Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Der Mangel an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen.
In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.
Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Ssonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.
Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.
Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft
Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.
Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.
Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland
Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.
Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.
Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.
Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditoren aufbauen können.
Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet
Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte.
In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden.
Die Rezepte sind bekannt
Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigt.
Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig.
Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.
Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge mehr als 80.000 Menschen getötet, noch mehr flohen, mehr als 80 Prozent der Wohnungen wurden zerstört. Seit September 2022 ist Mariupol vollständig unter russischer Verwaltung. Der versprochene Aufbau geht derweil kaum voran. Geflohene Besitzer werden enteignet, die besten Objekte sichern sich die russischen Besatzer. Mediazona hat Eindrücke gesammelt: Von Bewohnern, von einem Bauarbeiter aus Siribiren, der geschockt wieder heimgefahren ist, und von einem Kartografen, der die Zerstörung von Israel aus dokumentiert.
Oxana hat mit ihrem Mann und ihrem Kind am 16. März 2022 Mariupol in Richtung Dnipro verlassen. Vor dem russischen Überfall lebte sie im Bezirk Primorski. Im Keller ihres Wohnhauses betrieb sie einen Kosmetiksalon. Dort versteckte sie sich mit ihrer Familie drei Wochen lang, als Mariupol beschossen wurde, erzählt sie Mediazona.
„Ein fünfstöckiges Haus auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadtverwaltung“, erinnert sie sich an ihr früheres Zuhause. „Alle Häuser in der Nähe wurden sofort zerstört, zurück blieben nur Ruinen. Aber unser Haus blieb wie durch ein Wunder unbeschadet, bis auf die zerplitterten Fenster natürlich.“
Vergangenes Jahr, als Oxana schon in Vilnius lebte, ließ die Besatzungsregierung ihre leerstehende Wohnung in Mariupol durchsuchen. Bei ihrer Flucht hat die Ukrainerin zwar die Unterlagen für ihre Wohnung mitgenommen, aber mittlerweile ist es für sie unmöglich, nach Mariupol zu gelangen. Im November 2023 habe sie es von Estland aus versucht, erzählt Oxana, aber am Grenzübergang Iwangorod verweigerte man ihr die Einreise nach Russland.
Anlass für die versuchte Einreise war allerdings nicht die zurückgelassene Wohnung sondern Oxanas Mutter, die sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen hat. Oxana hatte gehofft, ihre Mutter und ihre Großmutter aus Mariupol herauszuholen. Die Mutter wurde im Frühling 2022 bei einem Beschuss zu Hause verwundet, seitdem sei das Haus immer noch „durchlöchert“, sagt Oxana. „Mittlerweile ist Mama dort ganz allein – sie hat weder Nachbarn noch Verwandte. Sie hat meine bettlägerige Großmutter zu sich geholt und pflegt sie, obwohl sie selbst kaum laufen kann. Und sie bekommen weder Gehalt noch Rente. Ich hätte sie da rausholen müssen.“
Die flächendeckende Inventur
Oxana ist sich sicher, dass ihre Wohnung am Meer jetzt verstaatlicht, also beschlagnahmt wird. In der Stadt wird gerade eine sogenannte flächendeckende Inventur durchgeführt. Legt der Eigentümer einer Immobilie der Besatzungsregierung nicht innerhalb von dreißig Tagen seine Dokumente für die Wohnung vor, „verliert er das Recht auf Nutzung“.
Bewohner, die ihr Zuhause durch die Kampfhandlungen verloren haben, demonstrieren und fordern die ihnen versprochenen Wohnungen: „Das Haus, in dem wir viele Jahre gewohnt haben, existiert nicht mehr. Man hat uns hängen lassen: Man gibt uns keine Wohnungen, man verspricht sie uns nicht einmal mehr. Helfen sie uns, Wladimir Wladimirowitsch! Sie sind der Garant der Verfassung!“
Ein Video von den Protesten in der Stadt zeigt eine Frau mit einem Zettel in der Hand, sie redet aufgeregt, verhaspelt sich: „Das ist unser Haus auf der Artjoma 88. Dreißig Jahre haben wir da gewohnt. Und im Februar 2022 wurde es dem Erdboden …“ Sie kommt ins Stocken. Jemand aus der Menge spielt ihr einen Euphemismus zu: „Es hat gelitten.“ Sie korrigiert sich: „… hat unser Haus während der Kampfhandlungen gelitten.“
„Jetzt sind alle auf der Straße gelandet“, schließt sie, wie um sich zu entschuldigen. „Die Volksrepublik Donezk schränkt unsere Rechte ein und verstößt damit gegen die russische Verfassung.“
Ihre Pläne, Mariupol wieder aufzubauen, hatte die russische Regierung schon am 24. März 2022 bekanntgegeben, als die Kämpfe um die Stadt noch tobten. Seit dem Herbst 2022 verschwinden von den Karten des Anbieters Yandex zunehmend Einträge von zerstörten Häusern.
Aber auf einer anderen Karte gibt es diese Häuser noch. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgt Witali Stutman dafür, ein Social-Media-Experte aus Israel. Die Zahl der Häuser auf der Karte wächst, mit den genauen Adressen helfen ihm nicht selten auch die Einwohner Mariupols.
„Bisher sind 2000 Wohnhäuser verzeichnet“, erzählt Stutman. „Nicht alle sind komplett verschwunden, manche sind beschädigt oder die Ruinen stehen noch. Außer den Wohnhäusern finden sich dort an die hundert andere Gebäude: 55 Schulen, 16 Kindergärten, 15 Hochschulen, 20 Krankenhäuser, 16 Kirchen. Und noch knapp hundert Restaurants, Geschäfte, Hotels und so weiter.“
Im Oktober 2022 hat das Zentralnstitut für Stadtplanung im Auftrag des russischen Bauministeriums einen Plan für den Wiederaufbau Mariupols bis 2025 erarbeitet, der von The Village veröffentlicht wurde. Laut Prognosen des Instituts soll die Stadtbevölkerung von Mariupol bis zum Jahr 2025 von 212.000 auf 350.000 anwachsen. Ganz oben, unter „prioritäre Aufgaben“, ist in diesem Plan der „Wiederaufbau von Wohnobjekten wie Einfamilienhäusern und Wohnblöcken in Leichtbauweise“ verzeichnet. Gefolgt von städtischer Infrastruktur und „der Wiederherstellung und dem Erhalt von Grünflächen“. In dem Bauvorhaben findet sich auch das Theater, in dem bei den russischen Luftangriffen vom 16. März 2022 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 12 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Vizepremier Marat Husnullin versicherte, das Theater werde bis Ende 2024 wiederaufgebaut.
Alle Baumaßnahmen in Mariupol werden von einem Unternehmen mit der Bezeichnung Zentraler Auftraggeber im Bausektor geleitet. Im März 2023 veröffentlichte die Firma einen Bericht mit der Gesamtzahl der Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind: 407. Davon waren 321 wie berichtet bereits abgerissen worden. An weiteren 1829 Objekten sollten „Sanierungsarbeiten“ durchgeführt werden. Nach Angaben von Bumaga ist der Wert der Aktiva des Unternehmens Zentraler Auftraggeber im Jahr 2022 um 182 Prozent gestiegen. Im Dezember gab das Unternehmen an, 20.000 Bauarbeiter aus allen Teilen Russlands seien nach Mariupol gekommen.
Im Dezember 2022 zählte die Agentur Associated Press auf Satellitenaufnahmen vom besetzten Mariupol über 10.300 Gräber, die seit Beginn des russischen Angriffs hinzugekommen waren. Auf Witali Stutmans Karte sind über 400 Gräber eingezeichnet; außerdem die Orte, an denen die Menschen umkamen, mit Fotos. Viele befinden sich in den Innenhöfen der Häuser, wo nun gebaut wird. Niemand weiß, ob die sterblichen Überreste der Opfer vor den Bauarbeiten auf einen Friedhof umgebettet wurden.
„Bei meiner Rückkehr war ich moralisch erschüttert.“ Bericht eines Bauarbeiters
„Für mich war das in gewisser Hinsicht eine wirklich traumatische Erfahrung“, gibt Michail aus Nowosibirsk im Gespräch mit Mediazona zu. Von Oktober bis Dezember 2022 war er Hilfsarbeiter auf der Baustelle des Hotels Drushba – heute ist es ein Wohnheim für Mariupols Stadtbewohner, die ihre Wohnung verloren haben.
„Als ich wieder zu Hause war, stand ich unter Schock, ich war moralisch erschüttert von dem, was ich gesehen habe“, erzählt Michail. „Wir haben weder etwas zu essen noch eine Unterkunft bekommen. Die Erfahrung war außerdem traumatisch, weil die Stadt aus ausgebrannten Ruinen bestand, und die Stadtbewohner uns von ihren schrecklichen Verlusten erzählten, die der Preis für ihre ‚Befreiung‘ waren, um die sie nie gebeten hatten, glaube ich.“
Damals reiste Michail schon seit einem Jahr per Anhalter durch Russland und verdiente sich auf Baustellen etwas dazu. Er hatte gehört, dass Mariupol eine gute Möglichkeit sei, auf dem Bau etwas Geld zu machen.
„Ein Justizangestellter hat mich nach Mariupol mitgenommen. Bei der Baustelle Drushba hat er mich rausgelassen; dort habe ich mich mit ein paar Leuten unterhalten und erfahren, dass sie Arbeit haben“, erinnert sich Michail. „Sie haben mir angeboten, gleich am nächsten Tag anzufangen. Ich weiß gar nicht, ob ich denen meinen Pass gezeigt habe. Ihre Pässe habe ich, glaube ich, auch nicht gesehen. Die haben nur gefragt: ‚Also los?‘, und mich zu sich nach Hause mitgenommen, wo ich schlafen konnte.“
Das Haus in Guglino, einem Dorf in der Nähe, mietete die Bauarbeiterkolonne für 10.000 Rubel [100 Euro – dek] monatlich. Anfangs gab es weder Strom noch Wasser. Michail verdiente 2000 Rubel [20 Euro – dek] am Tag; er machte alles Mögliche: Verladen, Malern, Spachteln, Putzen. Für welche Firma er in Mariupol arbeitete, weiß er gar nicht.
„Unser Vorarbeiter hat auf verschiedenen Baustellen mit zwei unterschiedlichen Firmen zusammengearbeitet: TechnoStroi aus Petersburg und RosKomStroi aus Moskau“, erinnert sich Michail. „Drushba müsste zu der Moskauer Firma gehört haben.“
Die Webseite des Moskauer Bauunternehmens RosKomStroi wurde seit 2018 nicht aktualisiert, die dort angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Das Unternehmen TechnoStroi wird von Iwan Oryntschuk geleitet, einem Geschäftsmann aus Sankt Petersburg. Im November vergangenen Jahres wurde er von der Regierung „für den Wiederaufbau“ Mariupols ausgezeichnet.
„Sehr geehrte Abgeordnete, das, was Petersburg dort leistet, ist eine Heldentat“, sagte Oryntschuk bei der Verleihung. „Ich habe mittlerweile mehr als fünf Monate in Mariupol verbracht. Wir werden alle unsere Aufgaben erfüllen, wir tun es jetzt schon. Sankt Petersburg wird Mariupol wiederaufbauen – so ein Team macht das Unmögliche möglich.“
Knapp eine Woche später wurde er verhaftet, weil er auf staatlichen Baustellen 70 Millionen Rubel [etwa 700.000 Euro – dek] veruntreut haben soll.
„Bis heute hausen sie in Kellern.“ Wie die Menschen in Mariupol leben
Um neuen Wohnraum zu bekommen, muss man bei der Stadtverwaltung der Besatzungsregierung von Mariupol Unterlagen seiner zerstörten Immobilien vorlegen.
„Viele haben diese Unterlagen nicht: Als die Stadt beschossen wurde, mussten sich die Menschen in Sicherheit bringen, da haben sie nichts mitgenommen“, erzählt Nikolaj Ossytschenko, der ehemalige Chef des TV-Senders in Mariupol. Er verließ die Stadt am 15. März 2022, betreibt aber immer noch einen Telegram-Kanal und hält nach eigenen Angaben Kontakt zu den Menschen, die vor Ort geblieben sind.
