„Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen.
Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig.
Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“
Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen.
Erinnerungspolitik als grelle Illustration
Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:
1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft.
2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.
In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“
Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich.
Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung.
Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.
Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis!
Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.
Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung.
Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht.
Großteil der Geschichte einfach abgehackt
3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.
Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.
4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet.
Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben.
Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“
Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.)
5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.
Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.
Nach der imperialen Pfeife
6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen.
Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden.
Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.
In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu.
In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“
7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben.
Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.
So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik.
„Die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit ist unter Lukaschenkos Regime nichts Neues”, schreibt die belarussische Journalistin Katerina Truchan. Aber seit den Ereignissen im Jahr 2020 ergreife sie stärker denn je alle Lebensbereiche der belarussischen Gesellschaft. „Jede einzelne Amtshandlung zielt nicht nur darauf ab, jegliches Andersdenken auszumerzen, sondern auch ein neues Denken auszubilden, das einer Regierung die Stange hält, die keine mehr ist.”
In ihrem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk zeigt Truchan, mit welchen ideologischen Baupfeilern der Machtapparat diese neue Wirklichkeit in Belarus errichten will.
Vor zwei Wochen wurden Alexander Lukaschenko die Pläne für das neue Nationale Historische Museum präsentiert. Im Fall einer Umsetzung entsteht in Minsk das nächste Gebäude, das die „Zeit nach 2020“ symbolisiert: billiger Pseudopatriotismus, der das Antlitz vieler Städte bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das neue Museumsgebäude, das den Plänen zufolge die Umrisse von Belarus aufweisen soll (was ohnehin nur von oben zu sehen sein wird), sowie der Park der Nationalen Einheit rundherum sind nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften in Glas und Beton der Regime-Vertreter.
2020 reagierten die Wahlverlierer auf die weiß-rot-weißen Flaggen mit Massen von geschmacklos und häufig verfehlt eingesetzten rot-grünen Fahnen. Später wurden sie auf Hausmauern gemalt und so zahlreich an Gebäuden aufgehängt, dass es jeden Tag aussieht, als wäre Nationalfeiertag. Anscheinend versucht das Regime mit so primitiven Methoden, sein Revier zu markieren.
„Genozid am belarussischen Volk“
Gleichzeitig wurden die Lehrbücher umgeschrieben. Kurz nach der Niederschlagung der Proteste von 2020 begannen die Machthaber, den „Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ hochzufahren. Zuständig (und höchst aktiv) ist die Generalstaatsanwaltschaft. Im Jahr 2021 begann ein entsprechendes Strafverfahren, das in Schauprozesse gegen Kriegsverbrecher münden sollte. Im Januar 2022 unterstützte Lukaschenko dieses Strafverfahren mit einem neuen Gesetz, das die öffentliche Leugnung des Genozids unter Strafe stellte. Im Grunde legte die Generalstaatsanwaltschaft die einzige staatlich anerkannte Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen fest, und das Gesetz sorgte für strafrechtliche Panzerung: Von dieser Interpretation abzuweichen, ist von nun an verboten.
Das Thema Genozid sickerte aus der Staatsanwaltschaft sogleich in den Alltag durch: in die Lehrbücher, in die Propagandasender, die ersten Angeklagten kamen posthum vor Gericht, gegen andere wurden neue Verfahren eingeleitet. Mehrere Eltern von Schulanfängern in Minsk teilten Pozirk mit, dass die ideologische Bearbeitung der nächsten Generation gleich am ersten Tag beginne: sechs- und siebenjährigen Kindern wird vom Genozid erzählt.
„Für meinen Mann und mich war das ein Schock. Wir waren zwar darauf vorbereitet, dass unser Kind diesen ideologischen Quatsch mit nach Hause bringen wird, aber doch nicht schon in der ersten Klasse! Früher kam das erst in höheren Schulstufen. Wir haben auch ein noch ein größeres Kind, aber die Größeren erreichen sie nicht mehr so leicht, deshalb bemühen sich die Lehrer in dieser Klassenstufe gar nicht so sehr“, erzählte Pozirk eine Minskerin, deren Kind die erste Klasse eines Gymnasiums besucht.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Regierung, statt der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und die Archive zu öffnen, den Genozid weitgehend dazu benutzt, ein Bild von „Volksfeinden” zu malen: Schuld sind natürlich die Vorfahren jener, die die heute so „feindselige” EU gegründet haben, sowie die Polen und die Ukrainer.
Auch vor banalen Lügen schrecken die Machthaber nicht zurück. Zum Beispiel die Geschichte mit den Ausgrabungen bei Homel, wo die Staatsanwaltschaft im Wald von Schtschekotowskoje Opfer des Genozids „gefunden“ und 2022 feierlich umgebettet hat. Historiker sind sich einig, dass an diesem Ort in den 1930er Jahren NKWD-Mitarbeiter sowjetische Bürger erschossen haben, zu diesem Ergebnis kamen Archäologen bereits 1995. Stellt man die Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft heute infrage, kann man allerdings strafrechtlich belangt werden. Sehr praktisch, nicht?
In den Jahren 2024-25 sollen per Erlass Lukaschenkos in allen Gebietshauptstädten Gedenktafeln für die Opfer des Genozids angebracht werden, den Kindern bringt man weiterhin Halbwahrheiten bei, die Propaganda wird sich immer ihre Feinde finden. Die Opfer des stalinistischen Roten Terrors werden noch stärker in Vergessenheit geraten. Die Gedenkstätte in Kurapaty befindet sich heute in einem Zustand fast völliger Verwahrlosung, immer wieder kommt es zu Vandalismus, und selbst wenn sich jemand finden würde, der wieder für Ordnung sorgt – das Risiko ist beträchtlich. Die wenigen Aktivisten, die noch in Belarus und mutig genug sind, diesen Ort zu besuchen, bleiben aus verständlichen Gründen lieber unter dem Radar.
Mit Begeisterung werden auch die Lehrbücher umgeschrieben, im Lehrbuch der elften Klasse werden die Ereignisse von 2020 als „Putschversuch“ bezeichnet. Zudem werden ab dem neuen Schuljahr in vielen Klassen monatlich Informationsstunden zum Thema „Genozid am belarussischen Volk“ stattfinden. Dafür wurden 2023 Lehrbücher mit dem Titel „Der Genozid am belarussischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg“ herausgegeben. Seit 2023 sind entsprechende Handreichungen für die erste bis vierte Klasse, die fünfte bis neunte sowie zehnte bis elfte Klasse erschienen.
„Tag der nationalen Einheit“
Die Idee zu einem solchen Feiertag wurde zum ersten Mal bei der Allbelarussischen Volksversammlung 2021 erwähnt. Er wurde per Erlass eingeführt und ist heute einer der Grundpfeiler der belarussischen Propaganda.
2024 gab der Dekan der Belarussischen Staatlichen Universität, Alex Beljajew, im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur BelTA eindeutig zu verstehen, wozu Lukaschenko einen solchen Feiertag benötige: Die Vereinigung des Westlichen Belarus mit der BSSR sei nach 1949 in der Sowjetunion nicht gefeiert worden, da die Volksrepublik Polen zum sozialistischen Lager gehörte und man sie nicht unnötig an diese schwierige Phase der polnisch-sowjetischen Beziehungen erinnern habe wollen.
