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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die stillgelegte Stadt

    Die stillgelegte Stadt

    Rauchende Schornsteine und stampfende Maschinen – die Fabriken und Schmelzwerke waren einst stolzes Symbol der sowjetischen Wirtschaftsmacht. Viele von ihnen findet man bis heute in der Ural-Region, die während des Großen Vaterländischen Kriegs zu einem der wichtigsten sowjetischen Industriezentren ausgebaut wurde. So konnte weitab der Front die industrielle Produktion sichergestellt werden. Ein Propaganda-Gedicht besang die Region als „Stützregion der Staatsmacht“, als eine Kraft, die weit draußen im Hinterland dafür sorge, dem Feind ein jähes Ende zu bereiten. 

    Vom Reißbrett aus schossen die Fabriken aus dem Boden. Viele von ihnen bildeten das Zentrum sogenannter Monostädte –Arbeitersiedlungen, die Stalin ab den 1930er Jahren rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichten ließ.
    Statistisch gesehen liest sich die Geschichte der Monostädte wie eine magische Zahlenreihe: Über 400 Monostädte gab es in Russland, die einst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten. Jeder vierte russische Staatsbürger lebt in einer solchen Stadt. 
    Die in der Ural-Region angesiedelten Monostädte entwickelten sich dank reicher Rohstoffvorkommen zu wichtigen Industriezentren mit einem Lebensstandard, der mancherorts weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag.
    Doch mit dem Ende der Planwirtschaft begann ihr Niedergang, auch die globale Wirtschaftskrise 2008 und die anhaltende Russische Wirtschaftskrise setzen ihnen zu. Zahlreiche Betriebsschließungen sind die Folge. 

    Das trifft sowohl die Monostädte, als auch historisch im Ural verwurzelte Städte, die ihr Gesicht in der Sowjetunion zur Industriestadt wandelten. Solche Städte fernab der üblichen Transport- und Handelswege geraten zunehmend in Vergessenheit. So auch die Stadt Resh, einst eine Hochburg der Nickelproduktion, der die Journalistin Victoria Ivleva für Takie Dela einen Besuch abstattete. Die Stilllegung des Nickelwerks brachte nun schon die dritte große Entlassungswelle mit sich – mit verheerenden Folgen für die Bewohner.

    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela
    Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela

    Wenn man nach Resh hineinfährt, passiert man eine Stelle mit dem Datum der Stadtgründung: 1773. Ein Stückchen weiter fällt einem der etwas irritierende Schriftzug „Baden-Baden Smaragdküste“ ins Auge – und das mitten im Uralgebirge.

    „Das ist dieses Kurbad hier bei uns, mit Thermalbecken, da können Sie sogar bei extremen Minusgraden draußen baden“, sagt mein Fahrer und fängt dann plötzlich an, von den echten Smaragden zu erzählen, die hier haufenweise herumliegen, und von der verlassenen Goldmine neben dem Haus seiner Großmutter, wo er immer schon mal hineinklettern wollte, aber er hat Angst, eins auf die Mütze zu bekommen, wenn er da „irgendwas ausbuddelt“, sagt er.

    Kurz gesagt, ich bin umringt vom Ural.

    Am Ortsanfang steht ein Schild ,Baden-Baden Smaragdküste‘ – und das mitten im Uralgebirge

    Resh ist ein ruhiges Städtchen, hübsch anzusehen, es fügt sich ein in den Ural und seine reiche Natur, ohne sie zu erdrücken. Viel Himmel ist hier zu sehen, viel Wasser, alte Bäume, die Stadt wirkt malerisch im Sommer, im Winter wie eine Grafik. Resh mit seiner weitverzweigten Anlage nimmt einen für sich ein, seine verschlungenen, hinan- und hinabeilenden Straßen, der riesige alte, asymmetrisch geformte Teich, in dem man ganzjährig angeln kann, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Villen und die erstaunlich sanftmütigen Menschen. 

    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort
    Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort

    Die Hauptsehenswürdigkeit von Resh, von jedem Punkt aus zu erahnen, ist der rot-weiß gestreifte Schornstein des Nickelwerks, das die Stadt achtzig Jahre lang ernährt hat und das es nun, unerwartet für die Bewohner und anscheinend auch für das Werk selbst, plötzlich nicht mehr gibt. Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort.
    Im Zuge der Betriebsschließung sollen alle entlassen werden, und die eigentliche Fabrik, in der der Betrieb früher Tag und Nacht nicht zum Erliegen kam, liegt bereits verlassen da. Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht. 
    Das Werk und seine überraschende Stilllegung, die hier alle kalt erwischt hat, sind es auch, die mich nach Resh geführt haben.

    Man muss wissen, dass Resh Nickel kein eigenständiger Betrieb ist. Er ist das Mittelglied in einer Kette, die von der Gewinnung des Nickelerzes bis zur Schmelzung des Metalls reicht. Resh Nickel stellt das Zwischenprodukt Rohstein her; das Reinnickel wird in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Werchni Ufalei gewonnen. Die Werke in Resh und Ufalei sowie die Nickelgrube in der Stadt Serow bilden zusammen die Firma Rus Nickel, die 15 Prozent des russischen Nickels produziert.

    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht
    Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht

    Iwan Iwanytsch Dimitrijew, Betriebsleiter von Resh Nickel:

     „Dass der Preis für Koks sich verdoppelt hat und gleichzeitig der Nickelpreis gesunken ist, das haben wir nicht verkraftet, das muss man so sagen. Aber das heißt ja nicht, dass man den Betrieb so Knall auf Fall dichtmachen musste, einfach hinschmeißen und dem Unkraut überlassen. Stillstandsphasen hatten wir auch früher schon, aber wir haben jedes Mal wieder neu angesetzt, haben Teile modernisiert, uns irgendwas überlegt …“

     „Und der Betrieb florierte?“

     „Na sicher doch. Hier war schließlich die wissenschaftliche Plattform der UPI [Uralski Gossudarstwenny Technitscheski Universitet, dt.: Staatliche Technische Universität des Uralgebiets – dek], hier pulsierte das wissenschaftliche Leben, der Erfindergeist, hier war es so interessant! Das ist es ja, was mich fertigmacht: Generationen haben das alles hier aufgebaut, und wofür? Es tut einem in der Seele weh. Gusseisen und Stahl können wir hier produzieren, wir haben eine extrem vorteilhafte geografische Lage, beste Infrastruktur. Wir müssen umstrukturieren, aber doch nicht das Werk stilllegen – ich könnte wirklich schreien! 2013/14 haben wir nämlich mit Gewinn gearbeitet, kleinem zwar, aber immerhin. Dann hat der Staat die Transportkosten erhöht – und das war´s dann. Man könnte meinen, er arbeite selbst auf die Liquidation hin, ist doch wahr, oder? Ich meine, schauen Sie mal – auf dem Wappen der Oblast Swerdlowsk da heißt es ,Stützregion der Staatsmacht‘, also vielleicht sollte man die nicht mal eben so weghauen, diese Stütze!“

    Vom Betriebsleiter bis zu den Besitzern von Resh – das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran

    Ach, Iwan Iwanytsch! Der ist so ein echtes Arbeitstier, zuerst war er Schmelzergehilfe in Werchni Ufalei, dann hat er eine Lehre gemacht, ist Werkmeister geworden und jetzt eben Betriebsleiter. Arbeiten will der Mann, Feuer und Flamme ist Iwan Iwanytsch für seinen leitenden Posten, und gerade mal 40 ist er heute. Aber Iwan Iwanytsch ist bloß der Betriebsleiter, von ihm bis zu den Besitzern von Resh Nickel, deren Namen im Betrieb kaum einer kennt, das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran. 

    Die Besitzer sind Leute von ganz anderem Schlag, die haben weder mit der Staatsmacht, noch mit dem Nickel oder den entlassenen Arbeitern irgendwas am Hut. Denn so ist es nun mal bei uns im Land: je größer das Geschäft, desto kleiner das Gewissen und das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen.

    Heute gehört zum Beispiel das gesamte Gesellschaftsvermögen des Betriebs seinem Gläubiger, der B & N Bank; wie es aussieht, entschwindet die ganze Leidenschaft für den Nickel in unbekannte Höhen – bis über die Wolken – und landet bei dem Schlagerdichter Michail Guzerijew und seinem Neffen Michail Schischchanow.

    Wie gesagt – von Iwan Iwanytsch bis zu denen, das ist wie von hier bis zum Aldebaran. 

    Die ganze Abwicklung begann wie üblich damit, dass den Leuten Lügenmärchen aufgetischt wurden. In der letzten Januardekade, als der Liquidierungsfahrplan für den Betrieb längst stand (solche Pläne werden auf Grundlage einer Produktionsanalyse gemacht und nicht an einem Tag erstellt), kam der Generaldirektor in den Betrieb und erklärte wörtlich, es gehe „zum jetzigen Zeitpunkt nicht um Personalabbau“.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen?

    Und schon ging es los mit dem Entlassen. Sicher, formal lief alles korrekt ab, Dinge wie die Zahlung des Monatslohns wurden eingehalten, da gibt es gar nichts groß auszusetzen. Wenngleich hartnäckige Gerüchte, es werde bald kein Geld mehr da sein, die Leute zu einer Kündigung im beiderseitigen Einvernehmen bewegten, was für die Fabrikbesitzer von Vor- und für die Arbeiter von Nachteil ist. 

    Aber bei aller formalen Korrektheit weiß doch jeder, dass es unmöglich ist, in Resh Arbeit zu finden; es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Das Einzige, was wie Pilze aus dem Boden schießt, sind irgendwelche Geschäfte. Und selbst auf der Homepage der örtlichen Behörde für Soziales heißt es, die Arbeitslosenquote liege über dem Durchschnitt der Oblast.

    Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen? Eilte vielleicht die allmächtige Partei Einiges Russland den Arbeitern zu Hilfe, so wie diese ihr stets am Wahltag zu Hilfe geeilt waren? Oder packten wenigstens die Kommunisten, die sich jetzt schon das zweite Jahrhundert um die Sache der Arbeiterklasse bemühen, die Gelegenheit beim Schopfe?

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein

    Natürlich passierte nichts von alledem. Kein Mensch ließ sich sehen. Auf die Arbeiter pfeift man hier dermaßen, dass der B & N-Bankautomat neben dem Werk manchmal einfach kein Geld ausspuckt. Eine Filiale der B & N Bank gibt es in Resh erst recht nicht.

    Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein. Das ist nicht leicht für Menschen, die der Staat gelehrt hat, sich aus allem rauszuhalten, bang am Ofen zu sitzen und auf ein Wunder zu warten.

    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“
    „Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“


    Die Entstehung von Metall ist viele tausend Mal beschrieben worden, und innerlich ist man gleichsam darauf vorbereitet: Jetzt gleich geht der Ofen auf, daraus ergießt sich ein feuerspeiender Strom und glühende Goldteilchen stieben nach allen Seiten. Aber wenn die Ofentür dann wirklich aufgeht und der Strom sich ergießt und eine weiße Rauchsäule aufsteigt und Fontänen von Funken die Augen blenden und der Feuerbrei die Rinnen füllt und Gestalten in seltsamen Anzügen, die wie Außerirdische aussehen und sich zu beiden Seiten des Stroms postiert haben, der glühenden Masse mit geschicktem Schwung ein wenig nachhelfen – dann verschlägt es einem angesichts dieser enormen Kraft dennoch den Atem, und es treten einem die Tränen in die Augen.

    Das war Resh Nickel noch vor wenigen Monaten.  

    Die Fabrik, die ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden

    Heute schaue ich vom Dach der Schmelzhalle aus auf das Werk – sein Atem ist beinahe versiegt, auf dem riesigen Gelände ist kein Leben mehr. So weit das Auge blickt – kein einziger Mensch, kein einziger rollender Förderwagen, nicht das kleinste Geräusch, kein Ton ist zu hören.
    In der Sonne glänzt, silbrig schillernd, der nagelneue Kühlturm, der Ende letzten Jahres aus unbekannten Gründen errichtet wurde. Der Turm hat zehn Millionen Rubel gekostet [etwa 144.000 Euro – dek], war nicht einen einzigen Tag in Betrieb, und jetzt wird er im besten Fall eingemottet, im schlimmsten in seine Einzelteile zerlegt. Die Fabrik, die wie jede andere Fabrik ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden.

    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“
    „Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“


    Wir wandern von Halle zu Halle mit Irina Schewtschenko – der einzigen Resh Nickel-Mitarbeiterin, die beschlossen hatte, wenigstens irgendwie, behutsam und vorsichtig, um den Betrieb zu kämpfen. Sie schlug damals vor, Putin und dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk einen Brief zu schreiben, aber das Gewerkschaftskomitee hatte Angst, fragte bei der Metallarbeiter-Gewerkschaft um Erlaubnis, der war es auch nicht geheuer, man fand eine Ausrede – angeblich liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb unter 50 Prozent, ja was soll man da schreiben? Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr.

    Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr

    Schewtschenko ließ nicht locker; sie liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert, war stolz auf ihn gewesen und konnte nicht glauben, dass von heute auf morgen plötzlich alles in sich zusammenfallen sollte. Die Briefe wurden geschrieben, von knapp der Hälfte der Kollegen unterzeichnet und an die Empfänger geschickt.

    „Und wieso haben nicht alle unterzeichnet?“, frage ich Irina. 

    „Manche waren schon gekündigt und sagten, der Betrieb gehe sie nichts mehr an, andere meinten, das würde nichts bringen, und wieder andere hatten Angst.“

    „Sie hatten Angst, den Brief zu unterzeichnen?“

    „Na klar.“ 

    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert
    Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert

    Mir fällt Pikaljowo ein, eine kleine sogenannte Monostadt in der Leningrader Oblast, deren Bewohner aus Protest gegen die Schließung wesentlicher Betriebe eine wichtige Verkehrsader blockiert und damit erreicht hatten, dass der Präsident vor Ort erschien und eine relative Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Sieben Jahre ist das gerade mal her.

    „Ha“, lacht Iwan Iwanytsch, „von wegen Pikaljowo, hier hat kein Mensch von Pikaljowo gehört, und wer davon gehört hat, der hat es längst vergessen. Den Leuten wird ja das Hirn derart vollgemüllt.“ 

    „Womit denn?“, frage ich – vielleicht wird den Menschen im Ural das Hirn ja mit anderem Zeug vollgemüllt als in Moskau.

    „Ich sag nur Mara Bagdassarjan“, knurrt Iwan Iwanytsch unvermittelt, und ich weiß im ersten Moment gar nicht, wen er meint, so abwegig ist hier, in der erlöschenden Fabrik, der Gedanke an diese verwöhnte Moskauer Bonzengöre.  

    Jeden Freitag zwischen acht und zehn Uhr morgens versammeln sich in der Eingangshalle des Resh Nickel-Werks die Mitarbeiter zur Registrierung: Um drei Monate lang den durchschnittlichen Monatslohn zu bekommen, muss man hier erscheinen und nachweisen, dass man noch keine Arbeit gefunden hat und dass man noch am Leben ist. Und es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt. Die Abteilungsleiter notieren den Namen auf der Liste – man kann wieder gehen.

    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt
    Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt

    Die Leute gehen aber nicht gleich nach Hause, sie stehen noch zusammen und reden. Diskutieren, was man jetzt machen soll. Wirken aber irgendwie verloren. Am Nebentisch schlägt eine adrett gekleidete und apart frisierte Dame mit Namensschild vom Arbeitsamt Resh mir vor, die Stellenanzeigen durchzuschauen; sie hält mich für jemanden vom Betrieb. Ich schaue sie mir an – insgesamt etwas über 100 Jobs, in erster Linie für Menschen mit Hochschulabschluss. Für einfache Leute ohne Ausbildung gibt es auch etwas: Reinigungskräfte für Produktionsräume werden gesucht, für 8000 Rubel [etwa 115 Euro – dek] und ein paar Zerquetschte. 

    Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie. Nun wird es damit auch nichts mehr werden

    „Ach herrje, also da hat mein Mann mal gearbeitet, da hauen sie alle wieder ab, das ist nur furchtbar da“, sagt eine Frau neben mir. „Das sind sowieso fast alles nur so windige Jobs, die da angeboten werden“, fügt eine andere hinzu. „Zu Privatunternehmern darf man nicht gehen, die hauen einen nur übers Ohr. Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof, die scheißen doch alle auf uns, unser lieber Präsident inbegriffen, vom großen Glockenturm runter.“

    Ich bin zu Besuch bei zwei der entlassenen Resh Nickel-Mitarbeiter, bei Irina und ihrem Mann, dem Gabelstaplerfahrer Sergej. Sergej schlägt sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs durch – mal was ausfahren oder austragen, irgendwo mit anpacken. Sie wohnen in einem klitzekleinen eigenen Häuschen, das Sergejs Großmutter seinerzeit gebaut hat. Fließend Wasser haben sie keins. Und einen öffentlichen Hydranten gibt es in der ganzen Straße nicht. Sergej karrt das Wasser mit dem Auto von irgendwo an. Eine Gasleitung verläuft wenige Meter von ihrem Haus entfernt, aber das Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie, und nun wird es damit auch nichts mehr werden. 

    Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen


    So etwas ist mir an vielen Orten in Russland begegnet – das Gasrohr vor der Haustür und die Leute kochen ihr Essen auf dem Holzofen. Irina kocht mit Flaschengas. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, misst 300 Quadratmeter, dort wird das Gemüse angebaut, das die Familie ernährt, alles von Kartoffeln bis Tomaten. Vieh halten Serjosha und Ira nicht mehr, das alles lohnt sich nicht mehr, dafür gibt es einen Hahn.

    „Der ist bloß zum Krähen!“, erklärt Serjosha.

    Das Haus hatte Sergej angefangen umzubauen, sie wollten eine zweite Etage draufsetzen, und die Sache zog sich eh schon hin wie bei Cipollinos Freund Gevatter Kürbis. Jetzt ist das ganze Bauprojekt natürlich auf unbestimmte Zeit vertagt.

    „Was mir nicht in den Kopf will“, sagt Sergej, „wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren? Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen.“

    „Haben Sie damit gerechnet, dass das Werk dichtgemacht wird?“

    „Wir dachten, es würde einen Betriebsstillstand geben, das hatten wir ja früher auch schon, davon geht die Welt nicht unter. Wir haben den Nickelpreis an der Londoner Börse im Fernsehen verfolgt, von dem hängen wir ab, hieß es. Bisher haben wir noch keine Kündigung unterschrieben, weder Irina noch ich, wir wollen warten bis zum Schluss – vielleicht machen sie ja plötzlich doch noch wieder auf.“

    „Ich habe meine Arbeit sehr geliebt, ich hänge sehr an ihr und dem ganzen Betrieb, Prüferin war ich nämlich, in der Buntmetallproduktion“, ergänzt Irina. 

    Wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen

    „Es fällt einem schwer zu glauben, dass wir nicht mehr gebraucht werden, wir haben ja nun auch nicht zwei linke Hände oder so, wir können unsern Teil beitragen für unser Land, wir bitten nicht um Geld, wir wollen keine Almosen, sondern die Chance, uns unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, in unserer Stadt, da wo wir hingehören. Aber wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen. Eine Art Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“, sagt wiederum Sergej. 

    „Gab es mal eine Zeit, in der Sie nicht aufs Geld schauen mussten?“, wechsle ich das Thema. 

