Das staatliche Fernsehen ist in Russland Hauptinformationsquelle für einen Großteil der Bevölkerung. Inzwischen hat es der Kreml fast vollständig unter seine Kontrolle gebracht, wie auch internationale Nichtregierungsorganisationen immer wieder kritisieren. Im Gegensatz dazu sind unabhängige Medien meist nur über das Internet zugänglich und erreichen weit weniger Menschen.
Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Dimitri Trawin sieht die russische Bevölkerung in zwei parallelen Welten leben – abhängig davon, über welche Medien sie sich informieren.
Vor vier Jahren hat Wladimir Putin zum wiederholten Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Seitdem hat er vieles erreicht. Allerdings so gar nichts von dem, was Russland vor einer Krise hätte bewahren können.
Gespaltenes Land
Heutzutage hört man oft, Russland sei gespalten in eine imperiale Mehrheit, die die Politik des Kreml unterstützt, und eine demokratische Minderheit, die sich in der Opposition befindet. Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter. Die beiden einander gegenüberstehenden Teile der Gesellschaft betrachten nicht nur das, was passiert, unterschiedlich, nein, sie leben faktisch in zwei verschiedenen Ländern. Oder genauer: Sie sehen zwei einander nicht ähnelnde Russlands, denn der eine Bevölkerungsteil sieht das Land durch den Fernsehbildschirm und der andere durch das Internet.
Das Fernseh-Russland sieht etwa folgendermaßen aus: Es ist ein Land, das Ende der 1990er Jahre kurz vor der Auflösung stand, weil es dem Einfluss äußerer und innerer Feinde ausgesetzt war. Oligarchen und von ihnen angeheuerte liberale Spasten arbeiteten aktiv daran, Russland zu zerstückeln, denn in diesem Zustand könnte es die sich heranpirschende Nordatlantische Allianz leichter erobern. Die ist in Wirklichkeit auch gar nicht der militärisch-politische NATO-Block, sondern nur eine Gruppe europäischer Staaten, allesamt Marionetten der USA.
Amerika hat Angst bekommen
Zum Glück erschien Wladimir Putin auf der Bildfläche und das Leben wendete sich schnell zum Besseren. Gehälter und Renten stiegen, es lohnte sich, zu arbeiten. Das geschah, weil Putin die Oligarchen bändigte. Sie hörten auf zu stehlen und für die Tätigkeiten der liberalen Spasten zu löhnen, ergo blieb mehr Geld für das Volk übrig. Russland erhob sich von den Knien, stärkte seine Armee und begann, sich das zurückzuholen, was ihm von Rechts wegen gehört: zuerst den Nordkaukasus, einschließlich Abchasien und Südossetien, dann die Krim.
Amerika hat Angst vor uns bekommen, hat aber weiter Intrigen geschmiedet, weswegen aus den Läden viele handelsübliche Lebensmittel verschwanden. Der Ölpreis ist gesunken aufgrund eines Komplotts zwischen den USA und den Arabern (und vielleicht auch den Türken). Mittlerweilen wollen uns die Amerikaner nicht mehr mithilfe von Vaterlandsverrätern besiegen, sondern mithilfe von Wirtschaftssanktionen. Aber China und die anderen BRICS-Staaten sind auf unserer Seite, und das bedeutet, dass wir nicht schwächer sind als Amerika – sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.
Die Fernsehwelt gibt es nicht
Das vom Internet geschaffene Weltbild dagegen ist völlig anders. Beginnt man, die Informationen aus der Masse im Netz verfügbarer, unabhängiger Quellen mit denen aus dem Fernsehen zu vergleichen, wird schnell klar, dass es die Fernsehwelt in der Realität nicht gibt – sie ist professionell konstruiert, eigens für die Zuschauer, die hin und wieder zu Wählern werden.
Erstens: Ende der 1990er Jahre war Tschetschenien die einzige Republik, die aus der Russischen Föderation austreten wollte. Baschkirien und Tatarstan bekamen vom Kreml die Erlaubnis, einen Teil ihrer Erdöleinkünfte nicht an das föderale Zentrum abzugeben, was jeglichen Separatismus dort unterband. Mittlerweile wird auch Tschetschenien mit ähnlichen Mitteln in der Föderation gehalten. Mit einem Unterschied: Während die fügsamen Republiken nur einen Teil dessen einbehalten, was sie auch selbst erwirtschaften, investiert Moskau in Tschetschenien Gelder, die aus Geberregionen abgezogen werden. Bei einer derartigen finanziellen Unterstützung kommt Ramsan Kadyrow natürlich nicht auf separatistische Ideen. Aber wenn Moskau einmal das Geld ausgeht …
Zweitens hat es nie eine Abrechnung mit den Oligarchen gegeben. Die spektakulären Geschichten um Beresowski und Chodorkowski haben den Anschein erweckt, als würde der Staat erstarken. Doch fast das ganze Vermögen der Oligarchen aus den 90er Jahren gehört noch immer seinen Besitzern, es ist sogar stark angewachsen. Außerdem sind neue Schwerreiche hinzugekommen – Vertraute aus Putins engstem Kreis oder solche, die sich in Putins System verdient gemacht haben. Dabei ist jedem Oligarchen klar, dass er bei der ersten Aufforderung von Seiten des Kreml verpflichtet ist, für jegliche Bedürfnisse der Machthaber umgehend Geld zu überweisen. Solche Transfers garantieren die Unantastbarkeit der Vermögen.
Drittens: Das Leben ist nicht deswegen besser geworden, weil Putin den Oligarchen das Geld abgenommen hat, sondern dank der gestiegenen Ölpreise. Aus demselben Grund hat sich übrigens auch das Kapital der Oligarchen vervielfacht. Und aus demselben Grund wird das Leben jetzt schlechter. Immer noch ist Putin Russlands Präsident, doch von dem einstigen Wirtschaftswunder fehlt jede Spur. Unsere Einkommen verlieren wegen der hohen Inflation zunehmend an Wert, und der Staat hat keinerlei Möglichkeit, sie an die steigenden Verbraucherpreise anzugleichen. Die Situation kann sich im Weiteren nur verschärfen, es sei denn, der Ölpreis sollte aus irgendeinem Grund wieder steigen.
Viertens: Die NATO ist den Grenzen der Russischen Föderation nähergerückt, weil sie von Staaten, die Russland misstrauten, darum gebeten wurde. Dazu gehören Tschechien, die Slowakei, Polen, die baltischen Staaten, nicht aber die Ukraine und Georgien. Misstraut haben Russland diejenigen Länder, die in der Vergangenheit Erfahrungen mit dem Eindringen sowjetischer (und einst zaristischer) Truppen gemacht hatten. Vertraut haben die, mit denen uns seit jeher freundschaftliche Beziehungen verbinden. Nach den Ereignissen in Südossetien und auf der Krim ist die Stimmung in Georgien und der Ukraine umgeschwungen, man sucht nun eher Unterstützung durch den Westen. Und obwohl diese Länder im Moment nicht in die NATO aufgenommen werden, sind sie bereits unsere Gegner im Geiste.
Fünftens: Die Lebensmittel sind aus den Geschäften verschwunden nicht infolge der Sanktionen, die der Westen Russland auferlegt hat, sondern als Folge der Sanktionen unserer Regierung gegen den Westen. Der Kreml stellt sich der westlichen Welt entgegen, indem er nach dem Prinzip „Schlag die Eigenen, damit die Anderen dich fürchten“ handelt. Die Sanktionen gegen Russland bestehen im Wesentlichen aus Maßnahmen, die der einfache Bürger nicht einmal spürt: eine schwarze Liste gegen Staatsbeamte und Politiker, die gerne nach Europa und in die USA reisen, Einschränkung der Kreditgewährung für russische Unternehmen, die Aufhebung der Kooperation von russischen und westlichen Unternehmen im Bereich des Militärs …
Der Unterschied
Wie sieht nun die wirkliche Welt im Unterschied zur Fernsehwelt aus?
Russland war in den 1990er Jahren ein einheitlicher Staat und ist es auch heute. Solche Regionen wie Orjol oder Brjansk kennen von jeher keinen Separatismus. Tschetschenien führte damals ein eigenständiges Leben und tut es auch heute noch, als der Teil der Russischen Föderation, der aktiv russländische Ressourcen verschlingt. Die russische Bevölkerung ist aus Tschetschenien geflohen und hat nicht vor, zurückzukehren. Nicht nur Touristen, selbst Ermittler haben Angst, sich dort blicken zu lassen, denn Sicherheitsgarantien gibt es dort für niemanden.
Die Wirtschaft hat sich in den 2000er Jahren dank des teuren Erdöls erst hochgerappelt und ist dann in sich zusammengefallen. Heute ist unser Wirtschaftssystem im Großen und Ganzen genauso wenig konkurrenzfähig wie in dem Jahr, in dem Putin in den Kreml einzog. Der Lebensstandard ist natürlich höher als Ende der 1990er Jahre, aber in den vergangenen 16 Jahren ist der Wohlstand in allen funktionierenden Staaten der Welt gestiegen, von ganz hoffnungslosen Fällen mal abgesehen. Vielleicht hat sich Russland kurz von den Knien erhoben, aber nur, um sich dann gleich wieder hinzuhocken. Bekanntlich ist das nicht sehr bequem. Und wenn wir nichts unternehmen, landen wir bald auf dem Hintern.
Die Einkommensdifferenz war in Russland damals sehr hoch und ist es bis heute. Aber Ursache dieses Problems sind nicht die Oligarchen (sie sind nur eine Folge), sondern die Allmacht der Bürokratie, die sich in den Köpfen der Fernsehzuschauer in den raffinierten Begriff „staatliche Regulierung“ verwandelt. Die Bürokratie reguliert tatsächlich alles, aber sie tut es mithilfe von Schmiergeldern und „Provisionen“. Dabei wuchert der Grad der Korruption um so stärker, je mehr sich der bürokratische Staat um das Volk „kümmert“.