„Aber nach 2020 sahen wir, dass diese Nachbarn, mit denen wir befreundet sein wollten, ihrerseits keine Hemmungen hatten, unser Verhältnis zu trüben. Gerade Polen scheute keine Mühen, in Belarus Meinungsmacher auszubilden, die sogenannte fünfte Kolonne“, sagte der Dekan. Und so sei es aus ideologischer Sicht erforderlich gewesen, den 17. September als Feiertag zu fixieren. Dieser Tag wird in Belarus mit ideologischem Pomp gefeiert, im typischen Modus des „freiwilligen Zwangs”. Ob daraus je ein Nationalfeiertag wird, steht in den Sternen.
„Extremismus“ und „Terrorismus“
Die juristische Willkür ist beinah schon seit Lukaschenkos Amtsantritt eine besondere Spezialität seines Regimes. Der revolutionäre Geist von 2020, der noch immer in der Luft liegt, das Fehlen von unabhängigen Medien, Menschenrechtsorganisationen, von unabhängigen Gerichten, einer Anwaltskammer sowie sonstige Folgen der repressiven Diktatur – all das sorgte für Bedingungen im Land, unter denen jeder und jede zum Extremisten oder Terroristen erklärt werden kann, je nach ideologischer Gefahr für das Regime (, die von ihm ausgeht).
Die Tatsache, dass absolut alle unabhängigen Medien, Blogger und Gruppen in sozialen Netzwerken als extremistisch eingestuft wurden, führte dazu, dass man in Belarus immer weniger Zugang zu Informationen hat – es ist entweder zu riskant (wenn man entsprechende Quellen nutzt) oder sinnlos (wenn man versucht, sich anhand von regierungstreuen Quellen zu informieren). Dadurch ist die Bevölkerung aus dem Kontext gerissen, und die Machthaber nutzen diese unfreiwillige Ahnungslosigkeit und die Abwesenheit von Regimekritik jeglicher Art aus und tun, was sie wollen.
Ein zusätzlicher Schlag gegen die Gesellschaft ist die Suche nach missliebigen Autoren nicht nur unter den Lebenden, sondern auch unter den Toten. Pozirk liegen Informationen vor, dass landesweit in allen Bibliotheken die Ausmusterung „unerwünschter“ Bücher im Gange ist. Sie werden auf die Liste „extremistischer Materialien” gesetzt, vor potenziellen Lesern versteckt. Es ist nicht erlaubt, die Bücher einfach vom Markt zu nehmen und in den Bibliotheken zu belassen. Dabei sind die Bibliotheken selbst zu treuen Handlangern des Regimes geworden, hier finden ständig einschlägige Veranstaltungen statt, organisiert von den Kultur- und Ideologiereferaten der Stadt- und Gebietsverwaltungen.
Abhängigkeit von Russland
Belarus kriecht nicht nur, wenn es um Wirtschaft geht, unter Russlands Fittiche. Nach 2020 ist Belarus aufgrund von Lukaschenkos Rolle in Russlands Krieg gegen die Ukraine ein grauer Fleck auf der Europakarte geworden. Genau wie Russland. Vereint durch gemeinsame Miseren und Hürden beschleunigten die beiden Staaten ihren Integrationsprozess, der davor jahrelang nicht vom Fleck gekommen war, und bastelten an ihrer Immunität gegen Sanktionen und andere Einschränkungen.
Ergebnis ist eine umfassende Importsubstitution, von Kultur und sozialen Netzwerken bis zu einheitlichen Lehrbüchern zur Geschichte des Unionsstaates. In Belarus schaut man russische Serien auf russischen Streamingportalen, russische „Stars“, die den Loyalitätsfilter passiert haben und den Krieg gutheißen, gehen hier auf Tournee; häufig sind es russische Blogger und Influencer, an denen sich die belarussische Jugend orientiert.
Wohin die kulturelle Verschmelzung der beiden Staaten führt, in denen ein Nobelpreis schlimmer ist als ein Verbrechen, wird sich zeigen.
„Die Tendenz ist schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen“
Der Historiker und Politologe Alexander Friedman formulierte in einem Kommentar für Pozirk, dass es schwierig sei, die Zukunft vorauszusagen und zu erkennen, was den Machthabern gelingen werde und was nicht.
Bezüglich der vom Lukaschenko-Regime angeschobenen ideologischen Prozesse zählt der Historiker einige Faktoren auf, die ausschlaggebend für die Zukunft sind: die Intensität, mit der die Machthaber diese Prozesse voranbringen, und der Zeitraum, über den sie andauern. Derzeit spreche alles für eine hohe Intensität mit großem Kraftaufwand. Friedman wies auch auf die Vielfalt der Methoden hin; das Regime sei auch in den Sozialen Netzwerken und in der Jugendarbeit aktiv. Dabei werde häufig eine russische Perspektive befördert, auch im historischen Kontext. „Sie stützen sich auf sowjetische Narrative und Mythen, die die ältere Generation, die die Sowjetunion noch erlebt hat, sehr gut kennt, die Jungen hingegen nicht mehr wirklich”, betont Friedman.
Dabei unterstreicht er, dass jetzt zwar ein Kampf um die Geschichte stattfinde, die Leute in Belarus, die mit diesen offiziellen Konzepten gefüttert würden, aber nach wie vor alternative Informationsquellen im Internet nutzen können, auch ohne unbedingt Fremdsprachen zu beherrschen. „Das erschwert die Arbeit der Propagandamaschine erheblich. Wenn sie diese Verbindungen kappen – also das Internet oder die westlichen Sozialen Netzwerke blockieren, könnten sie ihre Narrative leichter durchsetzen. Solang sie das nicht tun, ist es schwieriger“, sagt der Experte.
Dabei denkt Friedman nicht, dass das Regime damit Erfolg haben wird. Ein gutes Beispiel sei die Sowjetunion, in der der Bevölkerung sehr vieles aufgezwungen wurde, historische Bewertungen inklusive, und trotzdem habe das oftmals keine tiefen Spuren hinterlassen. Einen Grund dafür sieht der Historiker darin, dass in der UdSSR Geschichte nicht unterrichtet worden sei, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und besser zu verstehen, was passiert ist, sondern wie emotionales Beiwerk, das „ziemlich schnell kommt und geht“. Von einem tiefen Verständnis wie in Deutschland, wo der Nationalsozialismus und seine Verbrechen über Generationen reflektiert würden, sei man meilenweit entfernt gewesen.
Darüber hinaus interessieren die Themen, die das Regime anbietet, vor allem die jungen Belarussen kaum: „Der Zweite Weltkrieg und alles, was damit zu tun hat – das waren schreckliche Verbrechen, ohne Frage. Der 17. September ist weniger eindeutig, liegt aber auch sehr lange zurück. Für die junge Generation ist das alles sehr weit weg und schwer nachvollziehbar. Das waren Zeiten, in denen wenig an ihre heutige Realität erinnert.“
Friedman glaubt nicht, dass das Regime mit den Geschichten durchkommt, die es der Gesellschaft und insbesondere der Jugend aufdrängen will: „Das geht eher ‚zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus‘.“ Sein Resümee: „Die Tendenz ist natürlich schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen.“
Die russischen Besatzungsbehörden auf der Krym haben seit 2022 schon mehr als 900 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee und fast 600 wegen „Verwendung extremistischer Symbole“ eröffnet. Wer sich gegen die russische Aggression ausspricht, Informationen über russische Kriegsverbrechen veröffentlicht oder einfach nur ukrainische Lieder hört, blau-gelbe Kleidung trägt oder Bilder in diesen Farben teilt, wird schnell juristisch und öffentlich verfolgt. Die Bevölkerung auf der Krym wird von Besatzungsbehörden und loyalen Medien aufgefordert, solche Personen zu denunzieren. Z-Blogger verbreiten Videos von Festnahmen und erzwungenen Entschuldigungen, die ihnen die russischen Sicherheitsbehörden zuspielen.
