Ramsan Kadyrow beschäftigt weiter die russische Öffentlichkeit: Er nimmt Oppositionspolitiker im wahrsten Sinne des Wortes ins Fadenkreuz und Putin lobt ihn für sein „effiziente Amtsführung“. Außenminister Lawrow liefert sich einen Schlagabtausch mit Frank-Walter Steinmeier, während die Kreml-Presse den Besuch von Bayerns Ministerpräsident Seehofer bei Putin feiert. Unterdessen bricht ein russischer Trickfilm um ein kleines Mädchen und einen Bären alle Rekorde. Unsere Presseschau in dieser Woche.
Dass allerdings jemals gegen Kadyrow ermittelt wird, ist mehr als unwahrscheinlich: Wladimir Putin lobte ihn vor kurzem ausdrücklich für seine „effiziente Amtsführung“. Dies nahm RBK zum Anlass für einen kritischen, aber ausführlichen statistischen Überblick in Form der 20 wichtigsten Fakten über Tschetschenien – von der höchsten Geburten- bis zur niedrigsten Kriminalitätsrate Russlands. Hintergrund von Kadyrows Hetzkampagne ist, so Vedomosti, dass sich dieser im Herbst erstmals in Tschetschenien zur Wahl stellen muss. Seine Amtszeit läuft aber offiziell schon im März aus, zu diesem Zeitpunkt müsste er also von Putin als Verweser seines eigenen Amtes eingesetzt werden. Deshalb will er sich als treuester Gefolgsmann des Präsidenten profilieren. Kadyrows Informationsminister versuchte im Nachhinein, die Kassjanow-Episode als Witz abzutun: Die Oppositionellen seien im Fadenkreuz eines Periskops abgebildet gewesen, behauptete er.
Lisa und Lawrow. Im Fall von „Lisa aus Berlin“ beruhigen sich die Gemüter langsam wieder, sowohl in Deutschland wie auch in Russland. Was nun wirklich mit Lisa während ihres 30stündigen Verschwindens passiert ist, interessiert zunehmend weniger – vor allem jene Medien, die auf russischer Seite die Empörung angefeuert hatten. Vesti, die Nachrichtensendung des Staatssenders Rossija, übernimmt beispielsweise weiterhin nur die Darstellung von Lisas Mutter (anhand eines Interviews mit Spiegel TV). Unabhängige Medien wieMeduzabemühen sich hingegen, die Sache aufzuarbeiten – und schreiben über die Probleme des Mädchens mit den Eltern und in der Schule wie auch über ihre Bekanntschaften mit volljährigen Männern.Gazeta.ru geht der Frage nach, inwieweit der Skandal den Ruf des russischen Außenministeriums beschädigt hat. Den Höhepunkt bildete in der vergangenen Woche ein Schlagabtausch zwischen den Außenministern beider Länder: Lawrow warf den deutschen Behörden vor, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen, Steinmeier tadelte Russland daraufhin wegen einer Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Propaganda. Lawrow erwiderte wiederum pikiert, dass es sich schließlich auch der Westen ständig erlaube, mutmaßliche Verletzungen von Menschenrechten einzelner Personen in Russland an die große Glocke zu hängen. Die Novaja Gazeta bringt dazu ein Interview mit dem ehemaligen Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster. Der überzeugte Putin-Kritiker bezeichnet den „Fall Lisa“ als vom russischen Geheimdienst aufgegriffene Gelegenheit für eine Propaganda-Show. Das Ziel sei, in Russland wie auch unter den Russischsprachigen in Deutschland Stimmung gegen die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu machen. Laut Reitschuster gibt es Hinweise auf einen russischen Plan, „Merkel zu stürzen“, denn sie sei „der Hauptgegner Moskaus“. Derartige Vorwürfe nötigten wiederum Putins Pressesprecher Dimitri Peskow zu einem Dementi: Russland schütze lediglich die Interessen seiner Staatsbürger, irgendwelche geheimen Intrigen dürfe man darin nicht suchen, erklärte er.
Mascha und der Bär. Lächerlich und vergeblich müssen all diese angestrengten Bemühungen um Meinungsmache und öffentliche Präsenz erscheinen, wenn man sie mit dem Medienerfolg von Russlands populärstem Exportprodukt vergleicht. Es heißt, nein – nicht Erdgas und auch nicht Kalaschnikow, sondern „Mascha und der Bär“. Nie gehört oder gesehen? Dann wird es höchste Zeit – eine 2012 veröffentlichte Folge unter dem Titel „Mascha plus Kascha“ dieser Trickfilmreihe hat jetzt bei Youtube die Schallmauer von 1 Milliarde Views (!) geknackt – was bisher nur 20 Webvideos überhaupt gelang. Das war sogar dem seriösen Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Kommentar wert: Schließlich verdient das hochprofessionelle Moskauer TrickfilmstudioAnimaccordmit seinem Mascha-Klamauk (es gibt ihn hier auch auf Englisch) allein auf Youtube jeden Monat 1,5 Mio. Dollar.
Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.
Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.
Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.
Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.
All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.
Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.
Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.
Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.
Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.
The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.
Am 14. Januar hat der Kanal Swesdaeine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.
Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen
In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.
„Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt
„Horrorgeschichten“ aus der EU
Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.
Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt
Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.
Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.
Neuer Aufschwung für PEGIDA
Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.
2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:
„Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen. In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“
Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“
The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.
PEGIDA-Kundgebung in Hannover
Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“
Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr
Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.
Russisches TV als Informationsquelle
Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.
Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.
Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen: Der russische Präsident erteilte der zuvor oft beschworenen Partnerschaft mit der NATO ein klare Absage und positionierte Russland in unerwartet deutlicher Rhetorik als wiedererstarkte Weltmacht, die in der von ihm propagierten multipolaren Weltordnung ihre eigene Rolle zu spielen gedenke. Wie unerwartet diese Äußerungen für den größten Teil der Zuhörer kamen, ja wie schockierend sie für viele waren, rekonstruierte kürzlich der CICERO: „Die Konferenzgäste tauschen ungläubige Blicke aus, heben die Hände, zucken die Schultern. Alle Gesten fragen dasselbe: Was soll das?“ Manche, berichtet der Autor des Artikels, sprachen gar vom Beginn eines neuen Kalten Krieges.
Mitte Februar steht nun wieder eine Sicherheitskonferenz in München an, zu der ursprünglich Putin erwartet wurde, nun aber wohl doch Premierminister Medwedew oder Außenminister Lawrow fahren werden – letzte Klarheit darüber, wer die russische Delegation leiten wird, scheint noch nicht erreicht. Die Tatsache, dass Putin kürzlich der BILD ein ausführliches programmatisches Interview gegeben hat, lässt vermuten, dass auch die diesjährige Konferenz den Rahmen für eine russische Standortbestimmung bieten könnte. In welcher Weise könnte Russland die heißen Eisen Ukraine, europäische Sicherheit, Terrorismus in der derzeitigen angespannten Situation handhaben? Wird versucht, einen neuen Dialog mit dem Westen anzuknüpfen, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation? Darüber macht sich Wladimir Frolow für SLON Gedanken.
Wladimir Putin wurde zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen, die traditionell im Februar stattfindet. Und obwohl die Teilnahme des russischen Präsidenten noch nicht offiziell bestätigt ist, gibt es Anzeichen, dass seine neue „Münchner Rede“ schon in Arbeit ist. Einmal in seinem letzten Interview in der deutschen Klatschpresse, und in dem neuen Dokumentarfilm Weltordnung, in dem Putin seine Sicht auf die heutige Welt darlegt.
Offenbar will sich Putin mit dem Westen aussprechen, und die neue Münchner Rede ist das ideale Format dafür. So erklärt sich auch die für viele befremdliche Auswahl der Boulevardzeitung BILDals Plattform für ein richtungsweisendes Interview. Die BILD ist eine Botschaft „an die Welt“ und „an die Völker“ (orbi). Der Auftritt auf der Münchner Konferenz eine Botschaft „an die Stadt“ (urbi) – also die westlichen Eliten.
Sagt uns nicht, wie wir leben sollen
Sollte Putin nach München fahren, dann wäre das ein mutiger Schritt. Im Vorjahr hatte man als Abgesandten den russischen Außenminister Sergej Lawrow dorthin geschickt, der vor dem Hintergrund des glänzenden Angriffs russischer „Freiwilliger und Fronturlauber“ auf den Donezker Flughafen und auf Debalzewo [Debalzewe] massivem Widerstand ausgesetzt war, um nicht zu sagen ausgelacht wurde. Das Publikum dort ist gnadenlos, und Antworten auf Zuhörerfragen gehören zum Format.
Im Laufe des Jahres ist aber, insbesondere seit dem Einsatz Russlands in Syrien, das Beziehungsklima zwischen Russland und dem Westen etwas milder geworden, und neuerliche Widerstände in München wird es wohl nicht geben. Auch weil Putin ein erfahrener Polemiker ist und auf unbequeme Fragen zu antworten weiß. In letzter Zeit allerdings klingt es immer mehr nach einem „sagt uns nicht, wie wir leben sollen“.
