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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Ein möglicher Schulterschluss zwischen Russland und dem Westen nach den jüngsten Terroranschlägen könnte auch Auswirkungen auf die Ukraine-Krise haben. Was hieße das für den Status der Krim, die Sanktionen gegen Russland, den Kurs der NATO? Kann es gar zu einer raschen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommen? Arkadi Mosches dekliniert in EJ die Szenarien durch und bleibt skeptisch.

    (Der Originaltext wurde vor dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei am 24.11.2015 veröffentlicht.)

    Die weitaus meisten Beobachter sind sich einig, dass die schrecklichen Anschläge der letzten Tage den Kontext der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wesentlich verändert haben. Objektiv betrachtet ist das der Fall, weil eine gemeinsame Bedrohung zur Einigkeit zwingt. In dieser Hinsicht sind die Worte Wladimir Putins, der die Franzosen als Verbündete bezeichnete, von großer Bedeutung. Aber auch auf subjektiver Ebene stimmt es, denn jene Politiker und professionelle Lobbyisten im Westen, die auch schon zuvor dazu aufgerufen hatten, die durch die Ukraine-Krise entstandenen „Missverständnisse“ in den Beziehungen zu überwinden und zu „Dialog und Zusammenarbeit“ zurückzukehren, erhalten damit ein schlagkräftiges Argument. Im übertragenen Sinne haben Nicolas Sarkozy und der derzeitige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel, die diesen Standpunkt vertreten und im Oktober Moskau besucht hatten, in ihrer Auseinandersetzung mit den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern François Hollande und Angela Merkel die Initiative übernommen.

    Daher sollte man bereits in allernächster Zukunft erwarten, dass Bewegung in diese Diskussion kommt, und wahrscheinlich auch, dass praktische Schritte um den sogenannten Abtausch von der Ukraine und Syrien erfolgen. Es ist allerdings alles andere als selbstverständlich, dass ein solcher Abtausch tatsächlich Ergebnisse bringen wird.

    Erstens ist nicht wirklich klar, worin er bestehen könnte. Soll es um eine Änderung der Positionen des Westens zur Krim gehen? Diese Frage steht derzeit faktisch nicht auf der Tagesordnung. Formhalber abgegebene Verlautbarungen zählen nicht, und eine juristisch verbindliche Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Russischen Föderation ist für den Westen unmöglich, was allen Beteiligten, auch dem Kreml, klar sein sollte. Geht es um eine Abkehr von der Osterweiterung der NATO und der EU? Wiederum: Da ohnehin weder Washington noch die europäischen Hauptstädte einen besonders starken Wunsch nach einer Erweiterung verspüren, könnten inoffiziell bestimmte Zusicherungen gegeben werden. Aber zum einen ist fraglich, ob Moskau ihnen Glauben schenken würde, zum anderen: Was soll mit dem Programm der schrittweisen Integration der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in die EU geschehen, um das es sich ja beim Assoziierungs- und Freihandelsabkommen handelt? Soll sich Europa die russische Sichtweise mit einer Zukunft des Donbass' als Teil der Ukraine zu eigen machen? Berlin und Paris üben ohnehin schon maximal möglichen Druck auf Kiew aus, um von der Ukraine eine einseitige und vorgreifende Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Auslegung zu erreichen, die für die DNR und LNR vorteilhaft ist. Weiterer Druck und Einmischungen in den konstitutionellen Prozess könnten dazu führen, dass das politische System der Ukraine destabilisiert wird und dass an die Stelle Petro Poroschenkos ein radikalerer Führer tritt, womit sich der Konflikt nur verstärken würde.

    Zweitens muss innerhalb der EU in einer ganz bestimmten Richtung gearbeitet werden. Es geht hier nicht um die berüchtigte „wertebasierte Politik“: Dass vor Kurzem die Sanktionen gegen Minsk ausgesetzt wurden beweist, dass Geopolitik und Pragmatismus Brüssel ganz und gar nicht fremd sind; nein, es geht um Prozeduren, auf denen die Union basiert. Im März 2015 hat der Europarat nämlich einen Beschluss gefasst (Paragraph 10 für jene, die es ganz genau wissen wollen), der unmissverständlich besagt, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen von der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens abhängen, sprich, von der Rückgabe der Kontrolle über die Grenze an die Ukraine. Selbstverständlich ist dieses Dokument nicht in Stein gemeißelt, es kann durch ein anderes ersetzt werden. Doch dies kann nicht schnell geschehen. Zunächst wird eine öffentliche Diskussion entbrennen, dann schaltet sich das Europaparlament ein, und irgendwann werden sich die europäischen Führer überlegen, dass ihnen persönlich der politische Preis für die Aufhebung der Sanktionen zu hoch sein könnte.

    Drittens ist der Westen nicht mit der EU gleichzusetzen. Selbst wenn man für eine Sekunde die USA, Kanada und Australien außer Acht lässt, kann man doch eine andere überaus machtvolle politisch-bürokratische Maschinerie nicht ignorieren: die NATO. In den letzten anderthalb Jahren ist die transatlantische Allianz, wie man sagt, „zu ihren Wurzeln zurückgekehrt“ und orientiert sich nun gründlich in Richtung Abwehr von Sicherheitsrisiken ihrer Mitgliedsländer, die deren Ansicht nach vom Osten ausgehen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens wird es sehr schwierig sein, die in Fahrt gekommene Allianz aufzuhalten. Moskau seinerseits wird wie gewohnt Gegenmaßnahmen ergreifen. Damit hätte eine Einigung in einzelnen Fragen der nahöstlichen Agenda keinerlei signifikante Bedeutung.

    Zuletzt das Wichtigste: Der russisch-ukrainische Konflikt an sich wird nicht einfach verschwinden. Selbst wenn eine weitere Eskalation im Osten der Ukraine vermieden werden kann, bekommt es der Westen, allen voran die EU, mit russischen Sanktionen gegen Kiew zu tun, die im Januar eingeführt werden, wenn die bereits erwähnte Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft tritt. Hinzu kommt die Umschuldung, der Gastransport durch die Ukraine und der Ankauf von russischem Gas für den innerukrainischen Bedarf, Fragen von europäischen Bürgern und Unternehmen zur Krim, gegen die die Sanktionen ganz sicher nicht aufgehoben werden etc. Sollte dann jemand die Nerven verlieren und der Osten wieder in Flammen aufgehen, so kann man sämtliche Entwürfe einer möglichen Aussöhnung sofort zu Grabe tragen.

    Leider hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen für den heutigen Tag systemischen Charakter und geht weit über die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zur Ukraine und zu Syrien hinaus. Dieser Konflikt schwelte schon lange und er wird nicht schnell überwunden werden können, schon gar nicht durch irgendeinen „Abtausch“.

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  • Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der Konzern YUKOS, in den 1990er Jahren entstanden und in den damaligen zwielichtigen Auktionen privatisiert, avancierte zunächst zu einem unternehmerischen Aushängeschild Russlands. Von 2003 bis 2006 wurde Yukos dann in einer Reihe aufsehenerregender Prozesse vom Staat zerschlagen und in staatsnahe Besitzverhältnisse überführt. Seine Gesellschafter – als prominentester unter ihnen der politisch ambitionierte Michail Chodorkowski – wurden verhaftet. Kein anderes Ereignis bündelt die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche im ersten Jahrzehnt dieses Jahrunderts in so eindrucksvoller und dramatischer Weise.

    Zehn Jahre nach diesen Ereignissen verpflichtete ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag den russischen Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russische Vermögens- und Kulturwerte im Ausland könnten hierfür gepfändet werden. Russland strebt nun in einem neuen Prozess die Rücknahme dieses Urteils an. RBC, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisiertes Internetportal, hat 800 Seiten Prozessunterlagen beider Seiten analysiert und geht hier der Frage nach: Worum und warum streiten die Parteien weiterhin?

    Zwar wird die YUKOS-Affaire auch von deutschsprachigen Medien immer wieder aufgegriffen, dieses Material von RBC bietet jedoch eine ausgesprochen vollständige Zusammenschau der letzten Ereignisse und ist dazu reich an Insiderinformationen, wie etwa über das von der russischen Seite angestrengte linguistische Gutachten.

    Um dieses komplexe Thema in der nötigen Tiefe darstellen zu können, publizieren wir zeitgleich auch mehrere speziell hierfür verfasste Gnosen.

    Laut dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag wurde den ehemaligen YUKOS-Aktionären Schadensersatz von russischer Seite in Höhe von 50 Mrd. EUR zugesprochen. RBC hat den Verlauf des darauf folgenden Prozesses am Haager Bezirksgericht untersucht, von dessen Ergebnis maßgeblich abhängen wird, ob die YUKOS-Aktionäre diese Summe tatsächlich beanspruchen können.

    Im Januar 2015 hatte Russland beim Bezirksgericht die Aufhebung des Haager Schiedsgerichtsurteils beantragt (RBC hat die Argumente der russischen Seite eingehend analysiert), im Weiteren wurde über den Verlauf des Prozesses nichts mehr bekannt. Im Mai 2015 jedoch haben die Aktionäre von YUKOS  (Yukos Universal, Hulley Enterprises und Veteran Petroleum, die gemeinsam etwa 70 % des Ölkonzerns kontrollieren) ihre Erwiderung auf Russlands Antrag eingereicht. Die Vertretung der russischen Seite hat Mitte September darauf schriftlich geantwortet.

    Der Zugang zu beiden Dokumenten, die zusammen mit den entsprechenden Anhängen mehr als 800 Seiten lang sind, gelang dank eines zeitlich parallel laufenden Verfahrens am District Court of Columbia in Washington DC, USA. Dort wollen Yukos, Hulley und Veteran die Anerkennung des Haager Schiedsspruchs auf dem Gebiet der USA erreichen, damit sie im amerikanischen Rechtsraum russisches Staatsvermögen sperren lassen dürfen. Russland (in diesem Prozess vertreten durch die Kanzlei White & Case) hat am 20. Oktober [2015 – dek]  beim Washingtoner Gericht beantragt, die Haager Entscheidung nicht anzuerkennen.

    Bei den Dokumenten, die Russland bei dem amerikanischen Gericht eingereicht hat (und die in die amerikanische Gerichtsdatenbank aufgenommen wurden), handelt es sich auch um Unterlagen, die die Parteien während des laufenden Prozesses am Bezirksgericht in Haag ausgetauscht haben. Im Mai hatten die YUKOS-Aktionäre (vertreten durch die Amsterdamer Kanzlei De Brauw Blackstone Westbroek) dem Gericht eine 400-seitige Antragserwiderung zugesandt. Am 16. September reichte Russland seine ebenso viele Seiten umfassende Antwort darauf ein. Wie der Vertreter Russlands, der Juraprofessor Albert Jan van den Berg dem amerikanischen Richter mitteilte, geht das Verfahren nun in die Schlussphase: Am 9. Februar 2016 finden vor dem Bezirksgericht in Den Haag die Anhörungen statt, das Urteil wird für April 2016 erwartet.

    Austausch von Liebenswürdigkeiten

    Obwohl das Haager Bezirksgericht weder imstande noch befugt ist, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu revidieren (es können ausschließlich eng begrenzte rechts- und verfahrenstechnische Fragen verhandelt werden), haben Russland und YUKOS ihre Aussagen dazu genutzt, ihren langjährigen Propagandakrieg fortzusetzen. Die Aktionäre von YUKOS verwenden 23 Seiten ihrer Stellungnahme darauf, aus anderen Gerichtsverfahren zu zitieren (darunter die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klagen von Michail Chodorkowski und Platon Lebedew sowie der YUKOS-Aktionäre) und Erklärungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzuführen, die zeigen sollen, dass „das Verhalten der Russischen Föderation gegenüber YUKOS zum Gegenstand weltweiter Verurteilung geworden ist“. Der Verteidigung von YUKOS zufolge hat „die internationale Gemeinschaft, einschließlich internationaler Organisationen, NGOs sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens weltweit, die Angriffe der Russischen Föderation auf YUKOS und die mit ihr verbundenen Personen einhellig verurteilt“.

    In den Erklärungen der YUKOSsianer werden Persönlichkeiten aufgezählt, die öffentlich für YUKOS eingetreten sind – etwa US-Präsident Barack Obama, Ex-Präsident George Bush, Hillary Clinton, die europäischen Politiker Jerzy Buzek und Catherine Ashton, der britische Premierminister David Cameron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Von den Persönlichkeiten aus Russland, die die Angriffe auf YUKOS verschiedentlich kritisiert haben, werden Ex-Premierminister Michail Kassjanow, der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow, der erste Vize-Premierminister Igor Schuwalow, der frühere Medwedew-Berater Igor Jurgens, der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin sowie die Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow und Garri Kasparow genannt.

    Ein eigenes Kapitel verwenden die Vertreter von YUKOS auch darauf, die „Missachtung des internationalen Rechts und des internationalen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten durch die Russische Föderation“ zu illustrieren. „Die Versuche Russlands, den Haager Schiedsspruch aufheben zu lassen, passen ins Gesamtbild seines Verhaltens – nämlich, dass es Entscheidungen internationaler Gerichte und Tribunale nicht respektiert. Russland hat nicht eine Entscheidung eines Investitionsschiedsgerichts freiwillig erfüllt“, heißt es in der Erwiderungsschrift der YUKOS-Aktionäre. Als Beweis werden Beispiele angeführt, wie etwa die Weigerung Russlands, im Fall der Festsetzung des holländischen Schiffs Arctic Sunrise und der Festnahme der an Bord befindlichen Greenpeace-Aktivisten an einem Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mitzuwirken, oder die nur selektive Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Russland. Die Verteidigung von YUKOS kommt zu dem Schluss, dass das laufende, von Russland beim Bezirksgericht in Den Haag angestrengte Verfahren sich konsequent in eine lange Reihe von Prozessen einfügt, in denen Russland „unbegrenzte Ressourcen“ darauf verwendet, sich der Befolgung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu widersetzen.

    Russland erwidert darauf mit der Feststellung, dass der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag „dem Einfluss unausgesetzter Lobby- und PR-Kampagnen“ der ehemaligen YUKOS-Aktionäre sowie „der russischen Oligarchen, die Yukos Universal, Hulley und Veteran kontrollieren, ausgesetzt war“. Die russische Seite weist das Bezirksgericht darauf hin, dass die früheren YUKOS-Aktionäre schon seit langem eine internationale Kampagne betreiben würden, um eine einseitige Wahrnehmung der YUKOS-Affäre durchzusetzen. So rechnet die russische Vertretung beispielsweise vor, dass die mit YUKOS verbundenen Organisationen einschließlich der in Gibraltar ansässigen GML, in den Jahren 2003–2009 nicht weniger als 3,7 Mio. US-Dollar auf Lobbyaktivitäten zugunsten ihrer Interessen in den USA verwendet hätten.