„Schon im vergangenen Jahr veröffentlichte die Stadtverwaltung der Besatzer Mariupols erste ‚Listen verlassenen Wohnraums‘ und brach leerstehende Wohnungen auf“, erzählt Ossytschenko. Meldet sich der Eigentümer nicht innerhalb von 30 Tagen nachdem seine Wohnung auf so einer Liste aufgetaucht ist bei der Stadtverwaltung, und legt die Dokumente für die Wohnung vor, wird diese für „herrenlos“ erklärt und „verstaatlicht“. „Im letzten Jahr war es noch möglich, sich von einem Nachbarn bestätigen zu lassen, dass die Wohnung dir gehört – das geht jetzt nicht mehr. Jetzt musst du persönlich da sein oder dich von einem russischen Notar vertreten lassen“, erklärt Ossytschenko.
Aber manchmal helfen selbst die Dokumente für eine Wohnung nicht. Alexandra Borman ist Waise. Zwölf Jahre hatte sie darauf gewartet, dass ihr eine Wohnung zugeteilt wird. Ein Jahr vor dem russischen Angriff hatte sie endlich eine Wohnung im Haus Nr. 29 auf der Uliza Geroitscheskaja (dt. Heldenstraße) bezogen. Da brach der Krieg aus.
„Wir verließen unser Haus, und noch am selben Tag wurde es von einer Rakete getroffen, es ist sofort halb eingestürzt“, erzählt sie Mediazona. „Jetzt wohnen wir in einem kleinen Haus in dem Bezirk Mirny, seit vier Tagen haben wir keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, der Ofen auch nicht. Es sind zwei Grad Celsius im Haus, dabei habe ich zwei Kinder.“
„Das zerstörte Haus blieb lange als Ruine stehen“, erzählt Alexandra. In der Zwischenzeit hat sie alle Unterlagen zusammengetragen: den Wohnbescheid, die Meldebescheinigung, den Vertrag für die Sozialwohnung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine neue Wohnung abgelehnt. Ohne Begründung.
Nikolaj Ossytschenko erzählt, dass als Erstes Beamte von der Besatzungsregierung und zugereiste Bauarbeiter in Mariupol Wohnungen bekämen, die „Unterbringung der einfachen Leute“ sei zweitrangig. Manche Stadtbewohner brachte man in Notunterkünften unter – in diesen Wohnheimen leben sie bis heute, obwohl ihnen zugesichert wurde, das sei eine vorübergehende Lösung.
„Es gibt Menschen, die immer noch in Kellern leben“, berichtet Ossytschenko. „Eine Freundin erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter, einer alten Frau, seit anderthalb Jahren in einem Keller wohnt. Ihr Haus wurde zerbombt, sie kann nirgendwo anders hin. Sie wollte wissen, wie teuer es ist, aus Mariupol in die Ukraine auszureisen. Sie sagt, noch einen Winter im Keller überstehen sie nicht.“
„Da ist alles vollkommen im Arsch.“ Warum nicht alle Bezirke wiederaufgebaut werden
„Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist“, sagt Ossytschenko.
„Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte – deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut“, erklärt er. „Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.“
Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, mit der neuen Regierung in Mariupol hat er die Zusammenarbeit verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden – knapp vier Kilometer entlang der Küste.
„Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut“, sagt er. „Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.“
Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es „Room Tours“ durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen).
„Vom Balkon hat man eine fabelhafte Aussicht, kommt mit, ich zeige es euch“, sagt in einem dieser Videos eine Maklerin namens Natalja, während sie den Blick von der einstürzenden Decke abwendet und sich ihren Weg durch die zerstörten Möbel in der bombardierten Wohnung bahnt.
„Stellen Sie sich das mal vor, ein Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht und man gibt den Menschen gar nichts“, entrüstet sich Oleg. Als Beispiel führt er das berühmte Haus mit der Uhr an, das 2022 beschädigt und bald darauf abgerissen wurde. Im Juli gab die Stadtverwaltung bekannt, dass die Wohnungen in dem neuen, rekonstruierten Haus mit der Uhr zum Verkauf stünden. Anzeigen in den sozialen Netzwerken zufolge kostet eine Einzimmerwohnung in dem noch nicht fertig gebauten Haus fünf Millionen Rubel [50.000 Euro – dek], für zwei Zimmer bezahlt man achteinhalb Millionen. Oleg ist sich sicher: „Einheimische können sich diese Wohnungen nicht leisten, auch nicht auf Kredit – in der Stadt gibt es keine Arbeit.“
Dabei sind die Wohnungen im Haus mit der Uhr längst verkauft, teilte das Büro des Bauunternehmens PKS-Development auf Anfrage von Mediazona mit. Laut dem Sales Manager sind nur noch Wohnungen im neunstöckigen Nachbarhaus verfügbar, das auch noch gebaut wird.
„Wir vergeben alle Wohnungen zu gleichen Konditionen“, hieß es in der Stellungnahme des Bauunternehmens. „Als Bauunternehmen sind wir nicht für Entschädigungen zuständig, wir bauen Häuser. Mit Entschädigungsfragen beschäftigt sich die Lokalverwaltung.“
„Die Besatzungsregierung hat nicht die Mittel, um die Stadt vollständig wiederaufzubauen“, sagt Oleg. „Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nach wie vor nicht, obwohl die prorussische Lokalpresse das Gegenteil behauptet. Gleichzeitig boomt der Immobilienbau durch private Investoren.“
„Es kommen Lkws aus Taganrog oder Rostow mit fertigen Zimmern auf der Ladefläche“, beschreibt Oleg das modulare Bauen. „Das sind Kästen mit Löchern für die Fenster, die werden aufeinandergestapelt, verschraubt, die Übergänge verspachtelt. Eins zwei drei – schon hat man Häuser.“
Nach einem heftigen Sturm Ende November veröffentlichen ukrainische Nutzerinnen in Sozialen Netzwerken allerdings Bilder vom abgerissenen Dach eines solchen Neubaus im Westen Mariupols. „So viel zur Qualität“, war der Kommentar zum Post.
„Nach dem Sturm im November blieben 3500 Haushalte in Mariupol ohne Strom“, teilte der stellvertretende Bürgermeister Oleg Morgun mit. „Privathaushalte waren mehr als zehn Tage lang vom Stromnetz abgeschnitten, manche Bezirke sogar bis Ende Dezember.“
Im März 2023 besuchte Wladimir Putin das besetzte Mariupol. Er war auch in Newski, dem Neubau-Bezirk. Als er sich mit den Leuten auf der Straße unterhielt, rief eine Frauenstimme im Hintergrund etwas, das viele später als „Das ist alles gelogen. Das ist alles nur zum Schein“ erkannten. Diese Sequenz wurde aus dem Beitrag auf der Kreml-Webseite entfernt. Genau wie eine andere, in der ein älterer Herr zu Putin sagt, er habe „mit 70 Jahren alles verloren“. „Jetzt hat er wieder alles“, korrigierte ihn sofort eine Nachbarin mit nervösem Lachen.
Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.
dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft?
Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall.
Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?
Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.
Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?
Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.
Wie lange macht die Bevölkerung das mit?
Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt.
Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus?
Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.
Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?
Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar.
Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.
Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden.
Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?
Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.
Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen.
Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten?
Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.
Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?
Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.
Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?
Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.
Experte: Janis Kluge Interview: Alexandra Heidsiek Veröffentlicht am 2.11.2023
Wenn nicht die Sanktionen selbst, dann werde die hohe Arbeitslosigkeit den Kreml schon in die Knie zwingen – so oder ähnlich haben zahlreiche Experten den Niedergang des Systems Putin nach dem russischen Überfall auf die Ukraine prognostiziert. Nun bewegt sich Russland auf Vollbeschäftigung zu, und auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Dabei ist die russische Wirtschaft 2022 um über zwei Prozent geschrumpft, für das laufende Jahr wird ebenfalls eine Rezession vorausgesagt, die Arbeitsproduktivität ist gewohnt niedrig. Wie geht das alles zusammen?
Was zunächst widersprüchlich erscheint, aber für den Kreml gut klingt, verschleiert tatsächlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten der russischen Wirtschaft, die sich langfristig noch verschärfen dürften. Zu dieser Einschätzung kommen Jekaterina Mereminskaja und ihre Kollegen von istories, die mit zahlreichen Experten gesprochen haben.
Die Arbeitslosigkeit in Russland bricht seit einem halben Jahr alle Minusrekorde. Zuletzt war sie im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991. Und laut Maxim Reschetnikow, dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sei damit womöglich nicht einmal der Tiefststand erreicht – die Arbeitslosigkeit könne noch weiter zurückgehen.
Es scheint, als gäbe es keine Krise. Denn: „Normalerweise bedeutet jedes einzelne Prozent BIP-Rückgang zwei Prozent[punkte – dek] mehr Arbeitslosigkeit“, führt Oleg Itskhoki, Professor an der University of California, als Beispiel für entwickelte Industrieländer an, „in diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal.“ Im ersten Quartal ist das BIP im Jahresvergleich um 1,9 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit aber ebenfalls zurückgegangen. Wie ist das möglich, und was bedeutet das?
Niedrige Arbeitslosigkeit − die „heilige Kuh“ des Kreml
Die russische Führung legt ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitslosenquote – das ist einer ihrer Schwerpunkte. Eine hohe Arbeitslosigkeit zieht soziale Probleme nach sich und bricht damit den Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor dem Krieg: Wir gewährleisten euch einen annehmbaren Lebensstandard, und ihr haltet euch aus der Politik raus. Die Regierung hat selbst in schwierigsten Zeiten von der Wirtschaft verlangt, auf Entlassungen zu verzichten. Nach der weltweiten Finanzkrise war Russlands BIP im Jahr 2009 um 7,9 Prozent gefallen, die Arbeitslosenquote jedoch nur von 6,2 auf 8,3 Prozent gestiegen.
In Krisen hat man das Problem nicht gelöst, sondern verschleiert: Mitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, auf Teilzeit gesetzt und so weiter – alles, nur keine Massenentlassungen. Dabei ging es nicht nur um den Wunsch, die Zahlen zu schönen – auch für die Betroffenen war es so oft bequemer. In jedem Fall handelt es sich dabei um versteckte Arbeitslosigkeit. Offiziell dagegen ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück.
Das geschah vor allem auf natürlichem Wege. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden nach und nach durch die des „demografischen Einbruchs“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre abgelöst. Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen, so die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch.
Der Krieg hat die Situation weiter verschärft. Viele haben das Land verlassen, andere wurden zum Militär eingezogen. Anstelle der Zuwanderung von Migranten aus anderen Ländern, die den Arbeitskräftemangel in Russland bislang ausgeglichen haben, überwiegt nun die Abwanderung: 20.600 Menschen haben [im Wanderungssaldo – dek] das Land im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verlassen. 2021 war die Bevölkerung Russlands durch Migration noch um 320.000 Personen angewachsen. Infolge der Mobilisierung wurden 300.000 Männer dem Arbeitsmarkt entzogen, so Subarewitsch. Die Abwanderung nach der Verkündung der Mobilisierung beziffert sie mit „mindestens einer halben Million“.
Mit der Arbeitslosigkeit ist es wie mit der Körpertemperatur
Man könnte meinen, dass es denen, die geblieben sind, gut gehen müsste. Auf den ersten Blick bedeutet die historisch niedrige Arbeitslosigkeit, dass fast alle einen Job haben und die Bezahlung steigt. So legte das Realeinkommen (inflationsbereinigt) im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent zu.
Tatsächlich führt ein solcher Rekord zu vielen Problemen. Dem Land fehlen ganz einfach Arbeitskräfte. Der Personalmangel in Russland ist ein altes Problem, aber nach der Mobilisierung im Oktober erreichte er einen Höchststand. Bereits im November stieg der Anteil der Unternehmen, die „aus formalen Gründen“ (Einberufung, Gerichtsverfahren, Tod) Mitarbeiter verlieren, von den bislang gewöhnlichen 38 Prozent auf 60 Prozent.
Der Lohnwettbewerb zur Abwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von hochqualifizierten Industriearbeitern, hat bereits begonnen
Praktisch überall fehlen Leute. Viel wird über IT-Spezialisten gesprochen, für die man sich sogar besonders günstige Hypotheken ausgedacht hat, aber in der Industrie sieht es nicht besser aus. „Es gibt ein allgemeines Problem mit Personalkapazitäten, auch mit hochqualifizierten Fachkräften für die Industrie“, so Wassili Osmankow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel. „Wir sind immer stärker mit entsprechenden Einschränkungen konfrontiert.“ Während Sanktionen umgangen werden können, indem man deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, lassen sich Personalprobleme nicht so leicht lösen. „Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter“ – darauf kommt es eigentlich an“, erklärt Osmankow.
