 15 bis 20 Prozent sein.

    Das Grundproblem ist das Fehlen der nötigen Milchmengen. „Es hat sich gezeigt, dass die Produzenten nicht in der Lage sind, den Import von Käse zu kompensieren, dessen Marktanteil sich vor dem Embargo auf rund 50 Prozent belief, weil sie nicht genug Rohmilch guter Qualität bekommen, aus dem man diesen Käse herstellen könnte“, lautet das Fazit des Geschäftsführers von Sojusmoloko, Artjom Below. Im Jahr 2015 seien in Russland insgesamt 30,5 Millionen Tonnen Milch produziert worden, der Markt hätte aber 8,5 Millionen Tonnen mehr benötigt, stellte man im Fachverband fest.

    Anstelle von Milch setzen die russischen Käsefabrikanten daher nun munter Pflanzenfette ein, sprich Palmöl. Der Import nahm 2015 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zu, im November überstieg er die 700.000-Tonnen-Marke.

    Palmöl ist zwar nicht schädlich (in Malaysia zum Beispiel hält man es sogar für gesund), aber nach der Fülle an echten Milchprodukten vor dem Embargo hat man irgendwie keine große Lust auf milchfreien Käse. Deshalb essen die Russen nun einfach ein bisschen weniger Käse. „Die Nachfrage nach Käse ist leicht gesunken, um 1 bis 1,5 Prozent, es gibt aber noch keine genauen Zahlen“, sagt der Milchmarkt-Analyst des Moskauer Forschungsinstituts für Agrarmarktkonjunktur IKAR, Wadim Semikin.

    Es fehlt indessen nicht nur am Rohstoff, sondern auch an Erfahrung in der Produktion von Hartkäse. Für Milchverarbeiter ist der ein anspruchsvolles Produkt: Er muss monate- und manchmal jahrelang reifen, und für 1 Kilogramm Hartkäse braucht es 8 bis 10 Kilogramm Milch von guter Qualität (ganz zu schweigen von den nötigen Fertigkeiten, die man sich nicht in ein paar Monaten aneignet). Das bedeutet, es braucht viel Zeit, bis die teure Herstellung sich rentiert – eine kleine, gute Produktionsstätte kostet gut und gern 50 Millionen RUB [600.000 EUR]. Kein Wunder, dass die Leute nicht Schlange stehen, um im großen Stil in die Herstellung von Qualitätskäse einzusteigen – die Einrichtung und viele Zutaten stammen aus dem Ausland und müssen für immer teurer werdende Euro und Dollar importiert werden, und die Zinssätze für Kredite bewegen sich im Bereich der 20-Prozent-Marke.

    Kurz und gut, von den einheimischen Käsefabrikanten erwartet man besser keinen russischen Parmigiano Reggiano, bei dem für die Herstellung eines Laibs eine halbe Tonne Rohmilch sehr guter Qualität benötigt wird. Zumal die Milch dazu nicht pasteurisiert werden darf, was die russischen Aufsichtsorgane nie und nimmer zulassen würden. Da ist es einfacher, Palmöl zuzusetzen oder die gewohnten russischen Sorten herzustellen – Altaiski, Kostromskoi oder Rossiski. Dabei behaupten die Käseproduzenten selbst allesamt, gerade ihr Käse sei wirklich gut, und der größte Troll der Käseindustrie Valentina Konstantinowna zeigt sich durchaus angriffslustig: „Es sind doch die Schweizer, die das mit dem Palmöl machen – unser russischer Käse ist der beste. Das spüre ich am Geschmack.“

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  • Presseschau № 13: der Ölpreis

    Presseschau № 13: der Ölpreis

    Diese Woche: Der Ölpreis erreicht ein Rekordtief und animiert die Wirtschaftspresse zu immer düstereren Prognosen. Der sinkende Rubelkurs lässt die Bevölkerung unter weiter steigenden Preisen ächzen. Und ein Verkehrspolizist im Südural wird bei einem Schneesturm zum Volkshelden.

    Ölpreis. Zum Jahresanfang bekam Russland den Horror in Form einer einfachen Zahl: 30. So wenige Dollar bringt gegenwärtig ein Barrel Rohöl ein – und die russische Sorte Urals noch weniger: Als es am Dienstag nur noch 27,4 Dollar waren, betitelte das wirtschaftsliberale Leitmedium Vedomosti Russlands Wirtschaftslage bereits mit „Zwischen Stress und Schock“. Schließlich liegt der Ölpreis inzwischen nochmals 20 Prozent niedriger als vor einem Monat – und somit deutlich unter jenen Werten, die vor kurzem nur in Stresstests von Ökonomen vorkamen. Inzwischen unterbieten sich Börsianer und Großbanken mit pessimistischen Prognosen, wie tief der Preis fürs Schwarze Gold noch sinken könnte: 25 Dollar, 20 Dollar, 10 Dollar…? Parallel schwindet der Wert des Rubels weiter – mit einem Dollarkurs von 77 Rubel und dem Euro knapp unter 84 Rubel wurden Kurse erreicht, die es bisher nur einmal gab: Am 16. Dezember 2014, jenem Tag, als am russischen Finanzmarkt vorübergehend totale Panik ausbrach.

    Der Preis des Dollars könnte 2016 durchaus auf 90 bis 100 Rubel steigen, so das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg in seiner Ölschock-Analyse. Das ist allenfalls für Russland-Fans, die eine Reise dorthin planen, eine gute Nachricht: Von der Kaufkraft her ist der Rubel jetzt schon 69 Prozent unterbewertet, so jedenfalls die jüngste Ausgabe des berühmt-berüchtigten BicMac-Index von  The Economist. Oder, wie es RBC.ru anschaulich formuliert: Zum Preis einer Doppelstock-Bulette in den USA gibt es in Russland drei Stück.