Die letzten Auftritte des russischen Präsidenten bestanden vorwiegend in der Aufzählung wohlbekannter Kränkungen, die der arglistige Westen, allen voran die USA, Russland zugefügt hat: die Ausweitung der NATO, die militärischen Interventionen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der vom CIA initiierte Arabische Frühling und die Destabilisierung des Nahen Ostens, der Ausbau der Raketenabwehr in Europa und Asien, der „Staatsstreich in Kiew“ und die „dumme Verhängung von Sanktionen gegen Russland“.
Doch dieses sentimentale Narrativ ist vor allem faktisch nicht ganz korrekt.
Der Streit um angebliche Versprechen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands die NATO nicht Richtung Osten auszuweiten, ist schon lange beigelegt. Derartige Versprechen, geschweige denn Verpflichtungen, hat es einfach nie gegeben: Im Jahr 1990 hatte niemand an eine NATO-Osterweiterung gedacht. Es gab lediglich das Versprechen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Truppen anderer NATO-Länder bereitzustellen (die Armee der BRD betraf das nicht).
Ausreichend wirksam verfocht Russland seine Sicherheitsinteressen in der Grundakte von 1997, in der verankert wurde, dass auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder keine Atomwaffen, keine militärische Infrastruktur und keine wesentlichen Truppenkontingente stationiert werden. Diese Garantien werden bis dato eingehalten. Ungeachtet dessen, dass einzelne NATO-Mitglieder versuchen, sie als Reaktion auf Russlands Vorgehen in der Ukraine und sein demonstratives militärisches Muskelspiel an den Nato-Grenzen aufzuheben.
Doch derartige Zwistigkeiten interessieren heute kaum jemanden, etwas Neues muss her. Was genau hat Moskau im Angebot?
Der erboste Moralapostel
In den 70er und 80er Jahren bestand eine Tradition der sowjetischen Außenpolitik darin, dass die UdSSR-Führung bei internationalen Themen stets öffentlich mit großangelegten Initiativen zur Friedensthematik auftrat (meistens ging es um atomare Abrüstung). Diese Initiativen wurden sodann auf internationalen Foren und in bilateralen Verhandlungen diskutiert und weiterentwickelt. Doch Wladimir Putin bringt in letzter Zeit nichts dergleichen hervor, abgesehen von seinem nicht auf Gegenliebe stoßenden Vorschlag an die UNO, gegen die in Russland verbotene Terrororganisation ISIS eine „neue Anti-Hitler-Koalition“ zu gründen. Ansonsten gibt es lediglich Versuche, den Westen mit Moralpredigten zu belehren.
Wie der Politologe Iwan Krastew feststellt, wirkt Wladimir Putin im Film Weltordnung wie ein „erboster Moralapostel“, der die Außenwelt wie ein „Familiendrama um Liebe, Hass und Verrat“ betrachtet. Russlands Außenpolitik der letzten Jahre beschreibt Krastew als „Großmachtsgefühlsduselei“, die sich nicht auf nüchternes Kalkül von Interessen stützt, sondern auf Kränkung durch Ungerechtigkeit.
Moskau ist der Ansicht, das europäische Sicherheitssystem befinde sich aufgrund der Osterweiterung von NATO und EU in der Krise. Diese Politik bedrohe die Interessen Russlands, das geradezu gezwungen gewesen sei, über die Angliederung der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donezbecken Gewalt anzuwenden, um „eine weitere Expansion westlicher Bündnisse auf für Moskau überlebenswichtige Territorien aufzuhalten …“.
Damit möchte Moskau natürlich dem Westen gegenüber rechtfertigen, dass es 2014 in der Ukraine die Hölle anfachte, anstatt, wie 2005, mit der bestehenden Regierung zu verhandeln. Doch für den Westen funktioniert diese Logik nicht. Die europäische Ordnung sah definitiv stabil und sicher aus. Die Probleme begannen 2014, und es war völlig klar, wer sie lostrat.
Die Frage der Agenda
Doch was kann das europäische Sicherheitssystem ersetzen, und wie kann das Sicherheitsvakuum gefüllt werden? Putin sagt im Großen und Ganzen, man hätte die mittel- und osteuropäischen Länder nicht in die NATO aufnehmen, sondern etwas „Neues, Gemeinsames, Europa Vereinendes“ schaffen sollen. Damit führt er quasi von Neuem die Breschnew-Doktrin ein: eine beschränkte Souveränität der zwischen Russland und Westeuropa liegenden europäischen Staaten – in einer Form, die sich nun schon weit über den postsowjetischen Raum hinaus erstreckt.
Gleichzeitig leistet sich Putin ein paar ziemlich unvorsichtige Aussagen. Zum Beispiel spricht er von der Priorität „menschlicher Schicksale“ vor Grenzen, vom Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Wogegen Moskau mit dem Konflikt im Nordkaukasus die gesamten 1990er Jahre hindurch deutlich verstieß. Ganz abgesehen vom „Prinzip der Gerechtigkeit“, das er zur Lösung territorialer Unstimmigkeiten ins Instrumentarium der russischen Politik übernahm (nun ja, Japan könnte ihm beipflichten).
Mit einem solchen Ideensortiment kann man in München nicht auf Erfolg zählen, und der Kreml wird sich für all diese mehrdeutigen Thesen eine unschuldigere Interpretation überlegen müssen. Eine positive Agenda von russischer Seite steht noch aus.
Die NATO auflösen?
Vielleicht hat Moskau vor, dem Westen eine aktualisierte Version des Vertrags über europäische Sicherheit vorzulegen – dieser Vertrag war die erste außenpolitische Initiative von Präsident Medwedew, sehr feierlich am 5. Juni 2008 in Berlin verkündet und bisher der fundierteste Vorschlag der Russischen Föderation zur Modernisierung des europäischen Sicherheitssystems. Er sollte eine Mischung darstellen aus Nichtangriffspakten vom Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928) und den Statuten des Völkerbundes. Er schlug – gestützt auf die These einer geeinten und unteilbaren Sicherheit – ein Beratungssystem der Mitgliedsländer vor, das Russland ein schlecht verschleiertes Vetorecht gegen alle Unternehmungen der NATO eingeräumt hätte.
Das ist natürlich besser, als NATO und EU aufzulösen oder ein neues Jalta-Abkommen über die Aufteilung der Einflusssphären zu schließen. Doch der Westen braucht einen solchen Vertrag nicht, insofern ist hier kein Erfolg zu erwarten. Außerdem wird Putin wohl kaum mit dem Ziel nach München fliegen, die gescheiterte Initiative Medwedews fortzuführen.
Vor dem Hintergrund des Feldzugs in Syrien ist zu erwarten, dass Putin in seiner Münchner Rede den Schwerpunkt darauf setzen wird, gemeinsam mit dem Westen den internationalen Terrorismus im Nahen Osten und in Afghanistan zu bekämpfen. Erst recht, weil in dieser Hinsicht bereits erste Schritte mit Frankreich gemacht worden sind, was Syrien betrifft (Putin bezeichnete französische Militärangehörige als „Verbündete“), und manche Vorzeichen auch für eine solche Entwicklung in Libyen sprechen.
Moskau formuliert derzeit neue Organisationsprinzipien seiner Außenpolitik: Maßnahmen gegen die Verbreitung von Chaos und den Zusammenbruch des Staatswesens sowie die Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle in denjenigen Regionen, die für die Russische Föderation von existentiellem Interesse sind. Hier wird dem Anspruch nach eine neue außenpolitische Doktrin formuliert, die im Gegensatz zur amerikanischen Doktrin der „Förderung von Demokratie“ steht. Stattdessen bietet Moskau die Erhaltung und Festigung autoritärer Regime als schrittweisen Übergang zu einer Demokratie mit „nationaler Färbung“. Das ist natürlich eine globale Agenda, die Agenda einer Supermacht. Aber mit Europas Sicherheit steht sie indirekt dennoch in Zusammenhang.
Taktik der kleinen Schritte
In München will man jedoch etwas anderes hören: vor allem von einem Ende des Konflikts in der Ostukraine. Aber alles hängt am Unwillen Moskaus, sich auf die Demontage der „Volksrepubliken“ einzulassen. Und Anzeichen, dass man diese Position überdenkt, gibt es bislang nicht. Eher setzt man darauf, dass durch Kiews Verschulden die Verhandlungen scheitern und die Sanktionen aufgehoben werden, weil Minsk II (die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zur Russischen Föderation) von Seiten der Ukraine nicht erfüllt werden kann.
Wenn Wladimir Putin den Dialog mit dem Westen über Sicherheit wiederaufzunehmen und das unglückliche Kapitel „Ukraine“ irgendwie zu beenden gedenkt, sollte er Themen wie Geopolitik, Aufteilung von Einflusssphären, neue Weltordnung und Umformatierung der bestehenden europäischen Sicherheitsstrukturen lieber vermeiden.