    Die Erörterung der von den YUKOSsianern so bezeichneten „Missachtung des internationalen Rechts durch Russland“ hält die russische Seite im Kontext des besagten Verfahrens für unangebracht, die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugunsten von YUKOS bewertet sie als politisch voreingenommen und ohne eigenständige Sachkenntnis. Russland unterstreicht noch einmal gesondert, dass das Gericht die Erklärung von Michail Kassjanow nicht berücksichtigen solle, da dieser seine Zeugenaussage beim Haager Schiedsgerichtshof später widerrufen habe (was die YUKOS-Verteidigung verschweigt).

    „Alle diese Materialien [Urteile anderer Gerichtsverfahren, Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens] stellen einen Versuch dar, die Russische Föderation durch für das Verfahren irrelevante und politisch motivierte Anklagen zu diskreditieren“, schreibt die russische Seite.

    Linguistisches Gutachten

    Russland setzt vor allem auf die Behauptung, dass die Haager Schiedsrichter, die YUKOS 50 Mrd. US-Dollar zugesprochen haben, ihr Mandat nicht in eigener Person wahrgenommen und damit ihre Berufsethik verletzt hätten, da der kanadische Jurist Martin Valasek, der offiziell nur als Assistent des Richters fungierte, entscheidenden Einfluss auf die Verhandlung genommen habe. In seiner Stellungnahme für das Bezirksgericht behauptet Russland unter Berufung auf ein vorgelegtes linguistisches Gutachten, dass der Text der Entscheidung des Haager Tribunals zum Großteil nicht von den Schiedsrichtern selbst, sondern von Valasek verfasst worden sei. Wenn dies zuträfe, wäre es ein schwerer Verstoß gegen das Mandat des Gerichtshofs, der eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnte.

    Russland hat zu diesem Zweck die forensische Linguistin Carol Chaski herangezogen, die mittels statistischer Verfahren zu dem Schluss kam, dass Valasek „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit“ (d. h. einer Genauigkeit von über 98 %) 71 % des Abschnitts zum Schadensersatz verfasst habe und dass (mit einer Fehlertoleranz von unter 5 %) 79 % des Passus zu vorläufigen Einwendungen und 65 % des Passus zu den Verbindlichkeiten von ihm stammten. Die von ihr angewandte Methode zur Autorschaftsbestimmung umfasst der russischen Verteidigung zufolge die in der theoretischen Linguistik angewandte syntaktische Standardanalyse sowie neueste statistische Verfahren. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entwickelt und unter anderem vom Justizministerium der USA gefördert.

    In dem im Januar eingereichten Prozessantrag hatte die russische Seite hervorgehoben, dass Valasek, der ursprünglich als ausschließlich für Verwaltungsarbeiten zuständig vorgestellt worden war, tatsächlich erheblich mehr Zeit auf das Schiedsgerichtsverfahren verwendet hätte als jeder der Schiedsrichter. Nach den Aufzeichnungen des Gerichtssekretärs hat er eine Rechnung über 3006,2 Arbeitsstunden ausgestellt, davon 2625 während der Hauptverhandlung. Damit ist sein Zeitaufwand um 65 % höher als der des Schiedsgerichtsvorsitzenden Fortier in der gleichen Prozessphase (1592 Stunden).

    In der Erwiderung der YUKOS-Vertreter heißt es jedoch, dass die Verdächtigungen hinsichtlich der Rolle von Valasek bei der Vorbereitung des endgültigen Urteils nicht stichhaltig seien. Sie wendet ein, dass von den Arbeitsstunden des Gerichtsassistenten während des Verfahrens nicht auf die Aufgaben geschlossen werden könne, die er in dieser Zeit wahrgenommen habe. Selbst wenn die Unterstützung durch Valasek über die Regelung rein administrativer Fragen hinausgegangen sei, handele es sich um gesetzlich zulässige Tätigkeiten, so der Anwalt der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Russland führt hingegen an, dass der Haager Schiedsgerichtshof sich weigert, weitere Einzelheiten der Tätigkeit Valaseks offenzulegen. Dies bekräftigt nach Auffassung der russischen Seite die Vermutung, dass der Gerichtsassistent faktisch an der Entscheidung in der Hauptverhandlung beteiligt war.

    Eine Armee von Juristen und die Taktik der Prozessverschleppung

    Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre werfen Russland vor, den Prozess um Jahre hinausgezögert zu haben. Bei dem Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag habe Russland eine „Armee von Juristen“ aufgefahren: Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Verfahrens waren 17 Juristen anwesend, und bei der Hauptverhandlung stieg ihre Anzahl auf 39 Personen. Dabei habe Russland alles getan, um den Prozess hinauszuzögern, so der Anwalt der YUKOSsianer.

    Die Verhandlung in dieser Sache war eine der langwierigsten in der Geschichte – es dauerte zehn Jahre, bis die YUKOS-Aktionäre ein endgültiges Urteil erwirken konnten. Der Hauptgrund für diese beispiellos lange Verfahrensdauer sei das „obstruktive Verhalten“ der russischen Seite gewesen, die versucht habe, die Verfahrensfristen zu torpedieren, und sich auch anderer Methoden der Prozessverschleppung bedient habe. Sie habe darum ersucht, den Prozess in drei separate Verfahren aufzuspalten und sich geweigert, an der Festsetzung der Verhandlungsdaten mitzuwirken, schreibt der Vertreter der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Schließlich wurde der Prozess in zwei Verfahren aufgeteilt, die jeweils fast fünf Jahre dauerten. Anschließend versuchte Russland, die Hauptverhandlung ein weiteres Mal zu unterteilen – in ein Verfahren zu den Verbindlichkeiten und in eines zur Frage des Schadensersatzes. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt, aber er führte zu drei Verhandlungsrunden, in denen Dokumente vorgelegt wurden, und zwei verfahrensrechtliche Verhandlungen, wodurch der Prozess nach Angaben des YUKOS-Verteidigers unnötig hinausgezögert wurde. Wenn dem Ersuchen stattgegeben worden wäre, würde das Schiedsgerichtsverfahren bis heute andauern.

    Eine weitere Prozessverschleppungstaktik der russischen Seite bestand den YUKOSsianern zufolge darin, dass sie Vorauszahlungen für die Inanspruchnahme des Gerichts nicht rechtzeitig leistete. Dies gefährdete die Fortführung der Verhandlungen und den Zeitpunkt der Vorentscheidung und der endgültigen Urteilsverkündung. So weigerte sich Russland zwischen Ende 2008 und Mitte 2009 – während der Vorbereitung der Vorentscheidung und der Verhandlung über die Zuständigkeit des Gerichts – seinen Anteil an den Kosten in Höhe von 750.000 Euro zu zahlen. Das hätte den Prozess fast zum Stillstand gebracht. Letztlich wurde der Betrag auf Ersuchen des Gerichts von den Klägern beglichen, denen Russland das Geld mit neunmonatiger Verspätung und erst nach zweimaliger Mahnung durch das Haager Schiedsgericht erstattete. Dieses Szenario wiederholte sich vor der Verkündung des endgültigen Urteils im Sommer 2014. Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre hinterlegten für die beklagte Partei 250.000 Euro, von denen Russland nach Angaben der YUKOS-Vertretung 20.000 Euro noch immer nicht getilgt hat.

    Die Vertreter der russischen Seite erklären diese Verzögerung mit Verfahrensanforderungen der staatlichen Bürokratie und der Notwendigkeit, zahlreiche Genehmigungen einzuholen. Sie bestreiten kategorisch, dass Russland bewusst versucht habe, den Prozess in die Länge zu ziehen.


    Die Entschädigungen in der YUKOS-Sache in Zahlen
    114,174 Mrd. $
    an Entschädigungszahlungen haben die ehemaligen YUKOS-Aktionäre – Yukos Universal Limited, Hulley Enterprises Limited und Veteran Petroleum Limited – gefordert.
    50 Mrd. $
    muss Russland den ehemaligen YUKOS-Aktionären nach dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag als Entschädigung zahlen.
    1,86 Mrd. €
    Entschädigung muss Russland den YUKOS-Aktionären aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zahlen.
    300.000 €
    muss Russland den YUKOS-Aktionären als Rückvergütung ihrer Auslagen beim EGMR erstatten.
    Um 2,6 Mio. $ pro Tag
    steigt seit dem 15. Januar [2015 – dek] aufgrund des Zahlungsverzugs die gemäß der Entscheidung des Haager Schiedsgerichts an die YUKOS-Aktionäre auszuzahlende Summe.
    887 Mio. $ pro Jahr
    betragen die Verzugszinsen für Russland, wenn es die 50 Mrd. $ im Jahr 2015 nicht zahlt.
    130 Mrd. Rubel (knapp 2 Mrd. €)
    für die Zahlung der Entschädigung aus dem YUKOS-Verfahren am EGMR finden sich nicht im Entwurf für den Haushalt 2016.
    500 Mio. Rubel (7,5 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan für das Jahr 2016 für die Zahlung von Entschädigungsgeldern im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR vorgesehen.
    1,242 Mrd. Rubel (18,6 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan 2016 für juristische Dienstleistungen zur Vertretung der Interessen Russlands am EGMR vorgesehen.
    2,695 Mrd. Rubel (40 Mio. €)
    aus dem Haushalt sind im Jahr 2016 zur Gewährleistung des Schutzes der Interessen der Russischen Föderation „in internationalen Urteilen“ eingeplant.​

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  • Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Wie schon in der Ukraine sind auch in Syrien russische Kämpfer als Freiwillige am Konflikt beteiligt. Die Vermittlung dieser Kräfte übernehmen spezielle Agenturen im Internet. Das russische Portal The Insider, das vornehmlich Informationen aus schwer zugänglichen Quellen sowie geleakte Dokumente veröffentlicht, hat mit dem Vertreter einer solchen Vermittlungsagentur gespochen. Dabei entstand ein Interview, das seltene Einblicke in diese fast unbekannten Abläufe gewährt.

    Wir veröffentlichen das Material einschließlich des redaktionellen Vorspanns von The Insider.

    Nachdem in der Süd-Ost-Ukraine eine relative Waffenruhe eingetreten ist, hat sich Russland auf einen neuen Krieg zur Verteidigung des syrischen Dauerpräsidenten Baschar al-Assad eingestellt. Wie im Fall der Ukraine befinden sich an diesem Brennpunkt neben regulären Truppen auch Freiwillige. „The Insider“ berichtete bereits davon, wie deren Anwerbung für den Krieg in der Ukraine erfolgte. Jetzt wurden dieselben Mechanismen bei der Suche nach Freiwilligen im Krieg für Assad angewandt.

    Am 24. September kündigte dobrovolec.org [wörtl. Freiwilliger.org – dek] ein Auswahlverfahren für Interessenten an, die im Rahmen der „russischen heroischen Passion“ nach Syrien wollen, um dem „proamerikanischen oder religiös-extremistischen Regime Widerstand zu leisten“. Um für den Einsatz angenommen zu werden, muss man älter als 23 sein, eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen haben, eine suchtmedizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung und Angaben zu den nächsten Verwandten vorlegen.

    Wie viele russische Kriegsfreiwillige in Syrien tatsächlich im Einsatz sind, wie sie mit Assads Regierungstruppen kooperieren und warum durchaus nicht jeder, der in der Süd-Ost-Ukraine im Einsatz war, nun gegen die Dschihadisten kämpfen darf, erzählt einer der Koordinatoren von dobrovolec.org, hier unter dem Namen Kirill.

    Warum hat Ihr Projekt eine neue Richtung genommen?

    Wir haben das Programm erstmal dichtgemacht, zumindest vorübergehend. Schon seit einigen Tagen ist das Auswahlverfahren gestoppt – für die wichtigsten Gebiete der Organisation waren die Kontingente voll. Wir sehen das so: Es gibt eine Front, es gibt da Arbeit, warum also nicht hinfahren? Ich denke, der Bedarf wird sich in nächster Zeit verdoppeln. Wenn sich die Front ausweitet, braucht man mehr Fachleute. Nach diesem für die Verhältnisse der syrischen Armee derart erfolgreichen Angriff kann das jetzt durchaus so kommen. Also, sagen wir mal, jetzt werden Fachleute für die Panzerabwehr gebraucht. Später sinkt der Bedarf dann wieder …

    Mit der Vorbereitung Richtung Syrien haben wir Ende des Sommers begonnen, aber die Front Noworossija hat nach wie vor Priorität – in Prozenten ausgedrückt beansprucht die neue Richtung nur 5 Prozent unserer organisatorischen Kapazität und null der materiellen. Alles ist auf Noworossija und die angrenzenden Gebiete abgestimmt.

    In welchen Teil von Syrien gehen diejenigen, die Ihre Dienste in Anspruch nehmen?

    Geografisch kann ich das nicht sagen. Das wird alles geheimdienstlich kontrolliert – da wird ja schließlich geschossen. Die ausgewählte Truppe arbeitet eng mit der Regierungsarmee zusammen, aber auch Russen haben direkte Befehlsgewalt. Ja, letztlich stehen sie unter Leitung des Befehlshabers Baschar al-Assad, aber sie sind ihm nicht direkt unterstellt.

    Wie das alles abläuft? Jemand schreibt uns: „Ich diene in der-und-der-Einheit der Volksrepublik Lugansk, kann bis zum so-und-so-vielten kündigen, möchte zwei Wochen zu meiner Familie und besorge dort gleich alle Papiere.“ Alles auf freiwilliger Basis – der Betreffende entscheidet selbst, ob er am nächsten Tag fährt oder nicht. Wir drängen schon darauf, dass sie länger bleiben, aber auch wenn es weniger als ein halbes Jahr ist, passt das – niemand wird dort festgehalten. Es gab schon Fälle, da wollten die Leute aus familiären Gründen weg, wenn irgendwas Schreckliches passiert war zum Beispiel.

    Was die Ausrüstung angeht, empfehlen wir das mitzunehmen, was jeder Profi sowieso hat – Schießbrille, Kolben, Visiere. Jeder nimmt das, woran er gewöhnt ist. Aber eine Schutzweste und eine Munitionstasche MOLLE sollte man dabeihaben. Für seine Verlegung muss der Betreffende nichts zahlen.

    Das heißt, die Transferkosten übernimmt die andere Seite?

    Das geht auf Kosten verschiedener Fonds, Spenden, also alles aus dem Wohltätigkeitssektor, kurz gesagt. Auch den Kurden haben wir ein paar Freiwillige geschickt, das war noch im Frühjahr. Aber das waren wirklich buchstäblich Einzelfälle – ein junger Mann aus Petersburg ging zu den YPG (Volksverteidigungseinheiten von West-Kurdistan). Er wollte die syrische Kultur kennenlernen, ein wenig kämpfen vielleicht, ja, und er hatte schon immer mit den Kurden sympathisiert. Er ist Orientalist, wollte gern Erfahrungen sammeln – wir konnten ihm Kontakte vermitteln. Mittlerweile ist er wieder in Russland. Die Kurden stellen keine ernstzunehmende Kraft dar. Wenn man von irgendeiner Art Organisiertheit sprechen will, dann sind sie das genaue Gegenteil – vom Niveau her eine schlichte Volksmiliz.