    Nicht nur Russlands wirtschaftliches Wohlergehen, auch der Staatshaushalt ist von den Öleinnahmen abhängig. Das Budget für 2016 ist aber auf einen Durchschnittswert von 50 Dollar je Barrel ausgelegt. Als erste Konsequenz hat die Regierung für alle Ressorts eine 10-prozentige Haushaltskürzung verkündet. Wenn diese und weitere Sparmaßnahmen nicht greifen, befürchtet selbst Finanzminister Anton Siluanow eine heftige Abwertung des Rubels „wie in der Krise 1998“. Doch radikales Sparen ohne grundlegende Reformen hält das ans üppige Ölgeld gewöhnte System nicht aus. „Das ist, als wenn man einem übergewichtigen Menschen ein Bein abschneidet, anstatt ihn auf Diät zu setzen“, warnt Vedomosti.

    Inflation. Diät halten müssen zwangsweise bereits viele russische Bürger: Die Inflation war im letzten Jahr mit 15,5 Prozent doppelt so hoch wie im Vorjahr. Berücksichtigt man nur die Lebensmittelpreise, betrug die Teuerung nach amtlichen Daten sogar 20,8 Prozent. Ein kinderreicher Preis-Scout der Novaja Gazeta beteuert hingegen, dass seine Kassenbons zum Jahresende um 50 Prozent höher lagen als im Jahr zuvor – „und parallel zur Inflation gibt es Lohnkürzungen in allen Branchen“. Anders als in der Krise 2008 wachse jetzt die Armut im Lande, auch wenn der Staat verspreche, die Sozialleistungen zu garantieren, kritisiert Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – dem viele russische Medien um den Jahreswechsel eine anstehende Rückkehr in ein Regierungsamt nachsagten. Vorerst dementiert er das.     

    Angesichts der dramatischen Entwicklung hat Russlands Staatsmacht aber schon ihre Kommunikationsstrategie geändert – und schwört nun ihr Volk auf schwere Zeiten ein. Noch in einem Anfang der Woche veröffentlichten großen Interview mit dem deutschen Blatt Bild hatte Wladimir Putin die heilsame Wirkung des Wegbrechens der Öleinnahmen betont und Optimismus verbreitet. Inzwischen hat er seine Regierung darauf eingeschworen, angesichts der abstürzenden Rohstoffmärkte und Börsen „auf jede beliebige Entwicklung vorbereitet“ zu sein. Das klingt nach erhöhter Alarmstufe. Auf der Webseite des Kreml ist das Gespräch der Springer-Leute mit dem Präsidenten übrigens nicht nur ausführlicher dokumentiert (eine deutsche Übersetzung gibt es bei russland.ru), sondern partiell auch mit weichgespülten Journalistenfragen garniert, stellte gazeta.ru bei einem Vergleich der Texte fest.

    Schneesturm. Was hilft am besten durch harte Zeiten? Aufopferung und Nächstenliebe. Prompt rührt ein Beispiel dafür die russischen Medien momentan ganz besonders: Anfang Januar tobte über dem Südural ein Schneesturm. Auf der Straße von Orenburg nach Orsk wurden 50 Autos von den Schneemassen verschluckt. Die Rettungsaktion verlief zäh und dauerte sträflich lange. Ein Mensch erfror, deshalb läuft ein Ermittlungsverfahren.  Doch unter den Helfern vor Ort war auch der Verkehrspolizist Danila Maksudow. Einem elend frierenden Mädchen gab er seine Jacke, einem jungen Mann überließ er seine Handschuhe – und ging wieder in den Sturm hinaus, Leute retten. Nun liegt er mit Erfrierungen an den Händen im Krankenhaus. Patriarch Kirill lobte den 25-Jährigen Helden als Vorbild – und forderte auf, für dessen Genesung zu beten.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Presseschau № 5

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    Presseschau № 10

    Presseschau № 11

  • Presseschau № 10

    Presseschau № 10

    Kleine Erfolge und größere Einschränkungen beschäftigen diese Woche die russischen Medien: LKW-Fahrer erringen einen Teilerfolg nach wochenlangen Protesten gegen die Maut. Die Luftfahrtbranche leidet dagegen unter den Beschränkungen im Flugverkehr und der immer weiter sinkende Ölpreis hemmt die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem: Ein erstes Urteil aufgrund des verschärften Versammlungsrechts – eine Vorausschau auf das Wahljahr 2016?

    Ölpreis drückt Rubel. Krieg in Syrien, Trouble mit der Türkei, Dauerknatsch mit der Ukraine  – und jetzt auch noch das: Der für Russlands Wohl und Wehe maßgebliche Ölpreis ist massiv in den Keller gegangen: Am Dienstag sackte der Preis für ein Barrel Brent auf  38 Dollar ab – und ist damit wieder so niedrig wie Ende 2008/Anfang 2009 während der großen Ölpreiskrise.

    Fast zwangsläufig rutschte dadurch auch der Kurs der russischen Währung ab: Der Euro kletterte über 76 Rubel, der Dollar-Kurs marschiert in Richtung seines historischen Höchststandes von knapp über 70 Rubel. Gegen den Rubel arbeiten gegenwärtig neben dem Ölpreis auch noch eine ganze Reihe von Faktoren, etwa die erwarteten Zinserhöhungen in den USA und die zum Jahresende fällig werdenden russischen Auslandsschulden, schreibt der Kommersant.

    Insofern ist es ziemlich fraglich, ob der von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew für 2016 prognostizierte Dollarkurs von im Schnitt 60,8 Rubel und die Rückkehr zu einem leichten Wirtschaftswachstum von circa 1 Prozent noch im Rahmen des Möglichen liegt – denn dazu bräuchte es einen Ölpreis im Bereich von 50 bis 60 Dollar.  Doch der wird noch lange bei 50 Dollar oder niedriger liegen, glaubt Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – und findet das gar nicht schlecht: Für Russland sei das immerhin ein Stimulator für Reformen.

    2015 wird Russland – vorrangig wegen der niedrigen Ölpreise – einen Rückgang der Wirtschaft um 3,9 Prozent verbuchen müssen.  Die Realeinkünfte der Russen lagen im Oktober um 5,6 Prozent niedriger als im Vorjahr, die Gehälter sogar um 10,9 Prozent – der Kreml hält das für nicht dramatisch.  Die Inflation erreicht unterdessen 12 Prozent.