Laut Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym – ein Organ, das sich mit Vorgängen auf der annektierten Halbinsel beschäftigt – nimmt die Zahl der Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung“ zwar russlandweit ab – aber auf der besetzten Krym steigt sie. Im Mai 2023 hatte die NGO Krymski Prozes noch 350 Fälle vermeldet. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer noch höher liegen.
Das ukrainische Onlinemedium Graty erläutert anhand zahlreicher Fallbeispiele allein im Juli 2024, wie die russischen Besatzer auf der annektierten Halbinsel mit Anzeigen und Denunziationen die Bevölkerung einschüchtern.
Prorussische Blogger und Besatzer-Polizei gegen „Tscherwona Kalyna“
Am 6. Juli veröffentlichte der russischsprachige Telegram-Kanal Krymski Smersch (dt: Krym-Todesschwadron) Screenshots einer privaten Instagram-Seite: Die Bilder dort zeigten die ukrainische Nationalflagge und Menschen in blauer und gelber Kleidung, das ukrainische Wappen mit Dreizack und eine Armtätowierung mit der Aufschrift „Slawa Ukrajini“ sowie Männer, die Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ähneln, in T-Shirts mit Dreizack und der Aufschrift „Putin, fick dich“. Zwei Stunden später teilte derselbe Kanal ein Video, in dem Spezialkräfte mit Sturmgewehren in ein Haus eindringen und einen jungen Mann festnehmen, ihn beschimpfen und zu Boden werfen. Außerdem wurde berichtet, dass ein 24-jähriger Einwohner von Bilohirsk (Kleinstadt im Südosten der Krym – dek), Kemal S. (aus ethischen und Sicherheitsgründen nennen wir nicht die vollständigen Namen der Beschuldigten – Graty), festgenommen und gegen ihn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach zwei Artikeln eingeleitet worden sei – wegen „geringfügigem Rowdytum“ und „Darstellung von Nazi-Symbolen oder Symbolen extremistischer Organisationen oder anderer Symbole, deren Propaganda oder öffentliche Zurschaustellung in der Russischen Föderation verboten ist“ (Artikel 20.1, Absatz 3 und Artikel 20.3, Absatz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation (GORF)). Am nächsten Tag folgte ein Video, das höchstwahrscheinlich von Sicherheitskräften zugespielt worden war und in welchem sich der Inhaftierte für die „Beleidigung des Präsidenten der Russischen Föderation“ entschuldigte.
Telegram-Video zeigt brutale Festnahme eines 63-Jährigen, der „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“.
Am 11. Juli zeigte ein Video auf Krymski Smersch die brutale Festnahme des 63-jährigen Refat I. verbunden mit dem Kommentar, dass dieser „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. Es wird zwar nicht angegeben, wo die Ereignisse stattfanden und was genau man dem Festgenommenen vorwirft, jedoch wird gemeldet, dass der Mann sieben Tage in Haft genommen worden sei. Am 13. Juli folgt ein Video, in dem sich I. für die „Veröffentlichung verbotener Symbole“ entschuldigt.
Am 25. Juli veröffentlichte Krymski Smersch ein Video von einem Haus, in dem das ukrainische Kult-Volkslied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ spielt, inklusive der Adresse im besetzten Sewastopol. Wenige Stunden später wurde auf demselben Kanal die mutmaßliche Festnahme eines 42-jährigen Bewohners vermeldet, beschuldigt der „Propaganda und öffentlichen Demonstration von Nazi-Symbolen “ (Art. 20.3 Abs 1 GORF). Russische Medien verbreiteten die Information, dass der Mann laut Beschluss des russisch kontrollierten Leninski-Bezirksgerichts von Sewastopol 15 Tage in Haft verbleiben müsse. Die Pressestelle des Gerichts meldete, das Verfahren sei am 26. Juli geprüft worden und der Beschluss ergangen, obwohl der Beschuldigte seine Schuld bestritt: „Das Gericht stellt fest, dass die männliche Person am 25. Juli 2024 in seiner Wohnung auf dem Balkon laut und deutlich Parolen ukrainischer nationalistischer Organisationen rief und die Hymne ukrainischer nationalistischer Organisationen hörte. Hierzu wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß Art. 20.3, Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation eröffnet,“ heißt es auf der Website des Gerichts.
In mindestens einem Fall, der im Juli im selben Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, ging es nicht nur um Ordnungswidrigkeiten, sondern um strafrechtliche Verfolgung. Am 10. Juli schrieb Krymski Smersch, dass der FSB ein Verfahren wegen „öffentlicher Aufrufe zu extremistischen Aktivitäten“ (Art. 280, Abs. 2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGBRF)) gegen Tetjana B. aus Jalta eingeleitet habe, die Monate zuvor auf Telegram die russische Besatzungspolitik kritisiert hatte. Auch sie wurde damals gezwungen, sich per Video zu entschuldigen, das Krymski Smersch bereits im April dieses Jahres veröffentlichte. Darin wird behauptet: „Sie veröffentlichte Kommentare, in denen zu Gewaltaktionen gegen eine Gruppe von Menschen mit ausgewiesen russischer Nationalität aufgerufen wird.“
Besatzer-Polizei von Sewastopol verbreitet Video mit „Entschuldigung“ eines 19-Jährigen, der sich „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“ geäußert haben soll.
Allein im Juli gab es mehr als ein Dutzend solcher Fälle. Manchmal berichten die Besatzungsbehörden auf der Krym über solche Ermittlungen aber auch selbst, ohne die Unterstützung ihrer loyalen Blogger. So veröffentlichte der Telegram-Kanal Polizija Sewastopol am 20. Juli ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 31-jährigen Mannes, der am Strand „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ gerufen hatte. Aufnahmen des Vorfalls sind der „Entschuldigung“ im Video vorangestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass der Mann außerdem der „Darstellung von Nazi-Symbolen“ beschuldigt wird und das von Russland kontrollierte Leninski-Bezirksgericht von Sewastopol ihn für 12 Tage in Haft genommen hat.
Vier Tage zuvor, am 16. Juli, hatte ebenfalls die Besatzer-Polizei von Sewastopol ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 19-Jährigen, der sich in Kommentaren in sozialen Netzwerken „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“ geäußert haben soll. Gegen ihn sei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ (Art. 20.3.3, Abs. 1 GORF) am Nachimowski-Bezirksgericht Sewastopol eingeleitet worden.
Am 17. Juli folgte ein weiterer Beitrag über die Fahndung nach einem 41-jährigen Einwohner Sewastopols wegen desselben Artikels der „Diskreditierung“. Dieses Mal aber ohne Entschuldigungsvideo, sondern lediglich mit der Ergänzung, dass der Beschuldigte „gestanden habe“.
Mehr Verfahren auf der Krym, in Russland weniger
Nach Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym bearbeiteten die Besatzungsgerichte auf der Halbinsel bis 23. Juli dieses Jahres schon 913 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ (Art 20.3.3 GORF). In 811 Fällen erließen die Gerichte eine Anordnung zur Verhängung einer Strafe oder fügten sie zu einem anderen Ermittlungsfall nach weiteren Artikeln hinzu und erließen einen gemeinsamen Beschluss. 18 Verfahren wurden bei Erscheinen dieses Artikels noch geprüft, der Rest wurde aus verfahrenstechnischen Gründen ausgesetzt oder zur Überarbeitung zurücküberwiesen.