    Für den Fall einer Gefangennahme, ist da eine Versicherung vorgesehen?

    Es ist überhaupt nicht vorgesehen, dass sich jemand gefangennehmen lässt, schließlich sind die Leute nicht unmittelbar in der Nähe von gefährlichen Einsatzorten. Ein Techniker der Funküberwachung hält sich womöglich 300 Kilometer von einem gefährlichen Ort entfernt auf. Wir haben eine Karte, auf der die Gebiete eingezeichnet sind, wo man so etwas gern macht, Geiselnahmen, Sklavenhaltung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrscht in diesen Gebieten keine derartige Gefahr. Aber sollte etwas passieren, dann wird was unternommen – wir brauchen die Fachleute ja selbst, warum sollten wir sie jemandem anders überlassen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass Journalisten, von denen es dort weitaus mehr gibt, in so eine Lage geraten.

    Welche Motivation hat Ihre Klientel?

    Viele fahren aus patriotischen Beweggründen – sie waren im Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieg, haben sich an den Antiterrormaßnahmen im Nordkaukasus beteiligt. Diese Menschen kennen das bärtige Gesicht des Feindes, und viele sind revanchistisch gestimmt, schließlich haben sie mit schon einmal mit solchen Rebellen gekämpft, vom gleichen Typ.

    Was sind das für Rebellen?

    In dem Fall eher Usbeken und Tadshiken, auch Tschetschenen. Solche, die in den 1990er Jahren [aus den russischen Teilrepubliken – dek] ausgereist sind, sich in Westeuropa niedergelassen haben und dann in der Ukraine im Bataillon Scheich Mansur und im Bataillon Dschochar Dudajew [auf ukrainischer Seite gegen die Russen – dek] gekämpft haben.

    Wir haben einen tollen Jungen bei uns, der hat von Ende Mai 2014 bis zum August im Gebiet um den Flughafen von Donezk gekämpft. Er ging nach Syrien mit den Worten: „Ich war noch nie da, aber eine aufregendere Last-Minute-Tour hätte ich nicht finden können!“ Die Leute sympathisieren schon rund fünf Jahre mit Assad – nicht mit seinen Ideen, nicht mit der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung), sondern weil dieser Mann der westlichen Aggression, den radikal eingestellten Bartträgern und sonstigem Unsinn Widerstand leistet. Und nun gibt es die Möglichkeit, dorthin zu gehen, und die Leute denken sich: „Vier Jahre lang habe ich Posts geteilt, ihn geliked, da muss ich ihm doch jetzt helfen.“

    Das Auftauchen des großen und schrecklichen IS hat eine Rolle gespielt, aber eine kleinere als für den durchschnittlichen Zuschauer. Die meisten von uns haben den Konflikt lange beobachtet und wissen, dass beim Thema IS viel Mythos ist, der unbesiegbare Staat, die haben ja selbst ein solches Medienbild geschaffen, alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Der IS kontrolliert einen riesigen Medienraum, und den füllen sie mit einzigartigen Inhalten.

    Das Projekt nennt sich dobrovolec.org [Freiwilliger.org], arbeiten die Menschen im Fall von Syrien tatsächlich nur aufgrund ihrer Motivation oder bekommen sie ein Honorar?

    Das kann ich nicht sagen. Wir zahlen niemandem etwas, schauen aber später auch niemandem in die Tasche. Allerdings ist es ein wichtiges Kriterium – wenn jemand in seinen ersten Briefen schreibt, dass er einen bestimmten Lohn in bestimmter Frist braucht, dann lehnen wir ihn ab. Solche Anfragen gab es ziemlich häufig, aber im Wesentlichen sind das so Freundchen, die uns überhaupt nicht interessieren.

    Das sind zwanzigjährige Jungs, die sich für coole Kämpfer halten, die sehen aus wie Agenten oder Supersöldner aus einem Hollywoodfilm. Aber sie haben keine ernstzunehmenden Erfahrungen, keine Ausbildung – das sieht man in den ersten Zeilen ihrer Briefe. Es gibt viele Abenteurer, die sich nicht nur auf europäischem Territorium aktiv dabeisein wollen, sondern auch an exotischen Orten. Aber wir können ihnen keine wilden Partys bieten – die Arbeit hier ist einigermaßen ernst und in gewisser Weise eine sitzende Tätigkeit.

    Treten Leute aus Ihrer Organisation als Ausbilder auf?

    Naja, Ausbilder für irgendeine Spezialeinheit auf nicht-militärischer Ebene können sie schon sein. In Syrien waren unsere Berater in den letzten fünfzig Jahren gelegentlich, aber konkret habe ich nie gehört, dass unsere Leute unmittelbar die Armee ausgebildet hätten.

    Wie viele Menschen, die von Ihnen kommen, befinden sich insgesamt in Syrien?

    Das kann ich nicht sagen.

    Mehr als hundert oder weniger?

    Mehr als hundert, aber nicht sehr viel mehr. Worin der Unterschied zur Rekrutierung nach Noworossija liegt? Dort zählten sowohl Quantität als auch Qualität. Wir mussten damals die goldene Mitte finden, hier haben wir ein solches Problem nicht – Massen sind hier nicht gefragt. Es werden nur Profis ausgewählt, die wirklich gebraucht werden. Deswegen schicken wir nicht mal welche in Reserve, sondern nur so viele, wie wirklich gebraucht werden.

    Wurden viele von denen abgelehnt, die sich beworben haben?

    Von 40 Personen lehnen wir 39 ab. Man muss das Auswahlprinzip verstehen – es ist nicht das Ziel, so viele wie möglich zu finden, es gibt genügend, die kämpfen wollen. Unsere Leute sind nicht nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt, kurz, sie rennen nicht mit Maschinengewehren herum. Unsere Aufgabe ist, grob gesagt, mit Grips zu helfen und nicht mit Händen. Dort fehlen Militärexperten, echte Profis.

    Das an Militärakademien ausgebildete Offizierskorps der syrischen Armee kann es mit unseren jungen Offizieren nicht aufnehmen – das ist ein völlig anderes Niveau. Es fehlt dort an Personal für Hochtechnologie-Anlagen, die mit der Technik umgehen können, an Analytikern. Wenn man kein Profi ist, kann man zum Beispiel viel weniger aus Aufklärungsdaten herauslesen – da fehlt es einfach an der Ausbildung.

    Verstehe ich es richtig, dass alle, die dorthin gehen, Offiziere sind?

    Bei weitem nicht jeder, der dorthin geht, ist Offizier. Natürlich geben wir den Absolventen von Militärakademien den Vorzug, aber es gibt auch solche, die keine militärische Hochschulbildung haben, aber eine Hochschulbildung haben natürlich alle. Oft kann man das durch vielfältige militärische Erfahrungen kompensieren. Manche haben Kampferfahrung aus Noworossija – von denen kommen sehr viele Bewerbungen. Von denjenigen, die wir jetzt nach Syrien schicken, waren 30 bis 40 Prozent in Noworossija. Jetzt sind sie in Syrien, weil dort die Lage eben allgemein unklar ist.

    Und warum sind es so wenige? Reicht die Qualifikation nicht?

    Zum einen ja. Das sind schließlich völlig unterschiedliche Kriege. Können Sie sich vorstellen, welche militärischen Aktionen in Noworossija durchgeführt wurden und wie sehr sie sich von denen im Nahen Osten unterscheiden? Außerdem hat der IS Raketenwerfer, Panzer, Haubitzen – die sind alle genauso veraltet wie die der syrischen Armee, aber klar, in der letzten Zeit wird da erneuert. Aber auch hier gibt es Mangel – es fehlt nach den Luftangriffen an Profis. Die Europäer, die auf Vertragsbasis im Islamischen Staat gearbeitet haben, sind jetzt wieder zu Hause, weil die Summen, die sie bekommen, es nicht wert sind, sich umbringen zu lassen.

    Gibt es vor dem Hintergrund der Waffenruhe immer noch die gleiche Zahl von Freiwilligen, die in die Gegend westlich von Rostow wollen?

    Sie ist geringer geworden im Vergleich mit den Kämpfen von Debalzewo im Januar und Februar, aber der Zustrom ist recht groß, auch wenn das Interesse zurückgegangen ist. Jetzt lehnen wir die Leute oft selbst ab – wenn jemand nur einfacher Schütze ist, hat er da nichts verloren. Dann kann er da höchstens Wache schieben, aber wen interessiert das schon? Dann sagen wir ihm das auch so – du wirst doch höchstens auf der Wache sitzen.

    Wir stehen in Kontakt mit denen, die schon wieder zurück sind, und bei einer Wiederaufnahme irgendwelcher militärischen Handlungen werden sie schnell mobilisiert. Das geht dann alles viel schneller – wir können nach kürzester Zeit alle Positionen besetzen. Etwas anderes sind Ausbilder, die einen intellektuellen Beitrag leisten wollen, die sind bei uns immer willkommen. Aber wenn jetzt jemand dorthin fährt, um zu kämpfen, und in seinem Bereich gibt es keine Einsätze, was soll er dann machen? Warum soll man zur Arbeit gehen, zum Beispiel in ein Büro oder sagen wir in einen Schützengraben, wenn es nichts zu tun gibt?

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  • Blindlings strategisch

    Blindlings strategisch

    Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.

    In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).

    Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?

    Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.

    Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.

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  • „Beide Seiten konstruieren in Syrien ihre Realität“

    „Beide Seiten konstruieren in Syrien ihre Realität“

    Kontrovers diskutiert im russischen Internet wird derzeit dieses Interview mit Alexander Baunow zum Thema Syrien. Baunow schreibt als Journalist in verschiedenen unabhängigen Medien vor allem über außenpolitische Themen, zuvor war er mehrere Jahre im diplomatischen Dienst der Russischen Föderation tätig. Seit 2015 ist er zudem senior associate des Carnegie Center Moskau, eines international aufgestellten Thinktanks. Die Fragen an Alexander Baunow stellte für Colta.ru Arnold Chatschaturow.

    Das Interview hat vor allem in regierungskritischen Kreisen skeptische Reaktionen hervorgerufen, da Baunow aus einer relativ regierungsnahen Perspektive argumentiert. Insbesondere wurde eine Tendenz zur Verharmlosung der Repressionen und Menschenrechtsverletzungen durch das Regime Assad schon in der Zeit vor dem Bürgerkrieg beklagt sowie ein ungenügendes Hinterfragen der tatsächlichen Ziele der russischen Luftschläge. Andererseits hat das Material Beifall erhalten dafür, dass es nicht der Versuchung erliegt, jegliches außenpolitische Handeln des Kreml reflexhaft zu verurteilen: Baunow sieht in Russlands Syrien-Einsatz einen durchaus sinnvollen Versuch, nach der Ukraine-Krise wieder einen Dialog mit dem Westen anzubahnen – der seinerseits zunächst abwartend beobachte, ob man Russland diesmal vertrauen könne.

        Keine zwei Tage nach Wladimir Putins Rede vor der UN-Generalversammlung [am 28. September – dek] hat Russland die ersten Luftschläge in Syrien ausgeführt. Die Frage ist allerdings, gegen wen?

        Die russische wie die syrische Führung versichern, dass die Luftschläge sich gegen den Islamischen Staat richten. Die syrische Opposition erklärt, sie selbst und die Zivilbevölkerung seien das Ziel der Angriffe. Allerdings ist für die Opposition ein Szenario, in dem Russland Assad hilft, in jedem Fall ein Alptraum: Selbst wenn die Intervention sich tatsächlich nur gegen den IS richtet und die Opposition in keiner Weise tangiert, stärkt das indirekt Assad, weil es ihn an einer der Fronten entlastet, und nimmt der Opposition die Chance auf einen klaren Sieg. Deshalb ist sie daran interessiert, die Sache von Anfang an so darzustellen, als würde Russland sie bekämpfen. Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen. Wären die Informationen über diese Luftschläge von OSZE-Beobachtern gekommen – die es in Syrien natürlich nicht gibt –, oder auch, sagen wir, von Frankreich, dann könnte man ihnen viel eher vertrauen.

        Der zweite Punkt ist, dass der IS kein Staat mit festen Grenzen ist, sondern eine Organisation, die sich selbst zum Kalifat erklärt hat. Auf den Karten, die wir in den Medien sehen, sind die Gebiete, die Russland am Mittwoch bombardiert hat, nicht in den IS-Farben dargestellt. Die Lage vor Ort ist viel komplizierter, und eine einzelne Einheit von Kämpfern in irgendeinem Dorf ist in diesen Karten nicht zwangsläufig erfasst. Um das zu wissen, braucht man kein Syrien-Spezialist zu sein, es genügt, sich an den russischen Bürgerkrieg zu erinnern: Auch damals gab es bis auf wenige Ausnahmen keine geschlossenen Territorien.

        Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen.

        Die dritte Frage ist, wen außer dem IS es in Syrien noch gibt und ob alle übrigen Kräfte tatsächlich der vielzitierten demokratischen Opposition angehören, die in Wirklichkeit weniger eine demokratische als eine sunnitische Opposition ist. Die New York Times zum Beispiel schreibt, die russischen Luftschläge hätten Stellungen der Al-Nusra-Front zum Ziel gehabt. Aber diese Al-Nusra-Front ist ein Ableger von Al Qaida, und sie hat schon zu einer Zeit, als der IS noch nicht in Syrien agierte, in der christlichen Stadt Maalula im Südwesten des Landes – einem einzigartigen Ort, wo bis heute Aramäisch gesprochen wird – ein Massaker angerichtet. So eine Gräueltat steht denen des IS in nichts nach. Sollten Stellungen der Al-Nusra von den Luftschlägen getroffen worden sein, muss man also sagen, das haben sie verdient.

        Warum hat man für die Luftschläge keine eindeutig zuzuordnenden Gebiete gewählt?

        Hätte man sich vor allem aus Imagegründen oder zu diplomatischen Zwecken zu bombardieren entschlossen, dann hätte man sich andere Ziele suchen müssen, in einem homogeneren Teil der Karte. Es gibt dort ja Wüsten, Oasen, Flusstäler, und die detaillierten Karten zeigen ein wesentlich komplexeres Bild. Ich denke, bei der tatsächlichen Auswahl der Ziele haben drei Überlegungen den Ausschlag gegeben. Zum einen bombardieren die amerikanischen Bündnispartner den IS schon seit einem Jahr, sie haben schon tausende Einsätze geflogen, insofern wäre es gar nicht so einfach, hier noch ein eigenes Ziel zu finden. Zweitens war natürlich klar, dass die sonderbare Warnung an die Amerikaner, sie sollten ihre Flüge einstellen, keine Wirkung haben würde, so dass die russische Luftwaffe womöglich gleichzeitig mit der amerikanischen, britischen oder türkischen über IS-Gebiet geflogen wäre. Und da Russland sein Vorgehen auf taktischer Ebene bisher nicht abgestimmt hat (auch wenn sich das bald ändern dürfte), wäre das nicht ungefährlich gewesen.

        Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte?

        Drittens schließlich gab es eine Gruppe von Zielen, die die westliche Koalition grundsätzlich nicht angegriffen hat. Das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet beschränkt sich ja zum einen auf Damaskus und Umgebung, zum anderen auf die Küste mit den Ausläufern des Libanon-Gebirges, von Tartus über Latakia in Richtung des türkischen Antakya. Die wichtigste Straße dazwischen führt durch sunnitisches Gebiet, an ihr liegen die Städte Homs und Hama, und zwischen diesen Städten wiederum lagen die Ziele der gestrigen Luftschläge. Wir reden hier also von der einzigen Straße, die die beiden von der Regierung kontrollierten Landesteile verbindet. Wenn diese Verbindung abgeschnitten wird, zerfällt das Gebiet in zwei Teile. Das würde Assad schwächen, er wäre viel leichter zu besiegen. Die Ziele, die die syrische Armee Russland gegenüber benannt hat, sind folglich lebenswichtige Punkte.

        Über die syrische Opposition herrscht viel Unklarheit. Gibt es überhaupt neutrale Gruppen in ihren Reihen, oder ist sie durchweg islamistisch?

        Was und wer die syrische Opposition ist, das ist ein Thema für sich. Die Revolution im Iran wurde von Kommunisten, liberalen Demokraten, antiwestlicher Intelligenzia, Studenten und Islamisten gemeinsam gemacht. Die stärkste Gruppe waren am Ende die Islamisten. Ähnlich verhält es sich auch in Syrien: Der Teil der Bevölkerung, der Assad sein Vertrauen entzogen hat, setzt sich aus ganz verschiedenen Gruppen zusammen, aber die stärkste Kraft unter ihnen sind die Islamisten. Und auch diese Gruppe ist in sich wieder sehr heterogen – das Spektrum reicht von relativ gemäßigten Organisationen wie der Muslimbruderschaft bis zur Al-Nusra-Front, die schon ganze Städte abgeschlachtet hat. Natürlich sind die gebildeten Männer in westlichen Anzügen, die vor die Fernsehkameras treten und die Losungen der Opposition proklamieren, nur die mediale Seite des Widerstands – vor Ort laufen Männer in ganz anderen Anzügen und mit Maschinenpistolen herum. Andererseits sind ja auch die Vertreter der Assad-Regierung europäisch gekleidete, weltliche Männer und Frauen ohne Kopftuch – vergessen wir nicht, dass Syrien schon seit einem halben Jahrhundert eine säkulare Diktatur ist.

        Die gesamte westliche Welt wendet sich heute gegen die syrische Staatsführung. Welche politischen Perspektiven hat Assad Ihrer Meinung nach, genießt er im Volk noch Vertrauen?

        Ich bin selbst weniger als ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien gewesen, und ich kann sagen, dass die Entwicklung damals nicht vorherzusehen war. Von einer maroden Diktatur, die kurz vor dem Fall steht, von einem beim Volk verhassten Schreckensregime war nichts zu spüren, diese Stimmung gab es nicht. Es gab sie in Libyen, und es gibt sie heute im Iran, aber in Syrien gab es einen damals noch jungen Diktator (er ist auch heute noch ziemlich jung), an den sich Hoffnungen knüpften – und er hat ja auch wirklich eine gewisse Liberalisierung in Angriff genommen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Er hatte in London gelebt, dort studiert und als Arzt gearbeitet. Er war kein Isolationist, im Gegenteil: Die Regierungszeit des jüngeren Assad verbindet man mit einem vorsichtigen Umbau des arabischen Sozialismus zu einer zunehmend weltoffenen Marktwirtschaft. Damaskus Anfang der 2000er und Anfang der 2010er Jahre, das waren zwei völlig verschiedene Städte, und auch das Land insgesamt hatte sich verändert. Auf einmal gab es private Initiativen, es gab westliche Hotels, Restaurants, Handel – noch kein Starbucks Café, aber weit weg war auch das nicht mehr.

        Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß.

        Das Wesen eines Regimes ist ja nicht das einzige, was zählt, man muss auch sehen, in welche Richtung es sich entwickelt. Das syrische Regime war vor dem arabischen Frühling dabei, sich zu liberalisieren, und eben deshalb hat es sich als so stabil erwiesen. Ben Ali war innerhalb von zwei Wochen weg vom Fenster, bei Mubarak dauerte es gerade einmal sechs Wochen, Gaddafi konnte sich vier Monate halten, und das auch nur, weil er die Hauptstadt verließ und sich ins Gebiet seines Clans zurückzog. In Syrien geht der Bürgerkrieg in sein fünftes Jahr. Ein blutiger Tyrann, der in einem Bürgerkrieg fünf Jahre lang die Hauptstadt kontrolliert, wird offensichtlich nicht nur von seinem eigenen Geheimdienst unterstützt, sondern auch noch von anderen Kräften. Hinter ihm stehen zumindest die 30 Prozent der Bevölkerung, die religiösen Minderheiten angehören: Sie sehen durch Assads Herrschaft ihr Überleben gesichert. Dazu kommt ein Teil der Sunniten, die ja auch nicht alle unter der Scharia leben wollen. Die Entscheidung zwischen der Scharia und einer säkularen Diktatur fällt nicht zwangsläufig zugunsten der ersteren aus. Es gab schließlich auch Afghanen, die die sowjetische Herrschaft der der Taliban vorzogen. Mich wundert das überhaupt nicht. Umfragen zufolge (wie genau deren Ergebnisse in Syrien derzeit sein können, ist natürlich schwer zu sagen) unterstützt etwa ein Viertel der syrischen Bevölkerung den IS.

        Warum hat sich die westliche Koalition dann so auf Assad eingeschossen?

        Das ist sehr die Frage. Ich vermute, die Vorgeschichte war in etwa die: Als erstes wurde Ben Ali abgesetzt – ein säkularer Diktator und prowestlicher Politiker, dann Mubarak, ebenfalls ein Partner des Westens, dann Gaddafi, der dem Westen verhasst war, aber gerade in seinen letzten Jahren angefangen hatte, die Beziehungen zum Westen zu normalisieren und westliche Ölfirmen ins Land zu lassen. Damals hatte man das Gefühl, auch Assad würde nicht mehr lang im Amt bleiben. Warum sollte man ihn also nicht stürzen? Syrien hatte ja fünfzig Jahre lang zum antiwestlichen Lager gehört, es war eher mit der Sowjetunion und dem Iran verbündet, der dem Westen gleichfalls eher unangenehm war. Aber die Wette auf den friedlichen Wandel ging nicht auf. Und im nächsten Schritt setzte die Dynamik der Verstrickung ein: Nachdem es nicht gelungen war, Assad mit Hilfe friedlicher Demonstrationen zu stürzen, nachdem Assad diese Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen begonnen hatten, musste man eben auf anderen Wegen helfen. Wenn man ständig in eine Partei eines Konflikts investiert, diese Seite aber nicht siegt, kann man ab irgendeinem Punkt, wenn die Investition zu groß geworden ist, trotzdem praktisch nicht mehr zurück. Natürlich ist Assad in den Jahren des Bürgerkriegs wirklich ein blutiger Tyrann geworden, seine Armee hat viele Menschen getötet. Andererseits haben die, die gegen ihn kämpften, ungefähr genauso viele Menschen getötet – oder zumindest so viele, wie sie konnten. Aber was die Zeit vor dem Bürgerkrieg angeht, können Sie die komplette westliche Presse durchforsten: Zwischen 2004 und 2011, grob gesagt, werden Sie nicht einen Hinweis auf Assad als Geschwür am Leib der Menschheit finden, selbst in den kritischsten Menschenrechtsberichten nicht. Assad wird dort in etwa derselben Weise kritisiert wie die Diktatoren der Nachbarländer auch.

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab.

        Die Welt besteht ungefähr zur Hälfte aus illiberalen Regimen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber verschiedene Entwicklungstendenzen, die man beobachten muss. Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte? In Syrien geht es ja nicht nur um einen Regimewechsel. Der Preis dafür sind 250.000 Menschenleben und 4 Millionen Flüchtlinge. Ob die Sache diesen Preis wert ist, ist sehr die Frage – zumal die Lage vorher nicht so schrecklich war. Es gab die regional üblichen Repressionen. Ich verstehe, dass man bei dem Wort „Repressionen“ gerechten Zorn empfindet, aber im Grunde sah es in jedem anderen unfreien Land ganz genauso aus. Zu Beginn des arabischen Frühlings war Syrien ein wesentlich angenehmerer Ort als Saudi-Arabien oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar, vom Jemen ganz zu schweigen. Die ganze Region wird autoritär regiert; mit Ausnahme von Israel, dem Libanon und der Türkei, die fast schon zu Europa gehört, gibt es dort keine Demokratien.

        Wer trägt die Hauptschuld an dem, was heute in Syrien geschieht?

        Der Westen sagt: Assad hätte gleich abtreten müssen, dann wäre es nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Ben Ali und Mubarak sind gegangen, und es gab keinen Bürgerkrieg. Nur, warum sind sie gegangen? Nicht aus freien Stücken, sondern weil der Machtapparat und die Bevölkerung ihrer Hauptstädte nicht mehr hinter ihnen standen. In Damaskus gab es keine großen Demonstrationen, alles fing in kleineren Provinzstädten in der sunnitischen Zone an. Es war nicht so, dass die örtlichen Liberalen und Demokraten auf die Straßen der Hauptstadt gegangen wären und den Rücktritt des Diktators gefordert hätten. Wenn Sunniten in einem überwiegend sunnitischen Gebiet gegen die gottlose Hauptstadt demonstrieren, dann kann man diesen Vorgang nicht guten Gewissens als Demokratiebewegung beschreiben. Insofern unterschied sich der Fall Syrien schon vom Beginn des arabischen Frühlings an stark von den anderen Fällen – eine kritische Masse von Demonstranten in der Hauptstadt gab es dort nicht. Und dann, wer hat überhaupt eine Vorstellung von den Namen und Gesichtern, die die syrische Demokratiebewegung ausmachen? Der Krieg dauert schon über vier Jahre, aber diese Leute sind im Grunde nicht vorhanden, oder nur sehr schemenhaft. Es gibt Sprecher, es gibt eine Leitung, aber Führer der Demokratiebewegung, bekannte Gesichter, Identifikationsfiguren, gibt es nicht. Wir haben also auf der einen Seite eine säkulare Diktatur, und auf der anderen etwas ziemlich Undefinierbares.

        Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann.

        Wäre es auch zu einem Bürgerkrieg gekommen, wenn Assad zurückgetreten wäre? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Für einen Zerfall des Staates gab es in Syrien, wie auch in Libyen, durchaus eine Menge Voraussetzungen. Es gibt dort eine kurdische Zone, eine schiitische, eine alawitische und eine sunnitische. Die Leute hätten sich auch ohne Assad einfach gegenseitig abschlachten können, so wie man es im benachbarten Libanon zwanzig Jahre lang getan hat. Dafür braucht man keinen Diktator.

        Die offizielle Position Russlands im Syrienkonflikt ist also ganz angemessen?

        Wenn wir Syrien mit der Ukraine vergleichen, dann ist Russlands Position im ersten Fall wesentlich angemessener. Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß. Der furchtbare, bei allen verhasste Assad ist ungefähr genauso eine Konstruktion wie eine Opposition, die ausschließlich aus Al-Qaida-Anhängern besteht. Aus dem, was man von russischen Regierungssprechern und Diplomaten hört, spricht nicht weniger vernünftige Einschätzung der Situation als aus den Reden von John Kerry.

        Mit der Intervention in Syrien hat Russland sich aus einem Land, das Krieg gegen die Ukraine führt, in eines verwandelt, das die Islamisten bekriegt – ein wesentlich ehrenhafterer Status. Ein Ende des Krieges in der Ukraine würde an den Sanktionen natürlich nichts ändern und an der Rhetorik ebensowenig, aber bis dahin wird das alles schon Schnee von gestern sein. Man wird Russland nicht daran hindern, den IS zu bekämpfen, man wird nur verlangen, dass es die von der Opposition kontrollierten Gebiete nicht anfasst. Idealerweise werden auch die USA ihren Juniorpartnern das Signal geben, Assad in Ruhe zu lassen und sich auf den IS zu konzentrieren. Das Problem der Staatsführung muss man später lösen: Assad jetzt zu stürzen, wo der IS in den Vororten von Damaskus steht, wäre reiner Wahnsinn und völlig unverantwortlich, es würde nur zu noch mehr Blutvergießen führen. Dass man allerdings nach dem Ende des Konflikts nicht zum Vorkriegszustand zurückkehren kann, dem stimme ich absolut zu. Nach einem Bürgerkrieg kann nicht eine der Konfliktparteien friedlich regieren. Verantwortliches Handeln bestünde in meinen Augen jetzt darin, die Opposition und die Regierung daran zu hindern, sich gegenseitig auszuradieren. Beide Koalitionen – der Westen, die Opposition und die Kurden auf der einen Seite, und Assad, Russland und der Iran auf der anderen – müssen den IS zerschlagen und sich dann auf eine Übergangsregierung einigen, die verschiedene Kräfte einschließt. Und wahrscheinlich auch auf einen Rücktritt Assads, der das Land immerhin auch schon 15 Jahre regiert – lang genug. Aber bevor man die Haut der Hydra aufteilt, muss man sie erst einmal erlegen – und davon sind wir weit entfernt.

        Welche Ziele verfolgt Russlands Führung in Syrien, und wie wird ihr Vorgehen im Inland wahrgenommen?

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab. Eine Ausnahme sind allenfalls die Patrioten unter den Politologen, die am liebsten ständig die Seekriegsflotte irgendwohin entsenden würden, weil wir schließlich eine Großmacht sind. In der Bevölkerung allgemein ist die Unterstützung dagegen ziemlich gering. Den Amerikanern zeigen, wo der Hammer hängt – ja, aber unsere Jungs nach Syrien schicken – damit erreicht man keine 86 Prozent Zustimmung. Wir haben es hier also nicht mit einem Versuch zu tun, die Umfragewerte [des Präsidenten – dek] zu verbessern und das Land zusammenzuschweißen. Das Ziel ist vielmehr ein diplomatisches: Es geht darum, die Isolation zu überwinden, in die Russland nach der Krim, dem Donbass und der Boeing geraten ist. Man versucht, ein neues Kapitel anzufangen, und wie wir sehen, durchaus mit Erfolg. Dahinter steht der Wunsch, sich mit dem Westen zu versöhnen, aber nicht, indem man auf Knien angekrochen kommt, sondern indem man seinen Einfluss und seine Unentbehrlichkeit demonstriert. Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann. Haben die Russen sich wieder einmal wie Leute verhalten, die nicht nach den Regeln spielen – oder wie eine eigenständige Macht, die sich dem amerikanischen Führungsanspruch zwar entzieht, mit der man aber trotzdem etwas zu tun haben kann? Wenn es keinerlei Chance einer Verständigung gäbe, dann hätten sich wohl weder Putin und Obama noch Lawrow und Kerry getroffen.