    Heftiger gebeutelt hat der Discount-Preis fürs Schwarze Gold 2015 nur Venezuela, so fontanka.ru – und da hatte der herrschende Autokrat Nicolas Maduro gerade bei Parlamentswahlen eine heftige Niederlage erlitten und seine Regierung entlassen. Apropos, auch in Russland sind im September Dumawahlen

    Haft für Demos. Erstmals ist in Russland ein Oppositionsaktivist nach dem kürzlich verschärften Demonstrationsrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden: Ildar Dadin muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil er laut Gericht letztes Jahr in Moskau innerhalb von weniger als 180 Tagen vier Mal an gewaltfreien, aber nicht genehmigten Protestaktionen teilgenommen hat. Dadin gibt hingegen an, dass er in drei der vier Fälle allein demonstriert habe, was keiner Genehmigung bedürfe.
    Die Zeitung Vedomosti zitiert Experten mit den Worten, dass dieses Urteil „Furcht vor Anbruch des Wahljahres verbreiten“ soll: „Politische Protestaktionen werden gefährlich“. Das Publikum im Gerichtssaal reagierte auf das Urteil mit einem Tumult, weil die Strafe sogar um ein Jahr länger ausfiel als von der Anklage gefordert. Drei weitere Prozesse gegen andere Protest-Aktivisten laufen noch, darunter auch gegen den 75 Jahre alten Wladimir Ionow. In seinem Fall fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre auf Bewährung und ein Verbot, seinen Wohnort Ljuberzy im Moskauer Umland zu verlassen.

    Streit um LKW-Maut. Es ist aber auch nicht so, dass in Russland jegliche Proteste unterdrückt würden und nichts bringen: Das bewiesen die seit Wochen gegen das Mautsystem Platon demonstrierenden Spediteure und Fernfahrer: Nachdem Wladimir Putin in seiner jährlichen Programm-Ansprache vor beiden Parlamentskammern nicht auf das Thema eingegangen war, legten die in einer Sternfahrt auf Moskau angerückten Trucker ein Teilstück der Moskauer Ringautobahn lahm. Faktisch zur gleichen Zeit kassierte die Duma mit einer Änderung des Bußgeldkatalogs immerhin einen der Hauptkritikpunkte an der Lkw-Maut: Die existenzgefährdenden Strafsätze bei Mautverstößen wurden um 99 Prozent zusammengekürzt. Die Maut als solche soll aber beibehalten werden – auch wenn inzwischen 20 Verbände von Lebensmittelherstellern und –händlern unisono vor Lieferengpässen und einem zusätzlichen Inflationsschub warnen – als gäbe es, wie schon geschildert,  nicht genug Krisenfaktoren im Land.

    Luftfahrt-Krise. Starke ökonomische Turbulenzen erschüttern auch die russische Luftfahrtbranche – und 2016 kann eigentlich nur schlimmer werden, berichtet der Kommersant: Bislang war zwar das Passagiervolumen konstant, da mehr Inlandsflüge die weniger gefragten Auslandsverbindungen ersetzen. Doch Geld verdienen die Airlines nur im internationalen Verkehr. Aber seit kurzem sind fast alle Flüge in die beiden populärsten Destinationen Türkei (Sanktionen) und Ägypten (Sicherheitsbedenken) sowie in die Ukraine (gegenseitige Flugverbote) gecancelt. An den Moskauer Flughäfen machen diese Destinationen allein ein Fünftel aller Flüge aus. Und schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres buchten die zum Sparen gezwungenen Russen über 30 Prozent weniger Auslandsurlaube.

    Umgekehrt wird natürlich auch ein Filzstiefel draus: Die Russen erholen sich mehr im eigenen Land – wobei sie sich teure Ziele wie St. Petersburg kaum leisten können. Der Chef der russischen Tourismusbehörde Oleg Safonow erklärte in einem Interview mit der Rossijskaja Gazeta gar, das Bedürfnis nach Strand und Meer, und erst recht nach All-inclusive-Ferien in der Türkei, sei ein „aufgedrängtes Stereotyp der letzten Jahre“. Früher seien ja auch selbst wohlhabende Russen nicht massenhaft ans Meer gefahren. Und selten für einen heutigen russischen Beamten: Er bezeichnete die US-Bürger als vorbildhaft, urlauben sie doch zu 80 Prozent innerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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  • Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher, stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) und Mitglied beim Komitee für Bürgerinitiativen, sprach mit der Novaya Gazeta über die drohende Krise beim Rentensystem und Russlands Verortung in der modernen Welt. Seine Diagnose: Russland versäumt dringend notwendige Reformen und könnte so hinter das wirtschaftliche Niveau von anderen Regionalmächten wie Indien oder Brasilien zurückfallen. Die Senkung des Rentenanpassungssatzes ist bereits aufgrund von Sparmaßnahmen im Haushalt nicht mehr zu verhindern, nur die konkreten Zahlen sind noch fraglich. 

    Bei einer faktischen Inflationsrate von 11,9 % wird innerhalb der Regierung gestritten: Soll man die Renten um 4,5 % erhöhen oder doch um 7 %, dann aber den vermögensbildenden Anteil erneut konfiszieren. Was könnte ein derartiger Schlag gegen die Rentner nach sich ziehen – einer für die Regierung nach wie vor wichtigen Wählerschaft?

    Bereits in diesem Jahr sinkt das reale Rentenniveau, obwohl im Februar eine Anhebung in Höhe der Inflation des vergangenen Jahres durchgeführt wurde – 11,4 %. Wobei die Rentner in gewisser Hinsicht eine eigene Inflation haben: Ihr Warenkorb sieht anders aus als der, nach dem die offizielle Inflation berechnet wird. In diesem Warenkorb finden sich naturgemäß mehr Lebensmittel, in der Regel einfachste Grundnahrungsmittel, höher ist der Anteil der Ausgaben für Medikamente. Die Preissteigerungen bei diesen Waren lagen sowohl in diesem wie im letzten Jahr über dem Durchschnitt. Der Warenkorb des russischen Amtes für Statistik Rosstat bezieht sich gesellschaftlich gesehen auf die gehobene Mittelklasse: Es finden sich darin Fleisch- und Fischdelikatessen, relativ teure Kleidung und Dienstleistungen, die viele Rentner nicht in Anspruch nehmen.