    „Ach, na woher denn!“ Irina winkt ab. „Dicke hatten wir es noch nie. Dass man sich einfach das kaufen kann, was einem gefällt – das gab es bei uns nicht. Ich nehme immer nur das Billigste, egal ob Lebensmittel oder Kleidung. Wir haben alles Geld in das Haus gesteckt, vor drei Jahren haben wir einen Kredit über 150.000 [etwa 2186 Euro – dek] aufgenommen, jetzt zahlen wir 5000 [etwa 73 Euro – dek] im Monat ab. Wie das jetzt werden soll, wissen wir auch nicht, unsere Tochter geht ja auch noch zur Schule, dieses Jahr wird sie fertig, sie will Architektin werden.“

    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“
    „Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“

    In dem winzigen Kämmerchen, das ihre Tochter Nastja bewohnt, hängt ein von ihr selbstgemaltes Plakat an der Wand. Darauf steht: „Du und nur du allein hast dein Leben in der Hand.“ 

    Bloß – in der Hand haben Sergej und Irina nicht allzu viel. 

    Nach dem Besuch bei den beiden ist einem bitter zumute, schreien möchte man, so laut, dass es bis zum Aldebaran zu hören ist, und sagen: Du Gutsherr, oder wie soll man ihn sonst nennen, diesen Patron in weißem Anzug und teurem Hut, da hast du hier ganz wunderbare, einfache Arbeiter vor dir, wieso fährst du denn nicht zu ihnen hin, rufst sie alle zusammen und redest mit ihnen, aber nicht in der Saldo-Popaldo-Sprache und auch nicht von oben herab runtergepöbelt, sondern ganz normal und geradeaus, von Mensch zu Mensch, falls du dich noch erinnerst, wie das geht – sich ganz normal-menschlich, nicht überheblich, mit den Leuten unterhalten, erklären, was passiert ist. Und dann: Die eigene Gier im Zaum halten und etwas für die tun, die dir und deinesgleichen so fleißig dabei behilflich waren, Geld zu scheffeln, und dabei selber weniger verdient haben als einer von den Tabakkrümeln in deiner Hosentasche gekostet hat …

    Aber so laut, dass man es bis zum Aldebaran hört, kann man nicht schreien.

    Wir erinnern uns, wie in Tschechows Kirschgarten der greise Firs, der seiner Herrschaft das ganze Leben voller Ergebenheit gedient hat, in der Eile [von seinen eigenen Leuten im Haus – dek] vergessen wird. Hier sollen jetzt 1000 Menschen vergessen werden, und bald womöglich auch Resh selbst. 

    Und der Ton, nicht einmal nur der einer gerissenen Saite – vielmehr einer ganzen Stadt! – wird niemanden erschaudern lassen.

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  • Grüne Turbinchen

    Grüne Turbinchen

    Als im Februar/März 2014 plötzlich erste Soldaten in Tarnuniform, aber ohne Hoheitsabzeichen, scheinbar aus dem Nichts auf der Krim aufgetaucht sind, sprach die Bevölkerung von Grünen Männchen. Erst im April 2014, nach der Angliederung der Halbinsel an Russland, erwähnte Wladimir Putin in einem Interview, was eh alle geahnt hatten: nämlich, dass es russische Soldaten gewesen waren.
    Als nun im Juli 2017 plötzlich deutsche Turbinen von Siemens auf der Krim auftauchten, und zwar trotz Embargo, behauptete der russische Industrie- und Handelsminister Denis Manturow, es seien keine deutschen, sondern russische Turbinen „aus Elementen ausländischer Produktion“. 
    Siemens gab in einer ersten Stellungnahme an, die Gasturbinen seien eigentlich für ein Projekt auf der südrussischen Halbinsel Taman hergestellt worden – und reichte Klage ein gegen den Abnehmer Technopromexport. Kritiker werfen dem deutschen Unternehmen jedoch vor, den Auftrag 2015 angenommen zu haben – zu einem Zeitpunkt, als bereits absehbar gewesen sei, dass die Turbinen für die Krim gedacht sind.
    Tatjana Stanowaja deckt auf Republic die rhetorischen Parallelen auf zwischen Grünen Männchen und Siemens-Turbinen. Und sie ist sich sicher: Mit der Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und westlichen Unternehmen.

    An Sanktionen hat sich Russland schon gewöhnt. Auch auf Siemens’ möglichen Rückzug vom russischen Markt reagiert man gelassen. „Wir kommen auch ohne euch zurecht“, verkünden fast einstimmig Arkadi Dworkowitsch, Alexander Nowak und Igor Artemjew.

    Genauso einstimmig behaupten Experten allerdings das Gegenteil: Russland ist noch nicht in der Lage Gasturbinen in entsprechender Qualität selbst herzustellen. 

    Interessant ist an der gesamten Situation aber etwas ganz Anderes: 
    Wie konnten privatwirtschaftliche Interessen wichtiger werden als Staatsinteressen? Und wie wird sich das Ganze auf Russlands Beziehungen zu ausländischen Investoren auswirken?

    Die Hauptrolle spielte in dieser Geschichte natürlich Sergej Tschemesow. Im August 2014 bat ihn Putin persönlich, ein Wärmekraftwerk auf der Krim zu bauen. Zu diesem Vorgang sagte der Generaldirektor der Staatsholding Rostec kein Wort.

    Betrachtet man die jüngsten Aussagen des Generaldirektors, stellen die behandelten Themen irgendwelche Turbinen vollkommen in den Schatten: Die Flugabwehrraketensysteme, die Flugzeuge und Hubschrauber, die Panzer und KAMAZ-Lkws, mit denen sich Tschemesow beschäftigt – das alles wird der Regierung als ein Superprojekt präsentiert, um Russland von den Knien zu heben.

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus

    Die Geschichte mit den Turbinen – ein Lapsus. Im Zusammenhang mit der Krim hat Tschemesow Putin versprochen, ein Wärmekraftwerk zu bauen, das wird er auch tun. Über das, was dann kommt, sollen sich Medwedew und seine Regierung den Kopf zerbrechen.

    Nur vier Tage nach Veröffentlichung der Stellungnahme von Rostec, man habe die Turbinen auf dem Sekundärmarkt erworben, machte sich der Minister für Industrie und Handel Denis Manturow daran, die Lage zu retten: „Wir haben unseren westlichen Kollegen versichert, dass es sich um Turbinen russischer Produktion handelt. Zugegeben, unter Verwendung von Elementen aus ausländischer Produktion. Dennoch gibt es ein russisches Zertifikat, und es sind russische Turbinen.“

    Die Korrektur der Position ist offenkundig: Auf dem Sekundärmarkt gekaufte deutsche Turbinen und russische Turbinen mit Elementen aus ausländischer Produktion – ein gewisser Unterschied lässt sich nicht leugnen.

    Die Regierung ist enttäuscht

    Und das führt zu einer wichtigen Frage: Wie ist denn die Position der Regierung? 
    Während Siemens seine Anklage vorbereitete, die Europäische Kommission über eine Verschärfung der Sanktionen nachdachte und Deutschland mit einer Verschlechterung der Beziehungen drohte, kommentierte die russische Regierung das Geschehen als privatwirtschaftlich und nicht von staatlicher Relevanz. Stellungnahmen von Seiten der politischen Leader gab es keine – weder von Wladimir Putin noch von Dimitri Medwedew. Genauso wenig wie eine Aussage über russische Investitionsstrategien unter den Sanktionen.

    Für die russische Regierung scheint es bei der entstandenen Situation also gar keine imageschädigende oder strategische Dimension zu geben – man betrachtet das Problem als ein privates.


    Wenn nicht Siemens, dann Andere?!

    Wenn man allerdings die öffentliche Position von Vertretern der russischen Regierung verallgemeinert (besonders deutlich äußerte sich Igor Artemjew), dann wird Russland, erstens, jeden Augenblick eigene Turbinen produzieren, die nicht schlechter sein werden als die deutschen. Wenn es das nicht längst getan hat.

    Und zweitens: Sollte es noch keine Turbinen produziert haben, werden andere Konkurrenten an die Stelle von Siemens treten. „Ihren [Siemens’] Platz werden sehr bald andere einnehmen. Aus China, dem Nahen Osten oder aus Europa – was weiß ich“, äußerte sich Artemjew. Ihm zufolge werden es vermutlich „transnationale Firmen“ sein, „die dank der Globalisierung keine Angst vor irgendwelchen Regierungen haben“. 

    Das Wort Globalisierung bekommt in dieser schwierigen Lage plötzlich einen positiven Beiklang von Hoffnung. Dabei hat der antiglobalistisch eingestellte Kreml westliche transnationale Firmen bislang immer für ihren Egoismus und ihre doppelten Standards verflucht.

    Bleibt nur noch zu klären, ob die großen westlichen Unternehmen, die zu einer Zusammenarbeit mit Russland bereit sind, Teil des internationalen antirussischen Imperialismus sind oder unsere letzte Hoffnung.

    Die Donbass-Strategie

    Die russische Regierung ist offenbar sehr enttäuscht von Siemens – sie hatte ein anderes Verhalten erwartet. Sowohl Rostec als auch die Regierung und der Kreml gingen offenbar davon aus, dass sie und Siemens in einer Mannschaft spielen, als sie lauthals und einhellig behaupteten, die auf die Krim gelieferten Turbinen seien russisch. 
    Dasselbe erwarteten sie wohl auch von den Deutschen, die in so einer Situation gezwungen gewesen wären, sich auf die Seite der russischen Regierung zu stellen, und nicht der deutschen; also ungefähr so zu handeln wie der Kreml bei seinen Stellungnahmen zur Anwesenheit russischer Truppen im Donbass: Anerkennen, dass Truppen da sind, aber leugnen, dass sie russisch sind.

    Die schroffe und eindeutige Weigerung von Siemens, nach diesen Regeln zu spielen, löste in Russland eine Lawine der Empörung aus. Man warf dem Konzern Heuchelei vor (sie wollen schmutzig Geld machen, aber sauber aus der Sache hervorgehen!). 
    Mit der jetzigen Affäre beginnt ein neues Zeitalter der Beziehungen zwischen Postkrim-Russland und den westlichen globalen Unternehmen: Nun brauchen sie für den Zugang zum russischen Markt nicht nur „Pragmatismus“ und „Sachlichkeit“ (sprich die Anerkennung der westlichen Sanktionspolitik als ineffektiv und schädlich), sondern auch die Bereitschaft „schmutzig“ zu spielen, und zwar ohne Rücksicht auf die „Weltgemeinschaft“.

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  • Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    Tiefer geht’s nicht mehr – über die Richtung der russischen Konjunktur sind sich die meisten Wirtschaftsexperten einig. Nach einer ernsthaften Wirtschaftskrise und Stagnation schwört die russische Politik schon Aufbruchstimmung herauf. Angeheizt wird diese – rund zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl – vor allem durch zwei Wirtschaftsprogramme, die Wachstum verheißen: das Programm des sogenannten Stolypin-Klubs sowie eine Strategie, die ein Team rund um Ex-Finanzminister Kudrin erstellt. Erarbeitet in einer zur Schau gestellten Konkurrenz, sollen beide Programme im Mai dem Präsidenten vorgelegt werden. Der entscheidet dann darüber, welche Wirtschaftsstrategie das Land in den nächsten Jahren prägen wird.

    Auf republic.ru fragt Wladimir Korowkin, Wirtschaftswissenschaftler der Moskauer Skolkovo School of Management, nach den Unterschieden dieser beiden Drehbücher. Auf welche Strategie soll Russland setzen – angesichts des weiterhin niedrigen Ölpreises, der Sanktionen und einer Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess von bis zu 70 Prozent?

    Unter Familien-Psychotherapeuten kursiert ein Insider-Spruch: „Bringen Sie bitte das Kind wieder in Ordnung.“ Er beschreibt den populären Anspruch der Kunden: „Es war ein gutes Kind, aber plötzlich ist es ‚kaputt gegangen‘, kam mit Fünfen nach Haus, wurde grob, fing an zu lügen, zu klauen, zu rauchen. Machen Sie wieder ein gutes Kind draus, bringen Sie es in Ordnung!“

    Erfahrene Psychotherapeuten hassen diesen Anspruch. Denn Kinder gehen nicht von allein kaputt. Eine erhebliche Verhaltensänderung eines Kindes ist ein Anzeichen für ernste Probleme in der Familie, die allein mit einer systemisch greifenden Therapie behandelt werden können. Eltern scheuen für gewöhnlich davor zurück, das Systemische anzuerkennen: „Nicht die ganze Familie muss behandelt werden, es geht einfach nur darum, dass das Kind wieder gut wird.“

    Keine Verbesserung ohne eine Änderung im System

    Diese Situation erinnert einen auf frappierende Weise an die gegenwärtigen Diskussionen über die Wirtschaft in Russland. Die hat nach der Veröffentlichung  der Strategie des Stolypin-Klubs am 9. März dieses Jahres heftig an Fahrt gewonnen. „Bringt unsere Wirtschaft in Ordnung!“, so lautet die Forderung an die Fachleute. „Sie soll keine Fünfen mehr bekommen, freundlich sein und nicht mehr hinter der Turnhalle rauchen!“

    In Wirklichkeit aber ist jede Wirtschaftsdiskussion ein tiefgreifender Streit über Staat und Gesellschaft. Über die Verteilung von Macht und Recht zwischen ihnen. Über die Art und Weise, in der Konflikte zwischen ihnen geregelt werden.

    Ohne eine Bereitschaft zu diesbezüglichen Systemänderungen ist kaum zu erwarten, dass die Wirtschaft plötzlich eine drastisch bessere Entwicklung nimmt.

    Eine echte Wirtschaftsdiskussion ist eine Seltenheit

    Eine vollwertige Wirtschaftsdiskussion ist in Russland eine Seltenheit. Die letzte Diskussion entbrannte in jenem fernen Jahr 1999, während der heftigsten Parlamentswahlen, die es in der neuesten Geschichte Russlands gegeben hat. Seinerzeit bestand eine wichtige Kampflinie zwischen Jabloko und dem Block Vaterland – Ganz Russland (OWR) auf der einen Seite der Barrikaden sowie Einheit und Union der Rechten Kräfte auf der anderen Seite. Bei dem Streit ging es um die Entwicklung Moskaus unter Bürgermeister Juri Lushkow, einem der Führungsmänner von OWR.

    Im Vergleich zum übrigen Russland erschien Moskau zu dieser Zeit mit seinen Megaprojekten wie dem Dritten Verkehrsring und seiner halbwegs handgesteuerten Wirtschaftsführung wie ein merkwürdiger Hort des Wohlstandes.

    Michail Leontjew war ein politischer Gegner Lushkows und trat damals als wichtigster Wirtschaftsanalytiker von Einheit auf. Dem Moskauer Bürgermeister warf er regelmäßig „Keynesianismus“ vor, wobei er dieses Wort voller Verachtung aussprach. Laut Leontjew sei die richtige Wirtschaftspolitik nur dann gegeben, wenn die Rolle des Staates minimal ist: Der solle lediglich die nötigen Bedingungen für die Entwicklung des privaten Unternehmertums schaffen.

    „Effiziente“ versus „soziale“ Wirtschaft

    Wenn es um langfristige Wirtschaftspläne geht, geht es immer auch um Wirtschaftszyklen, nämlich um die Frage, an welchem Punkt des Zyklus die Wirtschaft gerade steckt und mit welchen Bewegungen der Weltkonjunktur sie zu rechnen hat. Weit weniger Aufmerksamkeit wird jedoch den Zyklen des Wirtschaftsdenkens geschenkt.
    Was schlecht ist. Gerade diese bestimmen in erheblichem Maße die Probleme, Instrumente und Ansätze, die in die Planung einfließen. Die wirtschaftlichen Denkzyklen bewegen sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Polen, der „effizienten Wirtschaft“ und der „sozialen Wirtschaft“.
    Die effiziente Wirtschaft ist seit Adam Smith ein Fetisch der Klassiker und Neoklassiker. Die soziale dagegen erfuhr ihre machtvolle theoretische Darstellung durch den britischen Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes – eben jenen Keynes, dem Michail Leontjew eine solche Abneigung entgegenbrachte.


     


    Quelle: IWF

    Die Diskussion in Russland läuft aktuell in einer einzigartigen historischen Situation, da die Kräfte hinter den beiden theoretischen Ansätzen ungefähr gleich stark sind. Wie schon in den 1930er Jahren, befand sich die Keynessche Lehre nach der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 im Einklang mit den praktischen Maßnahmen, die Regierungen in aller Welt unternahmen. Die Krise wurde einem Scheitern des neoklassischen Ansatzes zugeschrieben und der Keynesianismus verlor seinen schlechten Ruf. Paul Krugman, ein prominenter Vertreter dieser Lehre, erhielt den Nobelpreis, und Michail Leontjew ist nun Topmanager bei einem Staatsunternehmen.

    So arbeitet auch das im März vorgestellte Programm [des Stolypin-Klubsdek] unverkrampft mit dem ganzen Instrumentarium der Jünger Keynes’: Es verweist direkt auf die Notwendigkeit, Nachfrage zu schaffen, es erkennt an, dass zu diesem Zweck Staatsverschuldung möglich und nützlich ist, es erwähnt den „Multiplikator-Effekt“, bei dem jeder staatliche Rubel vier bis fünf Rubel privater Investitionen nach sich zieht.

    Gegenprogramm: Staatliche Einmischung als Hauptfeind von Wachstum

    Ein Gegengewicht hierzu bildet das Programm von Alexej Kudrin: Es konzentriert sich auf die „makroökonomische Stabilität“, also vor allem auf eine niedrige Inflation. In der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie ist eine hohe Inflation die Folge zu starker staatlicher Einmischung und der Hauptfeind von Wirtschaftswachstum, da sie Anreize für langfristige Investitionen untergräbt.

    Die Programme gehen auch hinsichtlich des Rubelkurses ganz grundsätzlich auseinander: Die Vertreter des Stolypin-Klubs fordern die Stützung des Kurses durch den Staat – im Denkschema der Marktwirtschaft dagegen gilt das als eine der sinnlosesten Maßnahmen, als ein Versuch, sich den objektiven Kräften von Nachfrage und Angebot entgegenzustellen.

    Entgegengesetzte Grundlogik

    Insgesamt stehen die beiden Programme für entgegengesetzte Grundlogiken. Das Stolypin-Programm geht davon aus, dass die Ankurbelung der Mikroökonomie (indem die Arbeit der einzelnen Unternehmen fast handgesteuert organisiert wird) wie von selbst auch die allgemeine wirtschaftliche Situation in Ordnung bringen werde. Kudrin dagegen setzt bei der Makroökonomie an: Sind die Verhältnisse dort günstig, bedeutet das automatisch Anreize für die Unternehmen.

    Allerdings lassen die beiden Programme auch überraschend viele Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort wird eine grundlegende Verbesserung des Rechtssystems in den Fokus gestellt. Hier wie dort wird von der Notwendigkeit gesprochen, das Unternehmertum stärker zu entwickeln und die Steuerlast sowie den bürokratischen Druck zu senken.

    Beide Ansätze sind sich einig: Es ist nicht nur (oder dermaßen) wichtig, was getan wird, sondern wie es geschieht. Es wird dort zwar nicht explizit gesagt, aber: Diese Erkenntnis ist angesichts der gegenwärtigen Situation in Russland von höchster Bedeutung.

    Eine theoretische Grundlage für die Beachtung des Wie bietet die stetig stärker werdende Schule des Institutionalismus. Die lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wenn die Qualität der wirtschaftspolitischen Instrumente im Land zu schlecht ist, wird keine Steuerungsmaßnahme die erwarteten Ergebnisse bringen.

    Katastrophales Ungleichgewicht

    Ein Institutionalist würde wahrscheinlich darauf verweisen, dass das Wirtschaftswachstum in Russland jetzt weniger durch die schwache internationale Konjunktur oder die Sanktionen und Gegensanktionen unterminiert wird. Ursache sei vielmehr das katastrophale Macht- und Rechts-Ungleichgewicht der Schlüsselakteure im Wirtschaftssystem: Gesellschaft, Unternehmen und Staat.