Mit der Arbeitslosenquote ist es wie mit der Körpertemperatur: Es gibt einen Normalbereich (ständig werden Jobs gewechselt, Jobs gesucht, beispielsweise von Berufseinsteigern) − das ist eine natürliche Arbeitslosigkeit, die das Wirtschaftswachstum nicht hemmt und die Inflation nicht antreibt. Für Russland liegt diese Quote bei rund fünf Prozent. Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte die natürliche Arbeitslosigkeit von 2000 bis 2016 mit durchschnittlich 5,5 Prozent (russische Wissenschaftler ermittelten Mitte der 2000er Jahre einen ähnlichen Wert: 5,6 Prozent) und prognostizierte einen Rückgang dieser Quote um jährlich 0,1 Prozentpunkte. Wenn diese Prognose stimmt, müsste die natürliche Arbeitslosigkeit jetzt bei 4,8 Prozent liegen.
Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger
Aber es kann Abweichungen geben: Hat ein Wirtschaftsorganismus mit Problemen zu kämpfen, steigt die Arbeitslosigkeit. Und auch eine zu niedrige Arbeitslosigkeit kann ein schlechtes Zeichen sein.
„Normalerweise deutet ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf einen Anstieg der Beschäftigung und eine Belebung der Wirtschaft hin. Deshalb propagiert die Führung das als ihre ‚Errungenschaft‘“, sagt Subarewitsch. Doch das, was sich jetzt beobachten lässt, ist schon ein Verfall. Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum. Die sogenannte Transformation der Wirtschaft braucht auch Arbeitskräfte, doch die sind nirgendwo zu bekommen.
„Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger, hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten“, räumt Maxim Oreschkin ein, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten.
Jeder löst das Problem, so gut er kann. Eine besonders radikale Lösung hat der Autohersteller AwtoWAS gefunden: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. „Gebraucht werden allerdings qualifizierte Leute, die müssen extra geschult werden. Und da spreche ich noch nicht von Motivation und Arbeitsqualität“, kommentiert Wladimir Gimpelson, Professor an der University of Wisconsin-Madison.
Andere Zusatzmaßnahmen, mit denen Arbeitgeber den Arbeitskräftemangel bekämpfen wollen, erfasst die Zentralbank. So hat ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region die Zahl der HR-Manager erhöht, um die Personalbeschaffung zu forcieren. Im Ural haben Unternehmen begonnen, Rotationsprogramme, bessere Bedingungen für den Umzug (zum Beispiel Bereitstellung von Wohnraum, Reisekostenerstattung, Fortbildungen) anzubieten und die Löhne zu erhöhen.
Lohnerhöhung bringt Inflation
Lohnerhöhungen sind natürlich die häufigste Maßnahme. Aber für die Wirtschaft ist das − so seltsam es klingen mag − ein Problem. Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität, wiederholt immer wieder die Zentralbank: Das muss dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden, was wiederum die Inflation anzuheizen droht.
Analysten der Zentralbank ermittelten auf Grundlage der Daten von 2018, dass die niedrige Arbeitslosigkeit in Russland in den meisten Regionen (48) schon vor den jüngsten Rekordtiefs die Inflation angeheizt hatte, indem sie die Löhne nach oben trieb.
Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an
Nicht alle jedoch können die Personalausgaben erhöhen. Der Fluggesellschaft Aeroflot fehlt bereits das fünfte Jahr in Folge das Geld für Gehaltsanpassungen. Nach Einstellung der meisten Auslandsverbindungen überlebt die Airline nur mit staatlicher Hilfe. Im Mai legten Beschäftigte im Autowerk Uljanowsk (UAZ), das auch staatliche Aufträge erfüllt, die Arbeit an den Montagebändern für den Geländewagen Patriot nieder und forderten eine Lohnerhöhung mit dem Argument, im letzten Monat im Durchschnitt 20.000 Rubel [im April umgerechnet ca. 230 Euro – dek] erhalten zu haben. Der Generaldirektor des Werks versprach noch am selben Tag eine Lohnerhöhung um 12 Prozent ab Juni. Die Streikführer wurden unterdessen von Ordnungskräften festgenommen.
Denn Streiks gehören ebenfalls zur Schattenseite: „Eine niedrige Arbeitslosigkeit und fehlende Arbeitskräfte geben den Beschäftigten zusätzliche Sicherheit. Es ist für sie einfacher, Forderungen zu stellen, ohne Entlassungen befürchten zu müssen“, erläutert Gimpelson. Seiner Meinung nach könne sogar die Rüstungsindustrie ihre Löhne wahrscheinlich nur in begrenztem Maße erhöhen.
Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen
Indes wächst das Problem des Arbeitskräftemangels weiter. Im Mai sei in einer Reihe von Branchen die wirtschaftliche Aktivität gestiegen, so dass sich der Arbeitskräftemangel weiter verschärft habe, stellt die Zentralbank fest. Die Unternehmen stocken wegen der höheren Nachfrage ihre Belegschaft auf. Darum entstehen aktuell so viele und so schnell wie nie seit November 2000 neue Arbeitsplätze. Das geht aus einem Enterprise Survey der Firma S&P für den PMI-Index hervor.
„Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht in seinem Ausmaß eher einer Phase intensiven Wachstums“, geben sich Experten des Moskauer Zentrums für makroökonomische Analysen und Kurzzeitprognosen (ZMAKP) überrascht, „vermutlich ist Russlands Wirtschaft (sollten keine neuen Schocks auftreten) bereit für eine neue Wachstumswelle.“
Wachstum bräuchte Arbeitskräfte und Investitionen
Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn derartige Probleme erschweren wirtschaftliches Wachstum. Es fehlen die notwendigen Arbeitskräfte. Die Verfügbaren sind nicht immer in der Lage oder bereit zu arbeiten, weil sie nicht befürchten müssen, entlassen zu werden. Einerseits halte Russland eine künstliche Überbeschäftigung aufrecht, die die Arbeitsproduktivität verringert, räumen die Experten des ZMAKP ein. Andererseits führe die niedrige Produktivität zur Unterbewertung von Arbeit – so entsteht ein Teufelskreis.
Bei der Einführung neuer Technologien kommt es zu Verzögerungen. „Es fehlen Anreize für die technische Modernisierung von Unternehmen und für den Ersatz von Arbeitskräften durch Roboter“, warnen die ZMAKP-Experten weiter. „Eine immer größere Rolle in der Produktion spielen unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, was sich wiederum auf die Qualität auswirkt.“ Das ist ein weiterer Schritt Richtung „umgekehrte Industrialisierung“ aufgrund rückständiger Technologien, wie sie die Zentralbank für Russlands Industrie vorausgesagt hatte.
Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen. Die Abwanderung von Humankapital dürfte angesichts erhöhter Unsicherheit weiter anhalten, glaubt auch Alexander Knobel, Leiter der Forschungsabteilung für internationalen Handel am Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik.
Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist
Eine weitere Folge der niedrigen Arbeitslosigkeit in Russland ist Armut, denn dahinter verbirgt sich oft Unterbeschäftigung. Beschäftigte werden zwar nicht entlassen, bekommen aber weniger Geld. Laut Rosstat-Angaben waren im ersten Quartal mehr als vier Millionen Personen in Kurzarbeit, durch Verschulden des Arbeitgebers unbeschäftigt oder in unbezahltem Urlaub. Etwa sechs Millionen „Beschäftigte“ erhalten nicht einmal den Mindestlohn (MROT), und 12 Millionen haben keinen Arbeitsvertrag, räumt die Vize-Ministerpräsidentin für Soziales, Tatjana Golikowa, ein.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, dass Russlands Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen entzogen wurden (durch Mobilisierung und Ausreise), seien jedoch deutlich geringer als die sozialen Folgen, glaubt Itskhoki von der University of California. Man könnte wohl noch weitere 300.000 abziehen, die Wirtschaft würde weiter funktionieren. Doch die Folgen dieses Verlustes junger, produktiver Menschen würden noch lange spürbar sein, warnt der Experte: „Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist − fünf bis zehn Jahre, vielleicht auch noch länger.“
Im Zuge der Repressionen und der Gewalt, mit der Alexander Lukaschenko seit den historischen Protesten von 2020 gegen Medien, Zivilgesellschaft, Aktivisten und Opposition vorgeht, hat die EU sechs Sanktionspakete gegen die belarussische Führung verabschiedet. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine hat für die belarussische Wirtschaft enorme Auswirkungen, unter anderem, weil der für Belarus wichtige ukrainische Absatzmarkt weggebrochen ist oder weil Russland von massiven Sanktionen betroffen ist.
Kann die russische Führung dennoch die wirtschaftliche Unterstützung für Lukaschenko fortsetzen? Welche Auswirkungen haben die westlichen Sanktionen auf Belarus? Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar? Diese und andere Fragen beantworten Robert Kirchner und Justina Budginaite-Froehly vom German Economic Team (GET) in einem Bystro.
1. Wie ist es aktuell um die belarussische Wirtschaft bestellt?
Die belarussische Wirtschaft ist im letzten Jahr um 4,7 Prozent geschrumpft. Damit hat das Land den schwersten Einbruch seit den 1990er Jahren erlitten und wurde auf das Produktionsniveau von 2012 zurückgeworfen. Die Prognosen für 2023 reichen von einem weiteren – wenngleich geringeren – Rückgang bis zu einem leichten Wachstum. Alle Sektoren außer der Landwirtschaft entwickeln sich negativ. Sogar der Sektor für Informations- und Kommunikationstechnik, der traditionell als Wachstumstreiber der Wirtschaft galt, schrumpft derzeit massiv. Die Struktur des Außenhandels hat sich ebenfalls drastisch verändert. Die Exporte in die EU sind sanktionsbedingt massiv eingebrochen (minus 75 Prozent), während die Exporte in die GUS-Staaten (hauptsächlich Russland) deutlich zugenommen haben. Auf der Import-Seite ist ein genereller Rückgang zu beobachten, was zum begrenzten Angebot an Waren und sogar zur Verknappung einiger Produkte führt. Nach offiziellen Zahlen ist die Arbeitslosigkeit niedrig (4,5 Prozent im Jahr 2022) und geht wegen der nach Februar 2022 deutlich zugenommenen Emigration sogar zurück; allerdings sind diese Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln. Als Konsequenz der genannten Entwicklungen schrumpft der Lebensstandard der belarussischen Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sinkt aufgrund der weiterhin hohen Inflation. Die Reallöhne in einigen staatlichen Unternehmen sind zu Kriegsbeginn um rund 40 Prozent gesunken, haben sich aber später wieder stabilisiert. Auch der Konsum sinkt infolge der fallenden Einkommen.
2. Wie reagiert die belarussische Staatsführung auf die Krise?
Die belarussische Staatsführung versucht, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, weil davon die sozio-politische Stabilität des Landes stark abhängt. Hierbei werden aber meist administrative Maßnahmen gewählt, die häufig weitere Probleme nach sich ziehen. Im Oktober 2022 wurden umfassende Preiskontrollen eingeführt, mit dem Ziel, die hohe Inflation einzudämmen. Die Maßnahmen haben kurzfristig geholfen, das offizielle Inflationsziel von 6 Prozent wurde jedoch nicht erreicht und bleibt auch für 2023 unrealistisch. Während die Zentralbanken weltweit auf hohe Inflation mit Zinsanhebungen reagieren, wurde dies in Belarus nicht in Betracht gezogen – der Zinssatz liegt aktuell bei 11 Prozent und wurde unlängst sogar gesenkt. Zudem hat die Regierung finanzielle Unterstützung für große staatliche Banken und staatliche Industrieunternehmen bereitgestellt. Mit Kapitalverkehrskontrollen wird versucht, die außenwirtschaftliche Stabilität zu erhalten und den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein Kontrollmechanismus für Unternehmen mit Kapitalanteilen aus sogenannten unfreundlichen Ländern wurde eingeführt, um den Exodus von Unternehmen aus dem Land zu stoppen. Kürzlich wurde auch ein Importsubstitutionsprogramm gestartet, das den Kauf belarussischer Produkte vorsieht und so die Produktion im Lande zu stimulieren versucht, um ausbleibende Importe zu ersetzen.