Wenn aber der russischen Regierung die konfrontative Atmosphäre des Blockdenkens lieber ist, dann gibt es keinen besseren Weg, die eigene Bedeutsamkeit auf den Status einer Supermacht zu heben, als den, mit der NATO über Rüstungsbeschränkungen zu verhandeln.
Der Sorge darüber, dass die jeweiligen militärischen Infrastrukturen territorial wieder näher aneinander heranrücken, kann durch eine Modernisierung des Wiener Dokuments entgegengetreten werden: zum Beispiel, indem man die Anforderungen verschärft, dass geplante Manöver – eben auch jene, die zur Überprüfung der Kampfbereitschaft überraschend durchgeführt werden – unbedingt angekündigt werden müssen, sowie durch neue Abkommen über die Abwehr militärischer Vorfälle im Luftraum und auf See.
Man könnte weitergehen und die Verhandlungen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa wiederaufnehmen (2015 hat Russland seine Mitwirkung an den Mechanismen des KSE-Vertrags aufgekündigt) und neue Beschränkungen für den Aufbau schwerer Waffen ausarbeiten, durch die die Angst vor einem plötzlichen Einmarsch sinken würde. Man könnte den Dialog über Raketenabwehr und den Austausch von Daten zu Raketenstarts, über die Art der Bedrohung durch Raketen und das Zusammenspiel der Systeme von NATO und Russland weiterführen.
Auf dem Gebiet der Sicherheit gibt es eine gemeinsame Agenda, mit der man sich befassen könnte, um so allmählich wieder Vertrauen aufzubauen. Würde Putin den Akzent auf eine reale, nicht auf eine fiktive Agenda setzen, auf eine Rückkehr zur Taktik der kleinen, aber konsequenten Schritte, auf Berechenbarkeit, so würde seine zweite Münchner Rede bedeutender werden als die erste. Sofern er sich überhaupt zu dieser Reise entschließt.
Viele der gewalttätigen Episoden, die sich seit dem Zerfall der Sowjetunion am Rande des ehemaligen Imperiums abgespielt haben, sind heute weitestgehend aus der Erinnerung verschwunden. Oleg Kaschin widmet dem als Blutsonntag in die Geschichte eingegangenen Tag des sowjetischen Einmarsches in Litauen eine nachdenkliche Rückschau. Er fragt, welche Lektionen Russland aus diesen Ereignissen für die Gegenwart lernen könnte.
25 Jahre sind vergangen seit dem Tag, als die Sowjetunion mit Panzern in Litauen einrückte, um sich dort zu verabschieden. Der 13. Januar ist der traurigste Tag in der postsowjetischen Geschichte Litauens: der Blutsonntag, als Abschluss eines zehnmonatigen Widerstands der Litauischen SSR, die im März 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, gegen das sowjetische Zentrum, das sich nicht mit dem Zerfall des Landes abfinden wollte. Der Nervenkrieg zwischen Moskau und Vilnius, zu dem ab Herbst 1990 die Wirtschaftsblockade gegen Litauen gehörte, endete mit sozial und wirtschaftlich motivierten Massendemonstrationen, dem Rücktritt der litauischen Regierung und schließlich mit einem prosowjetischen Staatsstreich: Ein anonymes Komitee zur nationalen Rettung, auf dessen Bitte sowjetische Truppen in Vilnius einrückten, erklärte, die Macht in der Republik übernommen zu haben. Die Truppen besetzten die zentrale Druckerei und den Fernsehturm (bei dessen Erstürmung Zivilisten, die litauischen „himmlischen Hundertschaften“ sowie ein Soldat der Alfa-Spezialkräfte ums Leben kamen); an das verbarrikadierte Parlament, zu dessen Verteidigung sich mehrere tausend Bewohner der Stadt aufgebaut hatten, wagten sie sich nicht heran. Die merkwürdige Doppelherrschaft dauerte in Litauen noch bis August, und nach dem Scheitern des Staatskomitees für den Ausnahmezustand GKTschP [und damit dem Scheitern des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow – dek] erkannte das neue Machtorgan, der Staatsrat der UdSSR, die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands an.
Die Dialektik des Totalitarismus zeigt sich darin, dass die Volksaufstände in der Sowjetunion nicht von den Diktatoren Stalin und Breshnew gewaltsam niedergeschlagen wurden, sondern von den Demokraten Chruschtschow und Gorbatschow. Für letzteren wurde Vilnius 91 zum Schlussakt eines Dramas, das ihn seine gesamte Amtszeit über begleitete, seit er im Dezember 1986 erstmals Gewalt anwenden musste – das war in Alma-Ata gegen kasachische [Demonstranten – dek], die mit der Ernennung eines Russen zum Ersten Sekretär der kasachischen Kommunistischen Partei nicht einverstanden waren. Wenngleich Gorbatschow den Massen als Schwächling in Erinnerung geblieben ist, der – sei es aus Dummheit oder aus böser Absicht – die Sowjetunion zugrunde gerichtet hat, war er es, der den Rekord für Truppeneinsätze im Innern gebrochen hat, mit dem Ziel, die Einheit des Landes zu erhalten. Litauen fordert von Russland bis heute die Auslieferung des Friedensnobelpreisträgers, um ihn zu den Ereignissen des „Blutsonntags“ zu vernehmen – das wird natürlich kaum jemals geschehen, aber Vilnius bleibt in der Sache äußerst hartnäckig. In einem anderen Fall, dem von Belarus, ist die Auslieferung der Führer der litauischen Kommunistischen Partei Mykolas Burokevitschjus und Juozas Jermalavitschjus an Litauen im Jahr 1994 aufgrund derselben Anschuldigung Teil der Landesgeschichte – sie führte zum Rücktritt der gesamten belarussischen Führung unter Stanislau Schuschkewitsch und zu einer tiefgreifenden politischen Krise, die damit endete, dass Alexander Lukaschenko an die Macht kam.
Für Litauen ist der Januar 1991 einer der großen Momente seiner Nationalgeschichte, die tatsächliche Erlangung der Unabhängigkeit, ein blutiges Drama mit, so seltsam das klingen mag, vollkommenem Happyend. Für Russland ein nahezu vergessener Perestroika-Vorfall an der Peripherie, eine von vielen Geschichten der Art, an die man sich besser nicht erinnert – stolz kann man nicht darauf sein, und Nutzen haben sie auch keinen.
Erinnert man sich aber doch, so sollte uns Russen nicht allein der litauische Fall interessieren, der zeigte, dass unbewaffnete, von der Freiheit träumende Menschen stärker sein können als Panzer. Interessanter und wichtiger ist es, dass wir uns an die erste Reaktion des offiziellen Moskaus auf das Blut in Vilnius erinnern.
Drei Tage nach der Erstürmung des Fernsehturms erklärten Präsident Gorbatschow und Verteidigungsminister Jasow auf einer Sitzung des sowjetischen Parlaments, ihnen sei nicht bekannt, wer den Truppeneinsatzbefehl gegeben habe, und die einzige praktische Konsequenz aus den litauischen Ereignissen war eine Verschärfung des Pressegesetzes, denn natürlich war die Presse daran schuld, dass Menschen ums Leben gekommen waren. Die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, war von jeher ein Schwachpunkt des Kreml. In den Jahren unter Putin ist das absolut blamable „Wir waren’s nicht!” praktisch zum zentralen staatlichen Motto geworden.
Es lohnt auch, sich das Schicksal der Gruppe von prosowjetischen Funktionären zu vergegenwärtigen, die die Basis des Komitees zur nationalen Rettung gebildet hatte – nicht einer dieser prosowjetischen Litauer, die sich im Konflikt zwischen Moskau und Vilnius auf die Seite Moskaus gestellt hatten, konnte später auf dessen Unterstützung zählen. Moskau rettete niemanden vor dem Gefängnis, half niemandem, sich der Verfolgung entziehen. Der Einzige, dem das halbwegs gelang, war der Zweite Sekretär der litauischen Kommunistischen Partei Wladislaw Schwed, der in den neunziger Jahren in Moskau im Parteiapparat der LDPR Karriere machte, doch auch Schwed musste, um bis zu Shirinowski zu gelangen, einige Zeit im Vilniuser Lukischkes-Gefängnis absitzen. Moskau lässt seine eigenen Leute immer wieder fallen, Moskau schert sich nicht um seine situativen Verbündeten, und die Erfahrung der prosowjetischen Litauer wäre vermutlich nicht uninteressant für die moskautreuen Feldkommandeure und Politiker im heutigen Donbass, denn auch die können natürlich weder heute noch in Zukunft auf irgendetwas zählen. Auf der Krim waren es Sergej Axjonow und Natalja Poklonskaja, die das Komitee zur nationalen Rettung bildeten, und wie heiter ihr Leben in Zukunft noch aussehen wird, kann wohl niemand wissen.