    Letzterer hat sich von einem Instrument zur zielgerichteten Umverteilung und zum Ausgleich von Marktversagen in einen vollauf eigenständigen Akteur verwandelt, der der Gesellschaft de facto seine wirtschaftlichen Ziele diktiert. Eine solche Position entbehrt einer stabilen Grundlage und bedeutet erwiesenermaßen eine geringe Effizienz.

    Privatwirtschaft als effektives Zugpferd

    Beide Programme, Kudrins Programm und das des Stolypin-Klubs, versuchen den Staat dezent auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen, indem sie daran erinnern, dass nur die Privatwirtschaft zu einem effektiven Zugpferd für Wachstum werden kann.
    In den Kommentaren zu beiden Programmen wird explizit festgestellt, dass der Anteil der mittelbaren oder unmittelbaren Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess mit bis zu 70 Prozent unglaublich hoch ist. In den Korridoren des Staates allerdings, vor allem in jenen der Staatsunternehmen, weht derzeit eher ein Wind der Nostalgie mit Sehnsucht nach den Zeiten des Gosplan.

    Die gegenwärtigen Probleme mit der „kaputtgegangenen“ Wirtschaft Russlands sind das Ergebnis eines systemimmanenten Ungleichgewichts: Wie verstehen Gesellschaft und Staat die wechselseitigen Rechte und Pflichten? Die Gesellschaft hat dem Ideal der „Stabilität“ den Zuschlag gegeben und ist größtenteils froh darüber, dass der Staat sich um sie kümmert und sie versorgt, selbst wenn das Niveau allmählich sinkt.

    Vater Staat soll’s richten

    „Wir nehmen es erstmal hin, der Staat wird es dann schon richten.“ Mit Phrasen dieser Art lässt sich ungefähr die gegenwärtige wirtschaftliche Passivität umreißen. Es ist die gleiche Gesellschaft, die mittels Richtern und Verwaltungen wirkungsvoll wirtschaftliche Unabhängigkeit missbilligt und bestraft.
    Das russische Wort „bisnes“ [von engl. business, gemeint ist privates Unternehmertum – dek] ist im Massenbewusstsein stabil mit illegaler Vorgehensweise assoziiert, einzig und allein Unternehmen mit dem Zusatz „staatlich“ haben eine Existenzberechtigung.

    Der Staat befindet sich jetzt in einer fast uneingeschränkten Komfortzone und hat kaum Anreize, diese wieder zu verlassen.

    Es wird weitergehen wie bisher

    Man kann sich durchaus vorstellen, wie der Staat mit den beiden Programmen umgehen wird: Er wird wohlklingende Deklarationen – Wachstum, Innovationen, Einkommenssteigerungen – aufgreifen. Alle schwer umzusetzenden, dabei jedoch unbedingt notwendigen Punkte, dagegen wird er rausschmeißen, etwa die Frage nach einer wirksamen Justiz- und Gesetzgebungsreform. Im Endeffekt wird er so weitermachen wie bisher und instinktiv seine Präsenz in der Wirtschaft ausbauen.

    Gegenwärtig ist weder ein wirksamer Imperativ des Staates für die Modernisierung der Gesellschaft zu erkennen, noch eine gesellschaftliche Nachfrage nach Veränderung. Man könnte sagen, es hat sich eine ideale „konterrevolutionäre Situation“ ergeben, die der Leninschen revolutionären Situation entgegengesetzt ist: Die da oben können nicht auf neue Art leben, und die unten wollen es nicht. Daher erwarten uns aller Wahrscheinlichkeit nach – unabhängig von der formalen Entscheidung für ein wirtschaftliches Aktionsprogramm – Jahre sozialer Bequemlichkeit und zunehmender wirtschaftlicher Rückständigkeit.

    Das „kaputtgegangene Kind“ (die Wirtschaft) kann nicht ohne wesentliche Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft repariert werden. Wobei derzeit weder die eine noch die andere Seite überhaupt bereit ist, ernsthaft an sich zu arbeiten.

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  • Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    Niedriglöhne – das kleinere Übel?

    In Russland liegt der Mindestlohn noch unter dem Existenzminimum. Die Niedriglöhne gehen oft mit geringer Arbeitsproduktivität einher – darin sehen viele Experten den Kern der russischen Wirtschaftsprobleme. Im Februar hat die Duma bereits über eine Angleichung beraten, voraussichtlich im August soll eine Arbeitsgruppe dazu eine Entscheidung vorlegen.

    Auf Vedomosti erklärt Maria Podzerob, weshalb allerdings nicht nur Arbeitgeber, sondern auch viele Arbeitnehmer in Russland Niedriglöhne als einen Vorteil begreifen.

    Veraltete Transformatoren, die oft repariert werden müssen – darüber läuft die Stromversorgung der Stadt Kineschma in der Oblast Iwanowo. Laut Sergej Sirotkin, Generaldirektor des örtlichen Stromversorgers, würden eine neue Technik und eine Modernisierung der Anlagen 125 Millionen Rubel [ca. 2 Millionen Euro] kosten. Da das Unternehmen über solche Mittel nicht verfügt, stellt es für die Reparaturen 130 Handwerker ein, denen es 20.000 Rubel [ca. 333 Euro] im Monat zahlt. Im Jahr machen diese Gehälter 31,2 Millionen Rubel [ca. 520.000 Euro] aus – deutlich günstiger als eine technische Umrüstung. Auch die regionalen Behörden seien zufrieden: Sie wollen nicht, dass aufgrund von Automatisierung Mitarbeiter entlassen werden – die seien auf dem Arbeitsmarkt in Kineschma nicht wieder vermittelbar, sagt Sirotkin. 

    Vizeministerpräsidentin Olga Golodez gab kürzlich bekannt, dass 4,9 Millionen Beschäftigte im Land unter der Armutsgrenze leben. Daten von Rosstat zufolge lag im Vorjahr bei 10,4 Prozent der Beschäftigten der Verdienst unter dem Existenzminimum.

     

     
    Nach Angabe der Statistikbehörde Rosstat waren 2015 rund 72 Millionen Personen mit Wohnort in Russland erwerbstätig, etwa vier Millionen Menschen galten als arbeitslos. Die amtliche Statistik über Verdienste erfasst allerdings nur rund 29 Millionen Beschäftigte. Auf diese krasse Differenz machte Olga Golodez schon 2013 aufmerksam: Der Staat wisse überhaupt nicht, was diese Menschen eigentlich machen – darüber habe man keinerlei Daten. Quelle: Rosstat.

    In Russland habe sich eine große Klasse von Working Poor herausgebildet, heißt es in einem kürzlich erschienenen Bericht des Zentrums für strategische Entwicklung (ZSR), der zusammen mit der Moskauer Higher School of Economics erstellt wurde. Tatsächlich ist es aber nicht nur für Unternehmen lohnend, Working Poor anzustellen – auch Arbeitnehmer profitieren davon, für ein paar Kopeken zu arbeiten.

    Spezielles Arbeitsmarkt-Modell

    Laut ZSR-Bericht ist in Russland ein spezielles Arbeitsmarkt-Modell entstanden: Wirtschaftskrisen werden demnach nicht mittels wachsender Arbeitslosenzahlen gemeistert, sondern dank sinkender Löhne. Letztere können Unternehmen fast ungehindert senken, da ja das obligatorische Minimum – der Mindestlohn – sehr niedrig sei, so der Bericht. Derzeit beträgt der Mindestlohn 7500 Rubel [ca. 125 Euro]. 

    Der Staat sei daran interessiert, dass die Betriebe möglichst wenigen Mitarbeitern kündigen. Auch jetzt üben regionale Regierungen weiterhin Druck auf Großbetriebe mit mehr als 500 Mitarbeitern aus, um Kürzungen und Arbeitslosigkeit nicht zuzulassen, so Alexander Safonow, Vizerektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation.

    Laut Sergej Sokolow, ehemaliger GR-Manager bei Nike, kommen sich Behörden und wichtige Arbeitgeber dabei gegenseitig entgegen: Die Regionalverwaltung erteilt den Betrieben etwa die Erlaubnis, einigen wenigen Personen zu kündigen, jedoch dürfe das die Arbeitslosenzahlen in der Region nicht erhöhen, weswegen sich der Betrieb wiederum verpflichtet, Umschulungskurse zu organisieren oder Umzug und Arbeitsaufnahme in einer anderen Region zu finanzieren. Im Gegenzug berücksichtigt die Behörde etwa stärker, wenn ein Unternehmer vorankommen möchte und um Unterstützung seiner Investitionspläne bittet. 

    Den Rest gibt’s im Briefumschlag

    Alexander Masljuk, Senior Consultant der Korn Ferry Hay Group, erläutert, ein offizielles Gehalt in Höhe des Mindestlohns würden vor allem große staatliche Infrastrukturunternehmen zahlen. Für die sei eine verdeckte Arbeitslosigkeit charakteristisch, bei der die Leute zwar im Personalbestand erfasst sind, aber nur minimale Aufgaben erfüllen. 

    Private Unternehmen, die offiziell Gehälter in Höhe des Mindestlohns zahlen, händigen ihren Mitarbeitern in Wahrheit den Rest im Briefumschlag aus, sagt Masljuk. Laut Rosstat sind die Beschäftigtenzahlen im Schattensektor von 2010 bis 2014 von 15,2 Millionen auf 16,4  Millionen gestiegen.  

    Angestellte, die monatlich 8000 bis 9000 Rubel [etwa 125 bis 150 Euro] bekommen, seien nicht daran interessiert, sich großartig abzumühen, und würden versuchen, die Situation für sich zu nutzen, meint Dimitri Koschnew, Koordinator der interregionalen Gewerkschaft Rabotschaja assoziazija [Arbeitsassoziation – dek], die zur Arbeitskonföderation Russlands gehört. 

    Er hat selbst drei Jahre in einer Fabrik gearbeitet, in der Drehgestelle für Schienenfahrzeuge produziert wurden. Und er erinnere sich noch, wie ein Drittel der Werkstatt auf Sauftour ging und der Chef nicht wirklich eingriff: Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel [knapp 85 Euro] im Monat verdient? In der Fabrik seien ständig Bauteile und Werkzeuge weggekommen, erinnert sich Koschnew. 

    Was soll man denn verlangen von jemandem, der 5000 Rubel im Monat verdient?

    Geklaut wird auf Schritt und Tritt, stimmt der Top-Manager eines mächtigen Energiekonzerns zu. In Energieunternehmen, sagt er, lassen die Angestellten oft Stromkabel mitgehen, um sie weiterzuverkaufen. 

    Die niedrigen Löhne würden außerdem dazu führen, dass die Leute in zwei oder drei Jobs gleichzeitig arbeiten – wovor die Arbeitgeber eher die Augen verschließen, so Safonow. 
    Die Kehrseite der niedrigen Gehälter ist eine geringe Produktivität, konstatieren die Experten des ZSR. In Branchen der New Economy (Einzelhandel, Onlineverkauf, Banken, Autoindustrie) kämpfe man ernsthaft um die Produktivität des Personals.  

    Höhere Löhne senken Konkurrenzfähigkeit 

    Für die Arbeitgeber sei es günstiger, niedrige Löhne zu zahlen, als in eine Automatisierung der Produktion und Umstrukturierung der Organisation zu investieren, meint Sergej Lossinski, Regionalentwicklungschef am Zentrum für infrastrukturelle Ökonomie.   

    Sergej Sirenko, Generaldirektor einer Schnurfabrik in Tscheljabinsk, hat Zeiten erlebt, in denen es vom Umsatz her möglich gewesen wäre, einem neu angestellten Arbeiter 40.000 Rubel [etwa 670 Euro] im Monat zu zahlen. Doch das habe er nicht gemacht, weil in der Region ein vergleichbarer Fachmann nicht mehr als 30.000 Rubel [etwa 500 Euro] verdiente. Wenn man den Leuten mehr zahle als andere Betriebe, sinke die Konkurrenzfähigkeit der Produktion, zur Verringerung der Herstellungskosten müsse man automatisieren, wofür aber wiederum das Geld nicht reiche, überlegt Sirenko.  
        
    Daten aus dem Bericht des ZSR zufolge geben Verarbeitungsbetriebe für Löhne derzeit ungefähr 30 Prozent weniger aus als zu Beginn der 2000er Jahre.

    Niedrige Einkommen, also keine Nachfrage, also keine Modernisierung, also keine anständigen Gehälter 

    Safonow gibt zu bedenken, dass die Voraussetzung für die technische Umrüstung eines Betriebs die ausreichende Nachfrage sei. In einer einkommensschwachen Bevölkerung entstehe aber keine hohe Nachfrage. Ohne Nachfrage keine Modernisierung, also auch keine anständigen Gehälter. 

    Wer sich für die Modernisierung entscheide, gewinne langfristig an Perspektive, meint Dimitri Teplow, Generaldirektor des Reparatur- und Montagewerks Krasnokamsk (Region Perm), der seine Produktionstechnik 2013 erneuert hat. Seine Fabrik stellt Landwirtschaftsmaschinen her und ist im Lieferantenverzeichnis von Rossagrolising gelistet. Nach Angaben von SPARK-Interfax stiegen ihre Erträge zwischen 2012 und 2015 um 27 Prozent auf 311 Millionen Rubel [gut 5 Millionen Euro], die Aktiva um 43 Prozent auf 201,4 Millionen Rubel [rund 3,4 Millionen Euro].  

    Im Februar beriet die Duma, den Mindestlohn auf das Existenzminimum anzuheben. Eine solche Anhebung könne die Betriebe zwar zu einer kleinen Lohnerhöhung bewegen, meint Safonow, ändere aber noch nichts am ökonomischen Modell. Das man aber, den Autoren des ZSR-Berichts zufolge, auch gar nicht ändern soll: Dieses Arbeitsmarktmodell habe Krisensicherheit bewiesen. Eine große Armee von Working Poor sei eben der Preis für die niedrige Arbeitslosenrate. 

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    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

  • Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    In Moskau wurde in den vergangenen Jahren die ganze Stadt umgekrempelt. Neue Fußgängerpassagen entstanden, Parks wurden modernisiert, Straßen saniert. Der strahlende Glanz der Hauptstadt täuscht darüber hinweg, dass sehr viele Menschen in Russland nach wie vor in Armut leben. Seit einigen Jahren steckt das Land zudem in einer tiefen Wirtschaftskrise – mit der deutlich hervortritt, wie groß die Abhängigkeit des russischen Staatshaushalts vom Ölpreis ist und dass Wirtschaftsreformen fehlen. Die Sanktionen wirken ebenfalls auf das Land. Im Mai machte ein Video im russischen Internet die Runde, in dem sich Premier Dimitri Medwedew bei Rentnern auf der Krim ziemlich salopp rechtfertigt: „Im Moment haben wir einfach kein Geld.” In den Regionen wachsen unterdessen Sozialproteste.

    Auf slon.ru hat sich Jewgeni Karassjuk gefragt, wo der russische Präsident die Ursachen der Armut sieht. Aus Putin-Zitaten der vergangenen zehn Jahre hat er vier Thesen formuliert –  und sie kritisch hinterfragt.

    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant
    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant

    Im vergangenen Jahr ist laut der Statistikbehörde Rosstat die Anzahl der Armen in Russland drastisch gestiegen, auf 19,2 Millionen – das sind 3,1 Millionen mehr als im Vorjahr. 2016 verschlechterte sich die Lage weiter. In den Monaten Januar bis März galt jeder Siebente in Russland als arm (22,7 Millionen Menschen). Ein derart starker Anstieg der Armut, die von Experten der Moskauer Higher School of Economics bereits als Massenarmut bezeichnet wird, bringt die Regierung in eine verfängliche Situation: Einerseits kann sie sich nicht erlauben, die Dimension dieses Problems allzu oft und allzu offen anzusprechen, genauso wenig wie sie die wirre Suche nach Lösungen nicht zu offen zeigen sollte. Andererseits darf die Regierung darüber offensichtlich auch nicht schweigen und so tun, als wäre nichts.

    In den 17 Jahren an der Spitze des Landes hat sich Putin in der Öffentlichkeit einige zwar kurze, aber ideologisch gehaltvolle Bemerkungen zum Thema Armut erlaubt. Zusammengenommen geben sie einen guten Einblick, wie die Regierung in Russland das Problem wahrnimmt und warum die Armut wohl auch in Zukunft weiter zunehmen wird.


    These: Armut als Erzeugnis der 1990er Jahre

    Wladimir Putin: „Die Menschen tragen keine Schuld daran, dass ein Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt; wir haben sie über die vergangenen 15 Jahre dorthin getrieben.“ (2008)

    „Im Jahr 2000 lebten 30 Prozent der Bürger jenseits der Armutsgrenze. Jetzt sind es 11,2 Prozent.“ (2013)

    Das erste Zitat zeigt den Wunsch des Präsidenten, die Verantwortung für die Armut in der Bevölkerung auf die Politik der 1990er Jahre und deren führende Köpfe abzuwälzen, also auf die Liberalen, die unter Jelzin in der Regierung saßen. Die 15 Jahre waren hierbei nur eine ungefähre Zeitangabe. Fünf Jahre später dann wurde Putin ganz konkret: Seit dem Jahr 2000, also seit seinem Einzug in den Kreml, hat sich die Armut um zwei Drittel verringert.

    Tatsächlich war der heftige Ausschlag des Armutsniveaus im Jahr 2000 eine unmittelbare Folge der Krise von 1998, die – ohne Zutun der damaligen russischen Regierung – nur ein Glied in der Kette von Erschütterungen im Finanzwesen von Asien bis Lateinamerika war. Insgesamt war die soziale Entwicklung in den 1990er Jahren gar nicht so negativ gewesen. In der Studie Ausmaß und Profil der Armut in Russland von den 1990er Jahren bis heute1 der Higher School of Economics heißt es: Das Ausmaß der Armut habe sich von 1992 bis zum Crash im August 1998 verringert und zwar deutlich spürbar. Im Zeitraum von nur zwei Jahren (1993 und 1994) sei der Anteil der von Armut Betroffenen um ein Drittel zurückgegangen. Später dann habe er sich allerdings bei einem Wert um 22 Prozent eingependelt. Dass jeder fünfte Bewohner des Landes von Armut betroffen ist, ist natürlich eine krasse Zahl. Aber man darf nicht vergessen, dass dies die Zeit war, als sich die Sowjetbürger von gestern an eine kapitalistische Realität anpassen mussten, die nicht durch einen dreistelligen Ölpreis geschönt wurde. (Der Preis für ein Barrel Urals-Öl lag davor im Jahr 1990 bei 22,7, 1995 bei 16,6 und 2000 bei 26,6 US-Dollar [heute liegt er bei 50 US-Dollar – dek]).


    These: Armut als Paradox eines rohstoffreichen Landes

    Wladimir Putin:Russland ist ein sehr reiches Land, aber leider, und dafür schäme ich mich sehr, gibt es immer noch sehr viele Arme in der Bevölkerung. Wir werden alles dafür tun, dass  Lebensstandard und  Lebensqualität der Bürger von Jahr zu Jahr steigen. Ich gehe davon aus, dass wir diese Aufgabe nicht erst in ferner, historischer Zukunft lösen werden, sondern in den nächsten Jahrzehnten.“ (2006)

    Hier ist vor allem vom Anteil der „natürlichen Ressourcen und Bodenschätze“ an der Volkswirtschaft die Rede, der nach Auffassung des Präsidenten äußerst groß war,  ist und wohl auch bleiben wird. Die Staatseinnahmen stammten im vergangenen Jahr [2015 – dek] zu 44 Prozent aus Öl- und Gaslieferungen; das bedeutet eine kleine Einbuße gegenüber dem Spitzenwert von 51,3 Prozent im Jahr zuvor. Vor zehn Jahren, im Jahr 2006, aus dem Putins obige Überlegungen zur Armut in einem reichen Land stammen, hatten Öl und Gas knapp 47 Prozent der Haushaltseinnahmen Russlands ausgemacht. In diesen Zahlen zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch: Rohstoffreichtum einerseits und Lebensqualität der Bevölkerung andererseits.