3. Können freie Unternehmer unter den aktuellen Bedingungen noch existieren?
Der stark steigende, repressive Einfluss des Staates auf die Wirtschaft erhöht das unternehmerische Risiko erheblich. Viele ausländische Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig waren, haben daher ihre Tätigkeit eingestellt bzw. deutlich reduziert. Generell leiden die belarussischen Unternehmen unter erheblichen Imageschäden, sie sind aus Sicht ihrer ausländischen Geschäftspartner „toxisch“ geworden. Dies verschlechtert das Geschäftsklima deutlich und führt oft zur Aufgabe bestehender oder künftiger Kooperation. Auch die Finanzsanktionen erschweren den internationalen Handel. Die Unternehmensgewinne sind deutlich geringer als in den Vorjahren, und die Unternehmensverschuldung ist relativ hoch. Zudem berichten private Unternehmen über einen gestiegenen Abgabendruck seitens des Fiskus. Darüber hinaus gab es im Jahr 2022 einen deutlichen Lageraufbau bei den Unternehmen aufgrund der Absatzschwierigkeiten, und einen erheblichen Abfluss von Unternehmenseinlagen bei den Banken. Insgesamt also sehr schwierige Rahmenbedingungen, die sich im Jahresverlauf verschlechterten.
4. Inwieweit zeigen die westlichen Sanktionen Wirkung?
Die westlichen Sanktionen betreffen den Handel, den Finanzbereich (Banken und Staat) sowie einzelne Personen und Unternehmen. Die Wirkung der Handelssanktionen ist sicher nicht schockartig, aber durchaus spürbar. Belarus hat seine profitabelsten Exportmärkte in den EU-Mitgliedstaaten und in der Ukraine für Kalidünger, raffinierte Ölprodukte und Holzerzeugnisse verloren. Wie viele der Güter sich umlenken lassen, und vor allem zu welchen Kosten, ist aufgrund der nicht zugänglichen Daten nicht genau erkennbar. Eine wichtige Rolle spielen auch die Finanzsanktionen. Einige Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen, die Goldreserven der Nationalbank und Geschäfte mit ihr wurden in der EU blockiert, wodurch letztendlich ein „Default“ von Belarus eintrat: Das Land konnte also seine vertraglich eingegangenen Verbindlichkeiten in Fremdwährung bei der Bedienung von staatlichen Schulden nicht begleichen. Hinzu kommen „over-compliance“-Effekte im Bankensektor, die Schwierigkeiten bei der Abwicklung der Transaktionen auch für diejenigen belarussischen Banken bereiten, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf die zugrundeliegenden Warentransaktionen – wenn es keine Zahlung gibt, wird auch nichts geliefert. Der durch zusätzliche Sanktionen im Logistikbereich blockierte Zugang zu den baltischen Häfen für die Exporte aus Belarus (z. B. Kalidünger) hat negative Auswirkungen auf die Industrieproduktion, die sich seit Februar 2022 im Sinkflug befindet. In der Summe ist der anfangs genannte Einbruch der Wirtschaft vor allem auf die Sanktionen zurückzuführen.
5. Inwieweit fängt Russland die Wirkung der Sanktionen ab?
Wegen der Sanktionen hat der Handel zwischen Belarus und Russland deutlich zugenommen. Obwohl beide Länder keine Daten zu den gehandelten Warenmengen veröffentlichen, kann man sehen, dass der wertmäßige Handelsumsatz merklich zugenommen hat. Allerdings bedeutet dies für Belarus keine vollständige Kompensation der Verluste durch den Wegfall der Märkte in Europa und der Ukraine. Belarus ist auch auf die Hilfe Russlands bei der Reorganisation der Transporte von belarussischem Kalidünger und anderer sanktionierter Waren auf Drittmärkte angewiesen. Diese Exporte wurden durch russische Häfen und auf die russische Eisenbahninfrastruktur umgelenkt. Russland hat Minsk auch einen Kredit für Maßnahmen zur Importsubstitution gewährt. Zudem wurden Vereinbarungen mit Russland über die Beibehaltung von Sondertarifen für Energielieferungen für Belarus getroffen. Darüber hinaus hat Minsk ein Dokument zur Ausweitung der Integration mit Russland unterzeichnet, dass es belarussischen Produzenten ermöglicht, ihre Ölprodukte auf dem russischen Markt zu den gleichen Bedingungen zu verkaufen wie russische Unternehmen. Dadurch wird der belarussische Staatshaushalt im laufenden Jahr 600 Millionen US-Dollar an Subventionen einnehmen. Durch solche Schritte verflechtet sich Belarus wirtschaftlich immer stärker mit Russland.
6. Kann Russland Belarus´ Wirtschaft auch langfristig unterstützen?
Russland unterstützt Belarus schon seit langem über vielfältige Instrumente, neben den Energiepreissubventionen zum Beispiel über langfristige Kredite. Dies wird tendenziell zunehmen, da Belarus von internationalen Finanzmärkten abgeschnitten ist und von den wichtigsten Ratingagenturen auf „Default“ herabgestuft wurde, das heißt ein Zahlungsausfall festgestellt wurde. Dementsprechend steigt auch der Einfluss Russlands, zum Beispiel wenn es um die Verschiebung von Schuldenrückzahlungen geht. Man kann davon ausgehen, dass Russland langfristige Ziele in Belarus hat. Allerdings basieren sie nicht auf der Sorge um das Wohlergehen von Belarus, sondern um die weitere – vor allem politische – Einflussnahme auf das Nachbarland. Die Unterstützung durch Russland ist dabei mit hohen politischen Kosten für Belarus verbunden. Die Integrationsprozesse des Unionsstaates schreiten voran. Es gibt neue Initiativen zur Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Verkehr und Kernenergie. Außerdem haben sich Russland und Belarus über eine weitere Vereinheitlichung des Steuer- und Zollrechts verständigt, die der russischen Steuerverwaltung Zugang zu den Transaktionen sämtlicher belarussischer Steuerzahler verschafft. In der Praxis wird dies also die Unterordnung des belarussischen Systems unter das russische bedeuten. Manche sprechen dementsprechend von einer „schleichenden Okkupation“ von Belarus durch Russland in allen öffentlichen Bereichen.
7. Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar?
Ich denke, der Begriff „Kollaps“ weckt falsche Erwartungen und sollte vermieden werden. Gleiches gilt zur Lage in Russland, wo nach Kriegsbeginn und den folgenden Sanktionen viele Beobachter von einem schnellen Kollaps ausgingen, der bekanntermaßen nicht eingetreten ist. Die aktuelle Lage und der Ausblick sind eher durch ein langsames „Dahinsiechen“ gekennzeichnet, also eine Situation der Stagnation ohne Aussicht auf neue Wachstumstreiber. Zunehmend hängt die belarussische Wirtschaft von der Lage der russischen Wirtschaft ab, deswegen sind die Entwicklungen in Russland von großer Bedeutung auch für Belarus. Die sich anbahnenden Probleme durch die im Vorjahr eingeführten Ölsanktionen werden sich indirekt zweifellos auch auf Belarus auswirken. Darüber hinaus wird die Lage der belarussischen Wirtschaft davon abhängen, ob eventuell weitere Sanktionen gegen das Land in der Zukunft verhängt werden. Andererseits zeigt die bisherige Erfahrung aber auch, dass sanktionierte Länder fähig sind, sich an Sanktionen anzupassen und sie teilweise zu umgehen. Belarus findet immer noch Käufer für seine von der EU sanktionierten Produkte wie Kalidünger und Ölprodukte zum Beispiel in China, Brasilien und Indien. Hier wird zu beobachten sein, ob der Westen stärker als bisher das Thema „Sanktionsumgehung“ auf die Tagesordnung setzt.
Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Russland liefert derzeit deutlich weniger Erdgas nach Westeuropa, berief sich zwischenzeitlich auf „höhere Gewalt“ und mehrmals auf Wartungsarbeiten. Zahlreiche europäische Politiker halten das für Vorwände und Taktik mit dem Kalkül: Der Westen solle gezwungen werden, die wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängten Sanktionen zurückzunehmen, um im Gegenzug im nächsten Winter nicht zu frieren. Seit diesem Dienstag gilt ein Notfallplan der EU, um Gas sorgsamer zu verbrauchen und für den Fall eventueller Lieferstopps vorzusorgen.
Besonders abhängig vom russischen Gas ist und bleibt Deutschland. Entgegen der erhitzten deutschen Debatte, lässt sich eine schwere Gaskrise laut Experten für diesen Winter – jedenfalls mit rechtzeitigen Sparmaßnahmen – noch abwenden. Deutsche Gasspeicher sind im Moment mehr als 70 Prozent gefüllt, 90 sollten es werden, so das angestrebte Ziel.
Was auf der anderen Seite das Erdöl angeht: Die Preise sind schon massiv gestiegen, die EU will ihre russischen Importe bis Jahresende um rund 90 Prozent reduzieren.
Doch welche Folgen haben Sanktionen und Gas-Lieferstopps eigentlich für Russland selbst? Immerhin speist sich der russische Staatshaushalt größtenteils aus Rohstoffexporten, die wiederum größtenteils nach Westeuropa gehen. Wird diese Geldquelle wirklich versiegen? Verfolgt Russland Pläne, um das zu kompensieren? Wenn ja, wie erfolgversprechend sind diese Ansätze? Und woher kommt das Geld für den Krieg gegen die Ukraine?
Darüber hat The New Times-Chefredakteurin Yevgenia Albats mit dem Öl- und Gasmarkt-Experten Michail Krutichin und dem Wirtschaftsjournalisten Wladimir Gurewitsch gesprochen.
Yevgenia Albats: Wie stark sinken die Staatseinnahmen durch das europäische Embargo auf russisches Erdöl?
Wladimir Gurewitsch: Im Moment kommen etwas mehr als 50,3 Prozent unserer Haushaltseinnahmen aus dem Erdgas- oder Erdölgeschäft. Dieser Anteil ändert sich ständig durch Ölpreisschwankungen. Das ist ein wichtiger, doch nicht der einzige Indikator. Die Erdöl- und Erdgasindustrie hat eine viel größere Bedeutung für unsere Wirtschaft. Denn aus den Gewinnen der Erdöl- und Erdgasunternehmen und der erdölverarbeitenden Industrie (die Gewinnsteuer liegt bei 20 Prozent) fließen 17 Prozent in die Haushalte der Regionen. Wenn diese Unternehmen plötzlich weniger produzieren, dann ist klar, wohin das führt. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Das sind Unternehmen, in denen die Menschen, selbst die einfachen Arbeiter, ganz gut verdienen. In diesen Unternehmen arbeiten hunderttausende Menschen. Wenn ihre Löhne sinken oder ein Teil entlassen werden muss, führt auch das zu geringeren Einnahmen in den Haushalten der Regionen. Zudem gehen weniger Sozialversicherungsbeiträge ein.
Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie
Punkt drei: Der Erdöl- und der Erdgassektor sind die größten Auftraggeber für die inländische Industrie – Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transportwesen, Baugewerbe. Wenn sie da, mal angenommen, 150 Millionen Tonnen im Jahr weniger fördern, dann stagnieren auch die Aufträge in all diesen Branchen. Insofern geht es also bei weitem nicht nur um die Mindereinnahmen im föderalen Haushalt.
Können wir diese Mindereinnahmen nicht wenigstens teilweise kompensieren? Der Export nach Indien soll sich um das Vierfache erhöht haben …
Michail Krutichin: Indien reduziert die Importe aktuell bereits wieder.
W.G.: China ebenfalls.
M.K.: Und zwar gravierend, die Hoffnungen waren wohl nicht ganz gerechtfertigt. Daher sollten wir uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht. Das Erdöl aus Russland zu exportieren, zumal mit dem riesigen Rabatt von 30 Prozent, das bedeutet kolossale Anstrengungen, Aufwendungen, Ausgaben für Transport und so weiter. Auch besteht die Gefahr, dass das russische Erdöl und andere Flüssigtransporte aufgrund der Sanktionen nicht mehr versicherbar sind. Daher ist Indien so zurückhaltend bei Erhöhungen der Erdölimporte aus Russland.