Die Gesamtzahl solcher Verfahren nehme, so die ukrainische Krym-Vertretung gegenüber Graty, in Russland seit der vollumfänglichen Invasion tendenziell ab, da es weniger Antikriegsbekundungen gäbe, während sie auf der besetzten Krym zunähmen: „2022 machten Fälle auf der Krym in der allgemeinen Gerichtsstatistik 4,4 Prozent aus, 2023 bereits 13,3 Prozent. Zur gleichen Zeit tauchten in der allgemeinen russischen Gerichtsstatistik im Jahr 2023 44 Prozent weniger Fälle auf als 2022, während auf der Krym für 2023 70,6 Prozent mehr Fälle registriert wurden als im Jahr 2022. Noch deutlicher zeigt es die Statistik über verhängte Bußgelder für die Krym: 2022 machten die nach Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation verfolgten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik aus, im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent.“
2022 stellten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik, im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent.
Diesen Daten zufolge werden in der Regel Bußgelder als Strafe verhängt, wobei die Praxis von Gericht zu Gericht unterschiedlich ist. So betrage die Geldbuße am städtischen Gericht von Armjansk in der Regel etwa 30.000 Rubel (ca. 300 Euro – dek), während Geldbußen an anderen Gerichten bis zu 40 oder 50.000 Rubel betragen können. Laut Vertretung des Präsdenten in der Autonomen Republik Krym verhängte jenes Gericht von Armjansk zum Beispiel im März dieses Jahres eine Geldstrafe von 30.000 Rubel gegen einen Mann, der „einen Post mit einer Straßenbahn und der Aufschrift ‘Russen, geht (vulgäre Sprache) ’ veröffentlichte“. Im April wurde eine Frau zu einer Geldstrafe in gleicher Höhe verurteilt, weil sie in Telegram „öffentliche Handlungen begangen hat, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“. Konkret: Likes für Fotos mit den Aufschriften „Ruhm den Streitkräften der Ukraine“, „Cherson ist Ukraine“, „Kostohrysowe ist Ukraine“, „Nowa Kachowka ist Ukraine“ sowie ein zustimmender Kommentar.
Ein bedeutender Teil solcher Verfahren wird, so beobachten es die Analysten, während der sogenannten Filtration an den Kontrollpunkten zwischen dem von Russland besetzten Teil der südlichen Regionen der Ukraine und der Krym eingeleitet. Hier werden die Handys und sozialen Netzwerke der Menschen durchforstet. Hiernach eingeleitete Verfahren werden dann in der Regel vor den Gerichten von Armjansk oder Dschankoj verhandelt.
Die Vertretung des Präsidenten der Ukraine auf der Krym weiß auch von mindestens acht Strafverfahren, die an den Besatzungsgerichten auf der Halbinsel verhandelt wurden: zwei nach dem Artikel über die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie befugtes Handeln der Behörden“ (Art. 207.3 StGBRF) und sechs wegen „öffentlicher Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“ (Art. 280.3 StGBRF), auch bekannt als „wiederholte Diskreditierung“.
Doppelte Verfahren
Ein Beispiel ist die strafrechtliche Verfolgung von Andrij Biloserow, einem ehemaligen Lehrer der Technischen Schule in Bilohirsk: Im Dezember 2022 stellte ihn ein von Russland kontrolliertes Gericht in Simferopol für einen Post auf VKontakte über den russischen Beschuss von Zivilisten in Donezk und anderen ukrainischen Städten für zwei Monate unter Hausarrest. Da Biloserow aber schonmal von Besatzungsgerichten wegen „Diskreditierung“ mit Ordnungswidrigkeiten dafür belangt worden war, dass er seinen Schülern das Lied „Bayraktar“ vorgespielt habe, wurde der Post als Wiederholungstat eingestuft und ein Strafverfahren eingeleitet.
In einigen Fällen erstellten die russischen Sicherheitskräfte auch gleich zwei Ordnungswidrigkeitsverfahren gleichzeitig: sowohl wegen „Diskreditierung“ als auch wegen „Darstellung von Nazi- oder extremistischen Symbolen“ (Artikel 20.3 GORF). Laut der Krym-Vertretung wurden seit der russischen Besetzung der Krym insgesamt 681 solcher Fälle dokumentiert, Tendenz steigend: vier im Jahr 2014, sechs im Jahr 2015, 19 im Jahr 2016, 25 im Jahr 2017, 23 im Jahr 2018, 47 im Jahr 2019, 32 im Jahr 2020, 46 im Jahr 2021, 103 im Jahr 2022, 167 im Jahr 2023 und 138 bislang im Jahr 2024.
Moskau bestimmt, was verboten ist
Auch die Menschenrechtsorganisation Krymski Prozes verzeichnete einen Anstieg von Ordnungswidrigkeitsstrafen wegen sogenannter „Nazi-Symbole“ und „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ gegen Menschen auf der besetzten Krym. Am 18. Januar hatte das russische Justizministerium eine Liste veröffentlicht, die Organisationen sowie ihre Symbole und Attribute verbietet, die angeblich gegen Artikel 6 Absatz 6 des russischen Gesetzes „Über die Aufrechterhaltung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945“ verstoßen. Als solche „Nazi-Organisationen“ stufte das Justizministerium unter anderem die Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN), die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Ukrainische Revolutionäre Volksarmee (UNRA) sowie die Ukrainische Volksselbstverteidigung (UNS) ein. Verboten wurden außerdem der Gruß „Slawa Ukrajini“, mehrere Versionen des Dreizacks, das OUN-Emblem und die schwarz-rote Flagge.
Zeichnung hatte nur eines mit Bataillons-Emblem gemeinsam — das Tamga , das in Russland nicht verboten ist.
Laut den Analysten wird von den Besatzungsgerichten auf der Krym besonders häufig der Wortlaut „Symbole extremistischer Organisationen“ sowie „andere verbotene Symbole“ verwendet, welche jedoch nirgends konkretisiert sind. „Ein offensichtlicher Fall ist hier das Verfahren gegen den unabhängigen Anwalt Olexii Ladin, dem vorgeworfen wurde, ‘andere verbotene Symbole’ gezeigt zu haben, nämlich das Wappen des nach Noman Tschelebidshikhan benannten Freiwilligenbataillons der Krymtataren, das 2022 als terroristische Organisation eingestuft wurde. In seiner Entscheidung bezieht sich das Gericht auf die Schlussfolgerungen eines namentlich nicht genannten Spezialisten, der feststellte, dass die Symbolik in Form des kleinen Wappens der Ukraine mit der Überlagerung des Bildes des Krymtatarischen Emblems von den ‘Kämpfern’ dieser Gruppe während der Anti-Terror-Operation in der Südostukraine, bei der Blockade der Krym und der speziellen Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine verwendet wurde“, heißt es in der Studie von Krymski Prozes über die Verfolgung pro-ukrainischer Einstellungen unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Extremismus und Nationalsozialismus vom 24. Juni 2024.
Tatsächlich hatte Ladin auf Facebook eine Zeichnung eines Schülers veröffentlich, die nur eines mit dem Bataillons-Emblem gemeinsam hat — das Tamga (Wappensymbol der Krymtataren – dek), das in Russland nicht verboten ist.
Härtere Strafen in veröffentlichten Fällen
In der erwähnten Studie stellen Analysten von Krymski Prozes fest, dass in Fällen, wo die Festnahme in propagandistischen Medien verbreitet wurde, das Gericht später häufig härtere Strafen nach mehreren Artikeln verhängt. „Dies führt als zusätzliches Argument zu der Schlussfolgerung, dass das Gericht nur ein abhängiges Instrument ist, das die repressive Politik gegen pro-ukrainische Bürger in den besetzten Gebieten der Krym legitimiert“, heißt es in dem Bericht.