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        Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

        Die USA konnten bei der Bekämpfung des IS zwar Teilerfolge verbuchen, jedoch keine Lösung des Konflikts herbeiführen. Russland seinerseits bereitet mit ungewöhnlicher Offenheit Militäraktionen in Syrien vor und führt sie inzwischen auch durch. Das deutet auf Strategien hin, die über den lokalen Konflikt hinausreichen. Pawel Felgengauer, ein auf Außenpolitik und Streitkräfte spezialisierter Analytiker der Novaya Gazeta, stellt die Frage: Was steht hinter dem sogenannten Putin-Plan? Hofft der Kreml, auf den Trümmern Syriens und auf dem Rücken derer, die vor dem Chaos fliehen, eine Neudefinition der Einflusssphären durchzusetzen, ähnlich den Ergebnissen der Konferenz von Jalta?

        Der Aufbau eines russischen Truppenkontingents in Syrien ist die erstaunlichste militärische Geheimoperation dieser Art der letzten 60 Jahre. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren Russland bzw. die UdSSR zwischen 1945 und 2000 an 46 lokalen Konflikten verschiedener Art beteiligt, was mit wenigen Ausnahmen in aller Stille, ohne jede Verlautbarung abgewickelt wurde. Nach Syrien wurden jetzt den gewagtesten Schätzungen zufolge ein paar hundert Marine-Infanteristen, Vertragssoldaten und Experten, einiges neues Militärgerät und vielleicht an die zehn Flugzeuge und Hubschrauber entsendet, und diesmal hat man allerhand Informationen durchsickern lassen bzw. in die ganze Welt herausposaunt, als würden dort schon kampfbereite Divisionen stehen.

        Ganz anders im Februar und März 2014, als mehrere zehntausend Mann und mehrere hundert Stück Militärgerät auf die Krim gebracht wurden, und es kein ununterbrochenes Durchsickern und keine Enthüllungen gab; die Leute rätselten herum, was das dort für Männchen seien, während Wladimir Putin bestritt, dass es sich um die eigene Armee handelte. Offizielle Personen in Russland leugnen für gewöhnlich jegliche Beteiligung an irgendwelchen regionalen Kriegen und wiederholen mit versteinerten Mienen die Geschichte von den mehreren tausend Fahrzeugen oder anderem Militärgerät und den Hunderten von Waggons voller Munition, die von den Volksmilizen als Trophäen erbeutet worden seien.

        Heute erklären eben jene offiziellen Personen in Bezug auf Syrien ausweichend: Es soll dort wohl tatsächlich Soldaten, Experten und Militärberater geben, aber „bislang“ sind sie nicht im Einsatz, und die Waffen und die Munition – die schicken wir aufgrund früherer Verträge, was wir auch weiterhin tun werden. Zum russischen Luftwaffenstützpunkt in Latakia erklärt man im Generalstab: „Momentan existiert ein solcher nicht, aber in Zukunft ist alles möglich“, und falls die Syrer uns darum bitten, können wir ihnen Truppen schicken.

        Moskau versucht also, mit allen Mitteln den Anschein zu erwecken, es bereite in Syrien einen konzentrierten offensiven Truppeneinsatz vor, der dem für das Regime von Präsident Baschar al-Assad und seine schiitischen Verbündeten unglücklichen Verlauf des Bürgerkriegs eine entscheidende Wende geben soll. Es ist gut möglich, dass einige der zahlreichen Informationslecks, durch die die Nachrichten über die russische Militärpräsenz in Syrien gesickert sind, eigens organisiert oder gesponsert wurden – als Teil des informationellen Versorgungsprogramms eines dreisten strategischen Manövers, das den langjährigen syrischen Verbündeten retten und zugleich im Hinblick auf den Westen das allgemeine Konfrontationsniveau senken soll.

        Konturen einer Koalition

        Seit Juni ist Moskau dabei, für den sogenannten Putin-Plan für den Nahen Osten zu werben: die Bildung einer breiten Koalition zum Kampf gegen den in Russland verbotenen Islamischen Staat (IS). Diese Koalition soll laut Putin die bewaffneten Streitkräfte der Assad-Regierung und die irakische Armee einbeziehen, außerdem „alle, die bereit sind, einen wirklichen Beitrag zum Kampf gegen den Terror zu leisten oder dies bereits tun“, also kurdische Milizen, Kämpfer der radikal-schiitischen libanesischen Hisbollah, die schon seit mehreren Jahren an Assads Seite kämpft, sowie in Syrien und im Irak agierende Gruppierungen der iranischen Wächter der islamischen Revolution.

        Im August versuchte Sergej Lawrow bei einem Gespräch mit dem US-Außenminister John Kerry und seinen arabischen Kollegen in Doha (Katar) für den Plan einer Anti-IS-Koalition zu werben, doch ohne Erfolg. Die sunnitischen Regime einschließlich Saudi-Arabiens und der Türkei wollen keinerlei Beziehungen mit Assad aufnehmen, den sie des Massenmordes an der sunnitischen Bevölkerung in Syrien beschuldigen. Putins Plan drohte zu versanden, und die Rede vor der UN-Vollversammlung am 28. September, auf der eine breite Koalition gegen den IS Hauptthema werden sollte, hätte unbemerkt bleiben können und die amerikanischen Behörden hätten den Besuch ignorieren können – u. U.auch  durch die Ausstellung eines beschränkten Sondervisums wie bei Valentina Matwijenko, zumal der offiziellen Delegation auch Alexej Puschkow angehört, gegen den die USA individuelle Sanktionen verhängt haben.

        Inzwischen hat sich die Situation entscheidend verändert. Die Nachrichten über einen möglichen Ausbau der russischen Militärpräsenz in Syrien haben heftige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der US-amerikanischen Regierung ausgelöst, und bislang setzt sich der Standpunkt von Außenminister Kerry durch, den auch Obama unterstützt: Mit den Russen ist dringend Verständigung zu suchen. Nun wird der Putin-Besuch in New York tatsächlich alles andere als eine Routinevisite.

        Amerika in der Sackgasse

        Die US-amerikanische Strategie im Kampf gegen den IS gründet sich seit mehr als einem Jahr auf Luftangriffe der koalierten westlichen und arabischen Luftstreitkräfte, die den zerstreuten Bodentruppen diverser politischer, ethnischer und religiöser Färbung helfen sollen, den Gegner zu stoppen und zu zerschlagen. Die syrischen, irakischen und iranischen Luftstreitkräfte bombardieren den IS zusätzlich, unabhängig von der amerikanischen Koalition. Dem IS mit vereinten Kräften Einhalt zu gebieten ist im Großen und Ganzen geglückt.

        Die intensive Rund-um-die-Uhr-Beobachtung, Luft- und kosmische, optische und Radaraufklärung sowie die ständigen gezielten Angriffe bringen dem IS Verluste bei, die auch die höchste Führung der Terrorgruppe betreffen. War das Kriegführen in den Wüsten des Nahen Ostens bei Luftüberlegenheit des Gegners schon früher, zu Zeiten Erwin Rommels oder Moshe Dajans, nicht einfach, so ist es heute, wo die Angriffe hochpräzise geworden sind, extrem schwierig. Der IS bekommt längst keine bedeutenden Angriffstruppen mehr zusammen, ist nicht mehr in der Lage, Feuermittel zu massieren. Es besteht keine reale Gefahr, dass der IS „bis nach Mekka, Medina oder Jerusalem“ vorrückt, wovon Putin kürzlich in Duschanbe sprach. Die IS-Milizen verteidigen erbittert die bereits eingenommenen Städte, aber ein Angriff hat nur dann Erfolg, wenn die irakischen oder die Assadschen Truppen aus irgendeinem Grund das Weite suchen.

        In den vom IS eroberten Gebieten im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks wird die Terrorgruppe von den dort lebenden arabischen Sunniten unterstützt, zumindest wollen diese nicht von kurdischen Truppen befreit werden und ebenso wenig von iranischen, libanesischen, irakischen oder syrischen Schiiten oder Alawiten. Die kurdischen Einheiten (Peschmerga) halten eine enge operativ-taktische Verbindung zu den amerikanischen bzw. alliierten Luftstreitkräften und haben es geschafft, den IS in Nordsyrien und im Nordirak entscheidend zurückzudrängen, doch vor Gegenden mit überwiegend arabisch-sunnitischer Bevölkerung machten sie Halt. Mit den irakischen schiitischen Volksmilizen kooperieren die amerikanischen Luftstreitkräfte unmittelbar auf dem Gefechtsfeld zwar nicht, da die Iraner mit ihnen zusammen kämpfen, doch im Großen und Ganzen koordinieren sie die Aktionen. Die irakischen Schiiten haben den IS aus Bagdad abgedrängt, doch in die sunnitischen Gebiete des Iraks eindringen konnten sie nicht. Mit den syrischen Regierungstruppen kooperieren die US-Luftstreitkräfte in Syrien überhaupt nicht. Assads Truppen und seine Verbündeten haben sich in den letzten Monaten zurückgezogen und Niederlagen eingesteckt.

        Die US-amerikanische Politik in der Region befindet sich offenkundig in einer Sackgasse, Obama wirft man zu Hause Unentschlossenheit und strategische Unüberlegtheit vor. In dieser Situation war das dreiste Vorgehen der russischen Führung taktisch erfolgreich: Kerry rief mehrfach bei Lawrow an, um herauszufinden, welche Absichten die Russen in Syrien verfolgen, dann telefonierte Pentagon-Chef Ashton Carter beinahe eine Stunde lang mit Sergej Schoigu. Die persönliche Unterredung mit Schoigu war die erste seit seinem Amtsantritt [im Februar – dek] und nach der Ukrainekrise und der allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen der erste Kontakt überhaupt zwischen den Verteidigungsministern der beiden Länder seit mehr als einem Jahr. Carter und Schoigu vereinbarten, die Gespräche fortzusetzen, um eventuelle künftige Schläge gegen den IS von russischer und amerikanischer Seite abzustimmen und etwaigen amerikanisch-russischen Streitigkeiten vorzubeugen, die sich aus den russischen Waffenlieferungen samt der Entsendung von Experten und Militärberatern ergeben könnten. Aus dem Verteidigungsministerium verlautete, beide Seiten seien „in den meisten erörterten Fragen der gleichen oder ähnlicher Meinung“.

        Kerry erklärte in London, Amerika sei froh, wenn Russland sich dem Kampf gegen den IS anschließe, Assad müsse gehen, aber über den konkreten Zeitpunkt und die Bedingungen bzw. die „Modalitäten“ seines Abgangs könne man sich verständigen. Obama bestehe, so Kerry, auf einer politischen Lösung des Syrienproblems, und es wäre großartig, wenn das Assad-Regime Verhandlungen aufnehmen würde und wenn Russland oder der Iran „oder sonst jemand“ dabei behilflich wäre. In Moskau trafen sich der US-amerikanische Botschafter John Tefft und der stellvertretende Leiter des russischen Außenministeriums Michail Bogdanow, um das Syrienproblem zu erörtern. Weiteren Informationen zufolge hat in Moskau außerdem ein Treffen zwischen russischen und ausländischen Spionen, also dem CIA und dem russischen Auslandsgeheimdienst SWR, zum Datenaustausch über den IS stattgefunden.

        Der Boden für einen Besuch Putins in den USA scheint bereitet. Dieser Tage in Duschanbe hat Putin auf dem Gipfel der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), soweit man das beurteilen kann, die Hauptthesen seiner bevorstehenden Rede vor der UN-Vollversammlung vorgetragen: Alle sollten jetzt geopolitische Ambitionen außen vor lassen, sich Doppelmoral sparen, der breiten Koalition gegen den IS beitreten und gemeinsam Assad als natürliche Alternative zum islamistischen Übel unterstützen. Die zukünftige breite Koalition müsse ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erhalten, das die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS in Syrien und im Irak gestattet, und dann könne sich auch Russland an den Operationen beteiligen. Auf der Basis dieses frischgebackenen Kampfbündnisses kann man dann auf Beruhigung des mit den USA und dem Westen bestehenden Konflikts wegen der Ukraine hoffen, was die Aufhebung der Sanktionen impliziert. Putin schlägt weiter vor: „eine vollständige Bestandsaufnahme der euroatlantischen Probleme und Differenzen“, die Schaffung eines Systems „gleichberechtigter und unteilbarer Sicherheit“, die Einhaltung der Grundprinzipien des internationalen Rechts sowie „die Verankerung gesetzlicher Bestimmungen, nach denen die Begünstigung staats- und verfassungsfeindlicher Umstürze und die Förderung radikaler und extremistischer Kräfte unzulässig ist“. Das heißt, die verfeindeten Parteien sollen „juristisch bindende Garantien“ geben, friss Vogel oder stirb, damit es nie wieder irgendwelche Maidans oder Farbrevolutionen gibt.

        Ein neues Jalta?

        Hier wird offenbar eine Art neues Abkommen für die zukünftige euroatlantische Ordnung vorgeschlagen, quasi ein neues Jalta: Jalta 2.0. Im Jahr 1945, beim ersten Jalta, Jalta 1.0, legten die Staatschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung fest, wobei sie den Kontinent im Wesentlichen in Einflusszonen aufteilten. In den USA und in Europa, vor allem in Mittel- und Osteuropa (der ehemaligen sowjetischen Zone), gilt Jalta 1.0 als eines der Schandkapitel der Geschichte und wird dort in einer Reihe mit der Aufteilung der Tschechoslowakei in München 1938 und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 gesehen. In der Russischen Föderation fällt die Bewertung anders aus: Im Februar, beim 70. Jahrestag von Jalta 1.0, sprach der Duma-Präsident Sergej Naryschkin vom Gipfel der Diplomatie und von „ehrenhaften Entscheidungen“ und von garantiertem Frieden in Europa „beinahe bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“.

        Jalta 2.0 in der einen oder anderen Form, mit klaren Regeln für das zwischenstaatliche Verhalten, mit festgeschriebenen und garantierten Interessenssphären – das ist ein lang gehegter Kremltraum, der heute erreichbar scheint, dank dem IS, dank den Tausenden syrischen Flüchtlingen in Europa, aus denen Millionen werden können, wenn der Konflikt im Nahen Osten sich weiter ausbreitet. Um dem ersehnten Ziel näherzurücken, wurden die Kampfhandlungen im Donbass ohne irgendeine Aussicht auf weitere Offensivaktionen eingefroren. Natürlich ist die Ukraine als solche strategisch ungleich wichtiger als Syrien, doch ausgerechnet dieses scheint nun eine potentielle Brücke zur Beilegung aller Differenzen. Dafür ist Moskau bereit, sich an einem fernen Krieg zu beteiligen, zumal, wenn es gelingt, das Assad-Regime zu retten, und sei es auch ohne Baschar al-Assad selbst.