Der einzige Anlass zur Freude vor diesem freudlosen Hintergrund: Die NATO hat uns nicht bedroht und bedroht uns auch heute nicht. Hand aufs Herz, das ist uns allen bewusst. Selbst denjenigen, die nicht müde werden, Gefahren zu beschwören. Denn bei den momentanen Machtverhältnissen würden wir einen Krieg gegen die NATO-Staaten verlieren oder gemeinsam mit ihnen die Menschheit vernichten. Der eine Ausgang wäre ebenso fatal wie der andere. Und jemand, der an die Realität eines solchen Krieges glaubt, wäre schon längst in der Klapsmühle gelandet.
Doch unsere Hirne sind noch halbwegs intakt – die NATO-Bedrohung ist ein Bedrohungs-Imitat, das der Mehrheit der Gesellschaft sehr gut gefällt. Wenn die NATO nämlich angreifen will, sich aber nicht traut, dann heißt das, wir sind stark. Trotz Krise, Verschlechterung des Lebensstandards und bodenloser Korruption. Für den Fernsehzuschauer ist das eine gute Nachricht. Genauer gesagt keine Nachricht, sondern eine Illusion, ein Imitat. „Es ist so leicht, mich zu betrügen – ich selbst betrüge mich so gern!“, hat Puschkin seinerzeit so treffend bemerkt.*
Putin ist fürwahr ein großer Imitator. Deshalb gewinnt er auch eine Wahl nach der anderen.
*aus: Ein Geständnis, aus dem Russ. von Friedrich Fiedler (1879–1917)
Der Teilabzug russischer Truppen aus Syrien ist in dieser Woche das beherrschende Thema. Das staatliche Fernsehen feiert die zurückkehrenden Soldaten wie Helden und liberale Medien stellen die Frage nach dem Nutzen der Militäroperation. Außerdem: Der Jahrestag des Referendums ist Anlass für Rückblick und Ausblick auf die Krim-Politik und im Nordkaukasus gibt es einen erneuten Anschlag auf die Menschenrechtsorganisation Komitee zur Verhütung von Folter.
Die Rückkehr. „Sie wurden empfangen wie Helden“, berichtet der Reporter des russischen Staatsfernsehens in den Dienstagsnachrichten enthusiastisch von der Rückkehr der ersten russischen Kampfpiloten aus Syrien. Medial perfekt inszeniert wurden den Piloten zur Begrüßung einer alten Tradition entsprechend Brot und Salz gereicht, jubelnde Menschen schwenkten russische Fähnchen, warfen einen der Piloten in die Luft. Eine „wichtige und nötige Aufgabe“ hätten die Jungs in Syrien erfüllt, zu Recht könnten sie nun sagen „Wir sind daheim“, ging der emotionale Bericht weiter. Am Montagabend hatte Wladimir Putin, beginnend mit dem 15. März 2016, einen Teilabzug der russischen Truppen in Syrien angeordnet. Laut des russischen Präsidenten wurden die wichtigsten Ziele der Militäroperation weitgehend erreicht.
Syrien dominiert die Schlagzeilen: Der Westen sei durch den Teilabzug überrascht worden, Putin habe Obama erneut überlistet, Russland verlasse Syrien gestärkt und als Sieger, hieß es. Die TV-Nachrichten zeigten Bilder sprachloser Kommentatoren und Pressesprecher der US-Regierung, welche nach Worten suchten. Überraschend kam das Vorgehen Russlands allerdings nicht. Der russische Teilabzug sei nicht ohne vorherige Absprache zwischen Putin und Obama erfolgt, schreibt der Kommersant. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember habe Putin bereits darauf hingewiesen, dass eine ständige Truppenpräsenz in Syrien nicht notwendig sei, heißt es weiter.
Die meisten Medien ziehen eine positive erste Bilanz der fünfeinhalb Monate dauernden Operation, deren Kosten die Wirtschaftszeitung RBK auf rund 38 Milliarden Rubel (circa 487 Millionen Euro) schätzt. LautKommersant wurde das Regime von Bashar al-Assad stabilisiert und die Möglichkeit für politische Gespräche geschaffen. Mehr als 2000 russische Syrien-Kämpfer wurden laut offiziellen Angaben getötet und große Teile der Erdölinfrastruktur, über dessen Verkauf sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) finanziert, zerstört, hebt das kremlnahe Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda hervor. Zudem habe Russland sein oberstes Ziel, die internationale Isolation aufzubrechen, in der sich das Land seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass befindet, zum großen Teil erreicht, findet der Militärexperte Alexander Golts: Putin und Obama telefonierten zu Syrien miteinander, die Streitkräfte kooperierten vor Ort. Golts warnt aber auch, dass Putin mit seinen unangekündigten Truppenentsendungen und -abzügen Russland stark schaden könnte. Eine diplomatische Gewinnmitnahme aus Syrien in die Ostukraine gelang Putin bislang nicht. So merkt etwa Vedomosti an, dass die Sanktionen des Westens noch immer in Kraft sind und die Erfüllung der Minsker Vereinbarung noch aussteht.
Kritischer fällt die Bilanz der Militärintervention naturgemäß bei den unabhängigen, kremlkritischen Medien aus. Das in Lettland beheimatete russische Exilmedium Medusabetont, dass Präsident Assad immer noch im Amt ist und durch Russland gar an den Verhandlungstisch zurückgebombt wurde.
Die russischen Bomben seien wohl auch weniger präzise gewesen als vom Verteidigungs-ministerium behauptet. Immer wieder gab es Berichte über zivile Opfer. Zudem wird ein Teil Syriens immer noch vom IS kontrolliert. Dazu kommen die diplomatischen Spannungen mit der Türkei, welche seit dem Abschuss des russischen Kampfjets SU-24 am 24. November 2015 für Unruhe sorgen. Zu Ende ist Russlands Syrieneinsatz nicht. Ein Militärkontingent verbleibt in der Levante. Der Marine-Stützpunkt in Tartus und der Militärflughafen bei Latakia sind nach wie vor in Betrieb, das S-400 Raketenabwehrsystem bleibt in Syrien stationiert. Die russische Luftwaffe fliegt zudem nach wie vor Einsätze gegen extremistische Gruppierungen wie den IS. Für das unabhängige, kremlkritische InternetmagazinSlonsind zudem im Bezug auf die 2000 russischen Terroristen, welche angeblich getötet worden seien, noch Fragen offen. Angaben zu deren Herkunft und Identität konnten bislang nicht unabhängig überprüft werden.
The Show must go on. Mit großer Sorge stellt sich die kremlkritischeNovaya Gazeta die Frage, wie es politisch nun weitergeht. Russland sei jetzt einfach nur noch ein Land, nicht mehr Welthauptstadt des Sportes, Verteidiger der Russischen Welt oder wichtigster Kämpfer gegen den internationalen Terrorismus. Gilt nun „The Show must go on“, oder sind die Menschen dazu bereit, den Ausnahmezustand aufzugeben? Ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen warte letzten Endes ein neuer Wettbewerb zur Suche nach äußeren oder inneren Feinden auf die Gesellschaft, schreibt die Novaya Gazeta weiter.
Jahrestag des Krim-Referendums. Zuvor zelebriert Moskau jedoch die Ereignisse der vergangenen Jahre noch einmal ausführlich. Am 16. März jährte sich zum zweiten Mal die international nicht anerkannte Annexion der Krim. Beim handstreichartig aus Moskau orchestrierten Referendum sprachen sich 97 Prozent für einen Beitritt zur Russischen Föderation aus. Die „Rückkehr der Krim in den Heimathafen“ wird mit Konzerten, Demonstrationen und aufwendig produzierten TV-Dokumentationen begangen.
Es gibt jedoch auch kritischere Töne, etwa auf dem unabhängigen TV-Sender Doschd, wo mit einem Beitrag an die Nacht vor dem Referendum vor zwei Jahren erinnert wird. Zu sehen sind maskierte Uniformierte, die „höflichen Menschen“, welche ein Hotel in Simferopol durchsuchen, Journalisten an der Arbeit hindern, Kameras und Speichermedien konfiszieren. Bewohner der Krim berichten bei Medusa von plötzlichen Anfeindungen als „Faschist“ ihrer pro-ukrainischen Gesinnung wegen und außerdem vom Alltag auf der isolierten Halbinsel und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die trotz zahlreicher Versprechungen aus Moskau nicht gelöst wurden.
Bis 2020 will Moskau 708 Milliarden Rubel (circa neun Milliarden Euro) auf der Krim investieren, trotzdem bleibt die Inflation hoch, und wegen der Sanktionen fließen kaum ausländische Investitionen auf die Halbinsel. Eine radikale Maßnahme zur wirtschaftlichen Belebung der Krim hat nun Jewgeni Tunik, Direktor des Instituts zur Analyse der politischen Infrastruktur Premierminister Dimitri Medwedew vorgeschlagen. Tunik will die russische Hauptstadt aus Moskau nach Sewastopol verlegen. Nicht des besseren Klimas oder des Strandzugangs wegen, sondern weil dadurch die internationale Anerkennung der Krim als Teil Russlands beschleunigt und durch den Aufbau einer neuen Infrastruktur sämtliche wirtschaftlichen Probleme auf einen Schlag beseitigt würden.
Erneut Überfall im Nordkaukasus. In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny wurde Igor Kaljapin, Chef der NGO Komitee zur Verhütung von Folter am Mittwochabend in einem Hotel mit Eiern beworfen und grüner Farbe übergossen. Medienberichten zufolge hat sich Kaljapin nun dazu entschlossen, die russische Teilrepublik zu verlassen. Wie berichtet, wurde in der vergangenen Woche in der Nachbarrepublik Inguschetien eine Gruppe von Journalisten und Menschenrechtlern überfallen, zu denen ebenfalls Mitglieder des Komitees zur Verhütung von Folter gehörten. Die tschetschenischen Behörden wiesen Vorwürfe zurück, die antioppositionellen Hetztiraden von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten Gewaltausbrüche begünstigen.
Spätestens seit den Tschetschenienkriegen der 1990er Jahre ist der Nordkaukasus in der russischen Gesellschaft als das „dunkle Andere“, als Ort der Gewalt und des Hasses abgespeichert. Bei einer Reihe von Morden führt die Spur bis in höchste Kreise tschetschenischer Sicherheitsorgane: beim Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja, die kritisch über die Tschetschenienkriege berichtet hatte, genauso wie bei der Ermordung der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa und zuletzt beim Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow. Meist werden die Mörder verhaftet, die eigentlichen Auftraggeber der Tat jedoch bleiben im Dunkeln. Ein besonderes Bedürfnis, die Fälle aufzuklären gibt es nicht – nicht von Seiten des Staates und nur von wenigen Teilen der Gesellschaft.