Wir sollten uns nicht an Indien orientieren. Zumal da Konkurrenz mit Saudi-Arabien und angrenzenden Staaten besteht
Für den Staatshaushalt gibt es verschiedene Überlegungen. Wenn die Erdölförderung um 56 Prozent fällt – die Förderung lag im vergangenen Jahr bei 524 bis 526 Millionen Tonnen, wenn also 250 bis 260 oder gar 300 Millionen verschwinden, dann ist das ein schwerer Schlag für die Einnahmen. Wenn wir sagen, dass 50 Prozent aus Erdöl- und Erdgaseinnahmen in den Staatshaushalt fließen, dann bezieht sich das auf drei Steuerarten: die Abbausteuer für Bodenschätze, die Ausfuhrsteuer und die Energiesteuer für Kraftstoffe. Und was ist mit den [Staatseinnahmen – dek] durch die Gewinnausschüttungen der Erdölunternehmen? Und mit dem erwähnten Einnahmerückgang der Regionalhaushalte und mit dem sinkenden Steueraufkommen durch Rückgang der Lohnsteuereinnahmen? Und das ist noch nicht alles. Tatsächlich sprechen wir insgesamt von 70 Prozent des Staatshaushalts. Wenn wir die Erdölförderung also halbieren, was bleibt dann noch vom Staatshaushalt?
Das genau zu beziffern ist unmöglich, weil wir weder die künftigen Preise kennen noch konkrete Zahlen, wie die Sanktionen wirklich umgesetzt werden und wie stark Russland die Erdölförderung zurückfährt. Aber es wird auf jeden Fall sehr viel.
Und was geschieht mit den Erdölanlagen, wenn die Förderung derart stark reduziert werden muss?
M.K.: Ja, das ist den Erdölunternehmen sehr wohl bewusst. Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen oder welche antasten, die erst kürzlich erschlossen wurden. Wer wird heute investieren, wenn der Gewinn erst in 10 bis 15 Jahren zu erwarten ist? Und wer weiß schon, was in diesen 10 bis 15 Jahren noch alles passiert?
Zunächst einmal wird kein Erdölunternehmen, ausgenommen das staatliche Rosneft, neue Vorkommen erschließen
Erfahrung mit der Stilllegung von Bohrlöchern haben wir schon aus der Zeit, als die Förderung durch Vorgaben der OPEC+ eingeschränkt werden musste. Damals wurde vor allem die Förderung aus Quellen mit niedrigem Ertrag gedrosselt, also es wurden die ineffektivsten Bohrlöcher stillgelegt. Jetzt muss man aber weitergehen, sie schließen oder konservieren. Unter russischen Bedingungen ist das schwierig, denn ein Teil der Ölquellen befindet sich im hohen Norden. Dort sind die Bohrlöcher anderthalb bis zwei Kilometer tief. Wenn dieser Flüssigkeitspfahl einfriert, bilden sich gigantische Pfropfen, die man später nur unter Aufwendung hoher Kosten wieder entkonservieren kann, gegebenenfalls muss man komplett neu bohren.
Halten wir also fest, der Einnahmeausfall im Staatshaushalt durch das Öl-Embargo kann etwa 30 Prozent betragen – liege ich richtig?
M.K.: Sogar mehr.
Gut, also 30 bis 40 Prozent. Gleichzeitig lese ich letzte Woche in der Financial Times und im Economist, dass Gazprom die Gaslieferungen nach Europa reduziert, dass Europa in Panik aufkommt, weil es zu erfrieren fürchtet. Gibt es denn auf russisches Gas noch keine Sanktionen?
M.K.: Auf Gas gibt es keine Sanktionen. Selbst im 7. Sanktionspaket, das die EU gerade vorbereitet, ist keine Rede von Gas. Der Gazprom-Konzern hat aber gegenüber vier europäischen Abnehmern höhere Gewalt geltend gemacht. Aus Gründen, auf die man keinen Einfluss habe, könne man die Verpflichtungen gegenüber den Kunden nicht erfüllen.
Europa wurde der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa unabhängig von russischem Gas zu sein plant
Was bedeutet das? Ich habe versucht zu verstehen, ob es für solche außergewöhnlichen Umstände irgendwelche unüberwindbaren Faktoren im technischen oder wirtschaftlichen Bereich gibt. Ich habe keine gefunden.
Europa wurde also der Gaskrieg erklärt. Das ist eine Reaktion darauf, dass Europa in zwei bis fünf Jahren unabhängig von russischem Gas zu sein plant. Nun läuft eine Art Wettlauf. Die russische Regierung meint: ‚Wenn ihr so mit uns umgeht, zeigen wir euch mal, wie es ohne russisches Gas aussieht. Und so drehen wir euch unter einem passenden Vorwand – in unserem Fall höhere Gewalt – den Gashahn zu.‘
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann zeigt Russland Europa den Mittelfinger: Ihr wollt uns drohen? Hier hast du die Granate, Faschist – wie wir in der Kindheit sagten. Dennoch berührt all das unsere Staatseinnahmen. Wenn wir Europa geißeln, ist das vermutlich schmerzhaft für Europa, doch was wird aus unserem Haushalt? Das Erdöl fließt nicht, und da begrenzen wir auch noch selbst den Gasexport? Und wohin soll all das Gas gepumpt werden, das durch alle diese unendlichen Pipelines fließt, Jamal, TurkStream und wie sie alle heißen.
M.K.: Das kommt dem Mord an Gazprom gleich: Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur. Es bleibt nur eine kleine Pipeline über die Türkei auf den Balkan, die aus politischen Gründen ebenfalls geschlossen werden kann. Nach China haben wir eine Rohrleitung, durch die vergangenes Jahr 10 Milliarden Kubikmeter Gas geflossen sind. Das ist die Sila Sibiri, die bis 2025 ihr Maximum erreichen und bis zu 38 Milliarden Kubikmeter liefern soll. Die Chinesen haben einer Mehrabnahme von 10 Milliarden Kubikmetern zugestimmt. Was mit den restlichen fast 20 Milliarden ist, ist unklar.
Das kommt dem Mord an Gazprom gleich. Kommt, wir wischen Europa mal eins aus und vernichten Gazprom als Gasexporteur
Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat. Nach dem Motto: Ich hab das alles durchkalkuliert. Er sagte, wir würden die Gasleitungen in den Westen mit denen im Osten verbinden und den Gasstrom von Asien Richtung Europa und von Europa Richtung Asien beliebig umschalten, je nachdem, was für uns vom Preis her gerade günstiger ist. Doch das funktioniert so nicht. Alle Rohre führen nach Europa, so viele Rohre, mehr als Europa benötigt. Es gibt aber keine Pipeline, die das Gazprom-Gas von der Jamal-Halbinsel, wo es neue Vorkommen und gute Fördermengen gibt, nach Asien transportieren kann.
Um diese Lagerstätten mit China zu verbinden, um eine Pipeline mit einer Kapazität von 100 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu bauen, braucht es 10 bis 15 Jahre. Der Präsident denkt aber, wie es mir scheint, dass er das gleich morgen erledigen kann. Er hat Gazprom öffentlich angewiesen: ‚Ich habe Gazprom den Auftrag erteilt, umgehend die Infrastruktur für den Transport von Gas in die asiatische Richtung zu organisieren.‘ Wie soll das umgehend möglich sein? Wie lange wird ein solcher Bau dauern?
Ich habe den Eindruck, unser Präsident lebt in der Illusion, er könne heute oder morgen einen Traum verwirklichen, den er seit Jahren bei unterschiedlichen Anlässen erläutert hat
Zudem werden die Chinesen nicht so viel Gas abnehmen. Es hat so viele Gespräche mit den Chinesen gekostet, um sie von Sila Sibiri zu überzeugen und von den 10 Milliarden Kubikmetern aus den Förderstätten im Fernen Osten. Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht aber in keinem chinesischen Plan. In keiner Berechnung, in keinem staatlichen oder nichtstaatlichen chinesischen Plan gibt es diese Pipeline. Deshalb richtet seine Illusion großen Schaden an: Kommt, jetzt wischen wir Europa eins aus. Da geht dann allerdings auch Gazprom bei drauf …
W.G.: Wenn es keine Lieferungen mehr nach Europa gibt, dann bliebe letztlich nur China als Abnehmer von Pipeline-Gas, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Eine weitere theoretische Variante ist die Umwandlung in Flüssigerdgas und die Verschiffung über den Arktischen Ozean. Dazu müsste man, ähnlich wie der Erdgasförderer Nowatek, eine große Menge an Flüssigerdgas-Fabriken wie Jamal LNG oder Arctic LNG 2 bauen. Und Absatzmärkte finden.
Eine Erhöhung der Gasimporte aus Russland steht in keinem chinesischen Plan
Allerdings ist es ein großes Problem, für solche Mengen an Flüssigerdgas Abnehmer zu finden. Zudem haben die bestehenden LNG -Terminals Probleme bei der Produktion. Das sind sehr große, komplexe und teure Anlagen, und das alles unter arktischen Bedingungen. Nach dem [sanktionsbedingten – dek] Weggang der wichtigsten Zulieferer und vieler Beteiligter gibt es bereits heute Probleme mit der Fertigstellung des von Nowatek begonnenen Arctic LNG 2. Eine klare Antwort auf die Frage, wie die nicht gelieferte Technologie ersetzt und wie der technische Betrieb laufen soll, gibt es nicht. Das gesamte Gas aus den Pipelines in Flüssigerdgas umzuwandeln, ist also sehr problematisch, und ich sehe keine Lösung dafür.
Deshalb denke ich, man setzt letztlich die Hoffnung darauf, dass die Europäer einknicken. Wenn sie mit ihrer spärlichen Ration dasitzen und der Winter nicht so mild wird wie der letzte – dann werden sie bestimmt um Lieferungen bitten. Ich denke, das ist das Kalkül.
Herr Gurewitsch, noch einmal: Putin geißelt Europa, gleichzeitig aber den russischen Staatshaushalt. Wie stark werden die Einnahmen im russischen Staatsbudget sinken, wenn neben Erdöl auch kein Erdgas mehr geliefert wird? Was wird stattdessen geliefert? Wir haben Phosphate, Düngemittel …
W.G.: Wir haben Landwirtschaft …
Ja, vielleicht Weizen. Wie stark reduzieren sich die Staatseinnahmen?
M.K.: Ich kann das nicht zusammenzählen. Sehen Sie, auch auf den Kohleexport in den Westen wird ein Embargo eingeführt. Zwar würde China Kohle kaufen, doch wie soll sie dorthin kommen – mit Zeppelinen? Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons, Transportkapazitäten auf dieser Strecke – nichts … Sie ist komplett ausgelastet, da kann man nichts erhöhen. Irgendjemand sagte, man könne Öl auf der Schiene nach China befördern. Wie soll das gehen? Dort fährt schon Kohle und was sonst noch alles. Es ist völlig dicht.
Wir haben die Transsib und die BAM, das war’s. Waggons oder Transportkapazitäten auf dieser Strecke – gibt es nicht … Sie ist komplett ausgelastet
W.G.: Das betrifft auch die Getreidewirtschaft. Häfen und Terminals – nicht unproblematisch.
M.K.: Richtig, auch die Häfen kommen nicht nach. Und selbst wenn man aus den Häfen im Fernen Osten zusätzlich Erdöl oder Erdölprodukte nach China liefern möchte – wie kommen die in den Hafen? Auch auf der Schiene. Denn die Pipeline, die bis zur Kosmino-Bucht führt, arbeitet am Anschlag, da kann man nicht noch mehr durchleiten.
Es ist einfach ein absolut apokalyptisches Szenario. Denken Sie, Russland ist tatsächlich bereit zu einem Lieferstopp, nur um Europa zu bestrafen?
M.K.: Ich denke das tatsächlich, bislang deutet alles darauf hin. Die Bestrebungen, Gazproms Marktstellung in Europa zu zerstören, gibt es ja nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das hat alles viel früher begonnen. Die Ukraine war der größte Abnehmer für russisches Gas. Dieser Markt wurde schrittweise zerstört. Danach wurden weitere europäische Märkte für russisches Gas vernichtet. Und schließlich sind sie da angekommen, wo sie jetzt sind – bei der Berufung auf höhere Gewalt: ‚Wir werden euch überhaupt kein Gas mehr liefern.‘
Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man sich bei den Bjudshetniki holen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen
Einen Moment, Herr Gurewitsch, aber auch der Krieg muss doch irgendwie finanziert werden. Laut Daten von Sergej Gurijew verdient die Russische Föderation eine Milliarde Dollar am Tag mit Erdöl, wovon sie die Hälfte für den Krieg ausgibt.