Die Erfahrung des prosowjetischen Umsturzes in Litauen zeigt auch, dass sich Moskau vor 25 Jahren wie auch später nicht derart verhalten konnte bzw. zu verhalten lernte, dass es vom Zerfall des [Sowjet-] Imperiums profitierte oder zumindest keinen Schaden nahm. Tschetschenien 1994 (unter Berücksichtigung der dortigen Gemütsart und Kriegsfertigkeit) war fast eine wörtliche Wiederholung des litauischen Szenarios von 1991. Als Oberst Maschadow bereits Militärführer der Tschetschenischen Republik Itschkerien war, erinnerte er sich immer noch gerne an seine letzte Parade am 9. Mai 1991 in Vilnius, als seine Soldaten durch die Stadt liefen und von der dortigen Bevölkerung verflucht und bespuckt wurden – offensichtlich ähnelten sich Tschetschenien und Litauen stärker, als man gedacht hätte. Wer garantiert denn, dass die Konflikte im Kaukasus in den nächsten Jahren nicht wieder aufflammen. Hat Moskau diesbezüglich irgendwelche produktiven Ideen, außer dem Allheilmittel „Kadyrow noch mehr Geld geben“?
Über die ganzen 25 Jahre hat niemand die Frage beantwortet, wie sich Moskau verhalten soll, damit die Krisen an der Peripherie nicht in einer Bluthölle enden, und was Gorbatschow hätte tun sollen, damit er für Litauen genau so ein Held und Retter vor dem Totalitarismus geblieben wäre wie für den übrigen Westen. Wobei Litauen noch ein einfaches Beispiel ist, es gab auch noch, nun ja, Baku 1990, wo Gorbatschow ebenfalls Panzer hinschickte (für das heutige Aserbaidschan ist er genau so ein Übeltäter wie für Litauen), aber in Baku gab es auch noch das Progrom an den Armeniern – was also hätte man tun sollen: ohne Panzer auskommen und sich mit dem Gemetzel abfinden? Eine Antwort gibt es bis heute nicht.
Eine Antwort gibt es bis heute nicht, aber sie wäre nötig: Es gibt keine Garantie, dass die Erfahrungen aus dem Zerfall des Imperiums für Russland nicht doch noch einmal wichtig werden, zumal Russland vor regionalen politischen Krisen unterschiedlicher Heftigkeit nicht gefeit ist. Vor einigen Jahren haben Moskauer OMON-Truppen die Automobilisten-Demos in Wladiwostok auseinandergetrieben (und die Lokalpresse schrieb, wie 1991 die litauische, von einem Blutsonntag) – das ist wohl auch eine Lektion des Jahres 1991, wenn auch aus weit fleischärmerem Material als bei den Litauern.
Der 13. Januar 1991 ist für Russland ein Tag der nicht gelernten Lektionen und der unangenehmen Fragen. Wahrscheinlich bleibt unserem Land noch einige Zeit, um diesen Fragen und Lektionen auszuweichen, doch höchstwahrscheinlich nicht viel Zeit, und über einiges sollte man sich besser jetzt schon genau klarwerden.
Die Einschränkung der Menschenrechte in Russland geht weiter: Ein neues Gesetz hebelt die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus. Auf seiner alljährlichen Pressekonferenz vermeidet Putin Aussagen zu den innenpolitischen Skandalen des Jahres und beschwört Stabilität und internationalen Einfluss Russlands, während türkische Staatsbürger mit Anfeindungen der Behörden zu kämpfen haben. Außerdem: Hype um den neuen Star Wars-Film.
Menschenrechte. Es sind keine guten Nachrichten zum Thema Menschenrechte,die in der vergangenen Woche in Russland für Schlagzeilen sorgten. Nachdem der Aktivist Ildar Dadin wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Protestaktionen zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, unterschrieb Präsident Wladimir Putin am Dienstag ein Gesetz, laut welchem Urteile des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) für Russland nicht mehr bindend sind. Moskau hat nun neu die Möglichkeit, dessen Urteile durch den Verfassungsgerichtshof zu prüfen. Stellt der fest, dass diese gegen das Grundgesetz verstoßen, müssen die Urteile des EGMR nicht mehr umgesetzt werden.
Die Staatsmedien begrüßen den Schritt. Nun habe die russische Justiz eine Möglichkeit erhalten, Entscheidungen des EGMR zu korrigieren, schreibt die regierungseigene ZeitungRusskaja Gazeta. Moskau müsse sich vor weiteren anti-russischen Entscheidungen des EGMR schützen, behauptet Ria Novosti. Nach dem politisch motivierten Entscheid in der Yukos-Affäre, bei der das Straßburger Gericht Moskau zu einer Zahlung von 1,9 Milliarden Euro an die ehemaligen Aktionäre des 2007 aufgelösten Ölkonzerns verurteilte, müsse in Zukunft mit allem gerechnet werden, gab sich die Nachrichtenagentur überzeugt.
Russland hat sich jedoch mit dem Beitritt zum Europarat 1996 und der zwei Jahre später erfolgten Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu verpflichtet, die Urteile des EGMR umzusetzen. Der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow kritisiert, dass Russland sich darauf beschränkt, Entschädigungssummen zu bezahlen, Aufforderungen zu systematischen Reformen würden hingegen nicht umgesetzt. Für viele russische Bürger ist das Gericht in Straßburg eine wichtige Instanz: Nach der Ukraine und Italien stammten 2014 die meisten anhängigen Fälle aus Russland. Die ehemaligen Yukos-Aktionäre haben den EGMR ebenso angerufen, wie etwa die Hinterbliebenen der Geiselnahme in Beslan, Opfer des Atomunfalls in Majak und auch die Anwälte von Ildar Dadin.
Jahrespressekonferenz des Kremls. Bereits zum elften Mal lud der Kreml zur Pressekonferenz von Präsident Putin, neben dem Direkten Draht der zweite mehrstündige Live-Auftritt pro Jahr des russischen Präsidenten. Und so versuchten mehr als 1000 akkreditierte Journalisten aus dem In- und Ausland mit lautem Rufen und selbstgemalten Schildern, Putin und seinen Pressechef Dimitri Peskow auf sich aufmerksam zu machen, um ihre Frage stellen zu können.
Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise interessierte die Pressevertreter hauptsächlich die Entwicklung des Ölpreises und wie stark die Pensionen 2016 der Inflation angepasst werden (vorgesehen ist eine Indexierung von vier Prozent). Ebenso angesprochen wurden die Proteste der Lastwagenfahrer, die immer noch gegen eine neue Maut protestieren oder das seit dem Abschuss der SU-24 stark belastete Verhältnis zur Türkei. Hier das komplette Transkript mit allen Details der knapp über dreistündigen Veranstaltung. Eine Frage betraf auch die innenpolitischen Skandale der letzten Monate: den Mord an Boris Nemzow, die Korruptionsaffäre um Generalstaatsanwalt Juri Tschaika oder die steile Karriere von Putins angeblicher Tochter und den Geschäften ihres Ehemannes. Putin vermied klare Antworten, wich aus. Im Online-Magazin znak.com schreibt die Fragestellerin später, wichtiger als überhaupt Antworten zu erhalten sei ihr gewesen, dass solche Fragen im landesweiten Fernsehen überhaupt gestellt würden.
Während Vedomosti auf der Pressekonferenz einen eher müden, uninteressierten Putin sah, welcher aus Gründen der Staatsräson mit diesem öffentlichen Auftritt Stabilität zu demonstrieren versuchte, zeigte sich die kremltreue Presse zufrieden. Schützend habe sich der Präsident vor den Generalstaatsanwalt und die Minister gestellt, welche von der Opposition angegriffen wurden. Damit demonstriert Putin, dass der Kreml in Krisenzeiten erst recht nicht auf Druck reagiere, schreibt der Moskovski Komsomolets. Der Präsident habe gezeigt, wer am Steuer sitzt und das seine Hände nicht zittern, so die Zeitung weiter. Noch weiter ging der Politologe Sergej Markow in einem Kommentar für Izvestia: Es sei egal, dass auf der Pressekonferenz mit keinen wirklichen Neuigkeiten aufgewartet wurde. Die russische Armee in Syrien und die humanitären Konvois, mit welchen Moskau seit mehr als einem Jahr den Donbass versorgt, sprechen im Namen Putins. Der Präsident spreche nicht durch Worte, sondern er liebe es, seine Taten für sich sprechen zu lassen. Und dafür lieben ihn die Bürger und fürchten ihn seine Gegner, schreibt Markow weiter.