    Nun zum nächsten Jahr. Ich denke, die Sache ist so gut wie entschieden – die Rentenerhöhung zu Beginn des Jahres 2016 wird unterhalb der faktischen Inflation liegen. Wir gehen zu einer Rentenanpassung über, die sich nach der prognostizierten Inflation richtet. So war das bereits Ende der 90er Jahre, als die wirtschaftliche Lage sehr kritisch war. Das ist übrigens interessant, weil die Regierung damit indirekt gesteht, dass wir, was die Wirtschaftslage betrifft, in die damaligen Zeiten zurückgekehrt sind. Wobei die Regierung sehr optimistisch in die Zukunft blickt: Für das nächste Jahr wird uns eine Inflationsrate von 7 % vorausgesagt, für das Jahr 2017 sogar nur 4 %. Doch bislang geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung.

    Unter den Rentnern gibt es verschiedene Gruppen: Zum Beispiel gibt es Arbeitnehmer, die neben der Rente ein Einkommen haben. Dies sinkt real zwar auch, aber immerhin haben diese Rentner zusätzliche Einkünfte. In Russland allein von der Rente zu leben ist, gelinde gesagt, sehr schwierig. Zu dieser Gruppe zählt etwa ein Drittel aller Menschen im Ruhestand – ihr Lebensstandard verschlechtert sich ebenfalls, aber sie gelangen nicht an den Punkt, wo das Leben zum Überlebenskampf wird. Außerdem lebt ein beträchtlicher Teil der Rentner bei der Familie, das hat sich in Russland historisch so entwickelt. In den USA und in Europa leben die Generationen nicht zusammen und wirtschaften getrennt. In Russland ist das wegen des Mangels an erschwinglichem Wohnraum für junge Menschen und dank bestimmter kultureller Traditionen anders. Das mildert die Situation teilweise etwas. Am schlimmsten wird es alleinstehende Rentner und Rentner-Ehepaare treffen – das sind etwa 15–20 % aller alten Menschen.

    Die heutigen Rentner gehören in ihrer Mehrheit zu den ersten Nachkriegsgenerationen. Sie haben sich eine noch aus der Sowjetzeit stammende Widerstandskraft angeeignet: Immer das Schlimmste zu erwarten. In den Genuss eines mehr oder weniger guten Lebens sind nur die jüngeren Generationen gekommen, die in den 90er Jahren irgendwie den Wechsel geschafft, ein Geschäft gegründet haben und dann in den 2000ern auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen sind. Es entstand  eine Mittelschicht. Deren Angehörige sind bisher nicht an eine konstant sinkende Lebensqualität gewöhnt. Die älteren Generationen erinnern sich noch allzu gut und reagieren in diesem Sinne weitaus flexibler auf die Krise.

    Sind die anhaltenden Debatten über das Schicksal der Rentenrücklagen und seit einiger Zeit auch über die Rentenanpassung gewöhnliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden mit unterschiedlichen Funktionen oder ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Regierung angesichts der Haushaltskrise?

    Sie sind eine direkte Folge der Krise, die bereits 2008 begonnen hat. Nach einer kurzen regenerativen Wachstumsphase geht es bei uns wieder bergab. Das Problem ist sehr einfach: Unser Rentenfonds geht ohne die Unterstützung aus föderalen Haushaltsmitteln am Stock. Der föderale Transfer in den Rentenfonds beträgt mehr als eine Billion Rubel [14,3 Milliarden Euro], und er wächst von Jahr zu Jahr. Für das Staatsbudget ist das eine gewaltige Last, besonders angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums.

    2012–2013 wurde deutlich, dass das bestehende Wirtschaftsmodell ausgereizt ist, aber Reformen durchführen wollte niemand, also war die Regierung meines Erachtens vor eine rein pragmatische Aufgabe gestellt: Die Sozialleistungen mussten leicht gedrückt werden. Denn dem Staatshaushalt geht es ja schlecht, er muss Geld für die Verteidigung und andere wichtige Dinge ausgeben. Da hat man sich dann ein Punkte-Modell ausgedacht: Rein formal wird der Rentenfonds in zwei bis drei Jahren zur Selbstfinanzierung übergehen. Der Gegenwert der Punkte wird ausgehend von den Gesamteinnahmen des Fonds berechnet. Der fetteste Happen ist unter diesen Bedingungen der vermögensbildende Anteil mit 6 Prozentpunkten des Rentenbeitrags, die aus dem Solidaranteil unseres Rentensystems abgezogen werden, wenn die Auszahlung der Renten aus den laufenden Beiträgen der Arbeitnehmer erfolgt. Paradoxerweise kamen gerade die Ministerien mit sozialem Portfolio in Versuchung, diesen Anteil aus dem Solidarsystem zu entnehmen. Für gewöhnlich kennt man einen derartigen Appetit vom Finanzministerium, das sich um das Haushaltsgleichgewicht zu kümmern hat. In diesem Fall entschied sich das Finanzministerium aber für ein vor allem strategisches Vorgehen. Und legte Protest ein, als die Idee aufkam, den vermögensbildenden Anteil zu liquidieren, indem man ihn sozusagen in die laufenden Ausgaben des Rentenfonds einfließen lässt. Zumindest im Moment sieht es so aus, als würden die Zentralbank und das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung sowie die Mehrheit der unabhängigen Experten diese Position des Finanzministeriums teilen.