    Tatsächlich besteht hier überhaupt kein Widerspruch. In der Wirtschaftswissenschaft ist der Begriff Ressourcenfluch enorm verbreitet. Anhand solider Statistiken belegt etwa der US-amerikanische Politologe Michael L. Ross, Autor des Buches The Oil Curse: How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations, dass der Zugriff auf große Mengen fossiler Bodenschätze für ärmere Länder nur von Nachteil ist – vor allem für die breite Bevölkerung, die nur ein winziges Stück vom Kuchen abbekommt. Russland ist hierfür ein besonders unansehnliches Beispiel; erst jüngst wurde es von der Consulting-Firma Capgemini zur weltweit ungerechtesten großen Volkswirtschaft erklärt. 62 Prozent des nationalen Reichtums gehören den Dollarmillionären, weitere 26 Prozent den Dollarmilliardären. Beide Gruppen zusammen machen 0,1 Prozent der Bevölkerung des Landes aus. Die Jahre unter Putin waren durch einen gehörigen Anstieg der Kennzahlen von Einkommensunterschieden geprägt (Gini-Index und Gegenüberstellung der reichsten 10 und der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ).


    These: Armut durch Systemversagen bei Umverteilung zwischen den Regionen

    Wladimir Putin: „Die Lebensqualität der Menschen, die Steigerung ihrer Einkommen, die Verbesserung des sozialen Bereichs und der Infrastruktur hängen unmittelbar vom Zustand der Haushalte in den Regionen und Kommunen Russlands ab. […] Heute sind die Unterschiede der regionalen Haushaltsausstattung offensichtlich. […] Und zwar bei der Entlohnung von Arbeitskräften, bei der Finanzierung sozialer Projekte und bei Infrastrukturmaßnahmen. Wir müssen Lösungen finden, um diese Schieflagen auszubalancieren, und die Regionen in die Lage versetzen, ihr finanzielles Fundament zu festigen.“ (2016)

    In diesem aktuellen Vorschlag des Präsidenten ist nicht von der Armut der Bevölkerung an sich die Rede, sondern von den bedürftigen regionalen Haushalten. Aus der Forderung „Schieflagen auszubalancieren“, wird deutlich, welchen Ausweg Putin aus der kritischen Situation mit der Armut sieht, insbesondere in der Provinz: Die Instrumente staatlicher Subventionierung müssen umgestaltet werden, ohne das zu sprengen, was der Nobelpreisträger Paul Krugman „Kultur der Abhängigkeit“ genannt hat.

    Tatsächlich ist nicht ein mangelhaftes Umverteilungssystem Schuld an dem kümmerlichen Zustand der regionalen Haushalte, sondern die jahrelange Politik des Kreml. Bereits vor der Krise hatte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung prognostiziert, dass das Defizit in den  konsolidierten Regionalhaushalten von 50 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 1,8 Billionen Rubel im Jahr 2018 ansteigen wird – vor allem aufgrund der Mai-Erlasse Präsident Putins. In seiner programmatischen Haushaltsbotschaft für die Jahre 2013 bis 2015 hatte der Präsident einer Erhöhung der Gehälter öffentlicher Angestellter – „die geringer sind als die in der freien Wirtschaft und bisweilen gerade einmal oberhalb des Existenzminimums liegen, was völlig unzulässig ist“ – äußerste Priorität gegeben. Der Präsident räumte dabei ein, dass die „Qualität der Arbeit im öffentlichen Sektor die Bürger nicht zufriedenstellt, obwohl Jahr für Jahr mehr Mittel in den sozialen Bereich fließen“. Wobei es parallel zu der riesigen Belastung der Haushalte zu einer ständigen Ausweitung des staatlichen Sektors kommt: 2011 betrug der Anteil der in staatlichen Einrichtungen und Firmen Beschäftigten nach Angaben der OECD rund 30,6 Prozent und stieg in der Folge weiter an.

    In der Theorie kann die finanzielle Unabhängigkeit der Regionen, von der Putin spricht, dem Problem der Armut in der jeweiligen Region die Schärfe nehmen. Und in der Praxis? Die üppigen Zuschüsse aus Moskau haben die Republik Mordwinien nicht vor der Versuchung bewahrt, noch mehr Schulden zu machen. Diese sind nach Einschätzung der Soziologin Natalja Subarewitsch auf phantastische 165 Prozent des (natürlich höchst defizitären) regionalen Haushalts angewachsen. Es ist bezeichnend, dass an der Spitze einer der ärmsten Regionen Russlands in den letzten zwanzig Jahren zwei Gouverneure standen, die sich beide an der Macht halten. Nikolaj Merkuschin, der Mordwinien seit den 1990er Jahren bis zu seiner Ernennung zum Oberhaupt der Oblast Samara regierte, wurde von Wladimir Wolkow abgelöst. „Ende letzten und Anfang dieses Jahres hatten wir wirtschaftliche Schwierigkeiten“, erstattete Wolkow dem Präsidenten [im Sommer 2015 – dek] Bericht, „doch [die] haben wir jetzt bereinigt“.


    These: Armut als Folge von Hilfe aus dem Westen

    Wladimir Putin: „[Die Länder des Westens] müssen den Entwicklungsländern helfen, und zwar nicht nur, indem sie einfach Geld geben und eine neue Armutsspirale erzeugen. Es geht darum, die Bedingungen des Welthandels zu ändern.“ (2009)

    „ … Wenn wir durch die derzeit bestehenden Regeln des Welthandels die Armut in den Entwicklungsländern ständig erneuern, dann können wir diesen Ländern ewig irgendwelche Hilfsleistungen zukommen lassen; aber das wäre, ehrlich gesagt, kein anständiges Verhalten.“ (2013)

    Die erste Äußerung machte der Präsident in Davos auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise; sie war zum Teil ein Kommentar zu einer erneuten Sackgasse in den Verhandlungen über einen Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (der Beitritt erfolgte erst zwei Jahre später).

    Die zweite Äußerung fiel zu einem späteren Zeitpunkt bei einem Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Jungen Zwanzig (Y 20). Beide Zitate zeigen Putins negative Einstellung gegenüber jeder Form ausländischer Hilfe zur Lösung innerer Probleme – eine solche Hilfe wird im Kreml stringent als Angriff auf die Souveränität wahrgenommen. So ist es denn auch schon 18 Jahre her, dass Russland seinen letzten Kredit vom IWF erhalten hat. Das Land hat vor langem und vorzeitig seine Schulden beim Pariser Klub beglichen. Die fast nur symbolische Unterstützung, die Russland von der Weltbank erhält – vor allem für Förderprojekte zur Erteilung von Mikrokrediten – kann hier vernachlässigt werden.

    Putins Ansichten zur fehlenden Effektivität der IWF- und Weltbank-Hilfen sowie von anderen internationalen Institutionen für Entwicklungsländer sind nicht unbegründet. Der ehemalige Weltbank-Experte William Easterly zeigt in seinem berühmten Buch The Elusive Quest for Growth den verheerenden Einfluss ausländischer Kredite: Durch sie wird bei den entsprechenden Regierungen der Anreiz vermindert, gesellschaftliche Reformen voranzutreiben. Den Argumenten Easterlys, die durch persönliche Erfahrungsberichte und langjährige Statistiken gestützt werden, ist nur schwer zu widersprechen.

    Dass die Aufrufe Putins zu Korrekturen beim Welthandel kaum ernstzunehmen sind, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Bis 2020 wird der Anteil Russlands an der Weltwirtschaft – so die Schätzung des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin – auf ein Rekordtief von 2,6 Prozent absinken, und auch Kirill Termassow, der im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung für die Prognosen verantwortlich zeichnet, hat kürzlich eine zielstrebige Entwicklung in dieser Richtung bestätigt. Die „neue Spirale der Armut“, die Putin mit Blick auf die Länder der Dritten Welt verurteilte, hat nun Russland voll erwischt – und das ganz ohne fremde Hilfe.


    1.Ovčarova, L. N./Birjukova, S. S./Popova, D. O./Vardanjan, E. G. (2014): Uroven‘ i profil‘ bednosti v Rossii: ot 1990ch godow do našich dnej

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    Quasi über Nacht brachen während der Perestroika alle bisherigen Werte und Normen zusammen. Und was dann kam in den 1990er Jahren an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, das ging ins russische kollektive Gedächtnis ein unter dem Schlagwort lichije 90-e (dt. „Wilde 1990er“).

    Plötzlich war alles anders: So gab es etwa in Russland vor 25 Jahren ein neues Gesetz über „Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit“ und damit für die Russen überhaupt erstmals seit der Zarenzeit die Möglichkeit, private Unternehmen zu führen. Und weil kaum einer noch etwas hatte, von Lohn und Arbeit ganz zu schweigen, wurden Millionen zu Managern ihres eigenen Bisnes. Einige von ihnen verdienten im Lauf der Jahre Millionen, andere scheiterten an den kriminellen Methoden und der Korruption, die ständig zunahm.

    Olga Beschlej beschreibt auf dem Online-Wirtschaftsmagazin Sekret Firmy die notgeborenen Aufbruchsjahre der 1990er in ihrer Familie: mit Hühnern auf dem Balkon, Weckern mit Jelzin-Ziffernblatt und den typischen rot-weiß-blau-karierten Plastiktaschen, in denen alles transportiert wurde.

    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996
    Die typisch rot-weiß-blau-karierten Taschen – mit ihnen drangen Gerüche in den Korridor, nach Frost, Markt, Waschpulver / Foto © Kommersant, 1996

    In einem Roman von William Faulkner, dem Lieblingsschriftsteller meines Vaters, gab es einen Protagonisten, der Nähmaschinen verkaufte. Er nähte sich auch Jeanshemden, wusch sie selbst und trug nie etwas anderes.

    Die Handlung des Buches habe ich schon so gut wie vergessen, doch diese Figur ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben: Erstens, weil er Wladimir Kirillytsch Ratlif hieß. Zweitens, weil ich beim Lesen immer meinen Vater im Kopf hatte. Der trug auch immer Jeanshemden, die ebenfalls vom Waschen ausgeblichen waren. Aber Nähmaschinen – das ist wohl das Einzige, was er, soweit ich mich erinnere, nie verkauft hat.     

    Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als mein Vater als Ingenieur am physikalisch-energetischen Institut arbeitete. An eine Szene, wo Papa im Jackett im Korridor steht. Meine Mama trägt mich auf dem Arm, wir verabschieden uns, bevor er zur Arbeit geht. Es ist sehr früh, vor dem Fenster ist es noch stockfinster. In unserem Korridor liegt ein gefrorenes totes Schwein.

    Ein tiefgefrorenes totes Schwein im Korridor

    Jetzt ist mir klar, dass dieses Fleisch ein großer Segen war, weil mein Vater damals fast nie sein Gehalt bekam. Das war so ungefähr 1992. Um irgendwie zurechtzukommen, hatte mein Vater eine Baubrigade organisiert, mit der er in den umliegenden Dörfern Ställe und Schuppen baute. Am Institut, wo damals alle arm waren, schätzte man seinen Unternehmergeist nicht und legte ihm die Kündigung nahe.

    Meine Mutter arbeitete an einem anderen Institut – für Wissenschaft und Forschung. Sie nahm mich sogar ein paarmal mit auf die Arbeit, und ich sah dort einen Computer mit blauem Bildschirm hinter einer bauchigen Scheibe. Ich durfte die Leertaste drücken. Ich drückte, und über den Bildschirm liefen Ziffern. Das fand ich total langweilig, und ich bemitleidete meine Mama, die, wie ich dachte, tagelang die Leertaste drücken musste. Ihr Gehalt wurde immer mit Verzögerung ausgezahlt und dann gar nicht mehr.

    1993 wurde meinen Eltern gekündigt und sie fingen im Handel an. Sie waren ungefähr 35 oder 36. An der Hand zwei Kinder – meinen großen Bruder, der schon zur Schule ging, und mich. Wir wohnten in einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga, 100 Kilometer von Moskau entfernt. Meine Eltern leben auch jetzt noch dort.

    1993 fingen meine Eltern im Handel an

    Neben unserem heißgeliebten Wohnort lag eine Versorgungsbasis für Lebensmittel. In der Sowjetzeit waren dort Lebensmittel hingebracht worden, die dann an die Läden in der Region ausgeliefert wurden.

    In den 1990ern wurden diese Basen zu wichtigen Handelsknotenpunkten: Hierhin wurden Waren aus Großstädten und dem Ausland transportiert, und Kaufleute und Tschelnoki (Kleinhändler, auch Meschotschniki genannt) sortierten sie „zum Vertrieb“.

    In Moskau bildeten sich solche Handelszentren, den Erzählungen meiner Eltern zufolge, oft in leerstehenden Kinos. Auf diese Basen brachten Chinesen, Koreaner und Vietnamesen allerlei Konsumgüter, für die man aus ganz Russland in die Hauptstadt strömte.

    Die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrer ersten Ware kam, habe ich viele Male gehört, und noch immer finde ich sie unglaublich.

    Sie fuhr zu der Handelsbasis in der Nähe unserer Stadt, bemerkte irgendeinen Kerl, der polnische Säfte und Limonaden aus dem Auto auslud, ging zu ihm hin und bat ihn einfach um Waren „zum Vertrieb“. Geld hatte sie keines. Gar keines. Der Mann sah sie an, kratzte sich am Hinterkopf, dann rief er dem Fahrer zu: „Lad dieser Frau ab, soviel sie braucht.“

    Er und meine Mutter unterschrieben einen Warenschein. Auf diesem Papier, das man in zweifacher Ausfertigung unterschrieb, stand, wie viel Ware zu welchem Preis einer konkreten Person ausgehändigt worden war. Nach Ausweispapieren fragte bei der Erstellung des Warenscheins niemand. Tag und Ort, an dem meine Mutter das Geld für die Ware übergeben sollte, wurden mündlich vereinbart. Sie mietete vor Ort ein Auto (auf Kosten ihres zukünftigen Gewinns), lud die Kisten mit den Flaschen ein und verkaufte auf der Bahnüberführung noch am selben Tag alles. Gegen Abend lieferte sie das Geld ab und bekam die nächste Charge.

    Später übernahm meine Mutter von anderen Leuten genau auf dieselbe Art – ohne Geld und mündlich vereinbart –  „zum Vertrieb“ tiefgefrorenen Fisch und Hühnerkeulen.  

    „Na, überleg mal“,  erklärte mir meine Mutter, „wenn ich ihm diese Ware gestohlen hätte, hätte mir nächstes Mal niemand mehr was gegeben. Klar gab es auch welche, die klauten. Mir hat man später auch was geklaut. Aber ein zweites Mal wär‘ das nicht durchgegangen.“

    Geld fiel vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder

    Bei meinem Vater lief es ganz gut mit seiner Baubrigade, bis er beschloss zu expandieren und dafür bei einer Bank einen Kredit aufnahm – zu 300 Prozent Jahreszinsen, was, nebenbei bemerkt, nur halb so schlimm war. Geld fiel damals buchstäblich vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder, weswegen im Gewerbe die Idee vom plötzlichen Reichtum blühte.

    Ein Geschäftspartner überredete meinen Vater, den ganzen Kredit in einen Container amerikanischen Billigessens zu investieren und es auf diese Art sofort umzuschlagen. Also bei einem Zwischenhändler einen Container zu kaufen, die Ware abzusetzen und so viel Gewinn zu machen, dass der Kredit getilgt wäre und ihm selbst noch was bliebe. Von der Idee, etwas in Amerika einzukaufen, war mein Vater ganz angetan. Er zahlte das Geld ein.  

    Der Container kam nicht.

    Mein Vater zahlte der Bank ein paar Monate lang Zinsen, bis seine Firma pleiteging. Die Bank reichte Klage ein. In ihrer Verzweiflung wandten sich meine Eltern an die Betrüger, denen sie das Geld für den Container gegeben hatten. Die erbarmten sich und stellten ein Papier aus, laut dem der Container, für den das Geld der Bank gezahlt worden war, in einem US-Bundesstaat von Schmugglern entwendet worden war. „Mit Stempel vom Gouverneur des Bundesstaats! Und Unterschrift!“, erzählte meine Mutter verzückt. Der Schrieb wurde dem Gericht vorgelegt und mit großer Achtung und Ehrfurcht begutachtet. Mein Vater wurde zwar noch zwei Jahre durch alle Instanzen gejagt, doch im Endeffekt ließ man ihn in Ruhe.  

    Kopfüber in den Kleinhandel: Wecker mit Jelzin-Ziffernblatt

    Nachdem die Baufirma hopsgegangen war, stürzten sich meine Eltern kopfüber in den Kleinhandel. Verkauften Bücher, Putzmittel, Kosmetik. Vater erzählte, er habe auf dem Stary Arbat sogar Wecker mit Jelzin drauf verkauft. Es war Winter, kalt, niemand beachtete ihn, die Leute gingen vorbei, kauften woanders. Ein Typ, der daneben irgendeinen anderen doofen Kleinkram verkaufte, machte sich über Papas Wecker furchtbar lustig, bis der die Nase voll hatte. Fuchsteufelswild nahm mein Vater einen seiner Wecker, holte aus und warf ihn mit voller Wucht. Ein abscheulicher Klingelton schrillte durch die Straße, die Leute drehten sich danach um, kamen näher, bald umringten sie meinen Vater scharenweise und kauften fast alle Wecker auf. Den Rest drehte er seinem frechen Nachbarn an.

    Die Waren wurden bei uns zu Hause gelagert – in gestreiften und karierten Taschen, die aussahen wie aus Angelschnüren gewebt. Diese Taschen erschienen mir riesig und unmöglich anzuheben. Meine Eltern schleiften sie in den Korridor, und mit ihnen drangen Gerüche herein – nach Frost, Markt, Waschpulver. Ich kann mich noch gut an Mamas schreckliche Hände erinnern – rot und steifgefroren, und wie sie sich dann in der brennendheißen Badewanne aufwärmte.    

    Von allen Waren sind mir besonders die grimmigen Hennen in Erinnerung geblieben, die bei uns auf dem Balkon lebten und ihn ordentlich vollkackten. Mein Vater hatte sie zum Weiterverkauf aus irgendeinem Dorf geholt, und ein paar Tage wüteten sie vor dem Küchenfenster.

    Oh! Und das wunderbare Feuerwerk, das sie zu Neujahr sehr erfolgreich verkauften: Mit dem Gewinn konnten sie uns zum ersten Mal Kokosnüsse und eine Ananas kaufen, außerdem Hershey’s Schokolade – eine weiße, mit dunklen Stückchen. Ich aß sie gleich morgens am ersten Tag des Jahres 1996 auf.  