Nach Angaben von Krymski Prozes erschienen die ersten „Entschuldigungsvideos“ wegen pro-ukrainischer Einstellungen bereits im August 2022. Aktivisten der Organisation bezeichnen diese außergerichtliche Praxis als zusätzliche Strafmaßnahme zur eigentlichen Ordnungswidrigkeit. Diese Praxis ziele besonders auf der annektierten Krym auf die Einschüchterung der Bevölkerung unter der Besatzung ab und zwinge sie dazu, ihre pro-ukrainischen Einstellungen zu verbergen.
„Strafmaßnahmen können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort umfassen“
„Ein häufig festgestellter Trend ist eine ganze Reihe zusätzlicher Strafmaßnahmen. Diese können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort sowie die Verbreitung von Videos in sozialen Netzwerken und kontrollierten Medien umfassen, bei denen die Festgenommenen zu Handlungen gezwungen werden, die die Menschenwürde verletzen“, erklärt die Organisation gegenüber Graty. „Oft werden die Bewohner der besetzten Gebiete zu einer Entschuldigung für ihre Überzeugungen vor laufender Kamera gezwungen, manchmal gehen die Sicherheitskräfte in der Demütigung noch viel weiter: Sie ziehen den Gefangenen russische Militäruniformen an, verlangen, die russische Hymne zu singen und ihre Unterstützung für die russische Militäraggression, Putins Politik oder anderes zu verkünden.“
Nach Angaben von Aktivisten wurden diese Veröffentlichungen meist durch den prorussischen Blogger Alexander Talipow initiiert, der mit dem bereits erwähnten Telegram-Kanal Krymski Smersch in Verbindung steht. Dessen Infos werden oft von anderen Kanälen und unter der Besatzung tätigen prorussischen Medien aufgegriffen.
Wer sind Alexander Talipow und sein „Genosse Major“?
Alexander Talipow ist ein ehemaliger Grenzsoldat aus Sudak, prorussischer Aktivist und Blogger auf der besetzten Krym. Er war Gründer der Telegram-Kanäle TalipoV, Online Z und Krymski Smersch (benannt nach dem sowjetischen Geheimdienstnetzwerk „Tod den Spionen“, das während des Zweiten Weltkriegs tätig war – Graty). Auf diesen Kanälen veröffentlicht er persönliche Daten und Kontakte von Menschen, die die Ukraine unterstützen, eine Antikriegsposition einnehmen oder die Besatzungsmacht kritisieren, verbunden mit Aufrufen an die Abonnenten, jene online zu belästigen oder mit Kontaktaufnahme durch den „Genossen Major“ zu drohen.
Talipow verbreitet Propagandabotschaften und anti-ukrainische Memes und postet in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften Videos mit erzwungenen „Entschuldigungen“. Er war auch ein wichtiger Zeuge im Prozess gegen Bohdan Sisa, einen Künstler und Performer von der Krym, der im Juni letzten Jahres zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er bei einer Aktion gegen die russische Aggression ein Gebäude der Besatzungsverwaltung mit blauer und gelber Farbe begossen und dann in Brand gesteckt hatte.
„Krymski Smersch in Russland als zivilgesellschaftliche Organisation registriert“
Für seine Tätigkeit erhielt Talipow verschiedene Auszeichnungen und Dankesurkunden von den russischen Besatzungsbehörden auf der Krym. Er sammelt auch Geld, um die russische Besatzungsarmee im Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Am 11. Juli 2024 wurde Krymski Smersch als zivilgesellschaftliche Organisation in Russland registriert.
Aufgrund all dieser Aktivitäten eröffnete die ukrainische Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krym im Jahr 2022 ein Verfahren wegen Anstiftung zu ethnischer Feindseligkeit und Hass in Verbindung mit Bedrohungen (Art. 161, Abs. 2 StGBUKR) sowie ein weiteres im Jahr 2023 aufgrund des Verdachts der Unterstützung des Aggressorstaates (Art. 111.2, Abs. 1 StGBUKR). Talipow behauptet, die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden hätten bereits mindestens vier Verfahren gegen ihn eingeleitet.
Am 12. Juli 2023 meldete Talipow einen Anschlagsversuch auf ihn: Jemand habe im Hof seines Hauses in Feodossija ein Moped in die Luft gesprengt. Am 15. Juli 2024 wurde bekannt, dass die Besatzungsbehörden auf der Krym ein Verfahren gegen zwei Personen wegen der Organisation eines Attentats auf Talipow, mutmaßlich im Auftrag der ukrainischen Geheimdienste, eingeleitet haben.
Vor 25 Jahren verschwanden in Belarus die beiden prominenten Oppositionelle Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski. Es waren die ersten Fälle des Verschwindenlassens von politischen Gegnern unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, zwei weitere sollten folgen. Diverse Untersuchungen haben zu Tage gebracht, dass die vier Männer mit großer Sicherheit im Auftrag des Regimes entführt und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden.
In einem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk erinnert der Journalist Wjatscheslaw Korosten an diese dramatischen Ereignisse und an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, seine Macht mit aller Brutalität abzusichern.
Der 16. September 1999 war der letzte Tag, an dem Viktor Gontschar, ehemaliger Vorsitzender des Zentralen Wahlkomitees und Abgeordneter des Obersten Sowjets, und sein Freund, der Unternehmer Anatoli Krassowski, lebend in Minsk gesehen wurden. Bekannt ist, dass sie an diesem Abend die Sauna auf der Fabritschnaja-Straße besuchten. Danach stiegen sie in Krassowskis Auto, konnten den Parkplatz aber nicht verlassen. Beide verschwanden spurlos und sind auch 25 Jahre später verschollen.
Auf Grundlage zahlreicher Medienberichte und wichtiger Beweise kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Politiker und der Unternehmer auf Befehl von Alexander Lukaschenko entführt und später ermordet wurden. Ausgeführt wurde der Präsidentenwille von Kämpfern einer Sondereinheit, die aus einer Brigade eines Sondereinsatzkommandos des Innenministeriums gebildet und später von den unabhängigen Medien „Todesschwadronen“ genannt wurde. Auf dem Parkplatz fanden die Ermittler Glassplitter von dem Auto und Blutspuren vor.
Der mutmaßliche Chef der Schwadronen, Dmitri Pawlitschenko, wurde im Jahr 2000 sogar auf Anordnung des KGB-Vorsitzenden Wladimir Mazkewitsch und mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts Oleg Boshelko verhaftet. Der Verdacht lautete auf Organisation politischer Morde. Einen Tag später wurde er jedoch auf persönliche Anordnung Lukaschenkos wieder freigelassen, Mazkewitsch und Boshelko wurden bald darauf in den Ruhestand versetzt.
Das Verschwinden von Gontschar und Krassowski war nur einer von mehreren ähnlichen Fällen. Am 7. Mai 1999 verschwand in der Gegend der Shukowski-Straße in Minsk der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der in die Opposition gewechselt war. Am 7. Juli 2000 wurde der Journalist Dmitri Sawadski auf dem Weg zum Minsker Flughafen entführt. Mehrfach wurde gemeldet, dass auch hinter diesen Verbrechen die „Todesschwadronen“ stehen.