    Der vermögensbildende Anteil bleibt also fürs Erste erhalten, aber im föderalen Haushalt gibt es schon jetzt kein Geld mehr für nichts, deshalb werden wieder Stimmen lauter, ihn das dritte Jahr in Folge einzufrieren. So gesehen hat das Finanzministerium also keinen endgültigen Sieg eingefahren, denn alleine die Tatsache des Einfrierens diskreditiert das gesamte Rentensystem in höchstem Maße. Es bedeutet, dass es keinerlei Spielregeln gibt. Menschen, die 1966 und später geboren wurden, wissen schlicht nicht, was sie tun sollen, denn das Vertrauen in die Renteninstitute war ohnehin nicht sehr stark. Aber das Ersparte ist ja nicht einfach irgendwo auf den Konten eingefroren – es existiert gar nicht mehr. Und diese zig hundert Milliarden Rubel müssen irgendwie wieder her.

    Der Erhalt des vermögensbildenden Anteils wurde offenbar aus dem Grund durchgesetzt, dass man auf ein Wirtschaftswachstum im Jahr 2016 setzte – damals waren die Prognosen noch entsprechend. Heute wird von Seiten der Makroökonomie auf der Idee des vermögensbildenden Anteils ziemlich herumgehackt. Die aktuellen Zahlen für den August zeigen: Die Produktivität der Wirtschaft sinkt, und es geht weiter abwärts. Selbst die offizielle Prognose verspricht einen Anstieg des BIP erst für 2017 – und das ist ein sehr optimistisches Szenario. Übrigens, 1–2 % Wirtschaftswachstum ändern rein gar nichts.

    Das Finanzministerium ist in eine schwierige Lage geraten: Ein weiteres Einfrieren des vermögensbildenden Anteils wird das Vertrauen der Menschen in das Einlagesystem endgültig zerstören, und dann wird man im Arbeits-, Gesundheits- und Bildungsministerium wieder davon sprechen, dass es ratsam wäre, ihn komplett abzuschaffen. Man wird entweder anstelle dieses Anteils staatliche Verpflichtungen erbringen müssen – zum Beispiel Anleihescheine erstellen, sie den Leuten geben und ihnen sagen, dass sie ihr Geld in 20 Jahren wiederbekommen. Genau wie damals bei den Abgaben für die Sanierung von Wohnungen wird das Schicksal dieser Mittel absolut ungewiss sein.

    Sehen Sie, in einem Land, in dem es keine vernünftigen Institutionen gibt, in dem die Wirtschaft absolut archaisch ist, kann man unmöglich einen einzelnen Bereich nehmen und dort effektive Reformen durchführen.

    Wie stehen die Chancen, dass zur Senkung des Rentenanpassungssatzes und einer erneuten Konfiszierung des vermögenswirksamen Anteils im nächsten Jahr auch noch eine Anhebung des Renteneintrittsalters hinzukommt?

    Das Rentenalter erhöhen wird ganz offensichtlich im nächsten Jahr niemand. Das Finanzministerium sondiert nur die Lage und bringt die Diskussion innerhalb der Regierungskreise wieder in Gang, wenn auch diesmal öffentlich. Aber alle wissen sehr gut, dass ein Anheben des Renteneintrittsalters einer enormen Vorbereitung bedarf. Früher oder später wird das in Russland natürlich geschehen, aber vorher müsste man das Frühberentungssystem umstrukturieren. Wenn man das Rentenalter anhebt, werden die Menschen mit 60 (Männer) und 55 (Frauen) einfach Erwerbsunfähigkeit anmelden und so weiterhin dieselbe Rente bekommen. Auch mit dem Arbeitsmarkt muss etwas geschehen, denn wir haben viele arbeitende Rentner. Im Moment kann man mit einer kleinen Rente plus einem kleinen Einkommen im Rentenalter wenigstens irgendwie existieren, ohne täglich einen Überlebenskampf zu führen. Aber wenn wir das Rentenalter anheben und diesen Menschen ihre Rente auch nur für 2–3 Jahre wegnehmen, dann erschaffen wir schlicht eine neue Gruppe von Armen. Schließlich rein pragmatisch gesehen: Die Machthaber im Land, jedenfalls die Politiker unter ihnen, agieren im Rahmen von Wahlperioden. 2016 gibt es wieder Dumawahlen, die die Partei Einiges Russland unbedingt gewinnen will, und 2018 Präsidentschaftswahlen, an denen Wladimir Putin sehr wahrscheinlich teilnehmen wird. Deshalb wäre ein Beschluss über die Anhebung des Renteneintrittsalters zum 1. Januar 2016 ein Schlag in die Magengrube der Regierung. Solch eine Maßnahme würde äußersten Unmut in der Bevölkerung auslösen.

    Die gesamte aktuelle Sozialstatistik – angefangen bei der Zahl von Russen, die unter der Armutsgrenze leben, bis hin zur Sterblichkeitsrate – sieht ziemlich düster aus. Wie weit ist Russland hinsichtlich der Lebensqualität in die Vergangenheit zurückgeworfen?

    Es gibt den Begriff des Lebensstandards – das sind konkrete Parameter von Einkommen und Konsum. Und es gibt den Begriff der Lebensqualität – das ist ein bisschen was anderes. Manchmal ist alles eigentlich ganz gut, aber glücklich ist man nicht. Bei uns haben die Menschen intuitiv schlechte Erwartungen an die Zukunft. Momentan leben 16 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und doch sind soziale Notstände nicht einmal in der Provinz offenbar: Auf den Straßen laufen keine hungernden Menschen herum. Aber eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung hat eine pessimistische Einstellung. Alle erwarten eine Verschlechterung der Situation, Arbeitslosigkeit rangiert ganz vorne auf der Liste der negativen Erwartungen.