    Es herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr

    Einen festen Marktstand in einer Stadt im Gebiet Kaluga bekamen meine Eltern 1995, dort standen sie etwa zwei Jahre, bis die Bullen den Markt den ortsansässigen Banditen abpressten. Mutter erzählte, wie frappierend der Kontrast zwischen den alten und den neuen Inhabern war. „Nein, denk bloß nicht, dass mir diese kleinen Gauner gar so gefallen hätten“, rechtfertigte sich Mama, der die kleinen Gauner allem Anschein nach aber sehr wohl gefallen hatten. Sie beschrieb die kräftigen, durchtrainierten Burschen, die bei ihr und Vater das Schutzgeld abholten, als wortkarge und eigentlich sogar … höfliche Menschen: „Nie wurden sie mir gegenüber ausfällig und vulgär, die Summe war angemessen, fix, sie nahmen uns nicht aus. Nicht wie die danach …“

    Nach der Neuaufteilung herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr. Ein Uniformierter konnte jederzeit und jeden Tag auftauchen. Und zusätzlich zur Standmiete verlangen, was er wollte. Dem ging immer eine besondere Zeremonie voraus – sie beäugten die Ware, kontrollierten die Dokumente: „Und dann ging’s los: Der Stempel falsch, die Preislisten stimmen nicht, sie verbissen sich in den Zertifikaten“, erzählte Mama. Einmal wurde es meinem Vater zu bunt, und er sagte: „Wisst ihr was, erledigen wir doch die Formalitäten gleich auf der Wache. Ganz korrekt.“ Sie machten den Laden dicht, verpackten die Ware, fuhren auf die Dienststelle. Dort bearbeiteten sie stundenlang irgendwelche Akten, dann ließen sie es gut sein und entließen meine Eltern mitsamt ihrer Ware. „Denen ging es ja nicht um Recht und Ordnung, sondern ums Geld. Und wir kommen mit offiziellen Papieren“, erklärte Mama.

    Nach diesem Vorfall verließen sie den Markt. Sie mieteten sich in dem örtlichen Handelszentrum ein und begannen einen Großhandel mit Reinigungsmitteln. Wieder ein paar Jahre später konnten meine Eltern ein weiteres Geschäft in der Stadt aufmachen – diesmal einen Einzelhandel. Dann noch eines. Eine Zeit lang ging es uns recht gut.    

    Ihren letzten Laden haben meine Eltern ungefähr 2012 geschlossen. Meine Mutter redet viel und oft darüber, warum alles so gekommen ist. Und schimpft viel. Mein Vater sagt nichts. Steht einfach jeden Tag um fünf Uhr früh auf und geht zur Arbeit – ins physikalisch-energetische Institut.

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  • Vom Osten lernen

    Vom Osten lernen

    Schwere Rezession, hohe Inflationsrate und eine starke Abwertung des Rubels: Die russische Wirtschaft ist auf Talfahrt. Russland, das über knapp 17 Prozent der weltweiten Gas- und 5,5 Prozent der Ölreserven verfügt, ist zu stark abhängig von Rohstoffexporten und zeigt strukturelle Schwächen. Seit dem Krieg in der Ukraine tun außerdem die westlichen Sanktionen ihr Übriges.

    Dabei hatte Putin, gemeinsam mit dem damaligen Wirtschaftsminister Alexej Kudrin, vor knapp einem Jahrzehnt vorgesorgt: Staatsfonds, gespeist aus Einnahmen der Energieexporte, wurden eingerichtet. Hintergrund war damals auch die Angst, durch stetige Verschuldung immer weiter in die Abhängigkeit von Oligarchen und globalen Investoren zu geraten. Nun gibt es bereits den Ministeriumsvorschlag, an diese Reserven zu gehen und einen der Fonds im kommenden Jahr aufzulösen.

    In dieser Situation rät Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew in seinem Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru, von China zu lernen: In den 1980er und vor allem 1990er Jahren hatte die sozialistische Volksrepublik den privatwirtschaftlichen Sektor freigegeben und den staatlichen strikt von ihm getrennt. So wurden die Weichen für einen gewaltigen Entwicklungssprung gestellt.

    Trotz der unermüdlichen Erklärungen russischer Beamter bleibt die wirtschaftliche Situation in Russland äußerst angespannt: Eine Rückkehr zum Wachstum ist bislang nicht absehbar; sogar die erfolgreichsten Unternehmer bezeichnen das Business-Klima als „äußerst feindlich“; Wirtschaftsreformen werden zumindest dieses Jahr nicht mehr in Gang gebracht; die Spannungen zwischen Russland und der übrigen Welt nehmen nicht ab. Das Haushaltsjahr wird mit einem Defizit abgeschlossen, und die bestehenden Rücklagen werden in anderthalb bis zwei Jahren erschöpft sein, vorausgesetzt, die Rohstoffpreise fallen nicht wieder.

    Keine Lösung in Sicht – und so vergeht die Zeit

    Es ist allgemein bekannt, dass heute zwei Gruppen von Ökonomen um den Einfluss auf den Präsidenten konkurrieren. Die einen setzen auf Liberalisierung, die anderen wollen die Rolle des Staates stärken, unter anderem durch zusätzliche Geldemission.

    In einigen Fragen ähneln sich die Positionen der Kontrahenten, doch es gibt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Der Präsident schwankt, da ihm klar ist, dass beide Varianten erhebliche Risiken bergen. Und so vergeht die Zeit.

    Seit dem Beginn der Krise 2008 – für das Putinsche System in gewisser Hinsicht der erste Warnschuss – sind zehn Jahre vergangen. Aber seitdem ist das Land praktisch auf der Stelle geblieben, insbesondere, wenn man seine „Errungenschaften“ mit dem vergleicht, was in China und Singapur, in Dubai und Riad erreicht worden ist.

    In einer solchen Situation kann man, denke ich, auch einmal sehr ungewöhnliche Vorschläge machen. Einer davon läuft auf etwas hinaus, das sicherlich umgehend mit der Bezeichnung „wirtschaftliche Opritschnina“ versehen würde: die formelle Aufteilung der Volkswirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor.

    Trennung der Wirtschaft in einen staatlichen und einen privaten Sektor – „staatliche Opritschnina“?

    Eine kurze Beschreibung dieses Vorschlags sollte meines Erachtens so beginnen: Es ist gar nicht einmal der übermäßig große staatliche Anteil an den Aktiva, der ein ernsthaftes Problem für Russland darstellt, sondern die Verschwommenheit der Grenzen dieses staatlichen Sektors. Dies führt dazu, dass sich die Interessen der Unternehmen und des Staates ständig überkreuzen. Und der Schutz der Staatsinteressen läuft darauf hinaus, dass die Unternehmer in die Enge getrieben werden. Dabei erzielt die Regierung den Großteil der Einnahmen weder durch die mittelständischen oder kleinen Unternehmen noch durch die Besteuerung von Bürgern, sondern aus der Tätigkeit der Großunternehmen oder aus Steuern auf Export und Import. Deswegen besteht der Vorschlag im Wesentlichen darin, die Großunternehmen weiter zusammenzuführen (obwohl man hier einwenden könnte – geht es noch weiter?) und den Druck auf private Unternehmen zu mindern.

    Großunternehmen konsolidieren, Druck auf private Unternehmen mindern

    Was ist damit gemeint? Nehmen wir einige Großunternehmen wie Rosneft, Gazprom, Bashneft, Transneft, die russische Eisenbahn RZhD, Aeroflot, VTB und Sberbank, Rostechnologii und einige andere: Die ersten beiden haben 2015 jeweils über 2 Billionen Rubel [etwa 30 Milliarden Euro] an Steuern und anderen Abgaben in den Staatshaushalt eingezahlt, was insgesamt circa ein Drittel der Staatseinnahmen ausmachte. Alle großen Staatsunternehmen zusammen sichern dem Staatshaushalt über die Hälfte seiner Gesamteinnahmen. Dabei wirtschaften einige von ihnen, sagen wir, nicht besonders effizient. Gazprom etwa hat nach Untersuchungen von Experten innerhalb von sechs Jahren über 2,4 Billionen Rubel [nach heutigem Kurs etwa 35 Milliarden Euro] sinnlos vergeudet. Gleichzeitig sind die Selbstkosten für Produktion und Leistungen des Unternehmens gestiegen und einige Märkte verlorengegangen.

    Der Börsenwert aller „volkseigenen Betriebe“ ist in den vergangenen acht Jahren um mehr als das Fünffache von einer Billion auf unter 200 Milliarden US-Dollar gefallen.

    Der Staat sollte lieber mit dem wirtschaften, was er schon hat, anstatt aus privaten Unternehmen die letzte Kopeke herauszuquetschen, Steuern und Abgaben zu erhöhen, unzählige Inspektionen durchzuführen und so im Endeffekt Unternehmen und Arbeitsplätze zu vernichten.

    Giganten wie Gazprom: cash machines für den Staatshaushalt

    Heute wird im Kreml die Frage diskutiert, ob man einen Teil der Aktien von Staatsunternehmen veräußern sollte, um das Haushaltsdefizit zu decken. Ein anderer Weg wäre besser:

    Die staatlichen Aktienkontrollpakete müssten in einen nationalen Investmentfonds überführt werden. In der Art, wie er gerade in Saudi-Arabien geschaffen wird, oder wie es ihn bereits in Singapur oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt. Dieser Fonds sollte sich vorrangig um das Füllen der Staatskasse und um die Effizienzsteigerung staatlicher Unternehmen kümmern und nicht in Fußballclubs, nie in Betrieb gehende Pipelines und Flugzeuge für Manager „investieren“.

    Der Aufsichtsrat, gerne unter dem Vorsitz von Präsident Putin, sollte ausschließlich aus internationalen Profis bestehen, die bislang keine Verbindung zum russischen Business hatten. Schließlich sollte die Leitung aller Unternehmen der Holding erfolgreichen internationalen Managern anvertraut werden, um somit die kommerzielle Tätigkeit dieser Firmen komplett zu entpolitisieren.

    Heute ist es schwer zu verstehen, was Gazprom oder RZhD eigentlich sind. Sind es Sponsoren von großen sportlichen und außenpolitischen Aktionen? Oder Unternehmen, deren Aufgabe in der Steigerung von Core Results besteht? Das Reformziel sollte darin bestehen, diese Giganten in eine Art Cash Machines für den Staathaushalt zu verwandeln.

    Das Gas sollte nicht „nach Osten umgelenkt werden, sondern dorthin verkauft, wo es am meisten Geld bringt; Ölunternehmen sollten keine Schiffswerften bauen, sondern die Förderung flexibel und gleichmäßig steigern; von Zimmern voller Pelzmäntel ganz zu schweigen.

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Finanzpläne von russischen Staatsunternehmen die Pläne ähnlicher Unternehmen im Ausland um einiges übersteigen, könnten die Kosten mindestens um ein Drittel gesenkt, die Einnahmen spürbar gesteigert und eine Menge unnötiger Ausgaben gestrichen werden.

    Innerhalb von drei bis fünf Jahren wäre es denkbar, dass sich die Einnahmen aus Steuern, Abgaben und insbesondere Dividenden von 10 bis 15 Staatsunternehmen verdoppeln.

    Mindestens genauso wichtig erscheint ein weiteres Ziel: Die Kapitalausstattung des gesamten nationalen Investmentfonds um das Zwei- bis Dreifache zu steigern und 20 bis 25 Prozent seiner Aktien an ausländische Großinvestoren zu verkaufen.

    Anders ausgedrückt, es ist an der Zeit, einen wirklich staatsmäßigen (und nicht verwaltungsmäßigen) Ansatz für den Umgang mit dem staatlichen Großeigentum zu finden. Das kann dazu führen, dass die Steuereinnahmen dank einer solchen Opritschnina auf mindestens zehn Billionen Rubel [etwa 140 Milliarden Euro] jährlich steigen und somit zwei Drittel des Staatshaushaltes ausmachen. Darüber hinaus würde die Kapitalausstattung der staatlichen Aktiva um 150 bis 250 Milliarden US-Dollar wachsen, was einem Jahreswert an Haushaltseinnahmen entspricht.

    Russland braucht eine stabile, autarke Wirtschaft

    Das Hauptziel besteht nicht nur in der Lösung aktueller Probleme. „Oberstleutnant Putin zu retten“ vor dem unausweichlichen Zusammenbruch des Wirtschaftssystems kann nur dann gelingen, wenn das Land in 10 bis 15 Jahren (und dieser Horizont entspricht meiner Meinung nach seinen Plänen, was seine Regierungszeit angeht), wenn nämlich die weltweite Nachfrage nach fossilen Energieressourcen und anderen Rohstoffen aus Russland rapide fallen wird, über eine stabile, autarke Wirtschaft ohne oligarchischen Einfluss verfügt. Hiermit würde die vorgeschlagene Strategie das wiederholen, was bei der ersten Etappe der chinesischen Reformen von 1980–1990 geleistet worden ist.

    Die russische Führung verfügt über eine stabile Steuerquelle und kann im Falle eines Ölpreisverfalls flexibel reagieren, indem sie den Währungskurs anpasst. Dadurch könnte sie außerhalb des staatlichen Sektors eine maximale Liberalisierung der wirtschaftlichen Tätigkeit zulassen.

    Anders ausgedrückt: Man sollte sich nicht darauf konzentrieren, die existierenden russischen Unternehmen gewinnbringend zu verkaufen, sondern darauf, dass in Russland tausende neue gegründet werden.

    Die Steuerlast für private Unternehmen sollte gesenkt werden, damit dort Raum für neue Arbeitsplätze entstehen kann. So können auch  Arbeitskräfte aufgenommen werden, wenn diese von Staatsbetrieben freigestellt werden.

    Es ist doch ein Unding, dass Gazprom, verglichen mit Shell, nur ein Drittel des Gewinns bringt, dabei aber drei Mal mehr Personal beschäftigt! Oder RZhD, die zwölf Mal mehr Personal beschäftigt als die vergleichbare kanadische Eisenbahn!

    Russland als große Offshore-Zone

    Die Entwicklung des privaten Sektors wird an die Effizienzsteigerung des staatlichen gekoppelt sein. Mehr noch, eine längerfristige Steuerbefreiung sollte Russland für eine gewisse Zeit in eine große Offshore-Zone verwandeln, in die sowohl ausländische als auch einheimische Unternehmen gerne investieren. Dabei sollten sie wissen, dass in 10 bis 15 Jahren, wenn sich das goldene Zeitalter der große Konzerne dem Ende zuneigen wird, die Steuern wieder erhöht werden.

    Indem sie einen effizienten staatlichen Sektor als Stütze schafft, könnte die russische Staatsführung das Land für Investoren attraktiv machen – und weltweit ist der staatliche Sektor durchaus effektiv, wenn der Staat zwar formell Eigentümer ist, die Unternehmen sich aber nach Marktgesetzen entwickeln können.

    Innerhalb dieser 10 bis 15 Jahre könnten unabhängige Investoren, denen sinnlose Kämpfe mit Silowiki erspart blieben, die Grundlage für eine Wirtschaft schaffen, die später die hauptsächliche Steuerlast übernehmen würde – selbstverständlich in kleinen Schritten und sehr vorsichtig.

    Die Erfahrung Chinas als Vorbild

    Ich wiederhole: Die Erfahrung Chinas hat gezeigt, dass die politische Führung zwar die Großunternehmen komplett kontrollieren, gleichzeitig aber eine vorrangige Entwicklung des privaten Sektors erlauben kann. Unabhängig davon, wie erfolgreich sich dieser entwickelt, wird er keineswegs die von oben verordnete „Stabilität“ in Gefahr bringen.

    Russland hat offensichtlich nicht vor, zu einem europäischen Land zu werden, nicht einmal in wirtschaftlicher Hinsicht. Das ist traurig, aber nicht katastrophal. Asien liefert eine Menge beeindruckender Beispiele, wie ein Staat, angefangen mit China bis hin zu Saudi-Arabien, sich vernünftigerweise für die Strategie entscheidet, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen, was mehrheitlich zu beeindruckenden Ergebnissen führt.

    Ich bin überzeugt, dass wir endlich damit beginnen müssen, von anderen zu lernen – wenn schon nicht vom Westen, dann zumindest vom Osten. Denn meiner Meinung nach vermag kein ideologisches Projekt in Reinform, weder eine neue liberale Revolution noch die Rückkehr zur Planwirtschaft, das heutige Regime noch zu retten.

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  • Business-Krimi in drei Akten

    Business-Krimi in drei Akten

    Wer in Russland ein Unternehmen gründet oder betreibt, gerät immer stärker unter Druck: Die Zahl an Strafverfolgungen von Unternehmern in Russland ist im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Business-Ombudsman Boris Titow in einem Bericht, den er voraussichtlich Ende Mai dem Präsidenten vorlegen wird. Kreml-Sprecher Peskow ergänzte sogleich, dass der Bericht öffentlichen Zahlen anderer Unternehmensverbände wie der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP) widerspreche.

    Das Online-Magazin Sekret Firmy dagegen klagt darüber, „wie man in Russland Unternehmen zerstört“. Viktor Feschtschenko beschreibt „das Ende einer schönen Epoche“ für Unternehmer anschaulich am Schicksal von dreien von ihnen.

    Wie lange sie noch zu leben hat, weiß Jelena Boldyrewa selbst nicht. Sie hat eine Schwerbehinderung zweiten Grades, alle sechs Monate muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, doch dort war sie schon seit vier Jahren nicht mehr – erst entließ sie der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Armawir nicht aus dem Hausarrest, und jetzt sitzt Boldyrewa sogar in Untersuchungshaft.

    Seit all diesen Jahren wird ihr, der Ehefrau eines Einzelhändlers, der Trockenwaren verkaufte, „Verbreitung von Rauschmitteln über den Verkauf von Lebensmittelmohn“ vorgeworfen. Dabei gab es keinen einzigen Schuldspruch. Nur zwei Freisprüche.

    Boldyrewa ist eine von Millionen Unternehmern, die ihr Geschäft in Russland aufgegeben haben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Unternehmer laut Berechnungen der Assoziation russischer Banken und des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) von 4,3 auf 2,8 Millionen gesunken.
    Ein Staat, der will, dass möglichst viele seiner Bürger ihm nicht länger auf der Tasche liegen und in die Selbständigkeit gehen, müsste in einer solchen Situation Unternehmern das Leben maximal erleichtern und das Entstehen von Startups fördern.

    Doch Russland geht eigene Wege: Die Silowiki sperren Unternehmer weiter hinter Gitter – in den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der „Wirtschaftshäftlinge“ in den Untersuchungsgefängnissen fast verdoppelt.

    Die schönen Zeiten sind vorbei

    Jene schöne Epoche, als man ein eigenes Unternehmen gründen, Millionen verdienen und wenigstens halbwegs sicher sein konnte, dass einem ohne schwerwiegende Gründe niemand auf die Pelle rücken würde, ist vorbei.

    Das Magazin Sekret Firmy [Firmengeheimnis – dek] ist drei bezeichnenden Geschichten von Unternehmern unterschiedlicher Größe und Ausrichtung nachgegangen, die vom Business in Russland enttäuscht sind.

    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy
    Illustrationen © Roman Wetschtomow/Sekret Firmy

    I. Clubleben

    In den 2000er Jahren gründeten die Russen Unternehmen noch freudiger als ein Jahrzehnt zuvor. Sie waren beflügelt durch den wachsenden Konsum, der auf den Aufschwung des Ölpreises folgte – er war zeitweise auf 143 Dollar pro Barrel gestiegen.

    Doch im Weiteren wähnten sich die Silowiki und andere Staatsbeamte immer mehr von Strafen ausgenommen. Nach dem Fall YUKOS begannen Unternehmer zu ahnen, dass es ohne unabhängige Justiz keinen Rechtsschutz gibt für Unternehmen, egal welchen Kalibers: Wenn deine Firma einem Beamten oder einem seiner Verwandten gefällt, dann muss man sich entweder davon verabschieden oder sich verständigen.

    Das „Tauwetter“ änderte nichts

    Das „Tauwetter“ unter Medwedew und sein Slogan als Präsident mit dem iPhone: „Hört auf, das Business zu verschrecken konnten niemanden darüber hinwegtäuschen – die Haftbefehle gegen Unternehmer wurden nicht weniger, und in 96 Prozent der Fälle wird ihnen stattgegeben.