Türkei. Welche realen Konsequenzen die scharfe Rhetorik russischer Offizieller hat, zeigt sich dieser Tage. Bereits bevor mit Jahreswechsel das Gesetz in Kraft tritt, das russischen Arbeitgebern untersagt, Menschen mit türkischem Pass anzustellen, nimmt der Druck auf die rund 200.000 türkischen Staatsbürger zu, welche in Russland arbeiten oder studieren. WieMediazonaschreibt, sehen sich diese plötzlich verstärkten Kontrollen ausgesetzt, etwa bei der Passkontrolle am Flughafen oder durch den Föderalen Migrationsdienst, der verstärkt Kontrollen an den Arbeitsorten durchführt. Meduza.ioberichtet gar von Studenten, die ihre Studienplätze wegen angeblichen Drogenmissbrauchs oder des Verdachts auf Terrorismus verloren haben.
Star Wars. Der mittlerweile siebte Teil der Star Wars-Reihe sorgt auch in Russland für Aufsehen. Ganz im Gegensatz zu 1977: Als in den USA der erste Teil der Weltraumsaga in die Kinos kam, nahm das in der UdSSR so gut wie niemand zur Kenntnis, schreibt die Izvestia. Erste sowjetische Kritiken betrachteten damals den Film, abgesehen von den Spezialeffekten, als nichts besonderes, später wurde etwa die Ähnlicheit der Uniformen der imperialen Sturmtruppen mit denen sozialistischer Länder festgestellt und daran antisowjetische Züge von Star Wars festgemacht. Erst 1990 kam der erste Film der Trilogie in der Sowjetunion in den regulären Kinoverleih, mit absolut sehenswerten Plakaten (ganz herunterscrollen), die eigens für die Kinos entworfen wurden. Für den aktuellen Film hängen nun seit Wochen riesige Werbeposter im Zentrum Moskaus, auf denen Filmfiguren für die Produkte eines Kreditkartenunternehmens werben.
Vor drei Jahren wurde das sogenannte „NGO-Agentengesetz“ erlassen. Das Gesetz soll formal die Finanzierung von Zivilgesellschafts-Organisationen aus dem Ausland stoppen. De facto aber entzieht es unbequemen Gruppen die rechtliche Existenzgrundlage. Was machen sie daraus?
Igor Sashin, Vorsitzender der Menschenrechtskommission Memorial in der Republik Komi, Syktywkar
Wir sind keine „ausländischen Agenten“, wir sind Menschenrechtsaktivisten, und wir wollen als Menschenrechtsaktivisten überleben. Dieses ganze Theater mit den „ausländischen Agenten“ ist ein Versuch, uns anzuschwärzen und durch den Dreck zu ziehen. Wir finden das abscheulich, ekelhaft. Die haben versucht, uns diesen Stempel aufzudrücken, wir finden das ungeheuerlich.1 Laut dem Gesetz, seinen Implikationen und sämtlichen gängigen Anwendungspraktiken hätten wir nicht darunter fallen dürfen. Vor diesem Hintergrund haben wir dann die Organisation geschlossen. Wir haben alle dafür nötigen Papiere eingereicht, eine Auflösungskommission eingesetzt und sämtliche Konten aufgelöst. Das sind Dinge, die parallel laufen, all so Zeug eben, soll das laufen, wie es will. Aber sämtliche Menschenrechtsaktivitäten, die mit konkreter Hilfe zu tun haben, führen wir unverändert fort.
Wir gehen in die Gerichte, haben immer noch Sprechzeiten und unterstützen Menschen, indem wir sie beraten und unsere Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen. Wir machen weiter mit unseren Monitorings und Nachforschungen, treffen Vertreter verschiedener Institutionen und versuchen sie zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen. Wir machen weiter, Arbeit gibt es genug.
Es gibt immer Menschen, die leiden. Menschen, die den Handlungen Stärkerer zum Opfer fallen, und die müssen verteidigt werden. Daran kommen wir nicht vorbei. Die Welt geht kaputt, die Starken fressen die Schwachen. Da muss sich jemand dazwischen stellen.
Der Rest muss einem echt total egal sein. Es wird immer Leute geben, die einem zuschauen, wie man etwas Gutes tut, und einen dann dringend mit Dreck bewerfen und ins Gesicht spucken wollen. Die werden einen ständig besudeln und stören, aber das ändert gar nichts, tut mir leid. Unsere Aufgabe bleibt es, Menschen zu helfen, egal was passiert und welche Bedingungen man uns aufzwingt. Denn es gibt sonst niemanden, der den Schwachen hilft und ihnen zur Seite steht – auch den Allerschwächsten und selbst dann, wenn es ganz üble Gestalten sind.
In Komi haben sie zum Beispiel gerade Gajser und seine Seilschaft verhaftet. Die werden jetzt von jedem als Fußabtreter benutzt, aber man muss sich trotz allem für sie einsetzen, weil zwei von ihnen schwer krank sind. Man muss klären, warum sie inhaftiert sind – einer aus der Truppe ist schwerbehindert und ein anderer ist totkrank, er hat Krebs. Das gehört zum Leben, aber das geht so nicht.
Wioletta Grudina, Aktivistin der regionalen Initiativgruppe Maximum, Murmansk
Unter Menschenrechtsorganisationen wird inzwischen schon gewitzelt: Wenn du nicht auf der Liste der „ausländischen Agenten“ stehst, hast du nichts erreicht.
Uns hat man vor etwa einem Jahr als „ausländische Agenten“ eingestuft, im Februar. Wir waren die zweite schwul-lesbische Organisation, die so eingestuft wurde – die andere ist Rakurs. Bei der Überprüfung unserer Organisation wurden ein paar Kalender von Rakurs gefunden, und das wurde dann als ein Kriterium genannt, dass wir ein „ausländischer Agent“ sind – dass wir Kalender eines anderen „ausländischen Agenten“ haben!2 Das war alles an den Haaren herbeigezogen und unglaubhaft. Selbst ganz normale Postings unseres Leiters Sergej Alexejenko im sozialen Netzwerk Vkontakte wurden als politische Aktivitäten gewertet. Das Gesetz ist so unscharf formuliert, dass es beliebig ausgelegt werden kann, und entsprechend läuft das alles auch ab.
Wir wurden gezwungen, eine gewisse „politische Tätigkeit“ einzugestehen und erhielten eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wir haben die Strafe bezahlt und unsere Organisation ist jetzt aufgelöst. Erst vor wenigen Wochen wurde die letzte Auflösungphase im Justizministerium abgeschlossen. Jetzt sind wir nur noch eine Initiativgruppe. Natürlich hat das auch Vorteile: Weil wir jetzt keine juristische Person mehr sind, kann der Staat auch keine Vorwürfe aufgrund des „Agentengesetzes“ und anderer absurder Gesetze mehr gegen uns erheben.
Unsere Organisation kümmert sich um die psychologische und rechtliche Unterstützung in der LGBT-Community. Und ich würde nicht sagen, dass wir uns wesentlich verändert haben, abgesehen davon, dass wir offiziell aufgelöst wurden. Klar bedeutet es einen großen finanziellen Verlust und das hat uns schwer getroffen. Tee und Kekse kosten Geld, die Leute wollen ermutigt werden, die Mitarbeiter müssen ihr Gehalt bekommen.
Wenn eine Organisation als „ausländischer Agent“ eingestuft wird, ist da sofort das Klischee „Die werden doch alle vom US-Außenministerium bezahlt“ – und so weiter und so fort. Wir wurden auch zur Zielscheibe von Provokationen. Die Leute wollen nicht hören, was wir zu Menschenrechtsverletzungen oder der weit verbreiteten Diskriminierung zu sagen haben. Sie interessieren sich nur für das Geld, das wir angeblich aus dem Ausland bekommen. Die Organisation erhält auch Geld aus dem Ausland, weil die Regierung und die Staatsorgane in Russland solche Aktivitäten nicht unterstützen, obwohl sie sich in nichts von denen der regierungsfreundlichen Organisationen unterscheiden und wir einfach nur die Idee einer demokratischen Gesellschaft fördern.
Mit diesem Gesetz soll ganz grundsätzlich Druck auf das Engagement und die Initiative von Bürgerseite ausgeübt werden. Als wir als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, gab es viele öffentliche Veranstaltungen. Wir haben uns laut und deutlich zu uns selbst und zu den Rechten und Freiheiten in der Region allgemein geäußert. Ich denke, dass wir den Behörden mit unseren Aktivitäten im Weg waren und sie uns einfach vom Feld genommen haben.