    Ein sehr beunruhigendes Syndrom ist der Selbstwert-Verfall in der Bevölkerung. Wenn die Menschen anfangen, sich selbst in ihren Ansprüchen an dieses Leben zu beschränken, dann hören sie faktisch auf, sich selbst wertzuschätzen. Dann laufen sie eben in Wattejacken herum, ernähren sich von Kartoffeln und Wodka, ist doch schnurz. Das ist eine Form der Zerrüttung, die in Russland sehr weit verbreitet ist, besonders in der Provinz. Diese Menschen werden von sich aus bestimmt nichts in Gang setzen. Da muss erstmal jemand anders anfangen und alles rundum demolieren, dann rennen sie vielleicht in die Läden und schleppen Lebensmittel raus, aber es muss eben erstmal jemand anfangen. Dieser Selbstwert-Verfall, die Verschlechterung der Lebensqualität – das bedeutet für und in unserem Land die Konfiszierung der Zukunft.

    Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Regierung? Vor progressiven Reformen hat sie pathologische Angst. Andererseits heißt es, ein reaktionäres Szenario, eine Glasjewschtschina mit staatlicher Regulierung der Preise und totaler Isolation würde vorerst „nicht der offiziellen Position des Kreml entsprechen“ [Zitat Dimitri Peskow – dek] …

    Die Regierung fürchtet alle Reformen – sowohl glasjewsche als auch ansatzweise liberale. Reformen sind Risiken. Wenn man sie anstößt, begibt man sich stets in ein Meer von Ungewissheit. Und zum Umschiffen der Riffs in diesem Meer braucht es ein relativ hohes Maß an Professionalität, die unserer Regierung fehlt. Zur Zerrüttung der Menschen, von der ich sprach, kommt es ja nicht nur im Volk, sondern auch in Regierungskreisen. Die Qualität der Staatsführung ist heute sogar auf föderaler Ebene unter aller Kanone. Von Diebstahl und Korruption spreche ich erst gar nicht.

    Nehmen Sie zum Beispiel die Einführung des einjährigen Haushaltsplans. Damit haben sie doch ihre eigene Hilflosigkeit unterzeichnet: Sie sind nicht in der Lage, wirtschaftliche Prozesse zu steuern, haben keinen Einfluss auf sie. Das einzige, was sie können, ist dazwischenfunken, sich drei Kopeken krallen und wieder abhauen. Die Regierung wird die Situation bis zum Letzten bewahren, wie sie ist, und sich dabei auf das große Geduldspotential der Menschen stützen. Ändern kann sich die Situation nur durch höhere Gewalt.

    Wenn die höhere Gewalt ausbleibt, werden wir dann einen schleichenden Übergang Russlands in die Reihen der Außenseiterstaaten beobachten?

    Im Moment gibt es in der Welt drei Supermächte: USA, China und die EU. Sie haben globale Interessen und können auf Vorgänge an jedem beliebigen Ort der Welt Einfluss nehmen. Dann gibt es Regionalmächte: Indien, Brasilien, Nigeria, Indonesien, Japan und nach wie vor Russland. Es gibt auch Länder mit einem niedrigeren, dritten Status: zum Beispiel Argentinien, Venezuela, Ägypten. Trotz ihrer Größe und ihres Potentials befinden sie sich in einer permanenten sozio-ökonomischen Krise und haben selbst in ihrer Region keinerlei ernsthaften Einfluss auf das Geschehen. Und dann gibt es failed-states wie Somalia oder Syrien, wo es überhaupt keinen Staat gibt. Wir laufen Gefahr auf die dritte Ebene zu rutschen und dann, wenn es so weitergeht, auch noch tiefer. Das Einzige, was uns noch im jetzigen Status hält, sind die nuklearen Waffen und das Veto-Recht beim UNO-Sicherheitsrat. Aber der Abstieg in der Welthierarchie läuft dennoch und die Prognosen sind bisher negativ. Nicht einmal, was die Zahlen betrifft, sondern in Bezug auf die Lebensqualität, die Qualität des menschlichen Kapitals.

    Eine derartige Situation braucht systemische, tiefgreifende Veränderungen. Ich bin nicht sicher, ob das Land im Moment die Ressourcen dafür hat. Das Volk bleibt stumm, alles liegt bei den Eliten. Aber auch da sind die Menschen in erster Linie daran interessiert, Kontrolle über die Finanzströme zu behalten. Das ist eine sehr schwierige historische Falle, aus der ich momentan keinen Ausweg sehe.

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  • Banja, Jagd und Angeln …

    Banja, Jagd und Angeln …

    In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.

    Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.

    Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei  immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe. 

    Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.

    Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“

    „Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“

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    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter Wirtschaftswissenschafter und Soziologe liberaler Prägung. Er war in Führungspositionen verschiedener Banken tätig und engagierte sich zuletzt immer wieder auch unmittelbar politisch. In diesem Artikel, der monatelang zu den meistgelesenen Materialien des russischen Internets gehörte, vergleicht er die russische Staatswirtschaft mit einem Unternehmen, dessen Gewinn von nur wenigen Nutznießern abgeschöpft wird und dessen erstarrte Strukturen nicht mehr auf Veränderungen des Umfelds reagieren können. Inosemzew glaubt, dass Russland nicht politische Revolutionen bevorstehen, sondern ein Abgleiten ins Chaos, wenn der Konzern zerfällt und keine Auffangstrukturen geschaffen werden.

    Die dramatischen Ereignisse an der Wirtschaftsfront Ende letzten Jahres haben Experten zu Äußerungen über eine mögliche Palastrevolution, eine soziale Explosion oder ähnliche Geschehnisse veranlasst, die in nächster Zukunft eine drastische Richtungsänderung in der Entwicklung Russlands bewirken könnten. Mir scheint, dass solche Überlegungen auf einer ungerechtfertigten Überschätzung des Potenzials sowohl der Bevölkerung als auch der Eliten in Russland beruhen. Weder diese noch jene sind derzeit in der Lage, gemeinsam überlegt zu handeln oder auch nur projektorientiert zu denken. Deshalb wird der Zerfall des Regimes, wenn es in Zukunft (und zwar einer nicht allzu nahen) zum Scheitern verurteilt ist, meiner Ansicht nach sehr viel banaler und alltäglicher verlaufen.