„Pawlitschenko hat alle persönlich ermordet”
Im Jahr 2019 bekannte das ehemalige Mitglied des Sondereinsatzkommandos SOBR Juri Garawski in einem Interview mit der Deutschen Welle, an den Entführungen von Gontschar, Krassowski und Sacharenko beteiligt gewesen zu sein. Er hatte Belarus inzwischen verlassen und gab an, zu einer Spezialeinheit gehört zu haben, die dafür sorgte, dass Oppositionelle verschwanden. Garawski erklärte, Pawlitschenko habe alle drei Entführten persönlich mit einem Revolver erschossen. Sacharenkos Leiche sei im Krematorium des Minsker Nordfriedhofes verbrannt worden, Gontschar und Krassowski seien auf einem Gelände des Innenministeriums nahe Begoml im Gebiet Witebsk vergraben.
Nach dem Interview brachten Menschenrechtsaktivisten eine Strafanzeige gegen Garawski ein. Das Verfahren fand in der Schweiz statt, wo der Ex-Elitekämpfer politisches Asyl beantragt hatte. Die Anklage lautete auf „Beteiligung an mehrfachem Verschwindenlassen“ (die Schweizer Gesetzgebung erlaubte keine Anklage wegen Mordes oder Beteiligung daran, da die Verbrechen auf belarussischem Territorium begangen worden waren.)
Im September 2023 wurde Garawski vom Kantonsgericht St. Gallen freigesprochen, man betrachtete seine Angaben als nicht ausreichend für einen Schuldspruch. Das Urteil begründete der Richter damit, dass dies ein besonderer Fall in der juristischen Praxis sei: Es sei eine Regierung involviert, die für die Gewaltverbrechen verantwortlich sei. „Daran sollte kein Zweifel bestehen. Aber bei der Befragung verstrickte sich der Angeklagte in Widersprüche und verweigerte Antworten“, sagte der Richter.
„Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet“
Das Verschwindenlassen politischer Gegner war nicht Lukaschenkos Erfindung. Vermutlich hatte Pawlitschenkos Truppe die entsprechende „Lizenz zum Töten“ bereits einige Jahre vorher erhalten, ursprünglich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Im postsowjetischen Raum waren die 1990er sehr unruhig. Diverse kriminelle Banden nutzten das Machtvakuum in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus und brachten die Privatwirtschaft unter ihre Kontrolle, betrieben Drogenhandel, verübten Auftragsmorde und andere Schwerverbrechen.
Auch wenn das organisierte Verbrechen in Belarus weitaus schwächer ausgeprägt war als in Russland, beschloss Lukaschenko, das Übel an der Wurzel zu packen. Dafür schlug er, so nimmt man an, einen sehr effektiven Weg ein, griff aber zu illegalen Methoden.
In der zweiten Hälfte der 1990er verschwanden Autoritäten aus dem Verbrechermilieu plötzlich spurlos. Am meisten Aufsehen erregte der Fall des 37-jährigen Minsker „Diebes im Gesetz“ Wladimir Kleschtsch, genannt Schtschawlik. Im Dezember 1997 erhielt er auf seinem Mobiltelefon einen Anruf von einem Unbekannten, ging dann nach draußen, um „das Auto umzuparken“, und wurde nie wieder gesehen. Von Zeit zu Zeit kommentiert Lukaschenko nicht ohne Stolz seinen Sieg über die organisierte Kriminalität. Einzelne Aussagen kann man durchaus als Geständnisse interpretieren. 2001 ließ er verlauten, er habe bereits 1996 die Granden der Verbrecherwelt „über gewisse Schurken“ gewarnt: „Traut euch bloß nicht, eine Unterwelt zu schaffen, ich reiße euch allen die Köpfe ab“. Und fügte noch hinzu: „Es gab solche Fälle, wo sie sich nicht benommen haben. Ihr wisst ja noch, diese Schtschawliks und wie sie alle hießen. Und wo sind die jetzt? Eben, deshalb ist jetzt Ruhe und alle sind froh.“
Im Jahr 2011 kam Lukaschenko in einer Rede an die Nation und das Parlament wieder auf das Thema zu sprechen: „Die Banden, die seinerzeit aus der sowjetischen Kinderstube herausgewachsen waren, hatten sehr enge Verbindungen nach Moskau. Wir haben sie schnell auf Linie gebracht. Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet.“ 2017 schrieb die BelGaseta dazu: „Ob es stimmt oder nicht, ist schwer zu sagen, aber immer, wenn in Belarus neue ‘Diebe im Gesetz’ auftauchen, führen die Ermittler sogenannte prophylaktische Gespräche mit ihnen und erinnern sie an ‘Schtschawliks verrottete Knochen’“.
Natürlich wusste Lukaschenko von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens, als er die Freigabe zur Abrechnung mit dem Kriminellen gab. Aber in diesem Fall heiligte seiner Ansicht nach der gute Zweck die Wahl der Mittel. Nicht umsonst rühmte er sich später damit, wie gnadenlos diese Schtschawliki in Belarus ausgemerzt wurden. Davon, dass mit der Zeit seine politischen Gegner die Rolle der Schtschawliki einnahmen, schwieg er lieber. Man kann das ja auch als logische Folge betrachten: So eine Todesschwadron erweitert, wenn sie mal gegründet ist, auf natürlichem Weg ihren Aufgabenbereich.
Früher oder später wird es eine Untersuchung geben
Lukaschenko gelangte 1994 durch vollkommen faire Wahlen an die Staatsspitze. Sofort begann er, die demokratischen Institutionen zu zerlegen, und demonstrierte so seine Absicht, an der Macht zu bleiben. Mithilfe zweier Volksabstimmungen konzentrierte er praktisch unbegrenzte Befugnisse in seinen Händen. Dabei bewegte sich der erste Präsident mehrfach auf Messers Schneide, besonders 1996, als es fast zu einem Amtsenthebungsverfahren kam.
Ursprünglich hätten die nächsten Wahlen für das höchste Staatsamt 1999 stattgefunden. Wäre das politische System in Belarus erhalten geblieben, hätte Lukaschenko durchaus verlieren können, da die Ergebnisse seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht gerade berauschend waren. Doch mit den erwähnten Methoden hatte er die Machtstrukturen völlig verändert und ausschließlich auf seine Person ausgerichtet. Dadurch fand die nächste Wahl erst 2001 statt, wurde aber von der internationalen demokratischen Gemeinschaft nicht anerkannt. 1999 ging vornehmlich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem prominente Oppositionelle verschwanden.
Das war der Moment, in dem Lukaschenko eine rote Linie überschritt, die das Szenario eines friedlichen Machtwechsels ausschloss. Nach dem Ende seiner Amtszeit hätte eine unabhängige Untersuchung der Fälle Gontschar, Krassowski, Sacharenko und Sawadski beginnen können, wie es die Angehörigen der Vermissten, die Opposition und westliche Politiker forderten. Und sehr schnell wären Hinweise darauf gefunden worden, dass auch dem belarussischen Präsidenten ein Platz auf der Anklagebank gebührt. Eigentlich verliert eine solche Untersuchung mit den Jahren nicht an Aktualität. Auch deshalb kämpfte Lukaschenko 2020 um seinen Absolutismus, ohne Rücksicht auf die Mittel. Etwas Schlimmeres als 1999 hätte dieses Regime auch vor vier Jahren nicht mehr anrichten können.
Die Immunitätsgarantien, die nach dem Referendum von 2022 in die Verfassung aufgenommen wurden, sind ebenfalls auf die Ereignisse von vor 25 Jahren zurückzuführen. Ergänzt wurde ein Punkt, dass „der Präsident nach dem Ende seiner Amtszeit für Handlungen, die er im Rahmen seiner Amtsausübung und seiner präsidentiellen Befugnisse ausgeführt hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“
Der 70-jährige Lukaschenko spricht immer häufiger davon, dass er nicht ewig lebt, und baut gewissenhaft an einem System seiner persönlichen Sicherheit im Fall einer Machtübergabe an einen Nachfolger. Regelmäßig spricht er auch von der Notwendigkeit, dass seine Nachkommen sein Erbe bewahren. Was die Sicherheit angeht, kann ihm alles gelingen. Die Staatsmacht wirkt monolithisch, die Sicherheitsorgane befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft, und von den Wahlen 2025 sind keine Überraschungen zu erwarten.