    Ende der 2000er Jahre entstand der bekannte Butyrka-Blog von Olga Romanowa und Alexej Koslow. Jana Jakowlewa rief nach ihrer Inhaftierung im Chemiker-Fall die Menschenrechtsorganisation Business-Solidarnost ins Leben und unterstützt seitdem Unternehmer, die strafrechtlich verfolgt werden.

    Schwarze Pelzrobe, vier Goldringe und ein repräsentativer Nissan

    Der Moskauerin Natalja Malinowskaja schienen all diese Zusammenstöße weit weg, jenseitig. Sie hatte nur positive unternehmerische Erfahrungen. Jetzt ist sie 32, hüllt sich in eine schwarze Pelzrobe, trägt vier Goldringe und fährt einen repräsentativen schwarzen Nissan.

    2009 hat sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann das Unternehmen Nowy Gorod [Neue Stadt – dek] geleitet. Sie schufen Werbeflächen und errichteten außerdem die Skihalle Snesh.com, ein Volleyballzentrum in Odinzowo und den Eispalast Arena Balaschicha. Der Vertrag mit LUKOIL über das Design ihrer Tankstellen brachte 50 Millionen Rubel [damals rund 1.140.000 Euro] im Jahr ein.

    Die jungen Millionäre verheizten das Geld in Clubs, bis sie sich alle Hörner abgestoßen hatten, aber Malinowskajas Traum vom eigenen Nachtclub blieb. 2009 entdeckte sie geeignete Räume in Balaschicha, in einer ehemaligen Textilfabrik. Inhaber war die Firma Russki Trikotash, die Kleidung der Marke Twojo (Deins) herstellten.

    Von Seiten der Firma wurde der Vertrag von Ilja Ussolzew unterzeichnet, dem Generaldirektor der OOO Baumwollspinnwerk Balaschicha, nebenamtlich lokaler Abgeordneter der Partei Einiges Russland.

    Beim ersten, recht freundlichen Gespräch erwähnt er Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen

    Malinowskaja erinnert sich noch an ein Foto in seinem Büro, auf dem Ussolzew Wladimir Putin die Hand schüttelt. Und beim ersten, recht freundlichen Gespräch habe der Abgeordnete beiläufig Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen erwähnt.

    Der Club Sawod [Fabrik – dek] ging erfolgreich an den Start. Das Partyvolk pilgerte von Moskau nach Balaschicha, auf der Bühne standen die Band Vintage und kleine Stars der 90er Jahre. Unter der Woche fanden im Club Bankette, Firmen- und Geburtstagsfeiern statt. Wie Malinowskaja versichert, habe der Bürgermeister von Balaschicha den Laden regelmäßig an hochrangige Besucher empfohlen.

    Aber es nützte nichts. Im August bestellte Ussolzews Assistent Malinowskaja zu sich und schlug ihr vor – so ihre Worte –, seine eigene Security aufzustellen, die nicht so sehr für Sicherheit sorgen sollte als vielmehr dafür, Drogen unter die Besucher bringen.

    „Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, alles, was mir gesagt wird, mit dem Diktiergerät aufzunehmen“, bedauert die Unternehmerin, die diese Aussage nun nicht mehr beweisen kann. Auf eine Gesprächsanfrage von Sekret hat Ussolzew nicht reagiert.

    Malinowskaja lehnte ab – und einen Monat später bekam sie die Rechnung: Die Inhaber des Gebäudes drehten ihr den Strom ab. Ussolzew verlangte zunächst 30.000 Rubel [damals rund 680 Euro] von ihr (sie zahlte, der Strom blieb aus), dann 70.000 Rubel [damals rund 1600 Euro] (sie lehnte ab), dann 300.000 Rubel [damals knapp 6800 Euro] (sie lehnte ab).

    „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen“

    Am Morgen des 25. Oktober 2009 überwies Malinowskaja eine weitere Pachtzahlung auf das Konto des Russki Trikotash. Ein paar Stunden später bekam sie einen Anruf von ihren Mitarbeitern: „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen.“

    Malinowskaja, überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse, bat sie keinen Widerstand zu leisten und alle hereinzulassen. Von da an blieb die Fabrik für Gäste geschlossen.

    An jenem Tag fuhr sie zum Club, wo sie ein Versiegelung-Protokoll und einen Mahnbescheid wegen Zahlungsverzug ausgehändigt bekam. Malinowskaja rief sofort bei der Bank an und erkundigte sich, ob das Geld eingegangen sei. Dort bestätigte man ihr, dass die Summe bereits auf das Konto des Empfängers überwiesen sei.

    Malinowskaja weinte vier Tage am Stück. Am fünften riss sie den Siegel ab und betrat den Club. Nach ihrem Besuch wurden die Türen zugeschweißt.

    Zu dieser Zeit traf sich Malinowskaja mit Ussolzew. Sie erzählt, der Abgeordnete habe zu ihr gesagt, er wisse, auf welche Schule ihr Kind gehe, und es sei kein Problem, ein Kilo Heroin bei ihr finden zu lassen, außerdem stehe die Partei hinter ihm und so weiter.

    Die Polizei weigerte sich, eine Anzeige aufzunehmen

    Die Inhaber des Russki Trikotash drückten sich erfolgreich vor einem Gespräch. Bei der Polizei weigerte man sich, eine Anzeige gegen Ussolzew aufzunehmen, bezeichnete den Konflikt als „Streit unter Wirtschaftssubjekten“. Dann erstattete Malinowskaja Anzeige gegen Unbekannt mit der Bitte um Aufklärung, wer die Türen des Clubs zugeschweißt habe, in dem sich ihr Besitz befinde.

    Die Registrierung des Dokuments war ein Problem für sich – die lokalen Beamten nahmen sich mal einen Tag frei, wurden krank oder fehlten am Arbeitsplatz. Doch eines Tages hatte Malinowskaja Glück: Einer der Beamten von Balaschicha hatte vor zu kündigen und somit nichts zu verlieren – er nahm die Anzeige entgegen und holte sogar eine Erklärung von Ussolzew ein.

    Der Generaldirektor der Firma behauptete, der Vertrag mit Sawod sei aufgrund von Mietrückständen einseitig gekündigt worden. Bereits im Dezember waren die Räumlichkeiten gegen eine höhere Pacht als Malinowskajas an einen anderen Club vermietet, der teilweise Einrichtung und Möbel benutzte, die die Unternehmerin seinerzeit für das Sawod gekauft hatte.

    Alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen

    Erst drei Jahre später konnte Malinowskaja die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihren Widersacher erwirken. So lange hatte sich die Staatsanwaltschaft von Balaschicha geweigert. Malinowskaja legte immer wieder Beschwerde ein, die Moskauer Gebietsstaatsanwaltschaft leitete den Fall zur Prüfung weiter, die Staatsanwaltschaft Balaschicha verlor die Papiere – so ging es endlos weiter.

    Irgendwann verkaufte die Unternehmerin ihren gesamten Besitz: „Wenn man vor Gericht ziehen will, braucht man Geld.“

    Nachdem sie alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen hatte, wandte sich Malinowskaja an die Generalstaatsanwaltschaft, und erst mit ihrer Hilfe konnte sie ihr Anliegen durchsetzen.

    Vor Gericht ist der Fall zwar noch immer nicht, doch die Chancen, dass es irgendwann mal so weit sein wird, stehen laut Malinowskaja jetzt deutlich besser.

    Natalja Malinowskaja will nie wieder in Russland Geschäfte machen

    Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist die ehemalige Unternehmerin zur Bürgerrechtlerin geworden. Sie unterstützt Unternehmer aus dem Moskauer Umland und einfache Bürger, studiert und will Rechtsanwältin werden. Sie besucht auch die Schule der Menschenrechtler der Organisation Rus sidjaschtschaja [Einsitzendes Russland – dek] von Olga Romanowa.

    In Russland Geschäfte machen will sie nie wieder, und die Schuldigen in Fällen wie diesen sind für sie korrupte Beamte. Die Situation retten könnten ihrer Meinung nach faire Wahlen, auf Landes- und auf regionaler Ebene.

    II. Plattmachen, bis zum Schluss

    Über Skype spreche ich mit Alexej Sorkin, er lebt in Spanien. Als ich anfange zu fragen, unterbricht Sorkin das Gespräch: „Ich vertraue Skype nicht besonders, lassen Sie uns zu Viber wechseln.“ Vor zwei Jahren ist er aus Russland weggegangen, aus Angst um sein Leben, und Angst hat er noch heute.

    Der 46-jährige Sorkin hat die militärisch-ingenieurtechnische Universität in St. Petersburg abgeschlossen, aber bei der Armee dienen wollte er nicht.

    Es waren die 90er Jahre, Armeeangehörige fristeten ein ärmliches Dasein, und so begann er als Spediteur beim Konzern Orimi. Bis 2000 war er zum Direktionsleiter aufgestiegen, jedoch zerfiel das Unternehmen nach der Ermordung des Inhabers Dimitri Warwarin.

    Sorkin machte sein eigenes Ding

    Sorkin machte sein eigenes Ding und gründete die Firma Petro-Sorb-Komplektazija. Er hatte den Plan, Analysegeräte für Sprengstoffe herzustellen. Die Idee war ihm nach den Wohnhausexplosionen in Moskau gekommen – Sorkin hatte den Eindruck, dass die Ermittler nicht besonders sorgfältig arbeiteten.

    Mit Sprengstoffen kannte er sich seit der Uni aus, und wie man eine Produktion organisiert, wusste er dank seiner früheren Arbeit. Es fehlten nur noch Kontakte zum Innenministerium, dem potentiellen Hauptabnehmer der Ware.

    Sorkin verschickte ein paar Briefe – und es funktionierte, denn nach seinen Angaben hatte sonst niemand Analysegeräte in dieser Qualität und Bedienungsfreundlichkeit.

    Der Unternehmer ist sich sicher: Die Silowiki waren damals noch an der Optimierung ihrer Arbeit und nicht nur an korrupten Machenschaften interessiert, deshalb reagierten sie positiv auf das Angebot.

    Das Unternehmen machte 3,5 Millionen Dollar Umsatz. Aber irgendetwas ging schief

    2011 war Sorkin zum größten Lieferanten von Alkoholmessgeräten aufgestiegen, stellte außerdem Analysegeräte her sowie stationäre Videoüberwachungsanlagen und Dashcams mit eigener Software. Das Unternehmen erreichte einen Umsatz von 3,5 Millionen Dollar, es operierte in 60 Regionen Russlands. Aber irgendetwas ging schief.

    Ab 2009 fingen sie an, seine Firma von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen, aus merkwürdigen Gründen: Mal passte das Gewicht des Gerätes nicht, mal die Farbe eines Knopfes, mal die Bauweise (Dokumente, die den Ausschluss von Ausschreibungen belegen, liegen der Redaktion vor).

    Ab 2011 kamen die technischen Anforderungen für Ausschreibungen dann aus dem Hauptsitz des Innenministeriums in die Regionen. Und alle waren laut Sorkin im Interesse bestimmter Unternehmen verfasst, die von der Führungsetage des Ministeriums kontrolliert wurden.

    „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss“     

    Im Büro tauchten immer öfter Inspektoren auf. Bald erreichte den Unternehmer über bekannte Beamte die Verlautbarung einer leitenden Person im Innenministerium: „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss.“     

    Im Frühjahr 2013 kam Sorkin aus seinem Petersburger Büro der Petro-Sorb-Komplektazija, als ihm gleich ein grauer Škoda ins Auge sprang, den er schon mal irgendwo gesehen hatte. Als er an seinem Auto war, überprüfte er sicherheitshalber den Unterboden. Er fand nichts, setzte sich ans Steuer und fuhr los zu einem Termin.

    Der Škoda hielt sich in einiger Entfernung, aber Sorkin ahnte, dass er verfolgt wird. An einer Ampel konnte er im Auto seinen ehemaligen Mitarbeiter Jewgeni Kuryschew ausmachen. Zusammen mit ein paar anderen Angestellten hatte der erst vor kurzem zum Konkurrenten Alkotektor gewechselt.

    Sorkin ist sich sicher, dass das Unternehmen mit den höchsten Führungsleuten im Innenministerium verbandelt ist, er kann sogar konkrete Namen nennen.

    Der Geschäftsmann berichtet, er habe sich mit ihnen wegen des Ergebnisses einer Ausschreibung rechtlich angelegt, und sie hätten ihm daraufhin seine Mitarbeiter abgeworben, um Zugang zu Unternehmensunterlagen zu bekommen.

    Geräte in Millionenwert gestohlen

    Die Mitarbeiter selbst hätten dann eine identische Firma gegründet, Alkotektor – ein Unternehmen, das Alkoholmessgeräte und Anlagen zur Videoüberwachungsanlagen herstellt. Innerhalb eines Jahres habe sie Ausschreibungen des Innenministeriums im Wert von 120 Millionen Rubel [damals rund 2,7 Millionen Euro] gewonnen, und die gelieferten Geräte – so Sorkin – hätten die ehemaligen Mitarbeiter schlicht aus seinem Lager gestohlen.

    Die Alkotektor-Mitarbeiterin, die meinen Anruf entgegennahm, teilte Sekret mit, die Geschäftsführung sei auf Dienstreise und habe keine Zeit für Gespräche. Außerdem „wolle der Generaldirektor nicht über Sorkin sprechen“. Auf die Frage „Warum?“ antwortete die Mitarbeiterin: „Wenn Sie die Situation im Ganzen verstehen würden, dann müsste ich Ihnen das gar nicht  erklären.“ Diese Äußerung wollte sie nicht näher ausführen.

    Bei der Polizei sagte man ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“

    Als Sorkin klar geworden war, dass man ihn beschattete, fuhr er zum Polizeihauptrevier von St. Petersburg und erstattete Anzeige. Dort sagte man zu ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“, und weigerte sich, die Anzeige aufzunehmen.

    Der Unternehmer bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er kannte die leitenden Köpfe im Innenministerium ziemlich gut und zweifelte nicht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden. Aus diesem Grund zog er Anfang 2014 nach Spanien, wo er seit längerem ein Haus besaß.

    Etwas mehr als ein Jahr lebte Sorkin im Ausland. In dieser Zeit hat man ihm 50 Prozent seines Unternehmens Petro-Sorb-Komplektazija weggenommen, einen neuen Direktor eingesetzt, das Konto geplündert und die Firma faktisch in den Bankrott getrieben. Aber Sorkin gibt die Hoffnung nicht auf, sich die Firma zurückzuholen, und erhebt Klagen beim Schiedsgericht in St. Petersburg.

    Ein weitere Art zu kämpfen besteht für ihn in der Unterstützung der Opposition. Nach der Ermordung von Boris Nemzow kehrte er nach Russland zurück, um der Demokratischen Koalition bei den Wahlen in Kostroma zu helfen. Er arbeitete die gesamte Kampagne hindurch und reiste im Oktober zurück nach Spanien, um einige Wochen später wieder nach Russland zu fahren.

    Ein Signal, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist

    Während Sorkin in Spanien war, wurde das Büro seiner neuen Firma durchsucht. Er hatte eine neue Firma mit zwei Büros in St. Petersburg und Spanien gegründet, die lokale Immobilien an Russen verkaufte. Es schien nicht weiter schlimm, es wurden nur Papiere zum Thema Petro-Sorb-Komplektazija entwendet. Aber er fasste dies als Signal auf, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist. Deshalb hat er bis auf Weiteres nicht vor, in die Heimat zu reisen.

    Sorkin träumt von einer Rückkehr, sobald „Putins Regime gefallen ist“. Er hat keinen Zweifel daran, dass dieser Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne liegt, und erhofft sich von einer neuen Regierung, dass sie alle Silowiki aus den Ämtern heben und ein unabhängiges Rechtssystem schaffen wird. Er selbst will dann den guten Namen seines Unternehmens wiederbeleben.

    Solange das noch nicht passiert ist, will er keine Geschäfte in Russland machen. Sorkin ist der festen Überzeugung, dass Putin und die von ihm geschaffenen Beziehungsstrukturen mit der Wirtschaft die Wurzel allen unternehmerischen Übels sind.

    III. Der Mohn-Fall

    Eines Tages im Juni 2011 kam Jelena Boldyrewa – sie handelt mit Trockenwaren, darunter auch mit Mohn – aus der Steuerbehörde ins Großhandelslager von Armawir. Graue einstöckige Lagerbauten, aufgetürmte Paletten, Verpackungen, Kartons und Papiermüll lagen auf dem sonnenheißen Asphalt. Sie ging hinter die Verkaufstheke und zwängte sich dort in ein winziges Kabuff, wo ihr Mann Dimitri sie erwartete.

    „Jemand von Set war gerade hier. Ich habe Instantnudeln und Makkaroni bestellt. Die haben gesagt, wenn wir noch ein bisschen mehr bestellen, geben sie uns neun Prozent Rabatt.“

    „Wir haben doch eigentlich alles.“ Boldyrewa verstand nicht gleich.

    „Naja, ich dachte, wir könnten mal was Neues probieren, die Produktpalette erweitern. Sie haben uns Gewürze angeboten, Mohn und so, da hab ich ja gesagt.“

    „Mehr gibt es da gar nicht zu berichten. Wir haben einfach angefangen zu handeln“, erinnert sich Boldyrewa. Ich besuchte sie letzten September in Armawir. Während des Gesprächs briet Boldyrewa Kartoffeln: „Der Laden brachte uns 100.000 Rubel [damals 2500 Euro] Gewinn im Monat, zum Jahreswechsel waren es sogar mehr. Jetzt haben wir unseren Porsche Cayenne verkauft, leben von meinen und Mamas 9000 Rubel Rente [120 Euro] und von dem, was mein Sohn hin und wieder verdient. Wir ernähren uns hauptsächlich von den Nudeln, die noch im Lager übrig waren.“

    Ein paar Monate nach dem ersten Mohneinkauf waren Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Rauschgiftkontrolle (FSKN) bei Boldyrewa im Lager aufgetaucht. „Sie waren höflich.“ Sie baten sie, am nächsten Tag mit ihren Papieren bei ihnen vorbeizukommen.

    Das Angebot, sich „freizukaufen”, lehnte sie ab

    Beim FSKN habe man Boldyrewa zunächst erklärt, dass im Mohn Spuren von Rauschgift enthalten sein könnten und der Handel damit deshalb verboten sei, man habe eine Verwarnung ausgesprochen und ihr dann angeboten, sich „freizukaufen“. Sie lehnte ab und man ließ sie gehen.

    Bis zum Februar 2012 arbeiteten die Boldyrews weiter, als wäre nichts gewesen. Dann stürzte alles mit einem Mal ein. Zwischen dem ersten FSKN-Besuch und jenem im Februar fiel den Boldyrews langsam auf, dass in ihrem Laden im Großlager regelmäßig vier etwas merkwürdige Kunden auftauchten. „Sie sahen blass aus, wirkten irgendwie lahm, sprachen langsam.“

    Die Unternehmerin ahnte, dass sie wahrscheinlich drogenabhängig waren, zumal sie Mohn kauften, aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte: „Hätte ich etwa ihre Blutwerte testen sollen? Oder vielleicht schreien: Verschwinde hier, du Junkie!?“

    Am 6. Februar 2012 verkauften sie gerade fünf Päckchen an einen hiesigen Lagerarbeiter und Alki, als plötzlich bewaffnete Leute ihren Laden stürmen. „Hände auf den Tisch, Telefone aus, und unseren Mitarbeiter packten sie am Kragen und zerrten ihn in das Kabuff“, erinnert sich Boldyrewa.