    Ein effektiver Konzern im Sinne seiner Stakeholder

    Russland wird unter Wladimir Putin wie ein Großkonzern verwaltet, dessen Geschäftstätigkeit ganz und gar der Bereicherung seiner Manager dient. Die Aktionäre (als die man mit gewissen Einschränkungen die Bevölkerung des Landes bezeichnen könnte) erhalten ein paar Boni – genug, um auf den von Zeit zu Zeit pro forma durchgeführten „Hauptversammlungen“ keine unerwünschten Fragen zu stellen. Der „Konzern“ Russland setzt – wie jeder andere auch – die ihm optimal erscheinende Anlagestrategie um, bildet Reserven, versucht, sich im Wettbewerb mit konkurrierenden Unternehmen durchzusetzen, und tauscht von Zeit zu Zeit die Führungskräfte aus. Durch den Verkauf seiner Waren auf dem Weltmarkt generiert er große Geldflüsse. Dabei hat der besagte Konzern jedoch ein Problem, welches sich offenkundig nicht im Rahmen des von seinen faktischen Eignern als ideal und unwandelbar betrachteten Modells lösen lässt.

    Dieses Problem besteht nicht etwa in ineffektiver Führung. Das wird von den jetzigen Liberalen zwar gern mantraartig wiederholt, hat jedoch sehr wenig mit der Realität im Land zu tun. Um zu verstehen, ob ein System effektiv ist, muss man seine eigentlichen Ziele kennen. Russland wirkt nur dann ineffizient, wenn man es als gegeben sieht, dass das Ziel darin besteht, das Wohlergehen der Bevölkerung zu steigern und die Wirtschaft auf Basis einer innovationsorientierten Ordnung zu entwickeln. Bis auf politische Sonntagsreden weist jedoch nichts darauf hin, dass das tatsächlich der Fall ist. Beurteilt man das System hingegen danach, dass es in erster Linie maximalen Ertrag aus der Rentenökonomie schlagen und äußerst unverhältnismäßig zu Gunsten der führenden Klasse umverteilen soll, dann sieht es höchst effektiv aus. In keinem Land der Welt haben sich die Beamten und die ihre Interessen vertretenden Oligarchen, die ja auch die letztendlichen Nutznießer sind, so schnell und in derart großem Umfang bereichert; nirgendwo haben so offenkundig unprofessionelle Personen derartige Erfolge erzielt. Also wird Russland sehr wohl effektiv geführt, nämlich so, dass alle Interessen der herrschenden Klasse befriedigt werden und sie weiterhin das Land ausplündern kann.

    Unflexibilität verhindert ein Reagieren auf Veränderungen am Rohstoffmarkt

    Das Problem ist anders gelagert. Jedes Unternehmen muss Gewinn abwerfen. Dieser ergibt sich aus der Differenz von Verkaufseinnahmen und Betriebskosten. Ein modernes, flexibles Unternehmen sollte im Idealfall beide Komponenten kontrollieren – die erste durch Absatzsteigerung, Einführung neuer Produkte und Preisanpassungen, die zweite durch die Reduzierung von Anzahl und Kosten der eingesetzten Ressourcen. Russland ist jedoch ein unflexibles Unternehmen, das weder die eine noch die andere Option hat.

    Die wichtigsten Rohstoffe, die das Land heute produzieren kann, sind Erdöl, Gas, Kohle und Metalle. Deren Produktionsaufkommen ist in den letzten 25 Jahren nicht gestiegen. Selbst im Rekordjahr der Erdölgewinnung, 2014, wurden mit 527 Mio. Tonnen 4,5 % weniger aus dem Erdinneren gepumpt als 1989 in der RSFSR.

    Beim marktfähigen Gas wurde ein moderates Wachstum von 5,4 % verzeichnet, bei Kohle ein Rückgang um 14 %, beim Stahl um 22 %. Diese Entwicklung fand statt, während der Verbrauch der besagten Ressourcen weltweit um jeweils 37 %, 78 % und 64 %  bzw. um das 2,05-fache stieg und unsere Wettbewerber ihr Produktionsvolumen sehr stark erhöhten (Kasachstan produziert heute 3,5-mal so viel Öl wie 1989 und Katar 26-mal so viel Gas wie Ende der 80er Jahre). Doch Russland ist nicht nur nicht in der Lage, die Liefermenge zu erhöhen, sondern verfügt zudem auch nicht über neue Technologien (im Gegensatz etwa zu den USA mit ihrer Schiefergasgewinnung, Kanada mit seinem Ölsandabbau und sogar Japan, das am Meeresboden aufgelöste Erdgasvorkommen fördert). Und natürlich kontrolliert Russland auch nicht die Preise für die von ihm produzierten Güter – nicht zuletzt aufgrund seiner Unfähigkeit, Abkommen mit Partnern zu schließen, aber auch, weil es sich seit Jahren weigert, seine langfristigen Verträge auf Spotmarkt-Verkäufe und die Beförderung über Pipelines auf Seetransporte umzustellen. Der Konzern „Russland“ ist somit nicht fähig, die inneren und äußeren Herstellungs- und Absatzbedingungen seiner grundlegenden Erzeugnisse zu ändern.

    Zugleich zeigt sich, dass der Konzern auch seine eigenen Betriebskosten nicht unter Kontrolle hat. Bei einem praktisch unveränderten Produktionsaufkommen in fast allen Feldern (bis auf Handel, Bankdienstleistungen, Mobilkommunikation und einige andere Branchen) sind die Kosten für die Basisressourcen auf dem Binnenmarkt von 2000 bis 2013 um das 8–16-fache des US-Dollarpreises, das Durchschnittseinkommen um das 13,5-fache, die Renten um das knapp 18-fache und die Kosten für die Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit (durch die Ministerien für Inneres und Verteidigung) um das 10,7-fache gestiegen. Die Führung des Landes sagt oft, dass sie keine Reduktion der Finanzierung der geschützten Haushaltsposten plant, und das darf man ihr glauben: Die Folgen eines solchen Schrittes könnten katastrophal sein. Die einzige Option ist die Abwertung der Verbindlichkeiten gegenüber den Mitarbeitern des Konzerns – die Präsident Putin in diesem Herbst genehmigt hat. Und dann stellt sich die Frage, wie sehr diese Abwertung letztlich den Betrieb der restlichen Systemkomponenten verteuert, deren Nutznießer es nicht gewohnt sind zu sparen (und auch die Frage, ob Renten und Gehälter angesichts einer Inflation von 30 % nicht fieberhaft angeglichen werden müssen, bleibt offen). Die Wirtschaft kennt keine Beispiele dafür, dass ein Konzern überlebt hätte, dessen Umsatz auf die Hälfte bis ein Drittel sinkt und der praktisch keinerlei Kostenschnitte vornehmen kann.