Das mit dem Erbe ist weniger rosig. Früher oder später wird Belarus eine Demokratisierung erfahren, das Volk wird sein Recht zurückerhalten, die Regierung zu wählen. Eine offene und transparente Untersuchung der aufsehenerregenden Entführungen von 1999-2000 wird auf jeden Fall zu den Prioritäten einer neuen Regierung gehören. Und die Ergebnisse, im ganzen Land veröffentlicht, könnten sogar die eisernsten Verfechter der belarussischen Stabilität erschüttern.
Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.
Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben?
Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.
dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde?
Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.
Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt.
Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.
Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht.
Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.
Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen.
Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.
Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.
Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken?
Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.
Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten?
Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.
Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde?
Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern.
Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung?
Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen.
Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht.
Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.
Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.
Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.
Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas.
Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass.
Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine
Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:
Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.
Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.
Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland.
Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau.
Was lockt den Donbas gen Osten?
Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.
Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig.
Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig.
Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch.
Wahlen, Angst und Hass im Donbas
Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.
Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte.
Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten.
Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.
Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.
So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten.
Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung.
Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor.
Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.
Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation
Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses.
Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.
Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch
Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.
Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.
Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.
Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“
Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.
Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.
Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“
Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“
So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören.
Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland
Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft.
Seit anderthalb Jahren gab es keine direkten Informationen über den Zustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Nun sind Informationen durchgedrungen, die von ehemaligen Mitgefangenen stammen sollen. Demnach soll sich der Zustand der 42-Jährigen rapide verschlechtert haben, sie werde buchstäblich ausgehungert und wiege nur noch 45 Kilogramm.
Der belarussische Ableger des Onlinemediums Mediazona hat mit einem anonymen Informanten über die menschenunwürdigen Haftbedingungen gesprochen.
Seit mehr als eineinhalb Jahren haben Maria Kolesnikowas Angehörige keine Briefe mehr von ihr erhalten. Fast die gesamte Zeit befindet sie sich in einer Isolationszelle, in der es kein warmes Wasser gibt und nach Kanalisation riecht. Aufgrund ihres Magendurchbruchs kann sie kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Eine Quelle, die mit Kolesnikowas Haftbedingungen vertraut ist, hat Mediazona erzählt, was darüber bekannt ist.
„Als würdest du im Klo leben“. Die Bedingungen in der Isolationszelle
Maria Kolesnikowa befindet sich seit dem 10. März 2023 in einer Isolationszelle (russ. PKT) der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in Homel. Sie kam in die Isolationszelle. Drei Monate zuvor war sie mit Bauchfellentzündung aufgrund eines Magengeschwürs (Durchbruch der Magenwand) in die Notaufnahme eingeliefert worden war.
Die Isolationszelle hat eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. An den Wänden sind zwei Pritschen für je zwei Personen befestigt, die nur zur Nachtruhe von 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden. Die Toilette ist ein Loch im Boden einer Zellenecke, ein Blech von der Größe einer aufgeschlagenen Zeitung soll als Sichtschutz dienen. Diese Trennwand erfüllt ihren Zweck nicht: Egal, wie man sich hinhockt, man wird entblößt zu sehen sein.
„Der Gestank bleibt im Raum, du atmest ihn täglich ein. Du wohnst also quasi auf dem Klo“, sagt der Gesprächspartner Mediazona. In der Mitte der Zelle stehen am Boden befestigte schmale „Sitze“ und eine aus Metall geschweißte Truhe, die man ebenfalls nicht verschieben kann. Am Waschbecken gibt es nur kaltes Wasser, einmal pro Woche darf man in den Duschraum. Das einzige Fenster befindet sich direkt unter der Decke und ist auf der Innenseite vergittert. Zwischen dem Gitter und dem äußeren Fensterrahmen liegen etwa 60 Zentimeter Mauer.
Aufgrund ihrer Erkrankung müsste Maria eine spezielle Diät einhalten, doch in der Isolationshaft bekommt sie das, was auch die anderen Gefangenen essen. Als Maria nach dem Krankenhausaufenthalt in die Strafkolonie zurückkehrte, bat sie ihre Angehörigen, sie mit Breiflocken zu versorgen – die einzige Nahrung, die sie essen durfte. In der Isolationszelle darf sie jedoch nur einmal alle sechs Monate ein Päckchen oder kleines Paket erhalten (Art. 114 der Strafvollzugsordnung).
Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge verschlechtert sich Marias Gesundheit aufgrund der Mangelernährung und der unmenschlichen Bedingungen, denen sie seit anderthalb Jahren ausgesetzt ist. Das hat sie der Gefängnisverwaltung bereits mitgeteilt.
Bei einer Zellenkontrolle sagte Maria im Beisein des Leiters der Kolonie: „Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit“, und fragte, wo ihre Medikamentensendungen und ihre Briefe seien. Der Leiter antwortete, alle hätten sie vergessen. Einer Quelle von Nowy Tschas zufolge erhielt Maria trotz ihrer Bitten lange keine medizinische Hilfe, und Briefe wurden vor ihren Augen zerrissen.
Der Tagesablauf
In der Isolationszelle steht Maria jeden Morgen um fünf Uhr auf, klappt das schwere „Bett“ hoch und befestigt es an der Wand. Dann öffnet sich die Tür – die Gefangene nimmt den Abfalleimer und verlässt in Begleitung eines Vollzugsbeamten die Zelle, um einen Lappen und Chlorwasser zu holen. Zum Putzen hat sie etwa 15 Minuten, dann sammelt eine Gefangene aus der Hauswirtschaftskolonne alle Lappen wieder ein.
Gegen sechs Uhr morgens wird das Frühstück gebracht. Gewöhnlich ist es Brei mit Fettzusatz, ein Stück Weißbrot und süßer Tee. „Der Brei ist mit Milch. Er hat definitiv eine Fettbeigabe, damit er einigermaßen nahrhaft ist. Der Tee ist so extrem süß, dass man ihn nicht trinken kann“, erzählt der Gesprächspartner. Manchmal gibt es zum Frühstück auch ein gekochtes Ei oder – im Fall der Aufbaunahrung, die Maria nach der Operation bekam – Quark. Während der Mahlzeiten verteilt ein Arzt die Medikamente, die den Insassinnen verschrieben wurden. Manchmal wird bei Maria morgens ein EKG gemacht. Nach dem Frühstück ist Zellenkontrolle. Wieder geht die Tür auf, die Vollzugsbeamten kontrollieren ihr Äußeres und die Sauberkeit der Zelle.
Von 8:30 bis 9:00 Uhr wird sie zum Spaziergang in einen Innenhof geführt, der 1,50 mal 1,50 Meter groß und oben übergittert ist. Wer in Isolationshaft ist, dem steht nur eine halbe Stunde täglich zu. „Spaziergang ist zu viel gesagt. Eher eine halbe Stunde draußen stehen. Um diese Zeit kommt dort auch keine Sonne hin.“
Nach dem Spaziergang sitzt Maria den ganzen Tag in der Zelle. Sie hat ein Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Toilettenpapier, (vielleicht) einen Becher und ein Buch. In der Isolationszelle kann man während der Mahlzeiten mit Erlaubnis der Mitarbeiter Wasser kochen – aber nur, wenn es einen Wasserkocher gibt und man einen eigenen Becher hat.