        Zu Beginn der 80er Jahre wurden sowjetische Kampftruppen nach Syrien gebracht – an die 9000 Militärangehörige. Zahlreiche Militärberater und Experten nahmen im Libanon gemeinsam mit Syrern an Kämpfen gegen Israelis und Amerikaner teil: Mehrere Dutzend Offiziere und drei Generäle kamen ums Leben, Hunderte Menschen wurden verletzt. Eine solche Truppe in Gefechtsbereitschaft zu versetzen wäre heute schwierig, zudem wäre sie nicht zu unterhalten. Es spielt keine Rolle mehr, ob gewollt oder nicht, geheim ist die Aufstellung von russischen Truppen und Material in Syrien nicht, und die Versorgungs- bzw. Nachschubwege können behindert oder gänzlich gesperrt werden. Kerry und Obama wollen heute, wie schon in der Vergangenheit, auf keinen Fall in eine militärische Eskalation im Nahen Osten verwickelt werden und sind bereit, russische Hilfe anzunehmen, jedoch ausschließlich gegen den IS. Etwaige Angriffe auf die syrische Opposition werden dazu führen, dass vom Weißen Haus ein Vergeltungsschlag gefordert wird, und zwar sowohl in Washington als auch in den arabischen Hauptstädten. Selbst wenn die von Putin angestrebte breite Koalition zusammenkommt, werden der Westen, die USA, die Araber und die Türken versuchen, die Aktionen Russlands in diesem Rahmen streng auf die Konfrontation mit dem IS zu beschränken.

        Um das Assad-Regime zu retten, braucht man nicht 6 Flugzeuge und 500 bis 1000 weitere Soldaten, sondern 100.000 – und tausend Stück Militärgerät mit Hunderten Flugzeugen und Hubschraubern. Vor gut zwei Jahren sind an die 5000 hervorragend ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Hisbollah zur Unterstützung Assads nach Syrien und zum Einsatz gekommen, dazu an die 15.000 Freiwillige aus dem Iran und dem Irak. Im April 2014 erklärte der Hisbollahführer Scheich Hassan Nasrallah: „Die Gefahr, dass das syrische Regime fällt, ist vorüber, und auch eine Teilung Syriens droht inzwischen nicht mehr.“ Damit war die Hisbollah allerdings gründlich im Irrtum: Die syrischen Kämpfer haben sie aufgerieben, und die Teilung Syriens ist keine Gefahr mehr, sondern Realität. Die syrischen Alawiten – das ist die schiitische Strömung, zu der Assads Familie gehört und die zusammen mit den syrischen Christen die Spitze der Armee und Geheimdienste bildet – kämpfen weiter, doch sind das weniger als 25 % der Bevölkerung. Die Kurden (9 %) arbeiten mit den Regierungskräften zusammen, aber die Sunniten – das sind 60 % der Bevölkerung – bilden den Grundstock des Widerstands. Das Land und seine Wirtschaft sind durch den seit viereinhalb Jahren andauernden Bürgerkrieg zerstört. Die Regierung Assads hat keinerlei Kontrolle mehr über die Ölförderung. Von 21 Millionen Syrern sind 7,6 Millionen Binnenvertriebene, 4 Millionen sind aus dem Land geflohen, mehr als 300.000 Menschen wurden nach Schätzungen der UNO getötet.

        Einige hundert oder selbst zweitausend russische Soldaten, Militärberater und Experten werden daran nichts Wesentliches ändern, und die Luftangriffe von ein paar russischen Su-25-Kampfjets werden dem Krieg keine entscheidende Wende geben. In der Nähe des neuen russischen Stützpunkts in Latakia werden die Assadschen Truppen von der im März gegründeten Allianz Armee der Eroberung zerschlagen, die sich zum großen Teil aus verschiedenen Islamisten zusammensetzt, aber mit allen Kräften der Opposition zusammenarbeitet und sich dem IS entgegenstellt. Die säkularen Kräfte der Opposition – die Freie Syrische Armee (FSA), die sich aus ehemaligen Assadschen Offizieren und sunnitischen Soldaten gebildet hat, dominiert unter den Oppositionskräften südlich von Damaskus, und in der bevölkerungsmäßig zweitgrößten Stadt Aleppo hat sich in diesem Sommer eine Einheitsfront gebildet, die etwa zur Hälfte aus Islamisten und mit der FSA verbundenen Kämpfern besteht.

        Im Sommer hat die Armee der Eroberung die Stadt Idlib und die gleichnamige, an Latakia angrenzende Provinz eingenommen. Kürzlich tauchten Informationen über möglicherweise mit russischer Hilfe durchgeführte Luftangriffe der Regierungstruppen auf Palmyra auf, wo sich der IS verschanzt hat, außerdem auf die Stadt Idlib. Ein Kommandeur der Eroberungsarmee hatte auf Twitter die „ungläubigen Russen“ eingeladen, nach Syrien zu kommen: „Wir haben hier Tausende Chattabs für euch.“ (Emir Ibn al-Chattab war ein bekannter Feldkommandant arabischer Herkunft in Tschetschenien, der 2002 bei einer Geheimdienstoperation getötet wurde.) Das Vorgehen Russlands in Syrien ist außerordentlich riskant. Bislang läuft alles leidlich, aber aus Jalta 2.0 wird wohl kaum etwas werden, und Syrien wird für das vergleichsweise kleine russische Kontingent bald zu einer glühenden Pfanne: Die Verluste werden schmerzlich, und das Assad-Regime zu retten wird auch nicht gelingen.

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      • Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

        Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

        Die Gouverneurswahlen am 13. September 2015 dürften in vielem der Vorbote der Parlamentswahl im nächsten Jahr gewesen sein. Das liberale Wirtschaftsportal slon hat analysiert, wie die Wahlen verlaufen sind und was Russland im Jahr 2016 erwartet. Autor: Alexander Beloussow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie und Recht an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sektion Ural.

        Der Wahlkampf des Jahres 2015 unterscheidet sich deutlich von der Kampagne des Vorjahres – allein schon dadurch, dass er nicht vom Geschützdonner im Donbass, sondern vom Anstieg der Lebensmittelpreise und dem Anstieg des Dollarkurses begleitet ist. Bis zu einer Krise und Protestwahlen ist es noch weit, aber eines ist klar: Mit dem totalen Machtmonopol und überbordenden Ergebnissen von über 80 % ist es vorbei.

        Einiges Russland – es wird wieder spannend

        Die diesjährigen Wahlergebnisse von Einiges Russland werden niedriger als die vorhergehenden. Hier um 5 %, da um 10 % und mancherorts um 20 %. In den großen Metropolen (Nowosibirsk, Woronesh, Nishni Nowgorod) werden die mittleren Ergebnisse um die 40 % liegen – im Durchschnitt sind sie innerhalb eines Jahres um 10 % gefallen. Sogar der Parteivorsitzende, Dimitri Medwedew, sprach von guten bis befriedigenden Ergebnissen.

        Die Ergebnisse der Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk, die zu einem zweiten Wahlgang führten, waren de facto eine Sensation. In den Gebieten Omsk und Amur kamen die regierenden Gouverneure nur knapp über 50 %, wobei die 0,56 Prozentpunkte, die dem Gouverneur von Amur den zweiten Durchgang ersparten, ein zweifelhafter Beitrag sind zu jener von Wjatscheslaw Wolodin proklamierten „Offenheit, Ehrlichkeit und Legitimität“. Im Jahr 2014 gab es ein solches Ergebnis nur bei der Wahl eines Gouverneurs. In dem derzeit geltenden Wahlystem demonstriert der zweite Wahlgang den Regierenden die eigene Impotenz, aber es hilft nichts: 2016 wird – ungeachtet dessen, dass man versucht hat, alle Gouverneure vorzeitig durch Wahlen zu schleusen – der zweite Wahlgang Realität sein. Und das bedeutet, dass es bei den Dumawahlen wieder spannend wird.

        Die Macht: Kraft ist da, Köpfchen fehlt

        Vor Patzern und Dummheiten der Mächtigen strotzte es in diesem Wahlkampf nur so. „Je weniger Einiges Russland tut, desto besser ist sein Ergebnis“ – so eines der in engen Kreisen handlungsweisenden Prinzipien. Und es wurde ironisch angemerkt, dass auch die Partei PARNAS im Gebiet Kostroma horrende Bestechungsgelder an die Polizei zahlte, damit sie Aktivisten festsetzte, sowie an föderale Sender, die bestellte Sendungen fabrizierten. Klar, was Sache ist: Die Mächtigen leisten sich Fehler um Fehler bei dem Versuch, Konkurrenten auszuschalten.

        Fortwährende hysterische Machtdemonstrationen sind der auffälligste Trend in diesem Herbst. Zur Apotheose dessen wurde der berühmte Auftritt des Oberhaupts der Republik Marij El, Leonid Markelow, der seinen Wählern ankündigte, eine schon gebaute Straße wieder aufzureißen.

        Die von den lokalen Oberhäuptern im Kampagnenverlauf vorgebrachten Argumente sind ebenfalls fragwürdig. Z. B. beschimpfte man in eben jenem Omsk den Kommunisten Oleg Denissenko, ein Waräger zu sein – welch eine Freude würde solches Gerede bei den Bewohnern der meisten russischen Regionen auslösen, die von solchen aus dem Zentrum geschickten Waräger-Gouverneuren regiert werden. Die Regierenden in der Provinz sind ratlos, da sie nicht wissen, was sie propagieren sollen: Wandel oder Stabilität. Präzise Antworten auf solche Fragen gibt es nicht, nur in solchen Regionen, die ähnlich astronomisch hohe Ergebnisse für die Regierungspartei haben wie in Tschetschenien: in Kemerowo und Tatarstan.

        Die Vorwahlen: Sieg der Bestechung

        Die Erfahrung von 2015 zeigt: Die Vorwahlen von Einiges Russland könnten zu einer Praxis zu werden, die wenig mit Wahlen zu tun hat. Zu den Vorwahlen in Nishni Nowgorod kamen 10 % der dortigen Bevölkerung. Es ist gesetzlich nicht verboten, bei den Vorwahlen offen Wählerstimmen zu kaufen, und so gab die Parteiführung des Gebiets jedem, der für Einiges Russland kandidieren wollte, eine Carte blanche. Der Preis für eine Stimme betrug 1000 Rubel [ca. € 13]. Die Bestechung wurde auch während der Wahlen fortgesetzt, mancherorts stieg der Preis bis auf 3000 Rubel.

        Man kaufte, soviel wie nur möglich, bezahlt wurde überwiegend mit Geld oder Lebensmitteln, die direkt am Wahltag von einem Wagen neben dem Wahllokal verteilt wurden. Menschen gewöhnen sich schnell an etwas Gutes, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie sich ein gekaufter Wähler verhält, wenn man ihn beim nächsten Mal nicht für seine Stimme bezahlt. 2016 wird das nämlich nicht mehr finanzierbar sein: Fünftausend Stimmen für die Wahl eines Stadtparlaments zu kaufen ist die eine Sache, aber Hundertfünfzigtausend Stimmen für die Wahlen der Staatsduma ist etwas ganz anderes. Die Größenordnungen lassen sich nicht vergleichen. Einmal gekauft, beim nächsten Mal fallengelassen: Wer wird eine solche Regierung wählen?

        Ergebnis: hübsch ordentlich

        Von föderaler Ebene gibt es keine Vorgabe, den Zugang zu den Wahlen zu sperren und niemanden zuzulassen. Doch es gibt sie in den Köpfen regionaler Beamter, die es bevorzugen würden, sich aus der Verantwortung zu ziehen und höhere Instanzen anzurufen. Die höheren Instanzen schweigen indes vielsagend, doch zuweilen geben sie Anweisungen, die den ausführenden Kräften ordentlich gegen den Strich gehen. Deswegen wurde bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Omsk der Kommunist Oleg Denissenko rehabilitiert. Deswegen wurde im Gebiet Kostroma PARNAS bei den Wahlen zugelassen.

        Ebensowenig verstand man in den Regionen Wolodins Proklamation von „Transparenz, Offenheit, Legitimität“ – was sich wohl auch übersetzen ließe als: Das Ergebnis „hübsch ordentlich und ohne großes Aufheben“ zu erzielen, also ohne Exzesse und ähnliche Themen, die zu den Bolotnaja-Demonstrationen geführt hatten. Wer das verstände, würde, überzeugt vom eigenen Erfolg, nicht hohen Prozentzahlen nachjagen. Z. B. sicherte sich der Gouverneur von Kamtschatka, Wladimir Iljuchin, sein gutes Ergebnis bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 30 %. An anderen Orten wie etwa in Nishnij Nowgorod – wo Befragungen am Wahltag zeigten, dass Einiges Russland auf etwas mehr als 40 % kommen würde – wurden in der Nacht nach den Wahlen die Regionalverwaltungen für Kandidaten und Beobachter geschlossen, damit man alles „richtig“ auszählen konnte.

        Die Opposition: der Selbsterhaltungstrieb

        Kurz vor den Wahlen ist die parlamentarische Opposition – bis dato nicht bekannt für Illoyalität – buchstäblich aus dem Winterschlaf erwacht; diesen Herbst waren das die Kommunistische Partei der Russischen Föderation KPRF und die Liberal-demokratische Partei Russlands LDPR. So hat sich die KPRF in kaum einer Region als tauglicher Sparringpartner erwiesen – weder in Omsk noch in Nowosibirsk oder in der Wolga-Republik Udmurtija. Das gleiche gilt für Gerechtes Russland. In dem Maße, wie die Wahlen zur Staatsduma näherrücken, erwacht in den Parteien der Selbsterhaltungstrieb. Gegen einen Bären anzugehen, ist natürlich hart und macht Angst, aber der Selbsterhaltungstrieb ist stärker. So kam es bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk seit langer Zeit wieder einmal zu einem zweiten Wahlgang: zwischen dem Einigkeitsrussen Sergej Jeroschtschenko und dem Kommunisten Sergej Lewtschenko.

        Die Partei PARNAS wurde überhaupt nur im Gebiet Kostroma zu den Wahlen zugelassen und geriet dort unter beispiellosen administrativen Druck. Das Ergebnis des Wahlkampfs zeigte, dass PARNAS als Partei zwar eine wichtige oppositionelle Funktion ausübt, aber noch keine Volkspartei ist: Bei der Agitation fehlt es an Wissen und Umsetzung, wie öffentliche Meinung funktioniert – im Ergebnis befindet sich die Partei überwiegend in einem Dialog mit sich selbst.