    Am nächsten Tag kamen sie in Vorbeugehaft

    Am nächsten Tag nahm das Gericht die Boldyrews, den Lagerwachmann Molotkow und den Fahrer Gadshijew in Vorbeugehaft. Allerdings wurde Boldyrewa wegen ihrer Behinderung nach drei Wochen entlassen und unter Hausarrest gestellt.

    Im Juni 2012 erklärte das Berufungsgericht der Region Krasnodar die Verfahrenseinleitung für rechtswidrig.
    Im Dezember fällte das Gericht in Armawir die gleiche Entscheidung.

    Es wurde festgehalten, dass die Boldyrews bei Großhändlern offiziell angekauften Lebensmittelmohn in Plastikverpackungen ohne Öffnungsspuren verkauft hatten und deshalb nicht wissen konnten, dass darin Rauschgiftsubstanzen enthalten waren. Die Angeklagten wurden gleich im Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt.

    Nach dem Prozess suchten sie Arbeit in Moskau

    Аnschließend machten sie sich auf zu Verwandten nach Moskau, um Arbeit zu suchen. Dort stand Boldyrewa regelmäßig um sechs Uhr in der Früh auf, stieg an der Station Timirjasewskaja in die Monorail und fuhr zu ihrer Arbeit als Kassiererin im Supermarkt Lenta an der WDNCh. Auch ihr Mann war dort untergekommen, als Wachmann.

    „Unser ganzes Leben lang waren wir Unternehmer, und jetzt sind wir selbst Verkäufer“, seufzt sie. Nach der Entlassung hatten sie für die Wiedereröffnung ihres Geschäfts kein Geld. In Moskau verdienten sie 2000 Rubel [damals knapp 50 Euro] am Tag.

    Eines Tages im Mai wurde Boldyrewa am Supermarkteingang von zwei Passanten in Zivil angesprochen: „Guten Tag, sind Sie Jelena?“ Im ersten Moment dachte sie, dass ihr eine Strafe wegen der fehlenden Anmeldung in der Hauptstadt blühe, aber sie hatte sich geirrt: „Wir würden gerne mit Ihnen über Ihren Fall in Armawir sprechen.“ Die ehemalige Unternehmerin atmete auf: „Ach so, na da wurde ich freigesprochen, alles in Ordnung, nach der Arbeit können wir reden.“ „Leider nein, wir müssen gleich aufs Revier fahren.“

    In der Polizeidienststelle teilte man Boldyrewa mit, der Freispruch sei durch das Regionalgericht Krasnodar widerrufen worden. Dasselbe Gericht, das das Verfahren zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. Am nächsten Tag wurden sie in mehreren Etappen nach Armawir geschickt. Ihren Mann sperrte man wieder ins Untersuchungsgefängnis, Jelena kam unter Hausarrest …

    Jeder weiß alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier

    Bogdan Boldyrew setzt sich hinter das Steuer seines alten Lada 7 mit störrischem Schaltgetriebe, und wir fahren zusammen zum Großhandelslager Armawir. Er besitzt keinen Führerschein, denn der kostet Geld. Aber er kennt alle Verkehrspolizisten – die Stadt ist klein. Und genauso weiß jeder alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier.

    Er schildert mir die Legenden, die über die vier Junkies kursieren, die im ersten Prozess gegen seine Eltern mitgewirkt haben und bald nach dem Freispruch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind, und erzählt, dass das FSKN-Gebäude in Armawir vor ein paar Jahren mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt wurde, weil es zu viele gab, die mit den Mitarbeitern ihre offenen Rechnungen nach Knastgesetz begleichen wollten.

    Laut Bogdan hat jeder dritte junge Mann in Armawir wegen Paragraph 228 (Drogenbesitz) gesessen – die jungen Leute werden eingesperrt, um gute Zahlen vorzuzeigen.

    Sie kämpft weiter. Etwas anderes bleibe ihr sowieso nicht übrig

    Nach ihrer Rückkehr aus Moskau im Mai 2013 wurden die Boldyrews erneut freigesprochen. Das Gericht in Krasnodar lehnte den Entscheid wieder ab und gab den Fall zurück an das Gericht in Armawir. Letzteres hat bereits fünf Mal seine Nachuntersuchung angeordnet. Diese ganze Zeit über sitzen Boldyrew der Ältere, Molotkow und Gadshijew in U-Haft.

    Im Gespräch mit mir berichtet Boldyrewa nüchtern, dass das Leben ihrer Familie von außen betrachtet zerstört sei, aber sie versuche weiterzukämpfen, еtwas anderes bleibe ihr ohnehin nicht übrig. Die Schuld an ihrer privaten Katastrophe gibt sie – genau wie Sorkin – Putin und der „Willkür, die er angezettelt hat“.

    Im Dezember 2015 wurde der vorbeugende Hausarrest für Boldyrewa in eine Inhaftnahme umgewandelt. Nach Aussage ihrer Anwältin Ella Peschnaja habe die Gesundheitskommission die früher diagnostizierte Krankheit nicht feststellen können. Der Behinderungsgrad sei schließlich aufgehoben worden – weil der Ermittler sie nicht zwecks Nachweis zur Untersuchung habe gehen lassen.

    Der Fall liegt nun wieder beim Gericht Armawir.


    Epilog

    Einen Monat nach seiner zweiten Inauguration hat Wladimir Putin das Amt des Beauftragten für Unternehmerrechte eingerichtet und mit dem Inhaber der Weinkellerei Abrau-Djurso Boris Titow besetzt.

    Die Befugnisse dieses Beamten blieben allerdings eng begrenzt. Seine einzige Waffe sind Schreiben zur Unterstützung von Unternehmern, die genauso viel Gewicht haben wie Anfragen von Abgeordneten. Titows erfolgreichste Initiative war die Amnestie für Unternehmer im Jahr 2013, auf deren Grundlage 2466 Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden.

    Jana Jakowlewa von BusinessSolidarnost meint, dass ein solcher Ombudsmann nicht konkreten Unternehmern helfen müsste, sondern die kriminellen Strukturen offenlegen, die sie erst ins Gefängnis bringen, doch dafür würden seine Kompetenzen nicht ausreichen.

    Ein weiterer Bürokrat, aber keine Lösung

    Wie auch immer, das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur ein weiterer Bürokrat gerufen, der sich dem Krebsgeschwür des Verwaltungssystems annehmen sollte. Mittlerweile konzentriert sich Titow auf seine politische Karriere in der Partei Prawoje delo.

    In einer Mitteilung an die föderale Versammlung sagte Putin, dass 2014 200.000 Strafverfahren gegen Unternehmer angestoßen worden seien, von denen nur 30.000 vor Gericht landeten.

    Der Trend scheint offensichtlich: Die Verfahren dienen der Einschüchterung von Unternehmern. Und die Erpresser können so offensichtlich die Übernahme des Business oder Freikaufzahlungen erwirken, bevor der Fall vor Gericht kommt.

    Aber der Präsident zog aus diesem Trend seine ganz eigenen Schlüsse und er schuf eine Gruppe zur Konfliktlösung zwischen der Unternehmerwelt und den Silowiki – im Grunde eine offizielle Struktur zur „Problemklärung“.

    Ein „postfeudales“ Bezugssystem

    Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan bezeichnete dieses Bezugssystem als „postfeudal“. Grob gesagt ist ein Unternehmen demzufolge etwas, das man zwar unterhalten darf, aber nicht vorbehaltlos besitzen. Und wenn eine einflussreiche Persönlichkeit ein Auge darauf geworfen hat, gibt es keine Rechtsmittel, die dich schützen könnten.

    Die Verhaftung des Domodedowo-Inhabers Kamenschtschik, der massenhafte Abriss von Verkaufspavillons sowie – etwas breiter gefasst – die Verschlechterung des Investitionsklimas und das Ausbleiben von Reformen: Mit Blick auf all diese jüngsten Entwicklungen haben Unternehmer immer weniger Lust in Russland ein Geschäft zu gründen.        

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  • Die Anzapf-Könige

    Die Anzapf-Könige

    „Alle klauen“ war eine geflügelte Redewendung zu Sowjetzeiten. Was das illegale Anzapfen oder Verlegen von Strom-, Gas- und Wasserleitungen angeht, könnte dieser Spruch noch heute gelten. Aber ganz so streng sieht das eigentlich keiner, könnte man meinen, wenn man Maria Schers Artikel auf Kommersant-Dengi liest:

    Auf ihrer Recherche durch ganz Russland surft sie durch Ratgeber-Foren für Gasklau-Anfänger, staunt mit den Fachleuten über die technische Finesse der illegalen Leitungsinstallateure und Haushaltsgas-Tankstellen-Besitzer und ärgert sich mit den Versorgern am meisten über die, die ihren Anschluss legal gemeldet haben und mit den Rechnungen im Rückstand sind.

    Ein lehrreicher Text, kleine Bastelanleitung inklusive.

    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Am Abend des 15. März versiegte in über 700 Häusern der Ortschaft Plechanowo in der Region Tula plötzlich das Gas. Die am folgenden Morgen angerückten Handwerker stellten fest, dass das an mehreren Dutzend Stellen angezapfte Gasleitungssystem zusammengebrochen war – durch eine Leitung war Wasser in das System gelangt.

    Die ortsansässigen Roma, von denen mehr als 3000 in der Ortschaft leben, sind die hauptsächlichen Urheber der illegalen Leitungen. Sie begannen daraufhin, die Gasarbeiter mit Steinen und Müll zu bewerfen, die Reparaturwerkzeuge zu zerstören und Reifen zu verbrennen. Frauen in farbigen Tüchern stürzten sich auf die angerückten Polizeibeamten, alte Roma-Frauen und Kinderhorden schlugen mit Brettern wütend auf die Spezialeinheiten ein und wollten diese daran hindern, die illegalen Leitungen zu entfernen.

    Um die Gasarbeiter zu schützen und den Roma-Aufstand niederzuschlagen, brauchte es mehr als 500 Polizeibeamte. Die Gasversorgung wurde wiederhergestellt, jedoch sind 290 Häuser nach wie vor unbeheizt, für ihre Bewohner wurden Notunterkünfte organisiert.

    Der halbe Ort dockt sich an illegale Leitungen an

    Über die Roma beschweren sich die Einheimischen schon lange: Sie würden nicht arbeiten, hätten in Plechanowo über die letzten 50 Jahre hinter einer hohen Mauer eine Enklave errichtet, aus der heraus mit Drogen gehandelt werde. Während der Klärung des Aufruhrs fand man bei den Roma über 150 illegal selbstgebaute Häuser, die per Gesetz gar nicht an das Versorgungssystem angeschlossen werden dürfen.

    Es hat allerdings den Anschein, dass in Plechanowo auch dem Nicht-Roma-Anteil der Bevölkerung die kostenlose Gasnutzung nicht fremd ist. „Die Roma klauen andauernd Gas, und dann dockt sich der halbe Ort an deren illegale Leitungen an. Als in einer Siedlung im Gebiet Uljanowsk die Roma ihr Lager aufgeschlagen und illegale Leitungen verlegt haben, hat die ganze Straße sie angezapft“, erzählt der Experte des Fonds für Sozialforschung Chamowniki Alexander Pawlow.

    In Plechanowo wurden die illegalen Leitungen im Endeffekt entfernt und Blindstopfen eingebaut. Sie werden aber nicht lange halten. Von der meuternden Menge wurden gerade mal vier Personen festgenommen und kamen mit einer Strafe von 500 Rubel [circa 6 Euro] davon.

    Der Fall der Plechanowo-Roma ist bloß ein Beispiel für den in Russland weitverbreiteten massiven Gasklau. Laut dem Pressedienst der Gazprom Meshregiongas wurden 2015 15.000 Fälle von Erdgasdiebstahl aufgedeckt. „97,4 Prozent der illegalen Gasanzapfungen fallen auf die Bevölkerung“, erklärt man dort. Laut Quellen von Kommersant-Dengi beträgt der Gesamtumfang der Verluste durch illegale Gasentnahmen 3,4 Milliarden Rubel [circa 44 Millionen Euro].
    Um das Ausmaß zu verdeutlichen: Der Jahresertrag aus dem Gasverkauf der Gazprom-Gruppe auf dem russischen Markt betrug im Jahr 2014 789 Milliarden Rubel [circa 10 Milliarden Euro]. Davon entfallen 23 Prozent auf die privaten Haushalte, das sind knapp über 183 Milliarden Rubel [circa 2,4 Milliarden Euro]. Fast 2 Prozent der Gaslieferungen an die privaten Haushalte werden geklaut.

    Viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus

    66 Prozent der aufgedeckten Diebstahls-Fälle durch Privatpersonen geschahen im Nordkaukasus. Dort hat sich unterdessen sogar die europäische Mode verbreitet, Autos auf Methangas umzurüsten. Methangas-Tankstellen sind russlandweit kaum zu finden, im Kaukasus so gut wie gar nicht. Dort aber, berichtet Alexander Pawlow, spiele die Privat-Garage mit Druckminderer und Gewebeschlauch oft die Rolle einer Tankstelle. So gelangt das Gas aus der Hausleitung in die Autogasflasche.

    Das Verlegen illegaler Gasleitungen mit Schweißgerät und Bohrer, das Anzapfen von Hauptrohren und den Leitungen der Nachbarn – viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus geworden. Und den Anfängern sind zahlreiche Foren und Ratschlagseiten im Internet stets zu Diensten: „Drehen Sie das Gas ab, indem Sie das Hauptventil schließen. Überprüfen Sie mit einem Streichholz, ob Gas ausströmt. Nachdem Sie die Verbindungsstelle geschweißt haben, tragen Sie eine dicke Schicht Bauschaum auf: Wenn Bläschen aufquellen und platzen, bedeutet das, dass Sie schlecht geschweißt haben. Drehen sie das Gas wieder ab und schweißen sie noch einmal.“

    „Nicht selten endet ein solches Unterfangen mit dem Tod oder Verletzungen der Hobby-Gasarbeiter“, berichtet die Gazprom Meshregiongas. „Menschen, die sich eigenmächtig an Gasversorgungsnetze anschließen, ignorieren jegliche Unfallschutzmaßnahmen, was oft zu Explosionen, Bränden und Kohlendioxidvergiftungen führt.“

    Demnach steigt jährlich die Zahl der Unfälle, die mit dem Verlegen illegaler Gasleitungen zusammenhängen. So ereigneten sich im vergangenen Jahr in den fünf nordkaukasischen Republiken (Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien-Alanien, Karatschai-Tscherkessien und Dagestan) 70 Unfälle, 118 Menschen erlitten Verletzungen unterschiedlicher Schwergrade, 30 kamen ums Leben.

    Den Zechpreller zu finden ist nicht einmal Fachleuten möglich

    Oft bieten Gasarbeiter selber an, illegal Gasleitungen anzuzapfen. Dann einigen sich die Hausbesitzer mit ihnen auf eine bestimmte Summe, bezahlen brav weiter, um Fragen und Prüfungen zu vermeiden, und irgendwann dann wird der Zähler zurückgedreht, indem man ihn für eine gewisse Zeit ausbaut. So zeigt er im Endeffekt einen viel geringeren Verbrauch an.

    Auch beim Verlegen der Rohre wird versucht, die Kosten zu minimieren: Da tun sich fünf oder sechs Häuser zusammen, schließen sich aber nur über einen gemeinsamen Strang an und rechnen die Entfernung zum Anschlusspunkt klein. In den Unterlagen heißt es dann, es werden 20 Meter Rohr verlegt, faktisch sind es ein Kilometer oder sogar mehr.

    Den Zechpreller zu finden ist nach der Aufdeckung des Diebstahls nicht einmal den Fachleuten möglich, wie zum Beispiel im Wohngebiet Krasny Chimik in der Stadt Gus-Chrustalny. „Die Arbeit war so filigran ausgeführt, dass die Gasfacharbeiter erst beim dritten Versuch die Anschlussstelle für die illegalen Leitungen gefunden haben. Die Öffnung und die flexible Zuleitung, die in die Erde führte, waren sorgfältig in einem Stahlständer der Niederdruckgasleitung versteckt“, berichtet der Pressedienst von Gazprom Meshregiongas des Gebietes Wladimir.

    Stromklau funktioniert über Lampenfassungen im Hausflur

    Noch größere Ausmaße hat in Russland der Stromklau – das Anzapfen von Strom gelingt viel einfacher als das von Gas. Das kann über Verlängerungskabel geschehen, die an Lampenfassungen im Hausflur angeschlossen werden, oder über zwei einfache sechs Meter lange Stangen, die an elektrische Fernleitungen angelegt werden.

    Die einfachste Variante bestehe darin, berichtet ein erfahrener Elektriker anonym der Kommersant-Dengi, sich vom gemeinsamen Nullleiter abzukoppeln. Dafür braucht man nur die Leitungen, die vom Strommast ins Haus zum Zähler führen: Nullleiter und Phase. Den Nulleiter trennt man ab, erdet ihn neu und schließt die Verbraucher dann so an, dass der Stromkreis nicht über den Strommast, sondern über die eigene Erde geschlossen wird. So bekommt der Zähler nichts mit.

    Verbreitet sind auch Manipulationen am Zähler, bei denen zunächst die Plombe entfernt und dann in eine der Zuleitungen ein kleiner Magnetschalter gelötet wird. Dieser enthält Reed-Kontakte, dünne Metallplättchen, die sich bei Magnetisierung voneinander abstoßen, aber einen Kontakt herstellen, wenn kein Magnetfeld anliegt. Direkt neben dem Zähler wird dann ein Sicherungsautomat eingebaut. Wenn der eingeschaltet ist, erzeugt er ein Magnetfeld, nur dann läuft der Strom über den Zähler. Man schaltet einfach gelegentlich den Zähler an – für den Fall einer Kontrolle –, lässt ihn aber sonst aus, um seinen eigentlichen Verbrauch zu verbergen. Fachleute, die Zähler auf diese Art manipulieren, verdienen für so eine Installation 30.000 Rubel [circa 400 Euro] – und das in ländlichen Gebieten Mittelrussland.

    „Es werden auch Gesetzeslücken ausgenutzt, um den offiziell abgerechneten Stromverbrauch zu senken“, erzählt der Anwalt Alexej Gordejtschik, Geschäftsführer der Kanzlei Gordejtschik und Partner. „Dafür existieren sogar empirische Daten über die Anzahl an LED-Lampen, die am Stromkreis angeschlossen werden können, ohne dass ihr Verbrauch durch gesetzlich zugelassenen Zähler erfasst wird.“

    Die universelle und am weitesten verbreitete einigermaßen ehrliche Reduzierung des abzurechnenden Stromverbrauchs besteht für der Bevölkerung darin, komplett auf Zähler zu verzichten und nach einem Durchschnittswert abzurechnen.

    Ölpipelines sind Goldadern

    Eine echte Goldader für Fachleute illegaler Leitungen sind Ölpipelines, mittels derer sie nicht bloß sparen, sondern sich ein ziemlich sorgenfreies Leben finanzieren können. Von der Ölpipeline Drushba im mittleren Wolgagebiet führen einige Dutzend illegaler Leitungen weg. Das geklaute Öl wird dann in sogenannten Samowaren destilliert und in seine Fraktionen getrennt. Diesel und Benzin werden dann gleich an Tankstellen verkauft. An der Fernstraße M5 zwischen Kusnezk und Toljatti sind mehrere namenlose Tankstellen zu finden, die „selbstgebranntes“ Benzin verkaufen. In den Gebieten, durch die die Pipelines führen, ernähren sich ganze Dörfer, ja Bezirke, vom Öl.