M.K.: Das ist komplizierter, wie sich gezeigt hat. Wenn wir nämlich in Russland für Öl, Gas, Kohle und Diamanten ausländische Währung bekommen, muss mit dieser Auslandswährung ja etwas geschehen. Unser Import ist aber dermaßen gesunken, dass er nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen ist. Wir können also nichts mit den Devisen anfangen. Daher ist die einzige Hoffnung, dass wir noch genug Rubel haben. Der Krieg muss in Rubel, nicht in Dollar finanziert werden. Und Rubel muss man bei den Bjudshetniki abziehen, um damit die Armee und die Rüstungsfabriken zu versorgen.
W.G.: Wenn der Rubel fällt, füllt sich automatisch der Staatshaushalt. Denn dann bringt sogar eine geringere Menge an exportiertem Gas und Öl konvertiert in Rubel mehr Einnahmen als jetzt.
Es gibt also zwei offensichtliche Schlussfolgerungen. Erstens, das russische Sozialsystem, das Gesundheitssystem und überhaupt die Bjudshetniki müssen auf spärliche Einkünfte vorbereitet sein, da nicht nur embargobedingt die Erdöleinnahmen fehlen werden, sondern auch Einnahmen aus dem Gasgeschäft. Zweitens können wir festhalten, dass Russland Europa den Gaskrieg erklärt hat.
M.K.: Außerdem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur der Export von Erdgas und Erdöl, sondern auch der von Gold, Diamanten und Kohle den Bach runtergeht.
Wir müssen also den Gürtel enger schnallen.
W.G.: Ich würde es so formulieren: Wenn alles so kommt, wie wir es hier beschrieben haben, dann bedeutet das für uns tatsächlich einschneidende finanzielle Verluste und Verluste im Staatshaushalt. Wegen der aktuell anomal hohen Rohstoffpreise gibt es jetzt noch einen Puffer.
Das Technologieembargo ist auf lange Sicht, viel bedeutsamer. Da gibt es viel mehr Probleme
Ein viel größeres Problem [als das mit den Rohstoffexporten – dek] sehe ich im Bereich Technologie [die sanktionsbedingt nicht mehr importiert werden kann – dek]. Das ist auf lange Sicht, auch strategisch, viel bedeutsamer. Und da gibt es viel mehr Probleme. Denn: Von den Erdöl- und Erdgasexporten nach China und Indien kann man natürlich leben, nicht im Wohlstand, aber es ist möglich. Wie wir aber mit dem technologischen Embargo überleben sollen, das wird uns in den nächsten Jahren sehr viel mehr beschäftigen.
Können Sanktionen Putin stoppen? McDonalds, Zara, H&M haben in Russland dichtgemacht, und das ist erst der Anfang. Worauf man sich noch vorbereiten sollte – das kommentiert Journalist Pawel Kanygin in der neuesten Folge des Podcast Prodolshenije Sledujet und fragt: „Ist das die Vergangenheit, oh Verzeihung, die Zukunft, zu der die Staatsführung unter Wladimir Putin die russischen Bürger verdammt hat, indem sie einen Krieg in Europa losgetreten hat?“
Kanygin war lange Jahre Korrespondent der Novaya Gazeta, für die er auch 2014 aus dem Osten der Ukraine berichtet hat. Für seine investigativen Recherchen, unter anderem zum Abschuss der MH17, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf YouTube betreibt er den Podcast Prodolshenije Sledujet (dt. „Fortsetzung folgt“). dekoder hat die aktuelle Ausgabe untertitelt und bietet Kontext:
„Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) Christine Gölz über den russischen Kultfilm Brat.
Sapsan: Die Siemens AG gab Mitte Mai 2022 bekannt, ihr Russlandgeschäft zu beenden. Ein historischer Rückblick auf rund 170 Jahre Geschäftsbeziehung.
Mehr über das russische Gesundheitssystem in unserer Gnose.
„Hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.“ Andrej Loschak schrieb schon 2018 über Putins Ideologen und einen „höllischen Brei, der sich da in den Köpfen zusammenbraut.“
Mehr über Tschetschenien in unserer Gnose von Marit Cremer.
Deutsche Untertitel von Jennie Seitz und Ruth Altenhofer/dekoder.org Der Podcast Prodolshenije Sledujet auf YouTube Original veröffentlicht am: 30.05.2022
Auf die Proteste des Jahres 2020 folgte eine schwere politische Krise in Belarus, die bis heute anhält. Das politische System um Machthaber Alexander Lukaschenko hat sich zusehends radikalisiert – ein Prozess, der weiter andauert. Die EU und andere Länder der demokratischen Staatenwelt haben den Eskalationskurs mit bisher fünf Sanktionspaketen bestraft. Erstmals wurden auch Wirtschaftssanktionen verhängt, so unter anderem gegen Belaruskali, einen der weltweit größten Hersteller von Kalidüngern.
Lässt sich aktuell schon etwas über die Effektivität dieser Sanktionen sagen? Befindet sich die belarussische Wirtschaft, der man schon häufiger den baldigen Kollaps vorausgesagt hat, in einer Krise? Welche Rolle spielt Russland für die wirtschaftliche Entwicklung in Belarus? In einem Bystro mit neun Fragen und Antworten widmet sich der Wirtschaftsexperte Robert Kirchner den ökonomischen Rahmenbedingungen in Belarus.
1. Seit 20 Jahren heißt es immer mal wieder, die belarussische Wirtschaft stünde kurz vor dem Kollaps. Wie sieht es aktuell mit der Wirtschaftslage aus?
Ich glaube, jeder Belarus-Beobachter kennt diese Einschätzungen, die ich jedoch frei nach Mark Twain für „stark übertrieben“ halte. Lassen wir die Daten sprechen: Belarus ist im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen, was im internationalen Vergleich eher mager ist, da sich viele Länder nach der Corona-Krise 2020 im Erholungsmodus befanden. Allerdings ist Belarus insofern ein Sonderfall, da 2020 kaum Corona-bedingte Einschränkungen implementiert wurden und das Land dadurch weniger stark wirtschaftlich getroffen wurde. Was nun den Ausblick für dieses Jahr angeht, ist die Lage wesentlich unsicherer. Auch aufgrund der westlichen Handels- und Finanzsanktionen ist eine Verlangsamung des Wachstums in diesem Jahr auf etwa 0,5 Prozent wahrscheinlich, ein Durchschnittswert der Prognosen der wichtigsten Institute. Wenn wir über die aktuelle Lage hinausgehen und uns mal die mittelfristigen Trends anschauen, dann fällt auf, dass Belarus nur noch sehr langsam wächst. Wurden vor der Finanzkrise 2009 teilweise jährliche BIP-Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent erzielt, so hat sich das Bild in den letzten zehn Jahren komplett gedreht, als das Wachstum maximal drei Prozent erreichte. Der negative langfristige Trend ist also sehr ausgeprägt.
2. Die Inflation lag 2021 bei fast zehn Prozent, die Renten sind leicht gefallen und Lebensmittelpreise gestiegen. Aus Sicht der Menschen ist das schon ein bemerkbares Absinken des Lebensstandards, oder?
Ich denke, dass die hohe Inflation, die aktuell sogar über zehn Prozent liegt, gegenwärtig das wichtigste Problem für die meisten Menschen in Belarus darstellt. Die hohe Inflation ist allerdings nicht nur auf Belarus beschränkt; auch viele andere Länder verzeichnen aktuell eine hohe Inflationsrate. Im Falle von Belarus muss aber darauf verwiesen werden, dass dies trotz der Anwendung von administrativen Maßnahmen der Preiskontrolle bei verschiedenen Gütern geschieht, die tatsächliche Inflation damit wahrscheinlich sogar noch höher liegt. Auch das Wachstum der Realeinkommen und der Löhne hat sich in der vergangenen Zeit deutlich abgeschwächt – in der Summe also eine große wirtschaftliche und soziale Herausforderung für die Bevölkerung. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation kann der Staat hier keine großen Mittel aufwenden, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden.
3. Im vergangenen Jahr haben die EU und die USA erstmals Wirtschaftssanktionen beschlossen. Kann man jetzt schon sagen, ob diese überhaupt einen Effekt auf die belarussische Wirtschaft haben?
Hier muss man die Lage sehr differenziert betrachten. Auf den ersten Blick haben sich die Exporte in die EU 2021 sehr dynamisch entwickelt – sie sind in US-Dollar um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen; der Anteil der EU an den gesamten Exporten ist auf 24 Prozent gestiegen. Allerdings war 2020 durch Corona geprägt, und der hohe Anstieg ist vor allem ein Preiseffekt (beispielsweise aufgrund von höheren Energie- und anderen Rohstoffpreisen), die exportierten Mengen haben sich weit weniger stark entwickelt. Aufgrund der Konstruktion der Wirtschaftssanktionen – es gibt ja Ausnahmen für laufende Verträge und für bestimmte Produkte – ist die Abwesenheit spürbarer Folgen in 2021 jedoch nicht weiter überraschend. Ich gehe davon aus, dass sich die negative Auswirkung der Sanktionen vor allem in 2022 bemerkbar machen wird. Hier wird es aber sicher weitere Nachjustierungen und Anpassungen geben, wie etwa die Unterbindung des Düngemitteltransits durch Litauen Ende Januar 2022 zeigt. Die Unsicherheit bleibt damit hoch, was natürlich die Wirtschaft belastet.
4. Wo ist die belarussische Wirtschaft eigentlich am verwundbarsten? Oder anders: Wo liegen die strukturellen Hauptprobleme für die Wirtschaft in Belarus?
Viele große Unternehmen, so etwa in der Industrie, wurden nie privatisiert und sind weiter im staatlichen Besitz. Damit ist Belarus in gewisser Weise ein Sonderfall unter den osteuropäischen Transformationsländern. Denn so fehlt häufig aber auch der Zugang zu Kapital und Know-How, welches beispielsweise von ausländischen Investoren bereitgestellt werden kann. Dies zeigt sich dann in einer niedrigeren Produktivität. Auch der Bankensektor ist durch staatliche Banken dominiert. Das hat zur Folge, dass Kredite häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Überlegungen vergeben, sondern staatlich in die gewünschten Bereiche gelenkt werden. Insgesamt ist der Reformbedarf im strukturellen Bereich damit unverändert hoch; es gab in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte bei der Entwicklung des Privatsektors, wie etwa im IT-Sektor, was kleinen und mittleren Unternehmen zu Gute gekommen ist Aber die weitere Entwicklung ist nun sehr unsicher.
5. Gerade der IT-Bereich hat über Jahre einen enormen wirtschaftlichen Beitrag geleistet. Allerdings war auch die IT-Branche von Repressionen betroffen, viele Unternehmen haben das Land verlassen. Wie ist der aktuelle Stand?
Hier besteht weiterhin ein Widerspruch zwischen den offiziellen Wirtschaftsstatistiken und der aktuellen Stimmung beziehungsweise der Wahrnehmung der Lage der Branche. Ich hatte ja bereits auf das BIP-Wachstum im letzten Jahr hingewiesen – der wichtigste Treiber von der Angebotsseite war der IKT-Sektor, der um 9,2 Prozent expandiert ist! In 2021 trug der Sektor damit insgesamt 7,4 Prozent zum BIP bei, nach 7,3 Prozent in 2020 und 6,3 Prozent in 2019. Hier sieht man sehr gut die dynamische Entwicklung dieses primär privaten Sektors, auch wenn sich das starke Wachstum der Vergangenheit etwas abgekühlt hat. Wie sich das weiterentwickeln wird, ist schwer zu prognostizieren. Natürlich sind solche Tätigkeiten sehr mobil und prinzipiell leicht verlegbar. Auch beim steuerlichen und regulatorischen Rahmen ziehen andere Länder nach; die Ukraine hat gerade ihr Diia City-Projekt gestartet. Es bleibt also sehr unsicher, wie sich der Sektor unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen weiter entwickeln wird.
6. Die russische Abhängigkeit ist Fluch und Segen für die Machthaber. Lässt sich die Aussage treffen, dass die belarussische Wirtschaft ohne Russland vor dem Kollaps stünde?
Ich würde nicht den Begriff Kollaps verwenden. Aber die permanente und vielfältige ökonomische und finanzielle Unterstützung durch Russland mit Hilfe von zinsgünstigen und langfristigen Krediten, durch den vergünstigten Bezug von Energieträgern wie Öl und Gas ist sicherlich ein zentraler Faktor für Wirtschaft und Politik in Belarus. Ohne diese Unterstützung würde das aktuelle Wirtschaftsmodell sicher ganz anders aussehen, auch wenn es spekulativ bleibt, in welche Richtung es sich entwickeln würde.