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      • Der russische Frühling

        Der russische Frühling

        Ein Blick zurück auf die Protestbewegung, die nach den zweifelhaften Duma-Wahlen Ende 2011 die großen Städte erfasste: Hunderttausende von Menschen gingen mit der Forderung nach ehrlichen Wahlen und echter Demokratie auf die Straße. In seiner umfassenden Analyse untersucht Andrej Kolesnikow die Beweggründe für die Proteste, ordnet sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt die Frage: Wie kann es weitergehen?

        Vor drei Jahren [2011 – dek] begann in Russland eine Protestbewegung neuen Typs. Sie wird inzwischen allgemein die Bolotnaja-Bewegung genannt, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in der Moskauer Innenstadt, auf dem die ersten großen Proteste stattfanden. Dieser Platz befindet sich – welch Ironie der Geschichte – direkt gegenüber vom Haus an der Uferstraße, auch bekannt als Geisterhaus der Stalinära.

        Als die friedlichen Proteste Fahrt aufnahmen, als die Staatsführung zunächst nicht wusste, ob und wie sie reagieren sollte, als es für einen Augenblick so schien, dass die Ethik der Freiheit einen Klebstoff bilden könnte, der das Volk wieder vereint, wurde auf den Versammlungen der Oppositionsführer und der Intelligenzija nur um eine Frage gestritten: Wie lange wird das Putin-Regime noch durchhalten? Es ist vielen noch im Gedächtnis, wie auf einer dieser Sitzungen die Literaturwissenschaftlerin Marietta Tschudakowa dem Ancien Régime noch zwei Jahre gab … Inzwischen sind drei Jahre vergangen, das ehemalige politische Schlachtfeld bietet einen trostlosen und hoffnungslosen Anblick, wie in den Jahren der Stagnation, als die Zeit „alt und lahm wurde“, der Protest sich fragmentierte und in die Privatwohnungen und Küchen zurückzog. Und das Regime scheint, wie schon damals vor 30 oder 40 Jahren, für die Ewigkeit gemacht.

        Nachholende Revolution

        Heute denkt man nur noch selten daran, aber einer der wichtigsten Gründe für die damaligen politischen Turbulenzen war der Verzicht Medwedews auf eine zweite Präsidentschaftskandidatur. Mit anderen Worten: Die Machtrochade vom September 2011, als verkündet wurde, dass Putin ins Präsidentenamt zurückkehren und Medwedew als eine Art Entschädigung für seine Zeit als Sesselwärmer den Posten des Premierministers erhalten würde. Dies bedeutete zugleich das Aus jeglicher Hoffnung auf Modernisierung.

        Die Rochade nährte damals Kritik und gab den Menschen Anlass zur Empörung. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber entfesselten die offensichtlichen, dreisten und zynischen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011. Am nächsten Tag wurden während einer Demonstration in Moskau über 300 Personen festgenommen. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz schon über 150.000 Menschen zu Protesten. Bei diesen Demonstrationen kann man mit Fug und Recht von einem ethisch motivierten Protest sprechen – genau deshalb kamen auf dem Bolotnaja Platz auch Menschen zusammen, die sich vorher nie besonderes für Politik interessiert hatten und die bis dahin mit Putin grundsätzlich sogar zufrieden waren.

        Diese ethische Basismotivation ist Jahrzehnte zuvor von der berühmten sowjetischen Dissidentin Larissa Bogoras beschrieben worden, im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Sie erklärte damals vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer als Angeklagte: „Ich stand vor der Wahl zu protestieren oder zu schweigen. Hätte ich geschwiegen, hätte ich dadurch Vorgängen zugestimmt, denen ich unmöglich zustimmen konnte. Schweigen wäre für mich gleichbedeutend gewesen mit Lügen.“

        Doch neben der ethischen gab es auch – bewusst oder spontan – eine politische Motivation. Der Staat, der einer sozialen und politischen Modernisierung bedurfte, verkündete de facto offen, dass es keine Veränderungen von oben geben würde – der ruhmlose Abgang Medwedews und die gefälschten Wahlen dienten hierfür als Beweis. Die Gesellschaft, oder wenigstens ein wirksamer Teil von ihr, war in seiner Entwicklung dem Staat voraus. Und zeigte daher seinen Anspruch auf Veränderung.

        Der Staat seinerseits war nicht bereit, diese Ansprüche zu befriedigen, denn er verstand nicht, dass Revolutionen nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, sondern in den Köpfen der Menschen.

        Die Proteste der Jahre 2011 und 2012 waren ein (weil das Land nicht modernisiert, sondern immer mehr archaisiert wird, nicht wiederholbarer) Versuch, Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse von Politik und Wirtschaft zu vollenden, die während Gorbatschows Perestroika und Gaidars Reformen nicht zu Ende geführt worden waren. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt solche Versuche, versäumte Entwicklungsschritte mit Verspätung, dann aber schlagartig zu vollziehen, „nachholende Revolutionen“. Die Farben- und Frühlingsrevolutionen der letzten Jahre fallen allesamt unter diesen Begriff, seien es nun die arabischen oder die russischen.

        Präsident nicht aller Russen

        Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz und die auf sie folgende reaktionäre Kehrtwende der Staatsführung nach den Präsidentschaftswahlen (der sogenannte Antifrühling 2012) haben das Modell des Präsidenten aller Russen endgültig begraben. Putin entschied sich, fortan nur noch die Interessen eines bestimmten Teils der Gesellschaft zu vertreten, aber nicht die aller Russen: Von der sich an demokratischen und markwirtschaftlichen Werten orientierenden Klasse fühlte er sich verraten. Und konnte ihnen die Proteste von 2011-2012 nicht verzeihen. Daher auch seine Besessenheit vom positiven Staatshaushalt: Erst der Überschuss im Budget erlaubt es ihm, sich die nötige Loyalität von Schlüsselfiguren des mittleren Machtgefüges zu erkaufen – und der ihm persönlich nahestehenden sozialen Schichten.

        Diese Schichten, die zahlenmäßig starke Klasse unterhalb der Mittelschicht, sind die Stütze des derzeitigen Systems. Mit ihren Vertretern hat Putin so etwas wie einen separaten Gesellschaftsvertrag geschlossen: Er bewahrt sie vor dem Abgleiten in tatsächliche Armut und verschont sie auch weitgehend in Hinblick auf Anforderungen an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Als Gegenleistung legen sie gegenüber ihren äußeren Lebensumständen Gleichgültigkeit an den Tag und wählen ihn. (Nach Schätzungen der Wirtschaftsexpertin Tatjana Malewa macht die Klasse unterhalb der Mittelschicht 70 % der Bevölkerung aus, wobei 40 % von ihnen von Armut bedroht sind).

        Einen ähnlichen Fall beschrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen.“

        Daraus ergibt sich das Modell einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in Nicht-Richtige und Richtige: Bolotnaja gegen Poklonnaja, die Fünfte Kolonne gegen die ehrlich arbeitende Bevölkerung, Nerze gegen Güterwaggons aus der Uralwagonsawod, das weiße Band gegen die St.-Georgs-Bänder

        Der Kreml fährt derzeit einen sehr harten Kurs gegenüber demjenigen Teil der Bevölkerung, der auf Veränderungen aus ist. Jegliche nicht staatlich abgesegnete Protesttätigkeit wird unterdrückt. Mit „seinem“ Teil der Bevölkerung spricht der Staat mit Hilfe des Budgets, das dank der Entwertung des Rubels erfolgreich weiter gefüllt wird. Und wenn der Staat Proteste befürchtet, dann von dem Teil der Bevölkerung, den er selbst als „seinen“ ansieht.

        Es gibt noch ein wichtiges Detail des Protestwinters 2011–2012 und dieses betrifft die Nationalisten. Ihr Traum, auf der Welle des gesellschaftlichen Protests in Richtung Macht zu reiten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings haben sie es geschafft, der Reputation der Oppositionsbewegung und ihrem Koordinationsrat einigen Schaden zuzufügen. (Bei Alexander Werchowski, Forscher über russischen Nationalismus, heißt es: „Erstens waren die fremdenfeindlichen Losungen ziemlich wirkungslos und unpopulär innerhalb der Protestbewegung. Zweitens hielt die erdrückende Mehrheit der radikalen Nationalisten es nicht für möglich, mit Liberalen und Linken an gemeinsamen Protestmärschen teilzunehmen.“ Zitiert nach: Ethnopolitik föderaler Macht und Aktivierung des russischen Nationalismus, Pro et Contra, 18, S. 24). Neutralisiert wurden sie aber letztlich von den Regierenden selbst, die Patriotismus und Nationalismus in einen staatstragenden Mainstream verwandelt haben und so ein eindrückliches Zeichen setzten, wer denn hier der eigentliche Nationalist ist.

        All dies hat auch dazu beigetragen, dass die russische Bolotnaja-Bewegung sich insgesamt weniger radikalisiert hat als der ukrainische Maidan. 

        Evolution des Protests

        Die Bereitschaft der Bürger, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an Protesten teilzunehmen, hat inzwischen nahezu ein historisches Minimum erreicht. Die persönliche Bereitschaft an politischen Protesten teilzunehmen betrug im Oktober 2014 ganze 8 %, an wirtschaftlichen 12 %.

        Einerseits ist das nachvollziehbar: Eine Protestwelle kann nicht beliebig lange auf demselben hohen Niveau bleiben, und auch die harten Maßnahmen der Staatsmacht wirken ohne Zweifel einschüchternd. Nicht jeder geht gern freiwillig ins Gefängnis. Auch der Post-Krim-Triumph des Patriotismus hat die Protestbereitschaft merklich gedämpft. Außerdem zeigte sich, dass die „Furcht vor der Freiheit“, von der Erich Fromm in seinem gleichnamigen Werk von 1941 schreibt, im Vergleich zum Bürgerprotest viel mehr das Zeug zum Massenphänomen hat. Bei Fromm heißt es: „Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch Teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus […], verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“

        Über die letzten Monate hat sich der Staat so sehr der Abwendung einer möglichen Farbrevolution gewidmet, dass er dabei andere, neu entstehende Protestformen vollkommen übersehen hat – beispielsweise die Proteste der Ärzte in Moskau, die sich letztlich als überaus radikal erweisen könnten. Ein anderes Protestpotenzial entsteht ausgerechnet in denjenigen sozialen Schichten, die der Kreml eigentlich als sich selbst nahestehend begreift und auf deren Loyalität er bisher stets setzen konnte. Ihr Widerstand würde sich dann eher aus sozialer denn aus ethischer Unzufriedenheit speisen, aber auch er könnte sich schließlich politisieren. Denn allmählich gewinnt die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass eine Verbindung besteht zwischen der staatlichen Politik einerseits (Angliederung der Krim, Gegensanktionen, Steuerpressing) und den sozialen Problemen (sinkender Lebensstandard, Inflation) auf der anderen Seite.

        Bolotnaja vs. Maidan

        Gründe dafür, dass die Protestbewegung in Russland nicht zu einem Machtwechsel geführt hat, gibt es mehrere. Zum ersten besitzt die Ukraine kein Öl. Damit fehlt ein wichtiger außenwirtschaftlicher Posten im Budget, und dem Staat bleibt weniger Spielraum, sich die Loyalität der Bevölkerung mit Hilfe von punktuellen Sozialleistungen zu erkaufen. Zweitens ist Russland im Gegensatz zur Ukraine nicht zweigeteilt, sondern besteht aus mehreren Russländern mit ihren jeweiligen Eigenheiten. Laut der Wirtschaftsgeographin Natalja Subarewitsch gibt es Russland ganze vier Mal: Sie unterscheidet das Land der Großstädte, das Land der mittleren Industriestädte, das Land der Dörfer und Kleinstädte sowie die Region Nordkaukaukasus und Südsibirien. Bereits von daher ist es für die russische Protestbewegung schwieriger, sich zu konsolidieren.

        Der dritte Grund besteht darin, dass – im Unterschied zum ukrainischen Maidan – die aggressivsten Bevölkerungsschichten sich den Bolotnaja-Protesten gar nicht angeschlossen haben. Das hat den Staat allerdings nicht davon abgehalten, Schauprozesse gegen vermeintliche Extremisten zu inszenieren, um das Bild von den „unverfrorenen Oppositionellen“ im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. (In insgesamt drei Gerichtsverfahren sind zwölf Personen zu Haftstrafen von 4,6 (Udalzow) bis 2,3 Jahren (Beloussow) verurteilt worden.)

        Zu guter Letzt hat die russische Staatspropagandamaschine alles darangesetzt, den ukrainischen Maidan als ein „faschistisches Lager“ darzustellen, welches er in Wirklichkeit nie war, obwohl dort genug Radikale teilnahmen. Die vom Staatsfernsehen verbreiteten Bilder und noch mehr die Kommentare zu ihnen haben viele in unserem Land dazu bewegt, auf Abstand zu der Protestbewegung zu gehen. Und die Parole „Krim nasch!“ hat auch ihren Teil zur Unterstützung der Machthaber beigetragen.

        Eine Revolution in Russland ist ein langwieriger Prozess, und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Unser politisches Regime ist von Bonapartismus geprägt – einer „labilen Beständigkeit innerhalb einer langfristigen Instabilität“, wie die Historiker W. Mau und I. Starodubrowskaja es ausdrücken (Große Revolutionen: von Cromwell bis Putin, Moskau, 2010, S. 519–520). Der Dreifuß aus Präsident, Kirche, Armee wird vom Superkleber Krim zusammengehalten. Doch einen zweiter Kleber mit gleicher Bindekraft gibt es nicht. Dabei hat die Politik der Staatsführung uns jetzt schon in die Stagflation gelenkt und führt uns voller Zuversicht weiter in die Rezession. So werden die Bolotnaja-Proteste bestimmt nicht die letzte Herausforderung für die Machthaber gewesen sein.

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        Das Begräbnis des Essens

        Die westlichen Wirtschaftssanktionen wurden von Russland mit Einfuhrverboten für verschiedene Lebensmittel aus europäischer Produktion beantwortet. Produkte, die über unklare Kanäle dennoch ins Land kommen, werden derzeit in großangelegten Aktionen öffentlich vernichtet. Das Internetjournal Spektr wirft einen Blick darauf, wie diese Maßnahmen begründet werden und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen sie aufnehmen.

        Ende Juli unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, wonach landwirtschaftliche Erzeugnisse, Käse und andere Nahrungsmittel, deren Einfuhr im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen verboten wurde, vernichtet werden müssen. Das am 6. August in Kraft getretene Dokument soll für mindestens ein Jahr gelten. Nach der Unterzeichnung des Erlasses scherzte man in den sozialen Netzwerken ein paar Tage lang über das Aussehen des beleibten Chefs der russischen Zollbehörde, Andrej Beljaninow, mit dem Hinweis, dass sich wohl kein zweiter mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln so auskenne wie er. Die russische Regierung nahm das Ganze jedoch sehr ernst und organisierte am vergangenen Donnerstag eine regelrechte Schau-Exekution sanktionierter Lebensmittel.