    Illegale Leitungen verärgern auch die Wasserwerke, erzählt man uns im Pressedienst der Moskauer Wasserwerke: „Den größten Schaden erleiden wir durch den direkten Wasserklau. Zudem gehen die eigenmächtigen Anschlüsse an das zentrale Kaltwasser-System mit Verstößen gegen die Bauvorschriften einher, was große Wasserverluste nach sich zieht.“

    In Tomsk sind im November 2015 mehr als 40 Häuser wegen eine Havarie ohne Wasser geblieben, nachdem ein selbsternannter Wasserinstallateur am Werk war.  Beim Verlegen der Leitung hatte es gröbste Verstöße gegeben: der Wasserleitungsschacht fehlte und das Absperrventil war von schlechter Qualität.

    Obwohl Wasserleitungen seltener angezapft werden als andere – in Großstädten ist es technisch schwer –, geschieht das im privaten Sektor vorwiegend dort, wo die Versorgungsleitungen alt sind, aus den 1980er Jahren und der Zeit davor.

    Keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer

    Während die Bastler aus dem Volk immer neue Arten erfinden, die Bezahlung zu umgehen, haben die kommunalen Versorgungsdienste darauf keine Antwort – es gibt in Russland einfach keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer, und es ist schier unmöglich, die Urheber der meisten illegalen Leitungen aufzuspüren.

    Im Nordkaukasus sind die Bedingungen für den Gasklau wie von Gott geschaffen: Es gibt  eine große Anzahl illegaler Bauten, in vielen Dörfern gibt es schlicht keine Adressen, aber die Hauptsache ist die Nähe zur Ferngasleitung, über die der Gastransit nach Europa erfolgt.

    Noch viel komplizierter sei es, das illegale Anzapfen von Stromleitungen zu entdecken, und erst recht, den Schaden zu beziffern, unterstreicht Oleg Jakowitsch, Generaldirektor von Schtarkenergostroj.

    Erschwerend kommt hinzu, dass Verluste durch illegale Leitungen, verglichen mit dem allgemeinen Transitvolumen, unwesentlich sind: Für Öl und Gas schwanken die Verluste zum Beispiel zwischen vier und sechs Prozent. Wären sie höher, würden sie dennoch keine reale Bedrohung für die Gasfirmen darstellen, ist Alexander Pawlow überzeugt.

    „Die Gasvertriebsunternehmen bekommen das Gas nahezu kostenlos und erwirtschaften den Gewinn durch die Zahlungen der Bevölkerung. Sie sind nur an einem interessiert: das Gasverteilungsnetz auszudehnen, damit regionale und kommunale Haushalte für den Anschluss neuer Ortschaften zahlen.“

    Jenseits der Klauerei macht sowohl den Gas- als auch den Stromunternehmen ein ganz anders Problem zu schaffen: Die Abnehmer zahlen nicht für legal bezogene Ressourcen.

    So betrugen die Gesamtaußenstände für Wärmeenergie am 1. Februar 2016 201,4 Milliarden Rubel [circa 2,6 Milliarden Euro], berichtet die stellvertretende Direktorin der Abteilung für Außenbeziehungen und strategische Entwicklung des Verbandes der Energieerzeuger Natalja Chishnaja.

    Riesige Rückstände bei zahlenden Abnehmern

    Seit Jahresbeginn ist der Rückstand um 31,5 Milliarden [circa 410 Millionen Euro] gewachsen, der Schuldenabbau beträgt nur 2,9 Prozent, wobei ein Großteil der Schuldner juristische Personen, insbesondere Industrieunternehmen sind, die Geld für fast 20 Prozent der verbrauchten Wärme schulden. Laut Chishnaja, sieht es bei den Schulden für Strom nicht besser aus: Ende 2015 betrugen die Gesamtaußenstände auf dem Großhandelsmarkt 75 Milliarden Rubel  [circa 980 Millionen Euro] – unter Berücksichtigung der Schulden für Abtretungsrechte, was um 6 Milliarden Rubel  [circa 78 Millionen Euro] mehr ist, als im Vorjahr.

    „Auch wenn es paradox klingt, Verluste durch illegale Leitungen und Schuldenrückstände sind oft vorteilhaft für Ressourcenerzeuger“, urteilt der Experte Sergej Belolipezki. „Ressourcenerzeuger melden den zuständigen Ausschüssen Außenstände, plus Ausgaben und Kosten, die sie zu tragen haben, berichten, wie schlecht es ihnen geht, nur um die nächste Tariferhöhung durchzudrücken.“

    Die Sanktionen für Diebe sind unbedeutend, zumal es überhaupt selten soweit kommt. „Etwa 50 Prozent der Anzeigen werden gar nicht geprüft, in weniger als 1 Prozent der Fälle sind Strafverfahren eröffnet worden, meistens kommt es zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren, das mit einer Geldbuße endet. Dies führt keineswegs dazu, den illegalen Gasverbrauch zu mindern, denn für den Schuldigen lohnt es sich eher, die Geldbuße als das real verbrauchte Gas zu bezahlen“, berichtet der Pressedienst der Gazprom Meshregiongas.

    Die Unternehmensvertretung in Orenburg bestätigt folgende Statistik: Im Zeitraum von Januar bis September 2015 hat das Gasunternehmen insgesamt 134 Anzeigen bei der Polizei gegen illegale Leitungsverleger erstattet. 121 Personen sollten ordnungsrechtlich und nur 13 strafrechtlich belangt werden. Nur eine Person konnte unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden, und auch die kam mit einer Bewährungsstrafe von 10 Monaten davon.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs-Trichter, der alles verschlingt, sondern einen freien Markt“

    Im Strafgesetzbuch existiert gar kein Artikel über das Anzapfen von Leitungen, daher wird in allen Fällen, in denen ein großer Schaden entstanden ist, Artikel 158 (Diebstahl) angewendet. Ein entsprechender Artikel ist ebenfalls im Verwaltungsgesetzbuch zu finden, die Geldbuße beträgt 10.000 bis 15.000 Rubel [circa 130 bis circa 200 Euro], und das unter Berücksichtigung der Erhöhung seit diesem Jahr (früher betrug sie 3.000 bis 4.000 Rubel [circa 40 bis 50 Euro].

    „Angesichts dieser Probleme bestehen wir darauf, dass die Rechtschutzorgane verstärkt Rechtsverletzungen in der Gasversorgung aufdecken“, fordert man bei Gazprom Meshregiongas.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs- und Kommandotrichter, von dem wir immer weiter eingesogen werden, sondern einen freien Markt, einen selbstregulierenden Mechanismus mit Feedbackfunktion, damit es dem Erzeuger zu Ohren kommt, wenn der Verbraucher nicht mehr in der Lage ist zu zahlen und es zum Diebstahl kommt. Wir rollen immer weiter in Richtung Sozialismus, wo alles allen gehört und somit keinem“, findet Sergej Belolipezki.

    Solange es weder einen normalen Markt noch Kontrolle gibt, kann man alles Mögliche verschärfen und verbieten. In den sozialen Medien hat neulich eine Erklärung der russischen Behörde für Veterinärwesen und Pflanzenschutz Rosselchoznadzor für Begeisterung gesorgt: Das Sammeln von Trockenholz sowie durch Wind und Sturm abgefallene Äste werde als Diebstahl geahndet. Schon klar, es muss erst saftige Haftstrafen für das Einsammeln von Reisig setzen, bevor die Leute auf solche Verbote hören.

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  • Der Mythos vom Zerfall

    Der Mythos vom Zerfall

    Vor 25 Jahren, im März 1991, hat die Auflösung der Sowjetunion ihren Anfang genommen, als sich die baltischen Teilrepubliken Litauen und Estland für unabhängig erklärten. Im Lauf des Jahres gab es Volksabstimmungen und Unabhängigkeitserklärungen weiterer Republiken, im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet.

    Diesem Prozess folgten zahlreiche bewaffnete Konflikte und Auseinandersetzungen in unterschiedlichen ehemals sowjetischen Regionen, die zum Teil weiter schwelen oder andauern. Inwiefern der „Mythos vom Zerfall“ der Sowjetunion dabei noch heute eine Rolle in der politischen Rhetorik spielt, analysiert der Politologe Kirill Rogow auf RBC.

    Die Agenda der „Bewahrung“

    Das Verhältnis der Bevölkerungsmehrheit zum Zerfall der Sowjetunion hat sich im Laufe der Zeit ziemlich stark gewandelt. Die Wehmut über den Verlust nahm in den 1990er Jahren in Russland kontinuierlich zu und erreichte zu Beginn der 2000er Jahre einen Höhepunkt: Über 70 % der Menschen bedauerten den Zerfall. Ab Mitte der 2000er ging dieser Anteil wieder zurück und sank in den Jahren 2011/12 auf unter 50 %.

    Im politischen Diskurs hingegen war eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Das Thema „Zerfall der Sowjetunion“ ist im Verlauf der Putin-Epoche politisch immer lauter zu vernehmen. 2005 bezeichnete Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die wichtigsten Wörter im Satz waren jedoch nicht „Katastrophe“ oder „größte“, sondern das Wort „geopolitisch“, denn das stülpte dem Land wieder die außenpolitischen Klischees der Sowjetzeit über. Erst kürzlich war Putin bei einem unerwarteten Angriff gegen Lenin auf dieses Thema zurückgekommen: Lenin habe der Sowjetunion durch sein Beharren auf einer föderalen Struktur einen Sprengsatz untergeschoben.

    Sehnsucht nach „Supermächtigkeit“

    Folgende zwei Punkte beleuchten die Rolle, die der „Zerfall der UdSSR“ in der zeitgenössischen politischen Mythologie spielt:

    Erstens ist da diese Sehnsucht nach einer „Supermächtigkeit“ und der Versuch, was den Supermachtstatus der UdSSR betrifft, eine Art Rechtsnachfolge anzutreten.

    Zweitens geht es um eine Projektion: der Zerfall des Landes (der UdSSR, Russlands) als größte innenpolitische Bedrohung. Eine solche Bedrohung zu verkünden, sei sie real oder imaginär, ändert umgehend die Prioritäten der politischen Agenda: Sämtliche Elemente einer normalen, zivilen Tagesordnung – wie gut ist ein Regime, wie effektiv ist seine Wirtschaft, wie gerecht die soziale Ordnung – treten in den Hintergrund. An die Stelle der zivilen Tagesordnung tritt eine Mobilisierungsagenda, das Ziel ist nicht Entwicklung, sondern Erhaltung des Status quo. Die Regierung ist voll und ganz damit beschäftigt, den Zerfall zu verhindern, und es wäre irgendwie fehl am Platz, noch mehr zu verlangen: Schließlich gibt es Wichtigeres als Wohlstand, Entwicklung und Effizienz, die auf ein ewiges Später verschoben werden können.

    Historisches Paradox

    So gesehen kam es keineswegs unerwartet, dass Putin auf dem Höhepunkt der Rubelverfalls-Welle plötzlich das Lenin-Thema aufbrachte. Damit wird nicht nur die Frage unter den Teppich gekehrt, wer für die Krise verantwortlich ist. Das Thema „drohender Zerfall“ beantwortet auch die wichtigste wirtschaftspolitische Frage: Denn es ist offensichtlich, dass angesichts der massiv gesunkenen Haushaltseinnahmen und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise eine Liberalisierung sowohl der Wirtschaftsordnung als auch der Regierungsstruktur nötig wäre, das rückt ganz von selbst auf die Tagesordnung. Nun ist es an dem reanimierten „drohenden Zerfall“ zu erklären, warum es nicht dazu kommen wird, selbst wenn die Wirtschaft darunter leidet.

    Putin folgt Gorbatschows Weg

    Und hier stoßen wir nun auf ein erstaunliches historisches Paradox:

    Im Gegensatz zu Michail Gorbatschow, der sich Ende der 1980er Jahre für eine Liberalisierung des politischen Systems entschied, hat Wladimir Putin offenbar das Gegenteil vor und will den Herausforderungen der Wirtschaftskrise mit einer Art Anti-Perestroika begegnen. Bei Lichte betrachtet folgt Putin mit seinen politischen und wirtschaftlichen Prioritäten jedoch bis zu einem gewissen Grad Gorbatschows Weg.

    Mit der Antwort auf die Frage, warum die Sowjetunion auseinanderfiel und ob dieser Zerfall unvermeidlich war, ließen sich natürlich ganze Bücher füllen. Relativ einfach und kurz lässt sich hingegen beantworten, warum ein Zerfall in der Form, wie er tatsächlich erfolgte, möglich wurde. Hauptmotor waren nicht in erster Linie politische Faktoren, sondern der wirtschaftliche Kollaps.

    REFORMWILLIGE FUNKTIONÄRE VERSCHWANDEN

    National-demokratische Bewegungen, die einen Ausstieg aus der UdSSR anstrebten, gab es Ende der 1980er Jahre nur in einigen wenigen Teilrepubliken – vor allem in den baltischen und zum Teil in den transkaukasischen Gebieten, wo diese Prozesse durch national-territoriale Konflikte angeheizt wurden. Schon in der ersten Jahreshälfte 1990 versuchten die baltischen Staaten für den Ausstieg aus der UdSSR einen praktischen und juristischen Weg zu ebnen. Entscheidend für das, was anderthalb Jahre später geschah, waren jedoch die Unabhängigkeitserklärungen von fast allen übrigen Sowjetrepubliken im Sommer und Herbst 1990, obwohl es hier kaum ernsthafte national-demokratische Bewegungen gegeben hatte und größtenteils Parteifunktionäre an der Macht waren.

    Seit Mitte des Jahres 1990 war die Erhaltung der Sowjetunion zur politischen Hauptsorge Michail Gorbatschows geworden. Ende des Jahres verlieh ihm der Kongress der Volksdeputierten außerordentliche Vollmachten im Interesse der Erhaltung der Sowjetunion. Reformwillige Funktionäre verschwanden aus Gorbatschows Umfeld, ganz im Gegensatz zu ihnen spielten dann die Silowiki eine immer größere Rolle. Anfang 1991 suchte man den Austritt der baltischen Republiken aus der UdSSR mit Gewalt zu verhindern. Außerdem wurde der aufgelöste, progressive Präsidentenrat durch einen neugegründeten Sicherheitsrat ersetzt.

    DAS EINST VERBOTENE WORT „MARKT“ ERSCHRECKTE KEINEN MEHR

    Zu diesem Zeitpunkt war im Alltagsleben zweifellos die Wirtschaft das Hauptproblem. Seit über vier Jahren waren die Erdölpreise im Keller. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich exponentiell, es brauchte Sofortmaßnahmen. Im März 1990 arbeitete man einen ersten Plan für den Übergang zur Marktwirtschaft aus – das Programm 400 Tage. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich so rasant, dass das noch anderthalb Jahre früher verbotene Wort „Markt“ keinen mehr ins Staunen oder Stocken versetzte.

    GORBATSCHOW WAR ZU UNENTSCHLOSSEN

    Doch mit dem Programm für den Übergang zur Marktwirtschaft wird nie begonnen. Ab Mitte 1990 beginnt ein endloses Hin und Her – eine Abstimmung in einer ersten Kommission, dann in einer zweiten, dann die Zusammenführung mit Alternativprogrammen und so weiter und so fort. Grund dafür ist die offenkundige Unentschlossenheit Gorbatschows. Die Umsetzung einer realen, wirkungsvollen Reform hätte ernsthafte Kosten verursacht und steigende Preise mit sich gebracht. Gorbatschow scheut das Risiko: Eine Preiserhöhung wäre für seine politische Beliebtheit fatal und würde seine politischen Gegner stärken. Das Thema „Erhaltung der Sowjetunion“ hingegen wirkt lebenswichtig und wie ein sicherer politischer Gewinn. Gorbatschows Einschätzung nach musste das in den Herzen der Menschen Widerhall finden.

    SEPARATISTISCHE RHETORIK

    Doch je weniger das sowjetische Geld wert war und je weniger man damit kaufen konnte, umso schneller verlor das politische Zentrum an Macht. Und umso weniger brauchten die Eliten in den Republiken die Macht von dort – sie setzten mehr und mehr eine gemäßigt separatistische Rhetorik ein, um der Zentralmacht die Verantwortung für die verschlechterte Situation zuzuschieben und sich so den politischen Einfluss in den Republiken zu erhalten.

    Die Unabhängigkeitserklärungen, die anfänglich nach hochtrabender Rhetorik und einem Tribut an die politische Mode aussahen, gewannen allmählich an Inhalt. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil den Republiken jeder Ressourcenaustausch mit dem Zentrum unvorteilhaft erschien.

    Und da haben wir es in seiner ganzen Pracht, das erstaunliche historische Paradox: Der Kampf um den Erhalt der Sowjetunion war für Gorbatschow Grund und Anlass, die Wirtschaftsreformen aufzuschieben – und letztlich war dies auch der Hauptauslöser für den Zusammenbruch der UdSSR.

    Zentripetalkraft

    Die Frage, ob eine in der Jahresmitte 1990 begonnene radikale Wirtschaftsreform den Zusammenbruch hätte verhindern können, wird für immer unbeantwortet bleiben. Doch es gibt Argumente, die für diese Annahme sprechen. Nicht in Bezug auf die baltischen Staaten natürlich, aber ein Kerngebiet aus fünf oder sechs Schlüsselrepubliken hätte durchaus erhalten bleiben können. Zumindest zeigten die jeweiligen Bevölkerungen weder 1990 noch 1991 einen ausgeprägten Willen zur Abspaltung. Aber gleichzeitig sahen sie auch keinen Grund, an der Sowjetunion festzuhalten.

    Was die bedrohte Einheit angeht, so befand sich Russland nach dem Zerfall der UdSSR in einer kaum besseren Lage als die Sowjetunion 1990. Die russischen autonomen Gebiete hatten noch vor dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeitserklärungen unterzeichnet. Tatarstan führte eine Volksabstimmung durch und wollte als gleichberechtigtes Gründungsmitglied der GUS auftreten. Auch das Gebiet Irkutsk rief die Unabhängigkeit aus, die Idee einer Ural-Republik lag im ungesunden Klima des Wirtschaftschaos in der Luft und wäre 1993 beinahe Wirklichkeit geworden. Natürlich wirkte die Irkutsker Unabhängigkeit ein wenig wie fake, aber so hatten die Unabhängigkeitserklärungen Weißrusslands oder Kasachstans 1990 auch gewirkt.

    Es war weniger Boris Jelzin als Jegor Gaidar, der Russland letztendlich vor dem Zerfall rettete. Die Freigabe der Preise verlieh dem Geld wieder Kaufkraft. Trotz der hohen Inflation brauchten alle dieses Geld, weil die Menge der Dinge, die man dafür kaufen konnte, ständig wuchs. Die Perspektive, dass es eine Privatisierung geben würde, änderte die Agenda der Eliten und den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Die Unabhängigkeitsfrage verlor allmählich an Energie und Schärfe. Neue politische Institutionen eröffneten den regionalen Eliten die Möglichkeit zur Lobbyarbeit, um ihre Interessen umzusetzen. Und der Bevölkerung wurde klar, dass eine Unabhängigkeit die anstehenden Probleme nicht lösen würde.

    Auch dem heutigen Russland droht kein Zerfall. Aber ihm droht wohl ernsthaft ein permanenter Kampf um den Erhalt der russischen Einheit. Wie oben dargelegt lenkt man durch einen solchen Kampf in Wirklichkeit ziemlich oft von wirklich wichtigen, komplexen Problemen ab. Versucht, sich der Verantwortung zu entziehen, und macht auf diese Weise Propaganda für den Einsatz von Gewalt als angeblich einzig wirksamem Mittel. Allein diese Kombination aus versuchter Gewaltanwendung und wirtschaftlicher Schwäche ist ein hochexplosives Gemisch, das schon öfter das Fundament eines Staates gesprengt hat – das lehrt uns unter anderem die Erfahrung der Sowjetunion.

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