7. China hat in den vergangenen 15 Jahren immens in Belarus investiert. Welche Rolle spielt die Volksrepublik für die belarussische Wirtschaft?
Der wirtschaftliche Einfluss Chinas ist in der Tat langfristig gewachsen. Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass für China insbesondere Belarus‘ Lage an der EU-Außengrenze von Interesse ist, und diese Transitfunktion eine wichtige Rolle spielt. So gehen etwa 80 Prozent des China-EU Transits durch Belarus. Investitionsprojekte außerhalb dieser sogenannten Belt and Road Initiative gibt es kaum, da auch die finanziellen Konditionen nicht besonders vorteilhaft waren. Wegen der aktuellen Spannungen beziehungsweise Sanktionen von Seiten der EU ist diese Funktion teilweise bedroht. In einem solchen Szenario der Unsicherheit würde ich erwarten, dass China zunächst abwartet und beobachtet, wie sich die Lage weiterentwickelt. Hierzu passt, dass wir in den letzten Jahren auch von keinen großen neuen Projekten mehr gehört haben, was sicherlich aber auch an der Pandemie lag.
8. Auch die Ukraine hat sich den Sanktionen gegen Lukaschenko angeschlossen. Welche Folgen hat dies für die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder?
Sowohl für Belarus als auch für die Ukraine sind die bilateralen Handelsbeziehungen sehr wichtig, was vor dem Hintergrund der geographischen Lage und des gemeinsamen sowjetischen Erbes nicht überrascht. Für die Ukraine spielt Belarus insbesondere bei der Versorgung mit Ölprodukten eine strategisch wichtige Rolle. Daher hat sich die Ukraine auch nicht komplett den westlichen Sanktionen angeschlossen, sondern nur selektiv (wie etwa bei den Luftfahrtsanktionen). Der Warenaustausch zwischen beiden Ländern betrug 2021 sechs Milliarden US-Dollar, 2020 waren es aufgrund der Pandemie nur vier Milliarden US-Dollar. Was nun die weitere Entwicklung der Russland-Ukraine-Krise angeht – im Falle einer militärischen Eskalation würden die wirtschaftlichen Effekte sicherlich sehr negativ sein. Neben den Auswirkungen auf die direkten Wirtschaftsbeziehungen müsste hier natürlich noch Russland einbezogen werden, welches für Belarus der Hauptpartner ist. Hier würden mögliche Sanktionen des Westens gegenüber Russland (beziehungsweise eventuell auch gegen Belarus) als Reaktion auf die Eskalation die Lage weiter verschärfen.
9. Eine weitere Öffnung der Wirtschaft wird es in der aktuellen politischen Lage sicher nicht geben. Was muss Lukaschenko 2022 gelingen, damit die Wirtschaft stabil bleibt und die Unzufriedenheit der Menschen nicht weiter wächst?
In der Tat ist das eine große Herausforderung, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Russland-Ukraine-Krise. Ich denke, der unmittelbare Fokus wird weiter auf der Bewahrung der makroökonomischen und finanziellen Stabilität liegen, so wie auch in den vergangenen beiden Jahren. Hierdurch sollen schockartige Krisenepisoden vermieden werden, wie beispielsweise eine massive Abwertung des belarussischen Rubels, ein weiterer Anstieg der Inflation oder Abzüge von Einlagen bei den Banken. Die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung durch Russland wird in einem solchen Szenario weiter eine zentrale Komponente bilden. Gleichzeitig ist klar, dass in einem solchen Kontext keine neuen Impulse für beschleunigtes Wachstum erfolgen werden. Wir werden es also mittelfristig mit einem sehr niedrigen Wachstum zu tun haben, was sich negativ auf die Schere zwischen der Einkommensentwicklung von Belarus und östlicher EU-Staaten wie Polen auswirken wird.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Immer mehr Verbraucher in Europa bekommen es zu spüren: Rekordpreise auf dem Energiemarkt. Ein Faktor, der in der Debatte darüber immer wieder genannt wird, ist Russland. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unterdessen, dass die US-Regierung Insidern zufolge bereits Notfallpläne für Gaslieferungen nach Europa ausarbeite – für den Fall, dass diese im Zuge der Krise um die Ukraine etwa unterbrochen würden. Präsident Wladimir Putin hatte noch im Dezember größere Gaslieferungen versprochen – sobald Nord Stream 2 in Betrieb ginge. Nach Aussagen der Internationalen Energieagentur (IEA) könnte der staatliche Gazprom-Konzern die Liefermengen jedoch auch über die bestehende Infrastruktur deutlich erhöhen.
Der Energieexperte Michail Krutichin nennt das „Erpressung“. Im Interview mit Republic spricht der Branchenkenner der Consulting-Firma RusEnergy über die Perspektiven des Pipeline-Projekts, über die Vermischung politischer und wirtschaftlicher Interessen bei Gazprom, aber auch ausführlich über die möglichen Auswirkungen der globalen Hinwendung zu den erneuerbaren Energien für die russische Öl- und Gaswirtschaft.
Jewgeni Senschin: Was hatte Ihrer Meinung nach im vergangenen Jahr den größten Einfluss auf den russischen Öl- und Gasmarkt?
Michail Krutichin: Das Wesentliche ist, dass sich die globale Ölbranche umorientiert: weg von Investitionen zur Förderung kohlenwasserstoffbasierter Rohstoffe hin zu Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die grüne Energiewirtschaft. Wir sehen das bei den führenden Öl- und Gasunternehmen. Die Regierungen vieler Länder, auch erdölfördernder Länder wie Saudi-Arabien, unterstützen diesen Trend nicht nur, sondern sichern die Entwicklung gesetzgeberisch, finanziell, mit verschiedenen Vergünstigungen in diese Richtung ab, sogar mit staatlichen Investitionen. Im vergangenen Jahr hat sogar die russische Führung verstanden, dass sich die Welt ernsthaft in eine neue Richtung bewegt. Und das ist keineswegs die Richtung, auf die man in Russland gesetzt hatte. Wir erinnern uns an solche Dokumente wie die Doktrin der nationalen Energiesicherheit, in der ganz klar davon die Rede war, dass diese ganze Energieeffizienz, die Energieeinsparungen, die grünen Energien, dass das alles Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen für Russland sind. Das aber will den bisherigen Weg weiter beschreiten und stützt sich dabei auf die Förderung und den Export von Erdöl, Erdgas und Kohle, das heißt auf das, was heute als „schmutzige Energie“ bezeichnet wird. Dieser Trend wird kurz- und mittelfristig bestimmen, wohin sich die Welt bewegt und wie sehr Russland dabei ins Hintertreffen gerät.
Russland stützt sich auf das, was heute als ‚schmutzige Energie‘ bezeichnet wird
Neben dieser allgemeinen Entwicklung in der Branche wird jedoch auch die Gefahr deutlich, dass weltweit weniger in die Suche nach Öl- und Gaslagerstätten investiert wird. Möglicherweise wird das nach einer gewissen Zeit zu einem Einbruch in der Öl- und Gasförderung führen, und das hätte wiederum höhere Öl- und Gaspreise zur Folge. Somit ringen also zwei unvereinbare Trends miteinander, und welcher davon auf absehbare Sicht die Oberhand behält, ist derzeit ungewiss.
Inwieweit tragen die Maßnahmen der russischen Führung Ihrer Meinung nach diesen Herausforderungen Rechnung?
Bislang sehen wir einen Tanz der russischen Führung um den heißen Brei – es werden seltsame Dokumente verabschiedet, etwa ein Wasserstoff-Aktionsplan; einzelne Unternehmen beschließen Aktionspläne für die Entwicklung grüner Energien. Hier stechen einige Unternehmen heraus, wie Nowatek, Gazprom Neft und teilweise Lukoil. Aber insgesamt zeigt sich, dass Russland für die grüne Wende nicht bereit ist und es auch nicht eilig hat, sich darauf vorzubereiten.
Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist
Die Regierung ist nicht einmal in der Lage, eine kohärente Wasserstoff-Strategie zu beschließen, stattdessen werden einzelne Dokumente verabschiedet. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich, doch welche Behörde wofür zuständig ist, bleibt völlig unklar. Alle zerren in unterschiedliche Richtungen und kommen mit bürokratischen Äußerungen wie „gut wäre es, wenn“, „wir arbeiten aktiv daran, dass“ oder „die Vorbereitungen für x y z laufen“. Aber tatsächlich passiert sehr wenig.
Weshalb passiert so wenig? Misst man dem keine Bedeutung bei, mangelt es an Kompetenz, fehlt die Zeit, oder was ist das Problem?
Sowohl die Beamten als auch die Chefs der Öl- und Gasunternehmen sind es gewohnt, wie Parasiten von der traditionellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu profitieren, sprich, einfach zu fördern und zu verkaufen. Niemand hat es mit dem Übergang zu etwas Neuem eilig, solange das Alte noch nutzbar ist. Wir beobachten den seltsamen Trend, dass gigantische Projekte initiiert werden (vor allem zu Lasten von Staatsunternehmen wie Rosneft), die wirtschaftlich jedoch kaum zu rechtfertigen sind – zum Beispiel Vostok Oil. Somit bestätigt sich die alte Wahrheit, dass ein Beamter in einem Staatsunternehmen nicht am Endergebnis, an Gewinn und an Effizienz interessiert ist. Für ihn ist der Prozess interessant, im Zuge dessen etwas herauszuholen ist, nennen wir es mal eine Korruptionssteuer – also das, was man als raspilund otkatbezeichnet. In diesem Sinne werden bei uns Projekte oft ohne Rücksicht auf die künftige Rentabilität umgesetzt. Und das ist nicht nur Vostok Oil, sondern beispielsweise auch die viel gepriesene Erdgaspipeline Sila Sibiri 2.
Auf lange Sicht sind grüne Energien eine Bedrohung für Russland in seiner derzeitigen wirtschaftlichen Struktur. Aber wenn wir eine Perspektive von vielleicht fünf Jahren nehmen, lohnt es sich da überhaupt für das heutige politische Regime, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen? Vielleicht wird das Regime eher untergehen, als dass sich die Welt von Öl und Gas verabschiedet. Der Planungshorizont von Beamten und Politikern ist kurz.
Wir sehen, dass der Trend zur Ökologisierung, insbesondere die Abgaben auf CO2-Emissionen in die Atmosphäre, für einige Unternehmen schon jetzt zu einer ernsthaften Belastung werden. In den europäischen Richtlinien für Öl und Gas findet sich bislang nur wenig dazu, aber: In ein, zwei Jahren werden Öl und Gas in die Liste der Energieträger aufgenommen, die solchen Beschränkungen unterliegen.
Die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen
Dann werden die Öl- und Gaslieferanten und natürlich auch die Kohlelieferanten eine sogenannte CO2-Steuer in ganz unterschiedlicher Form zahlen. Und die Kosten für das aus Russland exportierte Öl und Gas werden drastisch steigen. Möglich ist das bereits in naher Zukunft.
Die Lage wird noch verschärft: Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren. So ist vor allem beim Erdöl festzustellen, dass russische Ölunternehmen die Förderung aus längst erschlossenen Lagerstätten intensivieren – mit Ausnahme von Rosneft und seinem zweifelhaften Projekt Vostok Oil. Oder sie beginnen einfach mit der Ausbeutung der Vorräte im sogenannten Erdölsaum von Gaslagerstätten.
Solange es genügend Nachfrage gibt, aus der Profit geschlagen werden kann, schrumpfen die Möglichkeiten, die Öl- und Gasförderung rasch hochzufahren
So deklariert Gazprom Neft beispielsweise die bereits 1974 erschlossene Lagerstätte Peszowoje als neu und gibt feierlich bekannt, dass dadurch die Förderung erhöht wird. Jedoch könnten solche Möglichkeiten in alten Lagerstätten sehr schnell ausgeschöpft sein, da der Großteil der übrigen Ölvorräte in Russland zur Kategorie der schwer förderbaren Reserven gehört und die Preise für solche Rohstoffe dann zwangsläufig extrem hoch sein werden.