        In einigen Regionen begann man mit der Umsetzung des Erlasses schon, bevor er tatsächlich in Kraft trat. So wurden zum Beispiel in Samara bereits am 4. August 114 Tonnen Schweinefleisch vernichtet, die nach den Worten der Sprecherin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor Julia Melano schon im April „bei den Inspektoren Zweifel hervorgerufen hatten und beschlagnahmt worden waren“. Sie ließ verlauten, dass es sich dabei um in Europa hergestellte und mit falschen brasilianischen Zertifikaten nach Russland importierte Produkte handele.

        Aber ernsthaft gegen die geschmuggelten Lebensmittel vorzugehen, begann man erst zwei Tage später. Die News-Spalte der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde flimmerte nur so vor Meldungen über immer mehr Lebensmittel mit gefälschten Zertifikaten. 1 ½ Tonnen Schweinefleisch, 9 Tonnen Möhren, 28 Tonnen Tomaten und Äpfel, 73 Tonnen Nektarinen (in Wirklichkeit noch viel mehr, das war nur eine der beschlagnahmten Partien) – all das muss dem neuen Erlass des Präsidenten zufolge vernichtet werden.

        Es blieb aber am Donnerstag nicht bei Beschlagnahmungen. Die Pressestelle der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde veröffentlichte ein Video und eine Fotoreportage über die Vernichtung von Käse in der Region Belgorod, den man schon Ende Juli beschlagnahmt hatte. Mit einem Traktor wurden rund 9 Tonnen Käse in einer Mülldeponie zermalmt.

        In St. Petersburg verbrannte man Käse in einem Spezialofen. Bislang zwar nur eine kleine Partie, aber in der nächsten Zeit sollen in Pulkowo rund 20 Tonnen Käse verbrannt werden. Über 4 ½ Tonnen Gemüse wurden in einer Mülldeponie in der Region Brjansk vernichtet.

        Selbstverständlich blieben die Nutzer der sozialen Netzwerke bei solch entschlossenen, krassen Maßnahmen gegenüber ausländischen Lebensmitteln nicht gleichgültig und begannen, Witze zu reißen: Es entstanden Fotomontagen, Plakate, die Boris Jelzins Stab vor den Wahlen von 1996 veröffentlicht hatte, wurden wieder hervorgeholt, man schlug ähnliche Maßnahmen für den russischen Fußball vor oder veröffentlichte einfach Nachrichten, bei denen man angesichts der aktuellen Lage im Land nicht gleich wusste, ob sie echt waren oder ein Fake. Man witzelte auch über die Sache mit dem Lastwagenfahrer, der, als er von den neuen Gesetzen erfahren hatte, mit 1 ½ Tonnen Tomaten nach Weißrussland floh.

        Viele nahmen die Vernichtung der Lebensmittel jedoch sehr ernst. Sie fassten sie als Beleidigung für Russland auf, wo man sich an Kriegs- und Hungerjahre anderer Zeiten erinnert und einen respektvollen Umgang mit Essen gewohnt ist. Auf der Website change.org findet sich bereits eine Petition, in der Bürger die Regierung dazu aufrufen, die Lebensmittel nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige weiterzugeben. Der Aufruf erhielt beinahe 300.000 Stimmen und wurde sogar im Kreml zur Kenntnis genommen. Putins Sprecher Dimitri Peskow, der zunächst verkündet hatte, die Umsetzung des neuen Gesetzes sei unumgänglich, hat bereits versprochen, die Petition zumindest in Augenschein zu nehmen. Er gab auch zu, dass der Prozess der Vernichtung von Lebensmitteln „nicht sehr angenehm aussieht“, betonte aber, dass es in der gegebenen Situation einfach keinen anderen Ausweg gebe.

        Gemäß Putins Erlass über die Prüfung gesellschaftlicher Initiativen berücksichtigt die russische Regierung Petitionen im Grunde nur, wenn sie auf einer Website namens Rossiskaja obschtschestwennaja iniziatiwa (Russische gesellschaftliche Initiative) publiziert werden. Ein ähnlicher Aufruf dort erhielt bisher erst gut 3000 Stimmen (und mehr als 130 dagegen), was ungefähr 96.000 weniger sind, als nötig wären, damit die Petition auf föderaler Ebene geprüft wird.

        Der russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow (von dem die Idee der Nahrungsmittelvernichtung stammt) ließ verlauten, sein Amt halte sich in der Angelegenheit der Vernichtung sanktionierter Erzeugnisse an die weltweit übliche Praxis. Seinen Worten nach muss Schmuggelware vernichtet werden, um so mehr, da sie größtenteils von recht zweifelhafter Qualität sei. „Wir dürfen die Gesundheit unserer Bürger nicht aufs Spiel setzen“, ergänzte Tkatschow. Im Übrigen ist für den Minister nicht nur das Wohlbefinden der Bevölkerung Anlass zur Sorge. Eine Verteilung der Lebensmittel an Bedürftige würde Alexander Tkatschow zufolge auch mit vermehrter Korruption und der Überschreitung von Dienstbefugnissen einhergehen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Sergej Dankwert.

        Doch nicht alle führenden Politiker teilen die Auffassung, dass die Vernichtung der Lebensmittel unumgänglich ist. Der Leader der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow zum Beispiel bezeichnete solche Maßnahmen als barbarisch. „Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, von denen sich jeden Tag zwei Milliarden hungrig zu Bett legen. Es gibt viele Organisationen, die bereit wären, diese Lebensmittel Armen zukommen zu lassen“, erklärte der Politiker. Auch die Vertreter des Gerechten Russlands unterstützen die Idee einer Umverteilung des Essens. Der Leader der Liberal-Demokratischen Partei Russlands Wladimir Shirinowski wiederum bezeichnete die Zerstörung der Lebensmittel als „Kampf gegen Kakerlaken“. „Wir vernichten sie, und sie kommen wieder. Und wir vernichten sie wieder. Genau wie beim Kampf gegen den Diebstahl und gegen den Schmuggel“, sagte er.

        Der russischen Regierung geht es natürlich nicht um das Schicksal der Lebensmittel als solche. Sogar für nichtzertifizierte Ware hätte man schließlich viel vernünftigere Verwendungsmöglichkeiten finden können als die Verbrennung in Öfen unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras und die demonstrative Zerstampfung im Schmutz. Und felsenfeste Beweise dafür, dass diese ganzen Nahrungsmittel tatsächlich unter Umgehung der Einfuhrverbote aus der verhassten EU oder aus den USA kamen, gibt es bisher auch nicht. Schmuggel mit billigen, minderwertigen Lebensmitteln gab es letzten Endes schon immer. Jedoch braucht es gerade jetzt eben jene Kameras, muss die russische Regierung gerade jetzt – nicht einmal der ganzen Welt, sondern in erster Linie den eigenen Bürgern – zeigen, dass sie selbstsicher ist und dass das Land bestens ohne die täglichen paar hundert Tonnen „feindlicher“ Nahrungsmittel auskommt.

        „Ich bezweifle, dass der Vorschlag, die sanktionierten Lebensmittel zu verteilen, durchkommt – das wäre irgendwie nicht cool und zu menschenfreundlich dafür, wie die Dinge derzeit stehen“, sagt der Redakteur der Zeitschrift Kommersant-Dengi, Juri Lwow. Angesichts der um ein weiteres Jahr verlängerten Sanktionen geht es genau darum, Coolness und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und die Blockadeopfer, die Hunger gelitten haben, werden es geduldig ertragen. Selbst die Aktivisten, die sich mit und ohne Grund hinter ihren kriegs- und blockadeerfahrenen Großvätern verstecken und in der Soße aus Siegesfeiern zum 70-jährigen Jubiläum des Kriegsendes bereit sind, so ziemlich alles zu verbieten, sind in den letzten Wochen irgendwie verstummt.

        Allerdings vermitteln die Ereignisse bisher weder Selbstsicherheit noch Stolz. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln ruft nur Unverständnis und Abscheu gegenüber all denen hervor, die das angezettelt haben. Und es erinnert auch schmerzlich an die berühmte Episode Das Begräbnis des Essens aus der humoristischen Sendung Oba-na! von 1990, in der – zu Zeiten allgemeiner Lebensmittelknappheit – Fleisch, Brot und anderen Nahrungsmitteln ein Staatsbegräbnis ausgerichtet wird. Damals scherzten die Autoren: „Das Essen ist tot, es lebe der Hunger!“ Aber jetzt ist das irgendwie nicht mehr lustig.

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      • Das Woronesh-Syndrom

        Das Woronesh-Syndrom

        Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die russische Führungselite wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigene Bevölkerung zu leiden hat, sagt der Journalist Juri Saprykin. Und sie treffen gerade die schwächsten Glieder der Bevölkerung und die schutzwürdigsten Initiativen. Dieser scheinbar paradoxe Mechanismus ist an mehreren Stellen zu beobachten, und das Internet hat sogar einen Namen für ihn.

        Der Ausdruck Bomben auf Woronesh tauchte im Netz unmittelbar nach der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes auf. Ein Facebook-Spaßvogel schrieb damals: Wenn die Amerikaner mit ihren Sanktionen gegen russische Staatsbeamte fortfahren, lasst uns doch einfach einen draufsetzen und selber anfangen, unsere Städte zu bombardieren.

        Begreift man das Antiwaisengesetz als Reaktion auf die amerikanischen Sanktionen gegen die russischen Bürger, die auf der Magnitski-Liste stehen, so ist es ein wahres Grauen: Die Duma reagiert auf die Beschneidung von Handlungsfreiheiten der Führungselite mit einem Gesetz, das die Zukunft, die Gesundheit, ja sogar das Leben der am meisten benachteiligten russischen Staatsbürger gefährdet, nämlich das der Waisenkinder, darunter kranker und behinderter. Und all das wurde noch mit einer dicken Schicht Lügen bedeckt: dass man in den USA vorsätzlich russische Kinder quäle und wir sie nun selbst adoptieren und aufpäppeln würden. Genau das nennt man Bomben auf Woronesh: Als Antwort auf einen Schaden, den die Führungsklasse erlitten hat, schlägt man auf die eigenen Leute ein, noch dazu auf die schwächsten. Bei der Geschichte mit den Lebensmittel-Sanktionen gab es weniger offensichtlichen Schaden, dafür aber mehr Lügen: Bald schon ein Jahr lang will man uns weismachen, dass unter den Sanktionen nur die polnischen Bauern leiden würden sowie russophobe Kreativlinge, die vom Leben nur Serrano-Schinken und Parmesan wollen. In Wirklichkeit waren das wieder Bomben auf Woronesh: Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die Datschen-Kooperative Osero und die staatlichen Banken wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigenen Leute zu leiden haben, und wieder die schutzlosen – die, die jetzt gezwungen sind, qualitativ minderwertige Waren zu überhöhten Preisen zu kaufen.

        Auch gibt sich niemand große Mühe zu verbergen, dass die momentanen Probleme der gemeinnützigen Stiftung Dinastija gar nichts mit ihrer eigentlichen Stiftungsarbeit, sondern mit darüber hinausgehenden gesellschaftlich-politischen Aktivitäten ihres Gründers Dimitri Simin zu tun haben. Simin setzt den Verkaufserlös seines Anteils am Telekommunikationsunternehmen VimpelCom nicht so ein, wie es ihm höherstehende Kuratoren aufgetragen bzw. erlaubt hatten: Er bezuschusst die Arbeit unabhängiger Medien, sponsert Vorträge und Bildungsprogramme nicht ganz linientreuer Färbung, und vor allem verheimlicht er seine liberalen Überzeugungen nicht und auch nicht die Absicht, seine privaten Mittel weiterhin für die Stärkung dieser Überzeugungen einzusetzen. Solche Absichten im rechtlichen Rahmen zu bekämpfen, ist unmöglich. Folglich nehmen die Bombenflieger Kurs auf Woronesh. Die Aufnahme der Stiftung Dinastija in die Liste der „ausländischen Agenten“, was für sie das Aus bedeuten könnte, wird Simin sicher nicht davon abhalten, sein Geld in politiknahe Projekte zu stecken, doch die Förderung von exakten und Naturwissenschaften, von aufklärerischen Publikationen sowie die Finanzierung von Preisen und Vorträgen ihrer Autoren wird er aufgeben müssen. Als Reaktion auf Gefahren, die der Führungsklasse drohen – in unserem Fall sind sie sehr vage und vielleicht gar nicht existent –, werden somit wieder einmal Maßnahmen ergriffen, unter denen die Schwachen und Schutzlosen leiden werden.

        Die Vorkommnisse um Dinastija sind zweifelsohne ein Signal – in erster Linie für den Teil der Elite, der seine Entscheidungen immer noch relativ selbstbestimmt trifft (zumindest wenn es darum geht, in welche gesellschaftlich relevanten Projekte es sich lohnt, Geld zu investieren). Deuten kann man das unterschiedlich, und jede Lesart wird teilweise richtig sein. Dass die Finanzierung von oben missbilligter gemeinnütziger und politischer Projekte den direkten Weg in die Verbannung und Emigration bedeutet, weiß man seit dem ersten Yukos-Prozess nur allzu gut. Aber es kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu: Die finanzielle Förderung von Wissenschaft und Bildung, die Publikation von Büchern darüber, was die Welt zusammenhält – das heißt doch der Freigeisterei Tür und Tor zu öffnen! Nach dem Motto: Ihr veröffentlicht hier Bücher von Richard Dawkins, da steht drin, dass es keinen Gott gibt, dass Natur und Evolution auch ganz gut ohne auskommen – wollt ihr etwa auch behaupten, wir bräuchten keinen Putin? Spendet euer Geld lieber für die Errichtung eines Fürst-Wladimir-Denkmals – und das Glück wird über euch kommen. Doch auch diese Interpretation ist am Ende vielleicht zu oberflächlich: Es geht gar nicht darum, dass das Justizministerium (oder die, die dem Justizministerium den entsprechenden Befehl gaben) der Wissenschaft schaden wollte, sie war einfach nur im Weg. Es ist vielmehr so: Wenn du einer von oben nicht sanktionierten gesellschaftlichen Tätigkeit nachgehst, dann ist nicht so sehr diese Tätigkeit in Gefahr, sondern das Selbstlose, Gute und Ungeschützte in deinem Leben. Diejenigen, die von dir abhängen, die dich brauchen. Nicht Kapital, Vermögen und Geldanlagen, sondern Verwandte, gegen die ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, Kinder, die man für eine Krankenhausbehandlung nicht ausreisen lässt, Wissenschaftler, die nicht mehr forschen dürfen, Bücher, die nicht gedruckt werden. Jeder – er muss nicht einmal gegen das Regime kämpfen, sondern sich einfach nur gesellschaftlich für etwas vom Staat nicht Sanktioniertes einsetzen wollen – muss darauf gefasst sein: Woronesh ist ins Visier geraten, seine Einwohner in Geiselhaft. Der Pilot zu allem bereit.

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