Kirill Korotejew, Anwalt des Menschenrechtszentrums Memorial, Moskau
Wir arbeiten weiter wie bisher. Die Verwaltungsentscheidung des Justizministeriums beeinflusst unsere Tätigkeit in keiner Weise. Die Arbeit hat sich nur in einer Hinsicht verändert: Wir haben jetzt mehr damit zu tun, uns selbst zu verteidigen. Jetzt gerade zum Beispiel sprechen wir beide ja nicht über meine eigentliche Arbeit. Wir reden weder über die Opfer des Terroranschlags in Beslan oder die der Bombardierung von Katyr-Jurt noch über das Verschwinden von Personen noch über die Versammlungsfreiheit in Moskau. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verteidigen – manchmal übrigens recht erfolgreich. Zum Beispiel haben wir den Prozess am Verfassungsgericht zu Beginn dieses Jahres gewonnen.3 Aber das Verfassungsgericht hält sich nicht gern an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, und die übrigen russischen Gerichte halten sich nicht gern an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts.4 Deshalb schreibt das Samoskworezki-Bezirksgericht auf die direkte Anweisung des Verfassungsgerichts, unser Verfahren zu revidieren: „Das ist doch nicht wichtig genug.“
In diesem Jahr gab es die üblichen juristischen Schikanen, außerdem fand das Justizministerium auf der Website der Internationalen Gesellschaft Memorial „eine Aussage von Mitgliedern und Mitarbeitern des Menschenrechtszentrums Memorial zum Bolotnaja-Prozess, in der diese das Urteil kritisieren.“ Daraus wird gefolgert, dass wir „die verfassungsmäßige Ordnung untergraben“.
Auch die Entscheidung des Justizministeriums, uns in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufzunehmen, kam auf ziemlich lächerliche Weise zustande. Im April 2013 gab es einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der besagte, dass wir mit der Kritik an der russischen Gesetzgebung und den Informationen zu den Festnahmen in Moskau eine politische Tätigkeit ausüben. Im Februar 2014 führte das Justizministerium eine Überprüfung durch, die keinen Hinweis darauf ergab, dass wir gegen das „Agentengesetz“ verstoßen. Im Juni 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das dem Justizministerium erlaubte, Organisationen durch eigene Entscheidung in die Liste „ausländischer Agenten“ aufzunehmen. Und da wurden wir plötzlich in das Register eingetragen, und zwar unter Berufung auf den Antrag der Staatsanwaltschaft von 2013, dessen Gültigkeit eigentlich bereits im gleichen Jahr abgelaufen war.
Die Akten des Justizministeriums taugen also zu nichts, und wenn man ein entsprechendes Ziel hat, kann man sie auch ignorieren. Die Prüfungsakte des Justizministeriums aus dem Jahr 2014, in der kein Verstoß gegen das „Agentengesetz“ festgestellt wurde, musste dem überholten Antrag der Staatsanwaltschaft weichen. Das Justizministerium hatte die Wahl zwischen zwei Akten – einer veralteten und fremden und einer eigenen und aktuelleren. Und es hat sich für die fremde und veraltete Akte entschieden. Da fragt man sich, wozu wir eigentlich überhaupt ein Justizministerium brauchen? Das alles ist im Grunde natürlich zum Lachen – das Justizministerium hat seine eigene Belanglosigkeit bestätigt. Wenn hier jemand die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung untergräbt, dann natürlich das Justizministerium. Zu diesen Grundlagen der Verfassungsordnung gehört gemäß Artikel 13 der Verfassung zum Beispiel der weltanschauliche Pluralismus.
1.Die Menschenrechtskommission Memorial wurde im Juli 2015 in die Liste des Justizministeriums aufgenommen – Takie Dela
2.Die schwul-lesbische Hilfsorganisation Rakurs aus Archangelsk wurde im Dezember 2014 in die Liste aufgenommen – Takie Dela
3.Im Februar hat das Verfassungsgericht anerkannt, dass das derzeitige Verfahren zur staatsanwaltschaftlichen Überprüfung von NGOs verfassungswidrig ist und das Verfahren der antragstellenden Organisationen in die Revision überwiesen – Takie Dela
4. Mittlerweile wurde in Russland mit einem am 4. Dezember 2015 von der Duma verabschiedeten Gesetz entschieden, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur noch umgesetzt werden, wenn der Verfassungsgerichtshof zuvor geklärt hat, dass diese nicht gegen das russische Grundgesetz verstoßen – dek
Russland und die Türkei waren immer wieder miteinander in Kriege verwickelt. Mitte des 19. Jahrhunderts mündete der Russisch-Osmanische Krieg gar in einen weitreichenden eurasischen Konflikt, den Krimkrieg. Wie werden sich die Parteien in der derzeitigen, vom Geschehen in Syrien ausgelösten Konfrontation verhalten? Der Politologe Wladimir Pastuchow skizziert in der Novaya Gazeta zwei Szenarien – mit großer Hoffnung erfüllen ihn beide nicht. Streichhölzer, schreibt er, sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen.
Erdogan musste ohne einen festen russischen Händedruck aus Paris abreisen. Auch die Ansprache des russischen Präsidenten vor der Föderalversammlung ließ keinen Zweifel daran, dass die Sache allein mit der Einfuhrbeschränkung für ein paar Tomaten nicht aus der Welt zu schaffen ist. Das Thema Türkei hat die Ukraine aus der Ansprache des Präsidenten verdrängt. Doch Istanbul ist nicht lieblicher als Kiew – Russland muss schon wieder zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Szenario wählen. Die Münze des russisch-türkischen Konflikts schwebt weiter in der Luft, und bislang ist nicht abzusehen, was am Ende oben liegen wird: Kopf – ein zähneknirschender Frieden – oder Zahl – ein Krieg nach dem Zahn-um-Zahn-Prinzip.
Zähneknirschender Frieden
Bei diesem Szenario könnte Russland sein Gesicht verlieren, aber andere für Schicksalsschläge empfindlichere Körperteile würden unversehrt und heil bleiben. In diesem Fall würde nach einer gewissen Pause kontrolliert die Luft aus den PR-Blasen der antitürkischen (von der russischen Seite) und antirussischen (von der türkischen Seite) Propagandakampagnen herausgelassen werden (ähnlich wie beim fließenden Übergang vom Projekt Noworossija zur Autonomie innerhalb der Ukraine).
Die Gesellschaft hier kann sich nie lange auf eine einzelne Tragödie konzentrieren, denn es folgt eine Tragödie nach der anderen. In wenigen Monaten wird bestimmt wieder etwas passieren, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht. Wenn nicht, so kann man auch nachhelfen, zum Beispiel indem man die Spannungen in der Ostukraine wiederbelebt – zumal man sich hierfür nicht sonderlich bemühen müsste. Vor diesem Hintergrund würden die Führer Russlands und der Türkei letztlich einen Weg finden, um miteinander zu sprechen und eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse zu machen: Die Türkei bewegt sich zum Beispiel wirtschaftlich bei den Gasprojekten und akzeptiert die russische Vorgehensweise zur Gaspreisbildung, dafür sichert Russland informell zu, die Intensität der Bombardierungen in den an die Türkei grenzenden syrischen Gebieten zu reduzieren, indem es, wen nötig, nicht zu Verbündeten, sondern zu Feinden des IS erklärt.
Im Grunde wäre diese Option heute allen recht – vor allem Europa, das sich unbedingt mit Russland einigen und dabei den (im Kontext der Ukraine) besorgten Gesichtsausdruck bewahren möchten. Die Europäische Union könnte sich im Prinzip mit Putin darauf einigen, dass das abgeschossene Flugzeug ein Dolchstoß in den Rücken der Befriedungs-Politik des Kremls ist.
Die Variante Zahn um Zahn
Beim zweiten Szenario wahrt Russland sein Gesicht, setzt sich jedoch mit einem großangelegten Krieg fern der eigenen Landesgrenzen auf eine glühende Herdplatte. Es gibt Mutmaßungen, dass Teile der russischen Militärs und politischen Eliten zu einer Nullvariante tendieren, die auf den Abtausch einer gleichen Anzahl abgeschossener Flugzeuge zielt. Es werde die Verhandlungen beleben, so kalkuliert man, wenn beide Seiten sich in einer ähnlichen Lage befinden – dann könne man Erdogan ohne Probleme beide Hände auf einmal drücken. Allerdings, und darin liegt das Problem, ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich Erdogans Hände in diesem Fall verhalten würden: Sie könnten sich zur Umarmung öffnen, sie könnten sich aber auch zu Fäusten ballen. Folglich spielt Moskau, wenn es diesem Szenario folgt, russisches Roulette.
Interesse gegen Interesse
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei auf einen Schlagabtausch inadäquat reagiert, ist heute beträchtlich – die Chancen stehen fifty-fifty. Das Problem liegt darin, dass der Konflikt zwischen der Türkei und Russland grundlegender Natur ist. Was die Länder trennt, sind nicht so sehr die Ambitionen ihrer Führer (worüber heute viel geschrieben wird), als vielmehr die Interessen beider Länder, was weitaus gravierender ist. Ambitionen kann man zurückschrauben, vor Interessen gibt es kein Entrinnen. So oder so treten sie früher oder später zu Tage und unterwerfen sich die politische Logik, entstellen und zerstören alle Pläne und Vorhaben. Genau das beobachten wir offenbar gerade in den russisch-türkischen Beziehungen.