Die Unternehmen wollen ganz einfach nichts Neues entwickeln. Bei der Erschließung neuer Lagerstätten können vom Beginn der Investition bis zum realen Gewinn sieben bis 15 Jahre vergehen. Aber wie sich in diesem Zeitraum die Branche, die weltweite Nachfrage, die politischen Verhältnisse und die steuerliche Situation in Russland entwickeln, weiß niemand genau. Es gibt hier keine Stabilität, daher investieren die Unternehmen nicht in solche Projekte.
Wenn man für das Jahr 2021 ein Fazit für den russischen Öl- und Gassektor zieht, kann die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht außer Acht gelassen werden. Alexander Nowak hat kürzlich gesagt, die Zertifizierungsverfahren für das Projekt könnten Mitte 2022 abgeschlossen sein, sodass dann die ersten Gaslieferungen aufgenommen würden. Sie sind ein bekannter Kritiker dieser Pipeline und sagten einmal, dass das Projekt bereits im Dezember 2019 gestorben sei, als vom US-Kongress Sanktionen dagegen verhängt wurden. Wie schätzen Sie aktuell die Zukunft des Projekts ein?
Noch vor ihrer Inbetriebnahme ist die Pipeline zu einem politischen Druckmittel geworden. Unser Präsident erklärt, dass er die Gaslieferungen [in die Europäische Union – dek] um zehn Prozent erhöhen könne, jedoch unter der Bedingung, dass das Gas durch Nord Stream 2 fließt. Andernfalls würden Europas Bürger aufgrund des fehlenden Gases womöglich im Winter frieren. Das heißt, dass entweder enorme freie Kapazitäten für den Gastransport durch die Ukraine und auch durch Belarus und Polen stillliegen, oder dass dort der Gasdurchfluss gedrosselt wird. Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands.
Wird Nord Stream 2 zertifiziert? Diese Frage ist offen. Erst kürzlich haben sich in Deutschland das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler darauf geeinigt, dass das Projekt nach europäischen und nicht nach deutschen Richtlinien zertifiziert werden soll. Damit ist eine einfache Anforderung verbunden: Der Betreiber der Pipeline kann nicht gleichzeitig auch der Eigentümer des Gases sein. Somit kann Gazprom nicht sein Gas durch seine eigene Pipeline leiten. Das widerspricht den Wettbewerbsregeln der EU. Das bedeutet, dass Gazprom entweder eine Änderung des Föderalen Gesetzes über den Gasexport erwirken muss, das dem Konzern bislang eine Monopolstellung zuschreibt, oder gezwungen ist, die Funktion des Pipeline-Betreibers an ein anderes Unternehmen abzutreten.
Das ist ein Gaskrieg von Seiten Russlands
Gazprom hat versucht, diese Funktion an ein in der Schweiz registriertes Unternehmen abzugeben. Von den Deutschen hieß es daraufhin, so gehe es nicht. Das Unternehmen müsse in Deutschland registriert sein. Bislang ist Gazprom dieser Forderung der deutschen Regulierungsbehörde nicht nachgekommen. Wann es dazu kommt – dahinter steht ein riesiges Fragezeichen. In welche Richtung sich die Sache entwickelt, ist absolut unklar. Bislang sehen wir ganz einfach eine Erpressung, um Deutschland zur Absage an europäische Wettbewerbsregeln zu zwingen. Die Erwartung seitens Gazprom ist jedoch unrealistisch.
Könnte Europa auf russisches Gas verzichten, wenn das Vorgehen von Gazprom die Grenzen des Tolerierbaren überschreitet?
Ich würde nicht von der gesamten Europäischen Union sprechen. Nehmen wir Deutschland. Dort sind drei Terminals für Flüssigerdgas geplant, es gibt Pläne für den Bezug großer Mengen via Frankreich, Belgien und so weiter. Das heißt, Deutschland wird auf russisches Gas verzichten können, obwohl es heute einen großen Teil seines Bedarfs damit deckt.
Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich nicht erwarten
Aber es gibt andere Länder, die nicht ohne russisches Gas auskommen. Das sind die osteuropäischen Länder: Ungarn, Bulgarien, die Slowakei. Sie werden eine erhebliche Zeit benötigen, um auf russisches Gas verzichten zu können. Eine solidarische Entscheidung über ein Embargo für russisches Gas würde ich daher nicht erwarten. Aber ich möchte eines anmerken: Sogar in den Darstellungen von Gazprom ist immer die Rede davon gewesen, dass russisches Erdgas in der Europäischen Union bis 2040 einen Anteil von 30 bis 33 Prozent behalten wird. Ja, selbst wenn der Gesamtgasverbrauch aufgrund der grünen Wende zurückgehen könnte, bleibt demnach der Anteil von Gazprom an der Gesamtmenge unverändert. Allerdings nur, wenn der Konzern sich nicht als politisches Druckmittel instrumentalisieren lässt, sondern als echtes Wirtschaftsunternehmen agiert.
Gazprom verfügt über bemerkenswerte Wettbewerbsvorteile. Erstens ist eine gute Lieferinfrastruktur vorhanden. Zweitens stehen gigantische Mengen zur Verfügung, mit denen Verbraucher flexibel versorgt werden können. Drittens gibt es die Unterstützung der russischen Regierung in ganz unterschiedlicher Form. Viertens gibt es das Phänomen der sogenannten Schröderisierung, also korrumpierte Politiker aus Europa, die Gazprom unterstützen können.
Gazprom kann einen beträchtlichen Anteil am Gasverbrauch in der EU halten. Jedoch nur, wenn es nicht wie ein Hooligan auftritt
Kurz, Gazprom hat alle Chancen, über viele Jahre hinweg einen Anteil von einem Drittel am Gasverbrauch in der Europäischen Union zu halten. Jedoch unter der Bedingung, dass der Konzern nicht wie derzeit als Hooligan auftritt und Krieg gegen die Verbraucher führt.
Man muss Gazprom als drei getrennte Unternehmen betrachten. Ein Gazprom, das Vorkommen erkundet, Gas fördert, Pipelines baut und innerhalb Russlands mit Gas handelt. Das ist ein abgegrenztes Geschäft, das Gazprom gut beherrscht. Dort sind massenhaft Menschen beschäftigt, bis zu einer halben Million, die einen riesigen und sehr leistungsfähigen Industriezweig aufgebaut haben.
Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft
Das zweite Gazprom ist ein politisches Instrument, wenn das Unternehmen Entscheidungen entgegen wirtschaftliche Interessen trifft. Beispielsweise im Winter 2014/2015, als die Lieferungen nach Europa eingeschränkt wurden. Damals hatte Gazprom nur die halbe Menge Gas nach Europa geliefert, weil es der russischen Regierung nicht gefiel, dass europäische Händler Gas an die Ukrainer verkauft haben. Dadurch entgingen Gazprom mehr als vier Milliarden US-Dollar. Jetzt, wo Gazprom im Winter die Lieferungen kürzt, haben wir genau das gleiche Bild. Das zweite Gazprom schadet also dem ersten. Das dritte Gazprom ist schlicht ein Instrument, um staatliche Gelder in private Unternehmen zu transferieren. Dabei geht es um die Initiierung großer Investitionsvorhaben ohne wirtschaftliche Perspektiven: die Pipelines Sila Sibiri, Sila Sibiri 2, die Gasleitung Sachalin-Chabarowsk-Wladiwostok und ähnliche, völlig unrentable Megaprojekte. Das ist ein Gazprom des Eigennutzes.
Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption
Ich kann ein utopisches Szenario vorbringen. Zu dessen Verwirklichung bräuchte es allerdings die Hilfe von Außerirdischen. Doch sollte es in Russland einmal eine Regierung geben, die sich um die nationalen Interessen und nicht um die eigene Geldbörse sorgt, dann könnte in diesem Land ein richtiger Gasmarkt entstehen – heute gibt es keinen. Dafür ist eine Liberalisierung notwendig, damit alle Erdgas fördernden Unternehmen die gleichen Bedingungen erhalten, und zwar ohne Monopolismus. Ein Monopol bedeutet immer schlechte Qualität, Niedertracht, Korruption, umso mehr wenn das Ganze von Staatsbeamten geführt wird.
Zum Abschluss, worauf sollte man im kommenden Jahr mit Blick auf den Öl- und Gassektor in Russland besondere Aufmerksamkeit richten?
Man sollte ein besonderes Augenmerk darauf richten, wie sich die politische Lage entwickelt. Denn diese drängt die wichtigsten Abnehmer von kohlenstoffbasierten Rohstoffen aus Russland verstärkt zu einem schnelleren Verzicht auf diese Lieferungen. Wenn sie sehen, dass die russische Regierung beabsichtigt, auch weiterhin militärische Spannungen an ihren Grenzen zu schüren, und offen von einer möglichen Aggression gegen andere Staaten spricht, dann ist zumindest Vorsicht geboten – oder man beendet die Geschäftsbeziehungen einfach komplett. Ich werde vor allem die Entwicklung der außenpolitischen Lage beobachten, und nicht die des Öl- und Gassektors an sich.
Bei Gazprom rollt derzeit der Rubel: Die Ostseepipeline Nord Stream 2 ist fertig, der Gaspreis in Europa bricht historische Terminbörsen-Rekorde, die europäischen Gasspeicher sind nach dem kalten Winter noch nicht aufgefüllt, und schon steht der nächste Winter vor der Tür. Obwohl Gazprom mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat, sind die Aussichten des Unternehmens in den nächsten Jahren offenbar glänzend. Unkenrufe dagegen ertönen in jüngster Zeit zunehmend zum Thema Kohle und Erdöl(produkte): Sberbank-Chef German Gref etwa warnte kürzlich, dass durch die weltweit zunehmende Abkehr von fossilen Energieträgern Russlands Exporte einbrechen könnten, bis 2035 könnte sich dadurch ein riesiges Haushaltsloch auftun. Dann würden auch die Einkünfte der Menschen in Russland, so Gref, um fast 15 Prozent zurückgehen.
„25 Prozent“, korrigiert Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew nun im Interview auf Znak. Die in vielen Ländern angestrebte Energiewende, meint Inosemzew, werde Russland schon bald stark zusetzen. dekoder bringt einzelne seiner Thesen.
„Das aktuelle politische System Russlands ist eine Rakete, die von der Erde losgeschossen in den offenen Kosmos geflogen ist, und nun fliegt sie und fliegt, weiter und weiter. Bis sie mit einem Asteroiden zusammenstößt.
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Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern könnte sich als ein solcher Asteroid erweisen. Und zwar weitaus früher als 2035. Seinerzeit sprach man von der Schiefergasrevolution und Flüssiggas in einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, doch der Übergang zu Fracking und Flüssiggas vollzog sich sehr viel schneller, innerhalb von nur rund sechs Jahren. So gesehen wird uns die Energiewende schon in acht bis neun Jahren merklich treffen.
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Noch sind die Preise für Energieträger hoch und steigen möglicherweise noch weiter an. Zwei oder drei Jahre mit beeindruckenden Exporterlösen sind uns wahrscheinlich noch sicher. Der Staatshaushalt und der Nationale Wohlstandsfonds werden vor lauter Geld bersten. Doch es wird der letzte Atemzug sein, wie an einem Beatmungsgerät. Von 2024 oder 2025 an werden die Preise und die Exporerträge schnell schrumpfen. Angesparte Reserven und Staatsanleihen werden wohl noch weitere fünf Jahre für Linderung sorgen. Aber Anfang der 2030er Jahre wird es dann brenzlig.
Selbst wenn man sich vorstellt, der Kreml und das Weiße Haus würden morgen früh anfangen, Russland zu modernisieren, wird es immer noch anderen Ländern hinterherhinken. Man hätte damit schon vor 13 Jahren beginnen sollen, als die Ölpreise bei bis zu 140 Dollar pro Barrel lagen, der US-Dollar 23 Rubel wert war und die Bedingungen für Import und die Inbetriebnahme moderner Technik noch bestens waren. Doch stattdessen entspannte sich das russische Establishment und war glücklich und zufrieden. Und damit ist es nicht allein: Man geht keine Reformen an, wenn es einem gut geht. Das war bei den Japanern so, bei den Koreanern, in Taiwan, eigentlich überall.
Der Unterschied besteht darin, dass unsere Ganoven, so scheint mir, keine Reformen in Angriff nehmen werden. Denn trotz der Warnungen von Sberbank-Chef German Gref […] sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen – und merken kaum, wie die Krise näher und näher rückt.“