    „Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn.“

    Die Schlussfolgerung ist einfach. Ein unflexibler Konzern, der mit der Situation konfrontiert ist, dass die Preise für seine Produkte beständig sinken und weder die Produktion diversifiziert noch die Kosten gesenkt werden können, geht dem Ruin entgegen. Erst entledigt er sich eines Teils seiner internen Verpflichtungen, dann hört er auf, externe Verbindlichkeiten zu bedienen, bis er entweder – unter normalen Bedingungen – unter den Schutz des Insolvenzrechts fällt (wie er in den USA durch Chapter 11 garantiert wird) oder – unter abnormalen Bedingungen – von seinen Wettbewerbern zerstört wird. Ein Staat kann weder den ersten noch den zweiten Weg gehen, doch es geht hier auch nicht um das Schicksal eines Landes, sondern um das Verhalten seiner herrschenden Klasse.

    Über die letzten fünfzehn Jahre hat sich die Politik in Russland untrennbar mit dem Business verflochten. Sie ist heute die rentabelste Form des Unternehmertums. Die Bürokratie kontrolliert direkt und indirekt einen Großteil der Wirtschaft – weniger durch den Besitz von Vermögenswerten, als über die Regulierung der Geldflüsse. Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn. Der Kampf um die Macht im jetzigen System ist ein Kampf um die Kontrolle über das Geld. Wenn Macht jedoch keinen Reichtum mehr einbringt und nur noch für Verantwortung steht, wird sie nicht nur für die heutige russische Führungsriege nicht mehr interessant sein, sondern – so fürchte ich – auch für die meisten ihrer Gegner aus dem liberalen Lager.

    Eben deshalb, so scheint mir, wird ein Zusammenbruch des Regimes (der nur bei und infolge einer weiteren Verschlechterung der Wirtschaftslage möglich ist) weder von Massenprotesten noch von Palastrevolutionen begleitet sein. Es ist nicht bekannt, dass man sich auf sinkenden Schiffen an die Gurgel gegangen wäre, um für die letzten ein oder zwei Stunden das Steuer zu übernehmen. Passagiere und Besatzung fallen in solchen Situationen entweder in Schockstarre und gehen unter, oder sie versuchen jeder für sich, das eigene Leben zu retten und die besten Plätze in den Rettungsbooten zu besetzen – und je pöbelhafter die Gesellschaft sich ausnimmt, desto öfter geschieht Letzteres. Die Kontrolle über ein Unternehmen, das keinen Gewinn bringt, ist sinnlos, und deshalb – um es noch einmal zu sagen – wird die Kommandobrücke des sinkenden Schiffes ganz einfach verlassen werden.

    Nur gesellschaftliche Transformation kann die Entstehung von Chaos verhindern

    Etwas Ähnliches ist in unserem Land schon vor einem Vierteljahrhundert geschehen, als die Strukturen der Sowjetmacht praktisch keine Kontrolle über Geldflüsse und Vermögenswerte gewährleisteten. Die Macht ging damals sofort auf andere, schon bestehende Strukturen über, die zuvor nicht bedeutend schienen. Die heutige Situation unterscheidet sich in wenigstens drei Punkten von damals. Erstens sind keine entsprechenden Reservestrukturen vorhanden (ein Zerfall Russlands ist wenig wahrscheinlich). Zweitens sind die Möglichkeiten, aus dem System auszusteigen, sehr viel einfacher und vielfältiger (es gibt mehr Geld, die Grenzen sind offen). Drittens ist der Appetit des Repressionsapparats weitaus größer. Das bedeutet: Das entstehende Chaos wird erstens nicht von kleinräumigeren Organisationsstrukturen aufgefangen; zweitens wird es an den zu seiner Überwindung benötigten qualifizierten Führungskräften fehlen, weil diese sich lieber zurückziehen oder ausreisen; drittens wird der Krieg aller gegen alle wegen der zahlreichen skrupellosen und gierigen Silowiki besonders grausam ausfallen. Und deshalb werden die 90er Jahre, von deren Wiederkehr man jetzt zu sprechen beginnt, als eine vergleichsweise passable Zeit erscheinen, was das Ausmaß der sozialen Erschütterung angeht.

    Der einzige – wenn auch schwache – Trost ist, dass nur eine solche radikale Zerstörung die Wiedererrichtung des „Konzerns“ Russland in einer weiteren Gestalt verhindern und Ausgangspunkt für die Entstehung einer normalen Gesellschaft sein kann, die von unten aufgebaut wird und in der eine harte Führung nicht als Segen gilt, sondern als Bedrohung, nicht als Beschützer, sondern als Feind. Einen anderen Weg in die Zukunft als die konsequente Vollendung der Transformationen der 90er Jahre gibt es in Russland nicht. Und man möchte glauben, dass sich hierzulande Menschen finden werden, die – nicht jetzt, sondern aus dem bevorstehenden Chaos heraus – Wege für den Aufbau einer neuen russischen Gesellschaft sehen. Denjenigen Vertretern der Elite, die es vorziehen, allein sich selbst zu retten, kann man hingegen nur noch raten, bei ihrem Abgang das Licht hinter sich zu löschen. Im Hinblick auf die meisten der jetzigen Landesherrscher würde ich sagen: Dies ist dies das Beste, was sie tun können.

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