Und so hört kaum noch jemand auf bei Nachrichten wie dieser: Eine Gruppe Menschenrechtler und Journalisten ist am 9. März 2016 an der Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien überfallen worden. Etwa 20 maskierte Männer stoppten den Bus, zerrten die Insassen aus dem Fahrzeug, verprügelten sie und steckten den Bus in Brand. Mindestens sechs Menschen wurden verletzt. Die Reise war vom unabhängigen Komitee für die Verhinderung von Folter organisiert worden, das sich für Menschenrechte in der Konfliktregion starkmacht, unter den Verletzten waren auch ein norwegischer und eine schwedische Journalistin.
Der Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, Igor Kaljapin, gilt als Intimfeind des tschetschenischen Staatsoberhauptes Ramsan Kadyrow. Mehrfach wurden Büroräume der Organisation verwüstet, zuletzt kurz nach dem Überfall an der Grenze, in der Nacht zum Donnerstag, 10. März. Kaljapin vermutet tschetschenische Sicherheitsorgane hinter den Übergriffen. Der Menschenrechtsbeauftragte in Grosny dagegen nannte dies „absurd" und beschuldigte Kaljapin, alles selbst inszeniert zu haben. Kreml-Sprecher Peskow zeigte sich nach dem Überfall „äußerst empört“.
Der Journalist und Blogger Oleg Kaschin, der im November 2010 auf offener Straße in Moskau selbst krankenhausreif geschlagen wurde, beschreibt auf Slon.ru, warum man sich in Russland längst an Nachrichten wie diese gewöhnt hat – und weshalb er es für wichtig hält, dass die Ereignisse im Nordkaukasus nicht als tschetschenischer Sonderfall, sondern als Problem der gesamten russischen Gesellschaft begriffen werden.
Wohl kaum eine Nachricht generiert weniger Klicks als diese: „Im Kaukasus wurden Menschenrechtler und Journalisten angegriffen.“ Das klingt wie Mitte oder Ende der 90er Jahre. Damals gehörten derartige Nachrichten zum Alltag und provozierten bestenfalls eine Gegenfrage: Tschetschenen oder Föderale? Wurden sie ins Zindan gesperrt oder ins Gefängnis Tschernokosowo gebracht?
Das Wort „Menschenrechtler“ stammt aus dieser Zeit und dieser Gegend, aus den Nachrichten über Sergej Kowaljow. Auch die Journalisten, die gemeinsam mit diesen Menschenrechtlern genannt werden, waren etwas ganz anderes als jene Fernsehstars, die der russische Zuschauer heute so gerne zur Primetime im Ersten Kanal sieht.
Die Reporterin Jelena Masjuk zum Beispiel: 20 Jahre schon arbeitet sie nicht mehr über den Kaukasus. Heute ist sie Mitglied des Menschenrechtsrates beim Präsidenten und hat viele Filme gedreht. Aber auch heute noch, wenn du irgendwo ihren Namen aussprichst, fragt bestimmt jemand: „Die Jelena Masjuk?“ Oder der Reporter Andrej Babizki – ungeachtet dessen, dass er jetzt auf der Seite der Volksrepublik im Donbass steht und sich mit den Ukrainern und den russischen Liberalen fetzt – auch der wird immer „der Andrej Babizki“ von damals bleiben.
Deshalb muss man wohl auch extra erklären, dass es jene Tschetschenen und jene russische Soldaten schon lange nicht mehr gibt und dass auch die Menschenrechtler aus der Generation von Kowaljow etwas völlig anderes sind als das heutige Komitee [für die Verhinderung von Folter – dek] von Igor Kaljapin.
Die Journalisten aus den 90er und 2000er Jahren sind in den Menschenrechtsrat, ins Establishment oder in Rente gegangen. An ihre Stelle traten Zwanzigjährige, die während des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges noch Kinder waren, die heute überhaupt nicht in jenem Koordinatensystem leben, das sich mit Worten wie „Minutka“, „Seljonka“, „Tschernokosowo“ und „Föderale“ ins Bewusstsein der älteren Generation gefressen hat.
Das Tschetschenien der 10er Jahre ist das Königreich von Ramsan Kadyrow. Von ihm bekommt man schnell einen Eindruck, wenn man zunächst seinen Instagram-Account anschaut und dann etwas, sagen wir mal, über den Mord an Boris Nemzow liest oder ganz allgemein über die Kämpfer des örtlichen Innenministeriums, jener seltsamen Frucht der erzwungenen Liebe zwischen Tschetschenen und Föderalen Russen vor zwanzig Jahren.
Tschetschenien heute – das ist kein Krieg. Tschetschenien heute – das ist destillierter und in Marmor verpackter Frieden. Doch es gibt einen Frieden, der zumindest nicht besser ist als Krieg – wenn jedes Gesicht ein furchtbares, schreckliches Geheimnis trägt, wenn unter dem Marmor ein Stöhnen erklingt und Blut hervorquillt, das jemand jeden Morgen sorgfältig mit seiner Hand wegwischt.
Das klingt pathetisch, doch wie soll es sonst klingen? Dem Stöhnen und dem Blut spüren junge Juristen aus der Provinz nach. Die meisten kommen von der Wolga, weil ihr Chef Igor Kaljapin, Leiter des Komitees für die Verhinderung von Folter, in Nishni Nowgorod lebt. In Kadyrows Instagram-Account werden sie oft mit dem Gattungsbegriff Kaljapinybezeichnet: Der Autor meint damit „Feinde Russlands“, „Schaitane“ und andere, die tatsächlich seine persönlichen Feinde sind – nach Jahren seiner Herrschaft ist er an den absoluten Gehorsam seiner Untertanen und die Ergriffenheit seiner Gäste gewöhnt.
Kaljapin selbst war zur Zeit des ersten Tschetschenienkriegs im Einberufungsalter, entspricht also überhaupt nicht jenem Bild eines Lew Scharanski, über den die patriotischen Idioten aus den sozialen Netzwerken sich so gerne lustig machen. Kaljapin ist kein Held der Dissidentenbewegung, eher ähnelt er einem Hollywood-Helden aus einem Film wie Mississippi Burning – die Wurzel des Hasses. Der einzige Unterschied: Hinter den Hollywood-Helden, die schreckliche Geheimnisse in fernen Bundesstaaten auskundschaften wollen, steht mindestens ein Präsident Hoover. Kaljapin hat nur seine Mission als Menschenrechtler des 21. Jahrhunderts. Und er hat die Sympathien zwanzigjähriger Journalisten, die daran gewöhnt sind, von ihm exklusive Informationen zu erhalten, die man auf keiner offiziellen Pressetour nach Grosny bekommt.
Solche Journalisten sind mit Kaljapins Leuten [am vergangenen Mittwoch, 8. März 2016 – dek] vom Flughafen der Nachbarrepublik Inguschetien in Richtung Grosny gefahren. Der Bus, in dem sie saßen, wurde zertrümmert und in Brand gesteckt von Kämpfern in Autos mit Kennzeichen aus der Region 95 [also Tschetschenien – dek]. Die Journalisten, darunter auch ausländische, wurden mit Stöcken und Brettern verprügelt. Ihre Pässe und ihre Ausrüstung sind im Bus verbrannt. Zur gleichen Zeit demolierten bewaffnete Männer in Camouflage das Büro von Kaljapins Komitee, und zwar in der inguschetischen Stadt Karabulak, wohin es erst vor kurzem nach der Demolierung des lange in Grosny ansässigen Büros umgezogen war. Das ist Russland im Jahr 2016.
Die kastrierten Normen journalistischer Ethik, wie sie in Russland schon lange vor Beginn der wundervollen heutigen Epoche Einzug gehalten haben, erlauben es nicht, den Kämpfern aus dem tschetschenischen Polizei- und Geheimdienstapparat einfach die Schuld an diesem Verbrechen zu geben. Und die allgemeine Liebe zum Pelewinschen Weltbild führt zu der Annahme, dass etwas, das wie eine Katze aussieht und wie eine Katze miaut, in Wirklichkeit keine Katze ist, sondern nur schwarze PR, um jemanden zu kompromittieren.
Angesichts der Gerüchte, dass die Amtszeit für Kadyrow nicht nur formal ein Ende haben könnte, sind das alles äußerst unangenehme Nachrichten für das tschetschenische Oberhaupt: Der Skandal ist international, denn unter den Opfern waren zwei Ausländer; er betrifft öffentliche Feinde Kadyrows, und dann hat er sich auch noch auf inguschetischem Gebiet abgespielt, wo doch alle wissen, wie angespannt die Beziehungen zwischen der Regierung Tschetscheniens und Inguschetiens sind.
Aber erinnern wir uns: In der gesamten postsowjetischen Ära hat es kein einziges Verbrechen gegeben, das als genialer Schachzug aufgeklärt wurde, um jemandem ordentlich was anzuhängen. Bei uns wird zwar viel geredet und spekuliert, aber es gibt nichts Handfestes dazu. Als Drahtzieher eines Verbrechens erweist sich schließlich meist jemand, über den man dachte: Nein, der kann es nicht sein, der lässt sich doch so etwas nicht anhängen.
Eine Motivation, sich nichts anhängen zu lassen, gibt es im heutigen Russland aber überhaupt nicht. Jene, die Macht, Geld und Zugriff auf den Polizei- oder Geheimdienstapparat haben, lassen sich nur allzu gerne was anhängen, denn ihr wichtigstes Attribut ist Straflosigkeit. Vielleicht bleiben sie nur deswegen in Russland, nicht wegen des Geldes. Nur hier dürfen sie so leben, wie sie wollen, mit goldenen Pistolen und so weiter.
Wenn nun jemand denkt, dass es nach diesen Nachrichten von der tschetschenisch-inguschetischen Grenze „so richtig losgeht“ – vergesst es. Gar nichts geht los. Es wird das übliche „Ich weiß nicht“ von Putin-Sprecher Peskow geben, das übliche „die Untersuchung wird es zeigen“ von Markin, dem Sprecher der Ermittlungsbehörde, und die traditionellen Geheimdienst-Leaks über die Nachrichtenagentur Rosbalt. Und dann wird der Skandal leise abklingen. Bei uns wird es um jeden Skandal nach 24 Stunden leiser, nach 48 Stunden noch leiser, und so geht es weiter bis hin zur vollkommenen Stille. So ist es halt bei uns, so ist halt das Leben.
Die Kollegen von Mediazona, von The New Times und anderen Medien, die Opfer der Attacke auf diesen Bus geworden sind, brauchen jetzt unsere Unterstützung. Das Ereignis wird wie immer ein guter Solidaritätstest sein, wie immer werden ihn nicht alle Medien und Journalistenverbände bestehen. Das ist natürlich ihre Sache.
Unsere Sache aber ist es, uns eines vor Augen zu halten: Im Russland des Jahres 2016 ist es möglich, einen Bus mit Journalisten und Menschenrechtlern anzuhalten, alle zu verprügeln und dann das Fahrzeug abzufackeln. Sagt also nicht „Bus im Kaukasus in Brand gesteckt“, sondern „Bus in Russland in Brand gesteckt“, das ist wichtig.
Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow war die aufsehenerregendste und symbolträchtigste Straftat der vergangenen Jahre in Russland.
Obwohl bald tschetschenische Tatverdächtige ausfindig gemacht wurden, blieb ein gewaltiger Kreis von Fragen offen: War der Mord eine Rache für die politische Tätigkeit Nemzows? Spielten persönliche oder gar religiöse Motive eine Rolle (Nemzow hatte mehrfach den tschetschenischen Republikchef Kadyrow verbal angegriffen und den islamistischen Terrorangriff auf Charlie Hebdo öffentlich verurteilt)? Wieso wurde ein Hauptverdächtiger von den Ermittlungsbehörden überhaupt nicht befragt?1 Wie war es überhaupt möglich, dass praktisch vor den Kremlmauern eine wichtige Person des öffentlichen Lebens regelrecht hingerichtet wurde?
Noch nie ist dieser Fall so detailliert rekonstruiert worden, wie in diesem Material der Novaya Gazeta, das zum ersten Jahrestag des Nemzow-Mordes (am 27. Februar) erscheint. Das Investigativ-Ressort der Zeitung, in dem auch die ebenfalls von tschetschenischen Auftragsmördern umgebrachte Anna Politkowskaja gearbeitet hatte, trägt alle bekannten Fakten zusammen, ergänzt sie durch eigene Recherchen und Wissen aus Insiderquellen und bietet so ein umfassendes Bild des Tathergangs und möglicher Motive.
Ein Schlüsselartikel zur politischen Gewalt in Russland, der in kürzester Zeit Hunderttausende von Lesern im russischen Internet fand.
Wer es war, der am 27. Februar 2015 an der Großen Moskwa Brücke, dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, Boris Nemzow ermordet hat – darüber wurde der Russische Präsident bereits am 2. März informiert.
Im Bericht des FSB-Chefs Bortnikow heißt es: Die Attentäter waren eine Gruppe tschetschenischer Silowiki aus dem Bataillon Sewer (Nord) der Inneren Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation (WW MWD RF), vermutlich unter der Leitung des stellvertretenden Bataillonsführers Ruslan Geremejew.
Hotel Ukraina am Tag vor dem Mord: zwei mutmaßlich an der Tat Beteiligte, in der Mitte Ruslan Geremejew, im Vordergrund Tamerlan Eskerchanow – Novaya Gazeta
Am 5. März wurden festgenommen: Saur Dadajew, die Brüder Ansor und Schadid Gubaschew, Tamerlan Eskerchanow, Chamsat Bachajew. Beslan Schawanow kam bei seiner Festnahme ums Leben.
Drei von ihnen sind Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitsorgane. Dadajew und Schawanow gehören zum Bataillon Sewer, Eskerchanow ist ein entlassener Mitarbeiter der örtlichen Polizeidienststelle im Schelkowski Rajon (ROWD) [in Grosny – dek.], das von Wacha Geremejew geleitet wird – einem Verwandten von Ruslan Geremejew und von dem Staatsdumaabgeordneten Adam Delimchanow. Dazu kommen Bachajew und der jüngere Gubaschew-Bruder, die beide keiner offiziellen Arbeit nachgehen.
Dass die Tat so schnell aufgeklärt wurde, liegt an zwei Dingen: Am „Wer hat es gewagt?“ des Präsidenten und am endlich mal funktionierenden Spionagenetz in der Führung der Tschetschenischen Republik. Die Moskauer Silowiki haben nämlich deren Vorgehen – das nur allzu oft tödlich endet – katastrophal satt.
Allem Anschein nach hat der Mord an Boris Nemzow das Fass auf allen Seiten zum Überlaufen gebracht – noch nie hat es das gegeben: Innenministerium (MWD), FSB, das Russische Ermittlungskomitee (SKR), der Föderale Dienst für Rauschgiftkontrolle (FSKN) und die Generalstaatsanwaltschaft – sonst permanent verfeindet – ziehen hier anfallsartig an einem Strang.
Und es ist auch klar, warum: Mehr als einmal waren kurz vor dem Schuldspruch stehende Strafverfahren gegen tschetschenische Silowiki, die wegen schwerer Verbrechen eingeleitet wurden, ins Leere gelaufen – und die Angeklagten belegt mit Meldeverpflichtungen bei sich zu Hause oder gar im Donbass aufgetaucht.
Warum haben die Mörder Spuren hinterlassen?
Im Grunde haben sich die Attentäter, die bald vor ein Geschworenengericht kommen, nicht besonders viel Mühe gemacht, unterzutauchen – offenbar in der Annahme, dass sie wegen eines „Auftrags des Vaterlands“ nicht verfolgt würden. Keiner von ihnen hat die Patronenhülsen am Tatort aufgesammelt. Keiner hat sich vor den Überwachungskameras versteckt. Selbst das Fahrzeug, ein Saporoshez, wurde vor dem Mord gewaschen und nicht danach. So konnte man genetisches Material, Spuren von Pulvergas sowie eine Dashcam sicherstellen, von der nichts gelöscht worden war. In der Wohnung, die die Verdächtigen angemietet hatten, fand man SIM-Karten, die offensichtlich keiner geplant hatte, wegzuwerfen.
Die verhafteten Personen waren offenbar so schockiert über ihre Verhaftung, dass sie quasi sofort vor laufender Kamera ein Geständnis ablegten. Dabei ist auf diesen Videos bei keinem von ihnen ein blaues Auge erkennbar oder eine leere Sektflasche, die im Hintern steckt (beides haben die Tatverdächtigen später behauptet, nachdem sie sich besonnen hatten).
Mehr noch, diese ursprünglichen Aussagen wurden im Zuge eines speziellen Ermittlungsvorgangs, bei einem Ortstermin, bestätigt: Vor laufender Kamera erzählen Dadajew & Co rege und detailliert, wo sie gestanden haben, wo sie langgelaufen sind, wie sie ihr Opfer beobachtet und ermordet haben. So liegen dem Ermittlungskomitee Geständnisse von Saur Dadajew, Ansor Gubaschew und Tamerlan Eskerchanow vor – die die Verhörten plötzlich widerriefen, als neue Anwälte eingeschaltet wurden. Nun, die Glaubwürdigkeit der ersten wie auch der späteren Aussagen werden die Geschworenen beurteilen, uns soll zunächst genügen, dass es sie gibt.
Was machen tschetschenische Offiziere im Hotel President?
Es stellt sich die Frage: Was machen Offiziere aus Truppen des Innenministeriums, die in einer vollkommen anderen Region Russlands dienen, in Moskau? Diese Frage hängt schon seit gut zehn Jahren in der Luft. Tschetschenien ist das einzige Subjekt der Föderation, dessen Führung in der Hauptstadt eine Gruppe eigener Silowiki unterhalten darf; offiziell sollen sie die Sicherheit hochrangiger Beamter gewährleisten, die aus verschiedenen Gründen nach Moskau reisen.
Bedenkt man, dass selbst das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow eher selten in Moskau anzutreffen ist, ist das alles noch befremdlicher: Was machen diese Leute hier, die mit Stetschkin-Knarren behangen und mit Dienstausweisen ausgestattet sind, die zudem noch die Durchsuchung ihrer Fahrzeuge verbieten? Hat man jemals von einem Sondereinsatzkommando aus, sagen wir, dem Gebiet Jaroslawl gehört, das den Gouverneur während seines Aufenthalts in der Hauptstadt beschützt?
Nemzows Grab auf dem Trojekurowski Friedhof in Moskau – Novaya Gazeta
Nicht zufällig erwähnen wir Jaroslawl: Schon anderthalb Tage nach dem Mord an Boris Nemzow wurde das Oberhaupt dieser Region, in der das Mordopfer die Wahl ins Regionalparlament gewonnen hatte, zügig verhört – er kam von sich aus, gleich nach der ersten Aufforderung, und das nicht zu irgendwelchen angereisten Moskauer Ermittlern, sondern zu seinen eigenen, einheimischen.
Kadyrow hingegen, trotz seines Wissens um die Ermordung und um die Verdächtigen, das er mehrfach auf seiner Instagram-Seite demonstrierte, ist bis heute nicht befragt worden. Und das trotz eines Antrags seitens der Anwälte der Geschädigten – der Familie Boris Nemzows.
Die „für die Sicherheit von hochrangigen Beamten der Republik Tschetschenien zuständigen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane“ sind im Hotel President gleich gegenüber dem Innenministerium stationiert. Dort haben sie irgendwann sämtliche Hotelgäste verjagt, mit ihren ausgebeulten Trainingsanzügen, über denen man alle möglichen Waffenarten zu sehen bekommt – von Dolchen bis hin zu Maschinenpistolen.
Es sind allerdings nur die privilegierten Mitarbeiter der tschetschenischen Sicherheitskreise, die durch die Flure des VIP-Hotels an der Ecke zur Jakimanka Straße wandeln. Die taktisch-operativen Gruppen tschetschenischer Silowiki hingegen arbeiten in Moskau im Rotationsprinzip: einige Monate vor Ort, dann kommt eine Ablösung. Sie mieten in der Regel Wohnungen am Stadtrand und bleiben dort unter sich. Sie sind zuständig für die besonders delikaten Aufträge. Dazu gehören: Entführungen, Morde, Erpressungen. Bis zu ihrem nächsten derartigen Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung machten es sich die obengenannten Personen im inzwischen geschlossenen Restaurant Prag gemütlich. Dorthin bestellten sie leichte Mädchen, die danach lange wegen unterschiedlicher physischer Leiden in Moskauer Kliniken behandelt werden mussten.
Delikate Aufträge bespricht man in der Regel in der Lobbybar des Hotels Radisson Slawjanskaja, im Restaurant Tatler oder dem Hotel Ukraina oder auch in diversen anderen überteuerten Lokalitäten, deren Besuch sich die Majore und Offiziere der russischen Innenministeriums-Truppen mit ihren Mercedes-Schlitten leisten können.
In eben diesen Lokalen wurden zwischen September 2014 und Februar 2015 auch mehrfach die jetzigen Tatverdächtigen gesichtet, in Gesellschaft von Ruslan Geremejew, dem stellvertretenden Anführer des Bataillons Sewer. Zu ihnen gesellten sich immer wieder Leute, die mit Taschen kamen und dann wieder gingen – mit denselben Taschen, nur dass diese sichtlich leichter geworden waren.
Unseren Recherchen zufolge haben die Kämpfer der taktisch-operativen Gruppe unter Geremejew einen dieser delikaten Aufträge (den Mord an Boris Nemzow nicht eingerechnet) mit Bravour ausgeführt: Aus einem Flugzeug, das auf der Landebahn des Business-Aviation-Flughafens Wnukowo-3 stand, wurde ein Topmanager von Gazprom entführt, der sich reichlicher bedient hatte, als ihm zustand. Innerhalb eines Tages gab er das Geld zurück.
Laut unseren Quellen in Tschetschenien soll übrigens der mutmaßliche Mörder Saur Dadajew eine Zeit lang den Personenschutz des Abgeordneten Delimchanow geleitet haben.
Vorbereitung auf den Mord
Im September 2014 wurden in der Wejernaja Straße in Moskau zwei Wohnungen angemietet. Mieter der einen war Artur Geremejew, ein Verwandter von Ruslan Geremejew. Die andere mietete Ruslan Muchutdinow, der Fahrer von Ruslan Geremejew und selbst ebenfalls Mitarbeiter des Bataillons Sewer. (In dieser Wohnung wurde übrigens noch ein weiterer Offizier des tschetschenischen Innenministeriums gesehen, mit dem Namen Chatajew, aber er taucht bislang nicht im Verfahren auf). In der von Muchutdinow angemieteten Wohnung richteten sich dann Dadajew und seine Truppe ein und begannen ihre Arbeit gemäß der bestehenden „Ausschreibung“.
Was ist in diesem Zusammenhang eine „Ausschreibung“? Wenn es ein unerwünschtes „Objekt“ gibt, dessen Existenz entscheidenden Leuten das Leben schwer macht, erhebt sich in den taktischen Kampftruppen, die sich in Moskau verborgen halten, ein Ruf: Der und der für so und so viel. Und wer es dann als erster schafft, die Sache zu erledigen, bekommt das Geld.
Im August 2014 wurden vier Namen ausgeschrieben: Boris Nemzow, Michail Chodorkowski, Alexej Wenediktow und Xenija Sobtschak. Die Liste erstaunt insofern, als dass diese Personen in keine finanziellen oder politischen Reibereien mit der Republik Tschetschenien verstrickt waren. Wie dem auch sei, was wir kennen, ist der Preis: 15 Millionen Rubel [etwa 220.000 Euro].
Nach dem Flop auf der Großen Moskwa Brücke (Nemzows Mörder wurde festgenommen) wurde die restliche Ausschreibung zurückgezogen, doch für wie lange, das ist eine offene Frage.
Boris Nemzow entpuppte sich als unbequemes „Objekt“ für die Killer. Zum einen führte er kein geregeltes Leben nach dem Schema: zum Arbeitsplatz und dann nach Hause. Er blieb manchmal tagelang in seiner Wohnung, oder er fuhr plötzlich ins Ausland oder nach Jaroslawl, wo er als Abgeordneter arbeitete, und nicht zuletzt fuhr er unglaublich gern mit der Metro. So kostete es viel Zeit, die Kenndaten des Objekts ausfindig zu machen – Zeit, die man viel lieber in den Bars von Moskau verbrachte.
Die Leute, die hinter der Ausschreibung standen, machten allmählich Druck – allem Anschein nach war das die Botschaft, mit der Ende Februar der Offizier des tschetschenischen Innenministeriums Schawanow auftauchte. Also wurde beschlossen, zur Tat zu schreiten, komme was wolle. Ein Detail: Für die Beschattung kamen vier Fahrzeuge zum Einsatz, darunter ein Mercedes mit dem Kennzeichen A007AR, der vermutlich von Ruslan Geremejew genutzt wurde.
Die Ausführung des Mordes
Überwachungskamera des Kaufhauses GUM
Am 27. Februar gegen 11.00 Uhr positionierten sich die Mörder auf der Malaja Ordynka Straße, wo Boris Nemzow wohnte, und begannen zu warten. Von Nemzow keine Spur. Sein Auto gondelte zum Supermarkt, doch der Besitzer des Wagens blieb daheim. Später dann fuhr Nemzow zum Rundfunk für die Acht-Uhr-Sendung von Echo Moskwy. Um 21.45 Uhr verließ das „Objekt“ gemeinsam mit einer Dame erneut sein Haus und fuhr in Richtung Roter Platz. Boris Nemzow und, wie später bekannt wurde, Anna Durizkaja aßen gemeinsam im Bosco Café zu Abend, einem Café im Kaufhaus GUM. Ansor Gubaschew und Beslan Schawanow schlichen derweil um das Gebäude herum (wie aus den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras hervorgeht). Nemzow und seine Begleiterin gingen dann zu Fuß zur Malaja Ordynka Straße zurück, über die Große Moskwa Brücke. Dort geschah dann alles. Dadajew kam die Treppe hoch, schoss Nemzow fünf Mal in den Rücken (kein einziger Schuss ging daneben – die langen Trainingsjahre waren nicht umsonst), die Begleiterin des „Objekts“ ließ er unbeschadet, setzte sich in den von Ansor Gubaschew gesteuerten Saporoshez und fuhr davon.
Zwei Schusswaffen waren im Spiel: eine hatten sie zur Absicherung dabei, falls sie verfolgt worden wären. Mit der anderen Waffe – umgebaut aus einer nicht-tödlichen Verteidigungspistole [non-lethal-weapon] – wurde die Tat ausgeführt. Die Patronenhülsen stammten aus verschiedenen Serien, und es ist auch klar, weshalb: trainiert wird auf „wilden“ Schießübungsplätzen (das Ermittlungskomitee hat sie in der Umgebung Moskaus ausfindig gemacht) und die Waffen dabei mit Patronen aus unterschiedlichen Chargen geladen.
Gubaschew und Schawanow haben dann am 28. Februar Moskau über den Flughafen Wnukowo verlassen, das zeigen die Videoüberwachungskameras. Dadajew und Geremejew sind, nachdem sie im Odinzowski-Bezirk im Moskauer Umland an einem sicheren Ort abgewartet hatten, am 1. März abgeflogen. Zum Flughafen fuhr sie Muchutdinow. Er hat dann auch, vermuten die Ermittler, die Waffen mit dem Auto wieder nach Tschetschenien gebracht.
Um einer Überreaktion ihrer Anwälte vorzubeugen, werden Bachajew, Eskerchanow und Schadid Gubaschew nicht der unmittelbaren, sondern nur der mittelbaren Beteiligung am Mord beschuldigt: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Beweisstücke unterschlagen, Personen ausgespäht, in ihren Fahrzeugen Mitglieder der Gruppe transportiert – und sie mit Bratkartoffeln verpflegt.
Die Verhaftung und danach
In den Führungsetagen der russischen Ordnungsbehörden [Justiz- und Innenministerium – dek.] war man außer sich über eine derart laxe Strafverfolgung, von noch weiter oben [Putin – dek.] machte die zornige Frage „Wer war es?“ den Beamten zusätzlich Beine. Also wurde eine Spezialoperation in Gang gebracht.
Man schickte eine Einsatztruppe der Sondereinheiten nach Tschetschenien und Inguschetien, mit dem Auftrag, die Verdächtigen festzunehmen.
Die stellten sich aber selbst ein Bein, indem sie nach Inguschetien fuhren, um Drogen zu besorgen. Ansor Gubaschew und Saur Dadajew wurden auf frischer Tat von Mitarbeitern der Föderalen Drogenbekämpfung Inguschetiens ergriffen und der örtlichen Polizeidienststelle des Bezirks überstellt. Anschließend wurden sie vom Sonderkommando übernommen und nach Moskau auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wurden im Odinzowski Bezirk im Moskauer Umland, wo sich die Verdächtigen nach dem Mord versteckt hatten, weitere Mitglieder der Gruppe festgenommen. Übrigens: die Gubaschew-Brüder sind Verwandte von Dadajew. Es ist ein charakteristisches Merkmal von „Tschetschenenmorden“, Leute aus dem eigenen Umkreis zu rekrutieren, damit mehr für einen selbst abfällt (wie auch im Fall Anna Politkowskaja).
Eine Panne gab es nur bei der Festnahme von Schawanow, der sich in seiner Wohnung in Grosny versteckt gehalten hatte. Ein stellvertretender Innenminister Tschetscheniens (der Familienname ist der Redaktion bekannt) ging durch die von den föderalen Sicherheitskräften geschützte Absperrung, danach erfolgten zwei Explosionen und die Verlautbarung, Schawanow habe sich mit einer Handgranate in die Luft gejagt.
Einige Tage nach den Festnahmen gab es in Dshalka, dem Heimatort der Geremejew-Familie, ein Treffen von hochrangigen Personen. Neben Ramsan Kadyrow nahm daran vermutlich der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow teil, außerdem der stellvertretende tschetschenische Innenminister Alaudinow, Senator Sulim Geremejew, Schaa Turldajew, gegen den ein Haftbefehl wegen der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen in Wien vorliegt, weitere Personen und, selbstverständlich, Ruslan Geremejew.
Die Stadt Dshalka wurde für dieses Treffen von den Truppen des Bataillons Sewer abgesperrt, nur einzelne Angehörige der staatlichen Organe, vermutlich mit Beziehungen zu den Inneren Truppen und föderalen Sicherheitsdiensten, wurden hineingelassen. Alles deutet darauf hin, dass genau bei diesem Treffen auch eine allgemeine Vereinbarung über das weitere Vorgehen getroffen wurde.
Insgesamt beschränkte sich die Ausbeute der Moskauer Silowiki in Tschetschenien auf eine Befragung der Verwandten der Verdächtigen und eine Zusammenstellung allgemeiner Informationen: wann geboren, wann geheiratet.
Nach dem Mord
Ruslan Geremejew verließ Dagestan über die Stadt Kaspisk, offiziell als Betreuer von Kadyrows Rennpferden, und begab sich in die Arabischen Emirate. Und obwohl noch Anfang März 2015 eine Anordnung nach Tschetschenien geschickt wurde, dass er festzunehmen und einer gerichtlichen Befragung zu unterziehen sei, hatten die tschetschenischen Geheimdienstler und Mitarbeiter der Polizei bereits große Schwierigkeiten mit der Antwort auf die Frage, in welchem Haus der Verdächtige in Dshalka überhaupt lebe. Kurz darauf reiste auch Muchutdinow in die Vereinigten Arabischen Emirate aus.
Unmittelbar nach der Befragung des mutmaßlichen Mörders Saur Dadajew wurde das Video mit allen Aufzeichnungen durch jemanden aus dem Ermittlungkomitee Ramsan Kadyrow, dem Staatsoberhaupt Tschetscheniens, zur Verfügung gestellt. Kadyrow trat dann an die Öffentlichkeit mit Statements wie dem, dass Dadajew ein echter Patriot sei. Zwei Аnträge auf Anklageerhebung gegen Geremejew in Abwesenheit und die Ausschreibung seiner Fahndung scheiterten am Chef des russischen Ermittlungskomitees, Bastrykin, der sie nicht unterschrieb.
Am Ende tauchte eine Anklageschrift auf, in der als Organisator des Verbrechens der Fahrer von Geremejew, Ruslan Muchutdinow, genannt wird, bei dem sich irgendwie 15 Millionen angehäuft hatten und der deshalb zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Und alle Verdächtigen änderten ihre Aussagen: Nun hatte angeblich der tote Schawanow geschossen, und er hatte sich angeblich auch alles ausgedacht. Aus dieser Ecke ist also keine Antwort zu erwarten. So wie auch aus den Emiraten nicht, wo sich Muchutdinow versteckt hält. Es ist ja kein Zufall, dass Kasbek Dukusow, der mutmaßliche Mörder von Paul Chlebnikow, dem Chefredakteur der russischen Redaktion der Forbes, seine Strafe für Raub in den Vereinigten Emiraten abgesessen hat und dann ungehindert nach Tschetschenien zurückgekehrt ist, ungeachtet drohender Auslieferungsanträge durch das Justizministerium und die Generalstaatsanwaltschaft.
Was die Verdächtigen betrifft, denen die „richtigen“ Anwälte zur Verfügung gestellt wurden, so sind deren Versuche, sich ein Alibi zu verschaffen, nach hinten losgegangen: Ihre genauen Angaben zu Aufenthaltsorten in Moskau brachten mehr und mehr Verstrickungen der fraglichen Personen ans Licht und führten zwangsläufig zu der Annahme, es seien noch ganz andere, nicht wirklich legale Angelegenheiten in ihren Aufgabenbereich gefallen.
Bedeutung und Einfluss von Geremejews Familie haben in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Sogar in der weiblichen Linie: Die Schwester von Ruslan, Cheda, hat die Leitung des Sozialamts im Bezirk übernommen. Das führte – absolut nachvollziehbar – zu einem Aufstand Unzufriedener, die versicherten, dass angeblich 70 Prozent der Gelder dort irgendwo versickerten. Und Wacha Geremejew wurde als Chef der örtlichen Polizeidienststelle zum mächtigsten Mann im Bezirk.
Zu den Mordmotiven
Die Version, die die Verteidigung öffentlich vertritt, hält einem kritischen Blick nicht stand. Etwa die Behauptung, die Tat sei religiös motiviert, weil Nemzow sich nach den Schüssen auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo negativ zum Propheten und zu Allah geäußert hatte – eine klare Lüge. Erstens hatten die Verdächtigen, laut ihren eigenen Aussagen, mit den Mordvorbereitungen schon lange vor den Schüssen auf die Mitarbeiter der französischen Zeitschrift im Januar begonnen. Außerdem haben die Verdächtigen bei der Erklärung ihrer Motive immer wieder auf Folgendes hingewiesen: Nemzow sei ein Oppositioneller gewesen, der dabei war, „irgendeinen Marsch“ vorzubereiten, zweitens habe er die Ukraine unterstützt, drittens habe er „auf der Gehaltsliste von Obama“ gestanden, viertens habe er den Führer Russlands vulgär beschimpft. Wie, wo und auf welche Weise er all das gemacht haben soll, konnten die Befragten nicht erklären – offensichtlich, weil sie wohl irgendwelcher Propaganda aufsaßen.
Solche wirren Erklärungen werfen jedoch neue Fragen auf: Wer hat diesen Personen solches Gedankengut eingepflanzt? Wer hat eine „Ausschreibung“ beauftragt mit Namen, die nicht auf der tschetschenischen Tagesordnung stehen?
Was weiß General Solotow, der frühere, stellvertretende Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes FSO und derzeitige Befehlshaber der Inneren Truppen? Dessen Untergebene waren vermutlich beim Treffen in Dshalka dabei, aber gegenüber dem Ermittlungskomitee gab er lange Zeit keine Auskunft auf die Frage nach deren Status. Warum hat der Sicherheitsdienst Russlands keine Aufzeichnungen der Videokameras vom Roten Platz und der Kremlmauer zur Verfügung gestellt, von denen es dort nur so wimmelt? Stattdessen müssen sich die Ermittler mit einem einzigen Video begnügen, das von einer Kamera des Senders TVZ aufgenommen wurde (die städtische Kamera auf der Brücke war offensichtlich gen Himmel gerichtet).
Und schließlich: Warum will sogar Bastrykin, der Chef des Ermittlungskomitees, nicht zulassen, dass Ruslan Geremejew vernommen wird? (Geremejew ist übrigens nicht nur nach Tschetschenien zurückgekehrt, sondern hat sich zum Mord an Boris Nemzow bereits dahingehend geäußert, dass Dadajew ihn nicht begangen haben kann: Denn der habe sich die ganze Zeit bei ihm, Geremejew, aufgehalten und sei mit der Bewachung sagenhafter, hochrangiger Mitarbeiter der tschetschenischen Regierung beschäftigt gewesen.) Soll Bastrykin das ruhig mal öffentlich sagen. Zumal Geremejew (nach Angaben der Presseagentur Rosbalt) sowieso nichts anderes sagt, als dass er sich frage, was Schawanow überhaupt in Moskau zu suchen hatte. Dann würde endlich die Leitversion der Verteidigung – der tote Schawanow hat geschossen, der unerreichbare Muchutdinow war der Auftraggeber – auch ganz offiziell anerkannt.
1.Nach einer Meldung vom 26.02.2016 hat sich der verdächtige Offizier des tschetschenischen Bataillons Sewer Ruslan Geremejew nun zu einer Aussage bereiterklärt, die er allerdings ausschließlich in schriftlicher Form leisten will. Er streitet weiterhin jede Verstrickung in den Fall Nemzow ab. Rosbalt.ru: Ruslan Geremejew nameren dat pokasanija na sluschanijach po „delu Nemzowa“
Nach der Vereinbarung einer Waffenruhe in Syrien beschäftigen sich die russischen Medien mit den Chancen und Risiken dieser Einigung. Innenpolitisch sorgte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin mit seinem Bericht über Korruption in Tschetschenien und die Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow für Aufruhr. Außerdem: Die Russen feiern den Tag des Vaterlandsverteidigers mit der Präsentation allerlei neuen Kriegsgeräts.
Russland und USA verkünden Einigung. Rechtzeitig zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar konnte Präsident Wladimir Putin eine gemeinsam mit den USA erzielte Einigung über eine Feuerpause in Syrien verkünden. Beide Ereignisse, der Feiertag wie die Einigung zu Syrien, fanden in den Medien ausführlich Platz. Der Kommersant sieht in Syrien einen großen diplomatischen Sieg für Moskau. Die USA seien nach den bereits fünf Monate andauernden Luftschlägen gezwungen, Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen. Der am 27. Februar in Kraft tretende Waffenstillstand ist allerdings nicht verbindlich. Die bewaffneten Gruppierungen müssen ihre Beteiligung entweder Moskau oder Washington melden. Der sogenannte Islamische Staat und andere Terrorgruppen, welche von der UNO als solche eingestuft wurden, sind explizit davon ausgenommen, schreibt die Zeitung weiter. Gegen diese werde die Militäraktion weitergeführt.
Nach einem Telefonat mit Putin sicherte auch Syriens Präsident Bashar al-Assad die Bereitschaft seiner Regierung zur Unterstützung der Waffenruhe zu. Kremlnahe Medien sprechen von einer ehrlichen Chance, das Blutvergießen zu beenden. Auch die syrische Bevölkerung wolle Frieden, berichtet die Komsomolskaja Prawda in einer Reportage aus Latakia, wo sich eine russische Militärbasis befindet. Von Versöhnung oder Friedensverhandlungen ist allerdings nicht die Rede. Vielmehr sollen die bewaffneten Kämpfer nun an der Seite der offiziellen syrischen Armee weiter gegen den Islamischen Staat kämpfen, fordert einer der Gesprächspartner der Komsomolskaja Prawda.
Die Absicht hinter dieser Deeskalationsstrategie scheint klar: Das Ziel der russischen Militäroperation in Syrien wurde erreicht, das Assad-Regime stabilisiert und das von ihm kontrollierte Gebiet vergrößert, analysiert das unabhängige Magazin Slon. Um die umkämpfte Stadt Aleppo einzunehmen, reichen die Kräfte des Regimes jedoch nicht. Lässt sich Russland stärker in den Konflikt hineinziehen, riskiert Moskau damit weitere Sanktionen, schreibt das Magazin weiter. An der Einhaltung der Waffenruhe, wird sich lautVedomosti zeigen, wie groß der Einfluss Moskaus und Washingtons auf ihre jeweiligen Verbündeten in Syrien ist. Die Positionierung Moskaus neben Washington als zweiter Garant für die Waffenruhe bringt auch Risiken mit sich, so die Zeitung. Kremlkritische Medien wie Meduzabewerten die Chancen für eine stabile Waffenruhe negativ.
Gefahr für die nationale Sicherheit.Ramsan Kadyrow, tschetschenischer Republikchef, ist aus den russischen Medien kaum mehr wegzudenken: Zum einen wegen der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzows, die sich am 27. Februar zum ersten Mal jährt und deren Spuren nach Tschetschenien führen – die Novaya Gazeta und TV Dozhd berichteten ausführlich über den Stand der Ermittlungen. Zum anderen veröffentlichte Ilja Jaschin, Vizepräsident der Oppositionspartei PARNAS, am Dienstag einen Bericht über die Korruption in der russischen Teilrepublik und über Kadyrows Privatarmee.Slonund The New Timeshaben die wichtigsten Punkte daraus zusammengefasst. Der Bericht schließt mit 20 Fragen, die Jaschin gerne vom tschetschenischen Machthaber beantwortet haben möchte. Hier die englische Übersetzung. Kadyrow reagierte auf Instagram: Es sei ein „Theater“, das Geschriebene „Geschwätz“, so der Republikchef, der sich damit brüstete, den Bericht noch vor der offiziellen Präsentation in Moskau veröffentlicht zu haben. In einem Radiointerview unterstellte Kadyrow Jaschin, bei seinem Besuch in Grosny mit niemandem gesprochen und bloß Klatsch aus dem Internet gesammelt zu haben. Erneut bedrohte er Jaschin als Volksfeind, die seien überhaupt die größte Gefahr für die nationale Sicherheit. Konsequenzen drohen Kadyrow dafür wohl kaum. Im Gegenteil: 31 Prozent der Russen respektieren den tschetschenischen Machthaber laut einer neuen Umfrage des staatlichen WZIOM–Instituts. 2007 waren es gerade einmal elf Prozent. Kadyrow sei für alle Seiten nützlich, deshalb führe er sich so auf, sagt Alexej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Center im Moskovski Komsomolets. Um das Problem Tschetschenien zu lösen, müsste Russland ein anderer Staat werden, konstatiert Malaschenko.
Tag des Vaterlandsverteidigers. Am Dienstag, den 23. Februar feierte Russland seine Armee. Anlässlich des inoffiziellen Männertags (offiziell arbeitsfrei) übte sich das Verteidigungsministerium im zeitgemäßen Rebranding, während das Staatsfernsehen neues Kriegsgerät zeigte und die friedensstiftenden Aspekte der russischen Armee hervorhob: „Wie haben sich unsere Armee und unsere Fähigkeit, die Welt zum Positiven zu verändern, verbessert“, leitete die Moderatorin den Beitrag in den Abendnachrichten ein. Kritischere Stimmen, wie die des Journalisten Oleg Kaschin beklagen dagegen den Militarismus der russischen Gesellschaft, der anlässlich dieses Feiertags durchaus auch seltsame Blüten treibt. Was der Wehrdienst für eine Familie bedeuten kann, schildert auf Radio Svoboda eine Journalistin anhand der Erfahrungen ihres jüngeren Bruders in der sowjetischen Armee. Es wäre zynisch, würde sie ihm, wie in Russland üblich, zum Tag des Vaterlandsverteidigers gratulieren, vor allem seit der Annexion der Krim. Positiv sei einzig, dass ihn seine Zeit in der Armee zum überzeugten Pazifisten gemacht habe.
Was in der nächsten Woche wichtig wird. Wir beobachten, ob der Waffenstillstand in Syrien eingehalten wird. Am Samstag findet in Moskau ein Gedenkmarsch für Boris Nemzow statt. Zudem muss die russische Regierung bei der Budgetplanung nachbessern. Laut Finanzminister Anton Siluanow fehlen sogar die Mittel für den Anti-Krisenplan.
Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.
Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.
Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.
Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.
Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.
In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!
Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?
Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.
Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“
Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.
Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.
Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.
Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.
Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.
Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit …
Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.
Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“
Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.
Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenenNationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.
Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.
Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.
Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.
Kurz vor dem Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?
Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:
„In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben.
Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde.
Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“
Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.
„Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.
Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.
Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.
– In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.
Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.
– Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.
Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.
Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.
Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.
Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.
– Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.
Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.
Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.
Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.
– Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.
Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.
Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.
Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“
Informationen und Links:
Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.
Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.
Als „Jahrtausendereignis“ gefeiert wurde dieser Tage das Treffen von Patriarch Kirill und Papst Franziskus auf Kuba. In Aleppo werden derweil die Bombardements fortgesetzt und die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Russland und Europa gehen weiter. Außerdem: Innenpolitisch beginnt allmählich der Wahlkampf zu den Dumawahlen im September. Pünktlich zu dieser Gelegenheit zeigt Alexej Nawalny Putin wegen Korruption an.
Franziskus und Kirill. Diese Woche begann für die russischen Medien mit einem wahrhaftigen Jahrtausendereignis: Erstmals in der Geschichte der Christenheit, und fast tausend Jahre nach der Spaltung in West- und Ostkirche trafen sich die Oberhäupter der katholischen und der Russisch-Orthodoxen Kirche persönlich – und kündigten gemeinsame Schritte gegen die Christenverfolgung im Nahen Osten und für die Bewahrung des Friedens in der Welt und in der Ukraine im Besonderen an. Das Treffen von Kirill und Franziskus auf Kuba wurde in der russischen Presse entsprechend mit verbalen Superlativen belegt: „Ein Ereignis von zivilisatorischem Ausmaß“ betitelte TASS eine ausführliche Zusammenfassung von Reaktionen auf die Kirchenführer-Begegnung in Havanna. Warum das Treffen gerade jetzt klappte, sah die Zeitschrift Ogonjokso: Einerseits gibt es die – vom Patriarchat in Abrede gestellte – Version, Russland wolle so wenigstens im religiösen Feld aus der Isolierung gegenüber dem Westen ausbrechen. Andererseits wolle Kirill sein Gewicht auf einer in diesem Jahr anstehenden Synode aller orthodoxen Kirchen auf Kreta steigern – denn auch dieses Event wird schon über 50 Jahre vorbereitet.
Russland in Syrien. Russland ist Kriegspartei in Syrien, deshalb vergeht kein Tag ohne dieses Stichwort. Zuletzt hagelte es aus dem westlichen Ausland Vorwürfe, russische Bombenangriffe auf Aleppo seien schuld an einer neuen Flüchtlingswelle – und auch ganz konkret an der Zerstörung eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen. Letzteren Vorwurf dementierte der Kreml wie üblich routiniert, berief sich dabei aber auf die nicht minder fragwürdige Behauptung des syrischen Botschafters in Moskau, das Hospital sei von den Amerikanern angegriffen worden – eine Version, die auch schon eine Woche vorher hinsichtlich Aleppos seitens des russischen Militärs verbreitet wurde.
Interessanter als die endlosen gegenseitigen propagandistischen Schuldzuweisungen ist es, wenn in der Presse über die Perspektiven des Konflikts nachgedacht wird: In einem Kommentar des Kommersant werden interessante Vergleiche zwischen den beiden „Hybridkriegen des 21. Jahrhunderts“ in Syrien und der Ostukraine gezogen. Die These lautet, dass die Schlacht um Aleppo für die Entwicklung des Konflikts unter günstigen Umständen die gleiche Bedeutung haben könnte, wie die verbissenen Kämpfe um den Bahnknotenpunkt Debalzewo vor einem Jahr. Beides geschah vor dem Hintergrund von Friedensverhandlungen, damals in Minsk, jetzt in Genf. „Debalzewo zeigte, dass das Potential der großräumigen militärischen Auseinandersetzung erschöpft ist“, schreibt Sergej Strokan. Damit könnte, so der Kommentator, der Weg für ein Analog des Minsker Abkommens für Syrien frei werden, „sofern nach der absehbaren Zerschlagung der gegen Damaskus kämpfenden Gruppierungen oder der Androhung ihrer Zerschlagung Riad und Ankara die neuen Realitäten auf dem Schlachtfeld anerkennen“ und nicht etwa mit dem Einsatz von Bodentruppen die Initiative wieder an sich reißen.
Möglicherweise passiert aber genau das schon jetzt: Am Donnerstag berichteten russische Medien intensiv darüber, dass hunderte gut bewaffnete Kämpfer aus der Türkei nach Syrien eingedrungen seien, um vor allem gegen die vorrückenden Kurden zu kämpfen. In gewisser Weise ist das aus russischer Sicht verständlich, so Arkadi Ostrowski, der Moskauer Büroleiter desEconomistin einem Gespräch mit Echo Moskwy: „Die Türkei benimmt sich dort genauso wie Russland im Donbass. Für die Türkei ist Syrien nahes Ausland – es gehörte bis in die 1920er Jahre zum Osmanischen Reich. Das ist deren Ukraine.“
Apropos Debalzewo: Genau ein Jahr nach der Kesselschlacht hatfontanka.ru Debalzewo besucht, um in Bild und Text den Wiederaufbau zu dokumentieren. Fazit: Es geht voran, aber zäh. Das Eisenbahnerstädtchen gehört heute zwar zur Donezker Volksrepublik, doch die Eisenbahner sind bei der ukrainischen Bahn angestellt – und bekommen ihren Lohn in Griwna auf der anderen Seite der Frontlinie. Dorthin rollen unentwegt auch Züge mit Kohle aus den Donbass-Gruben, heißt es in dem Bericht.
Nawalny, Putin und der Wahlkampf. Zurück nach Russland, wo die Dumawahlen im September ihre Schatten vorauswerfen und die Parteien zwingen, ihre Strategien zu überdenken. Denn wieder einmal wurde das Wahlsystem geändert: Wie bereits bis 2003 wird wieder eine Hälfte der Parlamentssitze als Direktmandate vergeben. Das wird der Kreml-Partei Einiges Russland selbst bei einem sehr bescheidenen Ergebnis (2003 waren es beispielsweise 37,5 Prozent) ohne jede Schummelei beim Auszählen erlauben, in der Duma mit Hilfe der formell unabhängigen Wahlkreisabgeordneten eine solide Mehrheit zusammenzubekommen. Die Zeitung Vedomostisieht sich dabei von dem Umstand alarmiert, dass die vier jetzt im Parlament vertretenen Parteien sich darauf geeinigt haben, sich in 40 der 225 Wahlkreise keine Konkurrenz zu machen. Damit wird die Systemopposition endgültig gekauft, so Vedomosti.
Was die „echte“ Opposition angeht, so wird diese zunehmend zur One-Man-Show von Alexej Nawalny: Auf seinem Lieblingsfeld, der Korruptionsenthüllung, hat er jetzt Wladimir Putin persönlich ins Visier genommen – und gegen ihn frechweg Anzeige erstattet. Putin habe verfügt, dass aus einem Staatsfond dem Ölkonzern Sibur 1,75 Mrd. Dollar für ein Raffinerieprojekt zur Verfügung gestellt werden. Doch einer der Sibur-Großaktionäre ist Kirill Schalamow, der Ehemann von Jekaterina Tichonowa – und das ist Putins Tochter. Putin hätte sich aufgrund des Gesetzes über die Korruptionsverhütung in dieser Frage für befangen erklären müssen – und nichts mehr als diesen Umstand möchte sich Nawalny vom Gericht bestätigen lassen. Medien, die über Putins Töchter oder seine Ex-Frau berichten, leben im Übrigen gefährlich in Russland, stelltsnob.ru fest: Kaum schreibt man etwas über die heilige Familie, gibt es einen Anpfiff von der Medienaufsichtsbehörde – formell wegen irgendwelcher anderer Verfehlungen.
Patriarch und Pinguine. Zum Schluss noch mal zurück zum Patriarchen: Der besuchte nach seinem Treffen mit dem Papst nicht nur Südamerika – sondern einen ganzen weiteren Erdteil: Überraschend legte er nämlich einen Schlenker in die Antarktis ein. Denn in der russischen Polarstation Bellinghausen gibt es die einzige ständig mit einem Priester besetzte Kirche des Kontinents – den das Kirchenoberhaupt sogleich als Ideal der Menschheit pries: „Keine Waffen, keine Kriege, keine Grenzen, keine feindselige Konkurrenz, sondern Kooperation wie in einer Familie.“ Sprachs und stieg in bester Putin-Action-Manier mit Schwimmweste in ein Schlauchboot, um eine Pinguin-Kolonie zu besuchen.
Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.
Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.
Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.
Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.
Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.
Wird Syrien ein neues Tschetschenien?
Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.
In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.
Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.
Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.
Europa gespalten, Kerry konziliant
Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.
Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.
Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.
Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.
Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben
Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.
Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.
Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.
Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.
Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher
Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.
Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.
Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.
Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.
Wer ist schuld an der syrischen Flüchtlingskrise? Außenminister Sergej Lawrow sieht Angela Merkel in der Pflicht und bestreitet einen Zusammenhang mit russischen Bombardements. Völlig andere Themen beschäftigen die Moskauer in dieser Woche: In einer Nacht- und Nebelaktion wurden fast 100 Verkaufsbuden abgerissen, die bisher das Stadtbild prägten. Und auch Ramsan Kadyrow macht weiter Schlagzeilen.
Wer ist Schuld an der Flüchtlingskrise? Die Lage im syrischen Aleppo verschlimmert sich täglich, bereits Zehntausende sind laut internationalen Hilfswerken auf der Flucht. Für den Anstieg der Flüchtlingsströme hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara die russischen Luftangriffe verantwortlich gemacht. Moskau weist allerdings jegliche Mitschuld an der Katastrophe zurück. Im Gegenteil: Er sei erstaunt über die bedingungslose Unterstützung, welche Merkel der Türkei in der Syrienfrage zukommen lasse, meinte der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit dem Moskovski Komsomolets. Laut Lawrow seien die Menschen schon lange vor dem Beginn der russischen Luftschläge Anfang September 2015 aus Syrien geflohen. Auch der Kreml sieht keinen Zusammenhang. Für tote Zivilisten durch russische Bombardements gäbe es bislang „keine Beweise, die Vertrauen verdienen würden“, sagte Dimitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Merkel möge in Zukunft vorsichtiger in ihrer Wortwahl sein, so Peskow weiter.
Regierungsnahe Medien nahmen Merkels Aussage zum Anlass, die deutsche Flüchtlingspolitik zu kritisieren. Die blinde Unterstützung der amerikanischen Nahostpolitik habe Chaos, Terror und einen unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom nach Europa gebracht, behauptet die Komsomolskaja Prawda. Merkel sei zynisch, kommentiert das Massenblatt. Das Wüten des Islamischen Staates in Syrien mache das russische Eingreifen notwendig. Für westliche Politiker seien Trauer und Mitgefühl eine Ware, auf die man zurückgreifen könne, wenn es gerade opportun sei, kommt die Zeitung zum Schluss.
Es gibt aber auch kritische Stimmen: Der Kampf um Aleppo könnte zu einer weiteren Eskalation zwischen Moskau, dem Westen, der Türkei und den arabischen Ländern führen, schreibt etwa Vedomosti. Russland bringe mit seinen Bombardements zusehends seinen Platz am Verhandlungstisch in Gefahr. Laut Slon profitiert Russland immer weniger von dem Militäreinsatz, je länger dieser andauert, denn die Sanktionen sind immer noch in Kraft, und angesichts der Wirtschaftskrise im eigenen Land verpufft auch der Propagandaeffekt aus dem Kampf gegen den Terrorismus. Neueste Zahlen zeichnen kein positives Bild: Die finanziellen Reserven der Russen schrumpfen zusehends. Laut Rosstat überstiegen die Ausgaben der Bürger 2015 zum ersten Mal seit 1998 ihre Einnahmen.
Die Nacht der langen Schaufeln. Mit Unverständnis wurde so auch in vielen Berichten auf die „Nacht der langen Schaufeln“ reagiert, wie einige Medien dieNacht- und Nebelaktion tauften, in der die Moskauer Stadtregierung 97 Verkaufspavillons abreißen ließ. Es handle sich um eine Vernichtung von Arbeitsplätzen während der Wirtschaftskrise, schreibtSlon. Die Bagger fuhren Montagnacht vor mehreren zentralen Metrostationen auf und rissen Kioske ab, deren Genehmigungsstatus zumindest unklar war. Vorher-Nachher-Bilder gibt es hier zu sehen.
Aus dem Stadtbild Moskaus sind die kleinen Häuschen nicht wegzudenken. Kaum etwas, was es dort nicht zu kaufen gibt. Das Sortiment reicht von Fastfood über Blumen bis zu neuen Handys. Der Abbruch sei eine Frage der Ästhetik, die Hauptstadt werde damit in Ordnung gebracht, finden Befürworter. Laut Bürgermeister Sergej Sobjanin wurden die Pavillons illegal erbaut, stünden zum Teil auf Gas- und Elektrizitätsleitungen und entsprächen nicht den Sicherheitsvorschriften. Der offizielle Entscheid zum Abriss datiert von Anfang Dezember, alle geltenden Vorschriften seien eingehalten worden, betont die Rossijskaja Gazeta. Als Entschädigung hat die Stadtregierung den Bau neuer Pavillons auf eigene Kosten versprochen, welche dann in einer Auktion neu vergeben werden sollen.
Keine Frage der Ästhetik sondern eine Frage des Rechts ist die kontrovers diskutierte Aktion dagegen für Vedomosti. Die Kioskbetreiber hätten über rechtsgültige Dokumente verfügt. Gegen den Abbruch gab es noch offene Klagen, berichtetTV Dozhd. Ohne Gerichtsentscheid widerspricht der Abriss gar der russischen Verfassung, schreibt der Kommersant. Für Slon hat Sobjanin mit der Aktion gezeigt, dass das Recht auf Eigentum in Russland nicht existiere. Auf den Punkt brachte der Zeichner Sergej Jolkin die Kritik vieler Moskauer: Auf die wiederholten Beteuerungen Putins und Medwedews zur Unterstützung der Kleinunternehmer folgt – der Bagger.
Die Stadtregierung beruft sich jedoch auf ein neues Gesetz, das ihr gestattet, illegal errichtete Gebäude auch ohne Gerichtsentscheid abreißen zu lassen. Die Betreiber sollten sich nicht hinter Papieren verstecken, welche sie auf illegalem Weg erhalten hätten, so Sobjanin auf seiner offiziellen VKontakte–Seite.
Bereits seit mehr als 20 Jahren versucht die Stadt, die Zahl der kleinen Pavillons rigoros zu begrenzen. Die Verkaufspavillons, die in den 1990er Jahren zur Förderung des Kleinunternehmertums von der Stadt zugelassen wurden, haben sich seit damals zu einem lukrativen Geschäft entwickelt.
Tortenwurf mit Folgen. Michail Kassjanow, Vorsitzender der Oppositionspartei PARNAS wurde in einem Moskauer Restaurant mit einer Torte beworfen. Der Parteichef bringt die Tätlichkeit mit seiner politischen Arbeit und den Drohungen des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow gegen die Opposition in Verbindung. Als vom Ausland gekaufte Volksfeinde bezeichnete Kadyrow die Oppositionellen. Zuletzt hatte er auf seinem Instagram-Account gar ein Video von Kassjanow veröffentlicht, über welchem ein Fadenkreuz montiert war. Instagram hat das Video später entfernt. Vor dem Restaurant in der Moskauer Innenstadt wurden nach dem Anschlag drei Mitarbeiter des tschetschenischen Innenministeriums verhaftet. Der Kreml sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Tortenwurf und den Aussagen Kadyrows und seiner Entourage. Kadyrow selbst hat sich von dem Angriff nicht distanziert. Tags darauf veröffentlichte er ein Foto des russischen Tenors Nikolaj Baskow, ebenfalls mit einer Torte im Gesicht. Nach dem Tortenwurf renne der Sänger von einer internationalen Instanz zur anderen und verlange eine Wiederholung des Banketts, lautet die Bildunterschrift.