Für die Türkei ist Syrien eine Ukraine im eigenen Einzugsgebiet. Latakia ist für sie eben jenes Noworossija, und Assad für den türkischen Präsidenten schlimmer als Poroschenko für Putin. Genau wie Putin kämpft Erdogan gegen eine Revolution, nur nicht gegen eine orangene, sondern gegen eine grüne. Um zu überleben, muss er eine Konterrevolution exportieren. Die liefert er nach Latakia, mit genau solchen Humanitärkonvois, wie sie den Menschen im Donbass wohlbekannt sind. Um „ihren Soldaten“ Assad zu retten, bombardieren russische Flugzeuge diese Konvois und diejenigen, für die ihre „völlig friedliche Fracht“ bestimmt ist. Darum kann Erdogan es sich nicht erlauben, vor der russischen Präsenz in dieser Region die Augen zu verschließen.
Doch auch der Kreml ist nicht aus freien Stücken zum Kämpfen nach Latakia gekommen. Das vierte Jahr in Folge ist er auf dem Rückzug vom Bolotnaja-Platz. Er machte Zwischenstopp in „Noworossija“, konnte dort die Stellung nicht halten und zog dann weiter nach Süden. Aus Latakia abzuziehen kann der Kreml sich nicht leisten: Der Donbass sitzt ihm im Rücken, und in Syrien erfüllt die russische Armee eine historische Mission mit dem Versuch, das weltweite Gleichgewicht der Kräfte auszutarieren, das nach Ansicht Moskaus nach dem Fall der Berliner Mauer ins Wanken geraten ist. Die Türkei wird in Syrien von Russland demonstrativ ignoriert und nur als weißes Rauschen im globalen großen Spiel betrachtet. Unterdessen hat die Türkei ihre eigenen Gründe, Russland nicht zu mögen, wobei es weniger um historische als um aktuelle Politik geht. Beide Seiten sind durch die Vergangenheit verbunden und können nicht frei manövrieren.
Vergangene Kriege, aktuelle Gefahren
Beide Seiten haben wohlüberlegt und bewusst gehandelt. Die Russen haben gezielt die Turkmenen bombardiert, um die Sicherheit des Assad-Regimes zu gewährleisten, und die Türken hat ebenso gezielt dem Flugzeug aufgelauert, um den Punkt zu markieren, ab dem die Einmischung Russlands in den Konflikt die für sie akzeptable Grenze überschreitet. Nachdem Russland die Mission übernommen hat, die Schiiten im Nahen Osten zu schützen, verhält es sich genauso wie vor 150 Jahren, als es seine Mission war, die Slawen auf dem Balkan zu schützen. Das führte damals zu einer Reihe Russisch-Türkischer Kriege, die im Großen und Ganzen positiv für Russland ausgingen (auch wenn der Westen nicht zuließ, dass es von dem militärischen Sieg in vollem Ausmaß profitierte). Die Erinnerungen an diese Kriege rufen in der Gesellschaft durchaus Illusionen und Erwartungen hervor. Ein neuer Russisch-Türkischer Krieg könnte jedoch in Wirklichkeit als Russisch-Japanischer Krieg entpuppen und wie dieser zu einer ernsten Herausforderung werden – nicht nur für die russische Armee, sondern auch für das soziale und politische System des Landes. Zumindest herrscht in Russland heute die gleiche prahlerische Siegeszuversicht wie vor 100 Jahren am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges.
Wenn die Türken beschließen, va banque zu spielen, droht die russische Militärbasis in Syrien zum Port Arthur des 21. Jahrhunderts zu werden. Die militärische Überlegenheit der Türkei vor Ort ist so hoch, dass ein russisches Expeditionskorps (einschließlich der Marinekräfte) faktisch chancenlos wäre. Ein großangelegter Angriff auf die Türkei ist äußerst unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Türkei Mitglied der NATO ist und sich auf ihrem Territorium Atomwaffen befinden. In dieser Situation würde Russland wohl die Schande einer militärischen Niederlage ertragen müssen.
Niederlagen prägen bekanntlich das Bewusstsein der Bevölkerung weitaus stärker als Siege. Eine Eskalation des militärischen Konflikts mit der Türkei hätte deshalb vermutlich heftige revolutionsschürende Auswirkungen auf die russische Gesellschaft zur Folge. Damit schlösse sich der politische Kreis: Was als Davonlaufen vor der Revolution begann, würde mit einem revolutionären Sturmlauf enden.
Vorerst ist dies nur eines von mehreren möglichen unerwünschten Szenarien, und man könnte es durch besonnenes und umsichtiges Handeln vermeiden. Ein friedlicher Ausweg aus dem türkischen Gambit ist im Interesse aller, die leben wollen: Russen wie Europäer, Eurasier wie Westler, Apologeten des Regimes wie vehemente Oppositionelle. Aber das Problem ist ja gerade, dass von Abwägung und Besonnenheit bisher nichts zu spüren ist. Streichhölzer sind in die Hand von Pyromanen gelangt, die lustvoll mit dem Feuer spielen – und man kann nur noch darauf hoffen, dass der Selbsterhaltungstrieb der herrschenden Elite von den Informations- und Analysesendungen des russischen Staatsfernsehens nicht komplett zerstört worden ist.
Putin bestraft die Türkei mit Einschränkung der Reisefreiheit und einem Importembargo für Lebensmittel. In der Folge steigen die Lebensmittelpreise. Weitere Themen, die die russische Presse in dieser Woche beschäftigten: der Blackout auf der Krim, Korruptionsvorwürfe gegen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und zu guter Letzt eine tierische Freundschaft im Wladiwostoker Zoo, die als Vorbild für die Beziehung zwischen Putin und Erdogan diskutiert wird.
Russisch-türkische Spannungen: Der Abschuss der russischen Su-24 an der syrisch-türkischen Grenze hat zwei sich in ihrer Starrköpfigkeit sehr ähnliche eurasische Machtpolitiker auf Konfrontationskurs gebracht: Wladimir Putin wartete vergeblich auf eine Entschuldigung von Recep Tayyip Erdogan, verweigerte auf dem Klima-Gipfel in Paris auch das Gespräch mit ihm – obwohl Erdogan versuchte, Putin auf dem Flur abzupassen, wie der Kommersant berichtete.
Stattdessen holte Putin einen ganz dicken Knüppel heraus. Per Ukas belegte er die Türkei mit einem umfangreichen Sanktionspaket: ein ab dem 1. Dezember geltendes Import-Embargo für Hühnerfleisch, Salz und bestimmte Obst- und Gemüsesorten, eine Auftragssperre für türkische Unternehmen, schärfere Kontrollen türkischer Schiffe und Lastwagen.
Der Wirtschaftszeitung Vedomosti war die Bedrohung der einst so blühenden russisch-türkischen Geschäftsbeziehungen eine zweiseitige Analyse wert. Das Fazit: Der Türkei drohen 12 Mrd. Dollar Verluste – oder 1,6 Prozent des BIP. Einen hohen Preis haben aber Russlands Verbraucher zu zahlen: Die Großhandelspreise für Tomaten (auf der Sanktionsliste) und Zitronen (nicht betroffen) sind jetzt schon auf gut das Doppelte gestiegen. Begründung: Transporte aus der Türkei werden an der Grenze sehr penibel kontrolliert und auf diese Weise zurückgehalten.
Außerdem setzt Russland zum 1. Januar 2016 den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei aus. Außenminister Sergej Lawrow begründete dies mit einer von der Türkei ausgehenden „realen terroristischen Gefahr“. Die Türkei wird dies wohl kaum mit gleicher Münze heimzahlen, wenn sie wenigstens einen Teil ihres Tourismusgeschäfts mit den Russen retten will: 2014 machten 3,2 Mio. Russen in der Türkei Urlaub, aber nur 135.000 Türken in Russland. Doch nun hat Russland den Verkauf von Türkei-Reisen verboten und wird den Charterflugverkehr stoppen, sobald alle Urlauber zurückgekehrt sind. Der Chef der staatlichen Tourismus-Agentur Rostourism hofft jedenfalls, dass schon nächstes Jahr drei bis fünf Millionen Russen mehr Urlaub im eigenen Lande machen – neben der Türkei ist ja seit dem Anschlag auf den Airbus über dem Sinai auch Ägypten für erholungssuchende Mitbürger tabu. Russische Individualtouristen lassen sich davon aber nicht unbedingt beeindrucken: Sie buchen weiter munter Linienflüge und Hotels am Bosporus und in den Seebädern.
Die Zeitung Vedomosti kommentiert, dass Russland durch diesen Konflikt endgültig zu einem „Land mit negativer Tagesordnung“ geworden ist: Nadelstich-Sanktionen und den einen oder anderen kleinen Handelskrieg mit Nachbarn gab es früher auch schon, doch nun scheinen alle Behörden kollektiv ihre ganze Energie nur noch darauf zu richten, möglichst viel zu verbieten – momentan eben alles Türkische. Selbst der bekannte Showman und Leiter eines nach ihm benannten A-Capella-Chores Michail Turezki denkt bereits ernsthaft darüber nach, seinen (eigentlich polnischen) Familiennamen zu ändern – schließlich klingt der genauso wie das russische Adjektiv „türkisch“.
Isolierte Krim: Am 22. November sprengten krimtatarische und rechtsnationale Gruppen alle vier Stromleitungen, die aus der Ukraine auf die Krim führen. Seitdem leben die zwei Millionen Einwohner der von Russland vereinnahmten Halbinselim Energienotstand. So gibt es in Sewastopol nur vier Stunden am Tag Strom aus den wenigen eigenen Kraftwerken, berichtet RBK. Die Energiekrise führte sogar zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Krim-Republikchef Sergej Aksjonow und dem kremltreuen TV-Sender NTW: Der hatte behauptet, die Regionalregierung habe Moskau vorgeflunkert, die Halbinsel sei für solche Situationen gewappnet und erst der kompetente Einsatz Moskauer Minister habe Ordnung ins Chaos gebracht. Aksjonow bezeichnete dies als „Lüge“ und „Blödsinn“, der eines zentralen TV-Kanals nicht würdig sei.
Lenur Isljamow, der krimtatarische Initiator der Lebensmittel- und Stromblockade der Halbinsel, kündigte unterdessen in einem Interview mit Open Russia auch noch eine Seeblockade an. Auf der Krim gibt es, so schreibt der Kommersant in einer Blackout-Reportage, mittlerweile Versorgungsengpässe, vor allem bei Milchprodukten und anderer kühl zu haltender Ware – aber auch die Hoffnung, dass es jetzt besser wird: Seit Mittwoch liefert ein erstes Unterwasserkabel zusätzlichen Strom aus Russland. In der ukrainischen Nachbarprovinz Cherson weisen die Behörden inzwischen auf die Gefahr durch grenznahe Chemiefabriken auf der Krim hin: Dort sind Speicher mit mehreren hundert Tonnen Chlor, Ammoniak und Salzsäure die meiste Zeit ohne Stromversorgung – und könnten das Land im weiten Umkreis verseuchen.
Korruptionsvorwürfe: Begonnen hatte die Woche mit der Veröffentlichung von geharnischten Vorwürfen gegen die Familie und Kollegen von GeneralstaatsanwaltJuri Tschaika durch den oppositionellen Korruptionsjäger Alexej Nawalny. Tschaikas Sohn Artjom besitze neben einer Villa auch noch ein teures Hotel in Nordgriechenland. Teilhaberin daran sei die Ex-Frau eines Tschaika-Stellvertreters Olga Lopatina – die wiederum in Südrussland ein gemeinsames Business mit der erst 2010 nach einem brutalen Massenmord aufgeflogenen Zapok-Bande betrieben habe. Tschaika bezeichnet die Nawalny-Enthüllungen als erlogene Auftragsarbeit, auch Lopatina dementiert alles. Die meisten russischen Print-Medien fassen diese Story mit Samthandschuhen an oder ignorieren sie ganz – nur die Zeitung RBK habe sich damit auf die Titelseite getraut, so Nawalny auf Facebook.
Amur und Timur: In solchen angespannten Zeiten ist es kein Wunder, dass die ungewöhnliche Freundschaft zweier Bewohner eines Wildparks bei Wladiwostok dieser Tage quer durch alle (sozialen) Medien die Herzen der Russen erfreut: Denn der Ziegenbock Timur war eigentlich als Lebendfutter in das Gehege des sibirischen Tigers namens Amur gesteckt worden. Das Unausweichliche blieb aber aus: Der Tiger hatte keinen Appetit auf den Bock, der seinerseits keinerlei Angst vor dem Herrscher der Taiga zeigte – worauf beide dicke Freunde wurden und nun täglich gemeinsam spazierengehen. Russlands YouTube-User diskutieren nun darüber, inwieweit dieses idyllische Beispiel nicht auch als Rollenmodell für die Menschheit – und Putin und Erdogan im Besonderen – taugen könnte.
Seit einigen Wochen wird die Versorgung der Krim über die ukrainische Festlandverbindung mehr und mehr erschwert. Zunächst waren offenbar allein informelle Gruppen für die Blockadebestrebungen verantwortlich, nun hat sich auch die ukrainische Regierung eingeschaltet. Auf wessen Konto die Sprengungen der Hochspannungsleitungen am 20. und 21. November gingen, scheint weiter unklar – doch sie werden die Einwohner der Krim nur noch mehr von Kiew entfremden, kommentiert Andrej W. Kolesnikow.
Die Krim ist selbst ein Symbol – ein Symbol des Triumphs und des Stolzes, so 52 % der vom Lewada-Zentrum befragten Russen – und sie produziert ausschließlich Symbole. Denn ihre materielle Bedeutung ist nicht besonders groß. Wenn man ehrlich ist, wurde das Gebiet im Stich gelassen. Von Russland im Stich gelassen: Nach Krymnasch die Sintflut.
Deutlich wurde dies nach der Sprengung der Hochspannungsmasten und dem Blackout der Halbinsel, die sich nun wirklich langsam in Aksjonows Die Insel Krim verwandelt hat. Das Interesse an der Krim und Ukraine erlischt in Russland und der Welt mehr und mehr. Möglicherweise wären auch die Bewohner der zur Insel gewordenen Halbinsel zu der nüchternen Erkenntnis gelangt, dass dieses Gebiet den Großen Bruder gar nicht in Bezug auf Hilfe und Investitionen interessiert, sondern nur als Flagge und Reliquie. Denkbar wäre das gewesen, wäre es nicht zur Unterbrechung der Stromversorgung gekommen und zur dadurch doppelt so gravierenden Entscheidung Petro Poroschenkos, die Transportwege auf die Halbinsel zu blockieren.
Mit einem Mal erinnern sich alle wieder an die Ukraine, und der hybride Krieg im Donbass verwandelt sich in einen Handels- und Informations- (und in diesem Sinne auch einen hybriden) Krieg um die Krim. Keine einzige Forderung der Krimtataren, die die ukrainische Seite übermittelt, wird erfüllt, stattdessen wird die Ablehnung gegenüber der Ukraine stärker, sowohl vonseiten der Krimbewohner als auch vonseiten der Kontinentalrussen.
Wladimir Putin bekommt gleich mehrere Trümpfe auf die Hand. Er wird auch hier wieder in der Rolle Batmans auftreten, des Beschützers von über einer Million Menschen, denen Licht und Wärme genommen wurde. Und der Welt wird wieder die animalische Fratze der ukrainischen Fascho-Juden präsentiert. Auch die leicht abgenutzte Bedrohung durch die ukrainische Regierung kann man völlig überteuert wiederverkaufen. Es ist sowieso merkwürdig, dass die russische Propaganda die Blockade der Krim bislang noch nicht mit der Blockade Leningrads verglichen hat.
Die ukrainische Regierung und die informellen Widersacher Putins haben, wie es oft geschieht, politisches Regime und einfache Menschen verwechselt. Sie wollten sich am Regime rächen, trafen aber die einfache Bevölkerung. Das Regime wird dadurch natürlich nur stärker, die belagerte Festung wird noch belagerter und somit zu einem sakralen Objekt, und die Werktätigen scharen sich noch enger um ihren Batman, der mit seinen Bomben Syrien den Frieden bringt.
Genau den gleichen Effekt – die Ausbildung des Stockholm-Syndroms gegenüber ihrem Präsidenten – hatten die westlichen Sanktionen bei den Russen. Hier allerdings erfolgte die „Bombardierung von Woronesh“ vor allem durch die russische Führung selbst, die ihren Mitbürgern mittels Gegensanktionen einen Teil der Lebensmittel verwehrte, deren Qualität verschlechterte und die Preise eigenhändig in die Höhe trieb. Die Sanktionen aber hatten hauptsächlich die Eliten und Unternehmen getroffen. Im Falle der Krim nun sind es nicht die eigenen Leute, die den Betroffenen die Lebensgrundlage nehmen, sondern die ehemalig eigenen Leute, die zu Fremden werden. Es wird ja auch nicht gegen irgendwelche feststehenden Gangster aus der Führungsriege ausgekeilt, sondern gegen alle Bewohner der Halbinsel.
Selbstverständlich wird die Krim für den Westen unter keinen Umständen zu einer Tauschwährung oder zum Verhandlungsgegenstand. Doch wird es bei den westlichen Führern wohl kaum auf viel Gegenliebe stoßen, dass die ukrainischen Eliten so effektive Unterstützung geleistet haben, um das positive Image des russischen Präsidenten in den Augen der russischen Bürger zu fördern. Solche Turbulenzen haben ihnen gerade noch gefehlt.
Putins Russland wollte die Ukraine zu sich hinüberziehen, hat sie aber auf lange Sicht verloren. Die ukrainische Führung hat durch die Bestrafung der Krimbewohner die Krim verloren. Und Putin eine Steilvorlage geliefert.