Um zwölf Uhr wird das Mittagessen verteilt. Es gibt Fruchtkaltschale oder Kompott aus Trockenfrüchten, eine Suppe und ein Hauptgericht (zum Beispiel Plow). Abendessen gibt es um 18:00 Uhr, das kann zum Beispiel Kartoffelbrei und gebratener Fisch sein. Um 20:30 Uhr beginnt die Vorbereitung auf die Nachtruhe – Maria klappt ihr „Bett“ aus. Um 21:00 Uhr ist Schlafenszeit, das Licht in den Zellen bleibt jedoch an.
40 Rubel pro Monat für Einkäufe im Laden
Maria darf pro Monat 40 Rubel (eine Basiseinheit laut Art. 114 der Strafvollzugsordnung) von ihrem Konto für Einkäufe im Laden der Strafkolonie ausgeben. Lagerinsassen, die sich nicht in Isolation befinden, werden in den Laden begleitet und dürfen sich dort die Waren selbst aussuchen. Maria schreibt eine Liste, das Geld wird von ihrem Konto abgezogen, und die Vollzugsbeamten bringen ihr die Produkte in die Zelle. Da Maria das Angebot nicht so genau kennt, kann es vorkommen, dass es das Gewünschte nicht mehr gibt.
Wir haben im Online-Shop der Strafkolonie 4 die Preise studiert und uns überlegt, was Maria dort für 40 Rubel kaufen könnte:
– 10 Rollen Toilettenpapier: 4,60 BYN
– 1 Packung Damenbinden: etwa 4 BYN
– Zahnpasta und Zahnbürste: 10 BYN
– Duschgel: 6,50 BYN
– Shampoo: fast 8 BYN
Wenn sie in einem Monat alle Hygieneprodukte kaufen muss, bleiben ihr etwa sieben Rubel für Essen:
– Tee und Kaffee: etwa 15 BYN
– Buchweizenflocken: 3,50 BYN
– 1 Packung Quark: 2 BYN
– Dorschleberkonserve: 20 BYN
– 1 Kilo Orangen: etwa 7 BYN.
Sie könnte zum Beispiel auch Chinakohl kaufen, für 7 Belarussische Rubel das Kilo. Oder Weißkohl für 1,5 Belarussische Rubel das Kilo, der aber schwerer und daher pro Stück teurer ist.
Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge kann Maria sich von den Hygieneprodukten Seife (die auch als Shampoo dient), Duschgel und Deodorant leisten. Toilettenpapier braucht man auf Vorrat, es ist vielseitig verwendbar, auch als Taschentuch und Slipeinlage“. Von den Nahrungsmitteln kauft sie die billigsten Kekse und Tee, Kaffee ist hingegen ein „großer Luxus“. „Letztlich muss sie sich entscheiden: entweder essen oder Haare waschen oder Toilettenpapier“, sagt der Gesprächspartner.
„Die Situation ist nicht hart, sondern extrem gefährlich“
Für den Aufenthalt in einer Isolationszelle legt die Strafvollzugsordnung eine maximale Dauer von sechs Monaten fest. Maria wurde jedoch weder nach einem halben noch nach einem Jahr entlassen. Unter gewöhnlichen Haftbedingungen – also nicht in Isolationshaft oder in der Strafzelle – leben die Frauen zu mehreren Dutzenden in sogenannten Baracken. Sie werden zur Arbeit, in den Speisesaal, in den Klub, in den Laden geführt.
Den Informationen von Mediazona zufolge wird Maria Kolesnikowa noch immer in Isolationshaft gehalten – bereits anderthalb Jahre lang. Fast die gesamte Zeit hat sie allein in der Zelle verbracht. Bekannt ist, dass einmal eine „zänkische“ Insassin in ihre Zelle einquartiert wurde. Kurz bevor Maria eigentlich aus der Isolation in ihre Gruppe zurückkehren sollte (am 10. März 2024), wurde sie wegen Respektlosigkeit dem Personal gegenüber mit drei Tagen Haft in der Strafzelle (SCHISO) bestraft. Ehemalige politische Gefangene erzählen, dass man im Grunde für alles gerügt werden kann, was man zum Gefängnispersonal sagt. Zum Beispiel für die Anrede „junger Mann“. Nach der Strafzelle kam Maria wieder in die Isolationszelle (PKT).
„Diese Situation ist nicht hart, sondern sie ist extrem gefährlich. Natürlich warten sie auf ein Reuebekenntnis von Mascha“, mutmaßt der Gesprächspartner. Den letzten Brief von Maria erhielten ihre Angehörigen am 15. Februar 2023. Sie selbst darf keine Post erhalten, ein Anwalt wird nicht vorgelassen.
Marias Schwester Tatjana Chomitsch schrieb dazu [auf Facebook]: „Meines Wissens leidet Maria in der Kolonie an Hunger. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,75 m. Ihre Krankheit erfordert eine Diät, daher kann sie von der Gefängnisverpflegung nicht viel essen. […] Jemandem mit Magengeschwür Lageressen zu geben, ist praktisch Folter und ein langsamer Mord. Jemandem das Recht zu entziehen, seiner Familie zu schreiben, beschleunigt diesen Tod.“
Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front.
Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen.
Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.
Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.
Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.
Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt
Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen).
Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen.
Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los.
Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten.
Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“.
Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen
Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann.
Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt.
Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.
Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet.
Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können.
Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.
Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten.
Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen?
Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“
Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt.
Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.
„Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“
Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.
„Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis.
Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.
„Und waren dort Nazis?“
„Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“
„Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“
„Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“
Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen.
„Ich will Action“
Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“
Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte.
„Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“
„Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“
„Tja, dann haben sie Pech gehabt.“
Propaganda trifft Mitleid
Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt.
Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er.
Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow.
„Was ist das Schlimmste am Krieg?“
„Die Toten.“
„Auf unserer Seite?“
„Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“
„Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“
„Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“
Langeweile in der Kriegsbürokratie
In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten.
Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen.
Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt.
„Warum willst du da hin?“
„Ich will Action.“
„Hast du keine Angst?“
„Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“
„Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“
„Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“
Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört:
„Haben sie deinen Antrag genehmigt?“
„Ja, ich bin versetzt worden.“
„Und, Schluss mit Langeweile?“
„Das kannste laut sagen …“
Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner
„Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.
In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“
Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten.
2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.
2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“
Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.
„Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“
„Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“
„Wie soll man ihn sonst beenden?“
„Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“
„Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“
Der Gute, der Böse und der Nazbol
Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts.
Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.
„Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.
Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum
Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“
In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.
„Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“
V wie ReVolution
„Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg.
„Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“
„Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“
„Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“
„Wie soll man damit umgehen?“
„Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“
Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“
Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.
Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“
Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden.
Am Ende das Blut im Schützengraben
Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank.
Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.
Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow.
Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.
Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“
Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.
Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?
In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“
Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“
Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“
Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment.
Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.
Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden
Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.
Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg.
Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen.
Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an.
Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker
Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden.
Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März.
Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten.
Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können.
Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen.
Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet.
In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig
Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann.
In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen.
In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren.
Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ …
In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott
Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen.
Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft.
Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.
Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne.
Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen.
Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.
In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.
Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“
„Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“
In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten.
Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan.
Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“
Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010
Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin
„Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook.
„Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie.
2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben.
Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund
„Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien.
Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben.
Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen.
Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen.
Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind.
Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist.
Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“
Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56
Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin
„Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.
Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.
Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.
Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.
Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“
Irina Michailowna, Mutter
„Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.
Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.
Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik.
Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“
„Extremer Protest“
Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe.
„Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.
Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.
Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.
„Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja.
Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.
„Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja.
Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.
„Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“
Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.
Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.
„Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.
Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.
Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina.