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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Kreml-Liberalen

    Die Kreml-Liberalen

    Mitte April hat Wladimir Putin den ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin zum Leiter des Moskauer Thinktanks CSR ernannt. Damit stieg einer der schärfsten Kritiker der derzeitigen russischen Wirtschaftspolitik zum Berater des Kreml auf.

    Der Politologe Michail Komin sieht auf slon.ru die Chancen für einen Machtwechsel in Russland genau bei sogenannten Systemliberalen wie Kudrin: Nah genug an den etablierten Machtstrukturen, aber weit genug entfernt von direkter politischer Einflussnahme bildeten sie eine Art „inneren Gegenpol“ zur derzeitigen Politik der Kremlspitze. Anders als die eigentliche, nicht-systemische Opposition ließen sie dem Kreml genügend Verhandlungsspielraum, um sich auf einen Machtwechsel einzulassen, der die derzeitige Nomenklatura nicht komplett desavouiert.

    Der Begriff „Sislib“ oder „Systemliberaler“ existiert im russischen politischen Diskurs seit den späten 90er Jahren. Mit seiner Hilfe lässt sich das russische politische System, das sich nach Boris Jelzins Abgang und in den ersten Jahren der Präsidentschaft Wladimir Putins herausbildete, ziemlich treffend beschreiben. Damals kämpften zwei Clans um den Einfluss im Land: Der Clan der Silowiki, denen auch Putin entstammt und die Gruppe der „progressiven Nomenklatura“, die im Wirtschaftsblock der Regierung führende Positionen innehatte – zuvor hatte sie nach dem Zerfall der UdSSR schmerzhafte, aber notwendige liberale Reformen durchgeführt.

    „Effiziente Manager” statt „Stützen des Regimes”

    Nachdem diese Gruppe der wirtschaftsliberal ausgerichteten Ökonomen zunächst auch in die neue Putin-Administration berufen worden waren, setzten sie ihre Reformtätigkeit fort. Aber ihr Einfluss auf die politische Agenda nahm zusehends ab. Sie wandelten sich von vollwertigen „Stützen des Regimes“ zu „effizienten Managern“ für die Lösung konkreter Aufgaben.

    Zum größten Eklat im Zusammenhang mit den eingebüßten Befugnissen des wirtschaftsliberalen Blocks kam es im Jahr 2011. Damals trat Alexej Kudrin von seinem Amt als Finanzminister zurück: Er war mit der Entscheidung des Kreises um Medwedew nicht einverstanden, die Rüstungsausgaben erneut zu erhöhen, worunter alle anderen Bereiche zu leiden hätten.

    Doch auch nach diesem Vorfall verblieben einige liberale Ökonomen in Leitungspositionen. Sie versuchten, die Entscheidungen des Kreml indirekt zu beeinflussen oder die Elite in den schwierigsten Wirtschaftsfragen zu beraten. Wegen ihrer Bemühungen um Einflussnahme und um größtmögliche Nähe zur herrschenden Elite nennt man sie denn auch Systemliberale.

    Kein so ganz richtiger Liberaler

    Natürlich ist Sislib ein abwertender Begriff, er gibt zu verstehen, dass ein Systemliberaler kein so ganz richtiger Liberaler ist, sondern ein spezieller. Am häufigsten hört man den Begriff aus dem Mund von Politikern und Wirtschaftsexperten, die sich außerhalb des Systems befinden. Sie kritisieren die Sisliby für ihre Kompromissbereitschaft, dafür, dass sie sich faktisch in den Dienst einer autoritären Regierung stellen. Dass sie dabei helfen würden, einzelne wirtschaftliche Missstände zu beheben. Dadurch würden sie die Politik als Ganzes nicht verändern, dem Regime aber zu einem Mindestmaß an notwendiger Effizienz verhelfen und auf diese Weise zum Fortbestand des autoritären Modells beitragen.

    Die Spardose des Kreml

    Diese Kritik kann man allein deswegen schwerlich als unbegründet abtun, weil das russische Sozial- und Militärbudget, das in den vergangenen anderthalb bis zwei Jahren stark aufgeblasen wurde, vor allem vom Nationalen Wohlstandsfonds lebt. Den hatte Alexej Kudrin vorsorglich eingerichtet.

    Würde der Kreml heute nicht über diese Spardose verfügen, hätten sich seine imperialen Ambitionen schon lange totgelaufen. Es wäre außerdem nicht möglich, unbeliebte sozialpolitische Entscheidungen auf die Zeit nach den Wahlen hinauszuschieben. Beides hätte die Chancen der demokratischen Opposition in der aktuellen Wahlperiode erhöhen können.

    Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ist derselbe Alexej Kudrin trotz all dem bereit, dem Regime erneut unter die Arme zu greifen: Er hat für den Kreml eine neue Wirtschaftsstragie erarbeitet, um die Systemkrise zu überwinden.

    Nach den Ereignissen auf der Krim, dem Krieg im Südosten der Ukraine, nach der erschreckenden Zunahme von Propaganda, dem bis heute nicht geklärten Mord an Boris Nemzow, nach der Veröffentlichung der Panama Papers und einer allgemein immer unangemesseneren und aggressiveren Kreml-Politik könnte man sich schon fragen: Wie und warum soll man überhaupt noch mit der Regierung zusammenarbeiten? Diese Frage wird Alexej Kudrin von den Liberalen unvermeidlich gestellt werden, wenn er seine Arbeit im Zentrum für strategische Entwicklung aufnimmt und ein neues Wirtschaftsprogramm für Putin vorlegt.

    Garant für den Wechsel

    Lässt man die Emotionen einmal beiseite, bringt eine solche Zusammenarbeit von Liberalen und Regierung zwei wichtige positive Konsequenzen mit sich:

    Erstens senkt die Beratung der Regierung durch vernünftige Ökonomen unweigerlich den Grad des Wahnsinns der Kreml-Politik. Sie verhindert, dass Entscheidungen von Leuten gefällt werden, die einen katastrophalen Einfluss auf das System ausüben können.

    Welches Programm Alexej Kudrin auch vorschlagen wird – es wird sicher besser sein als das von Sergej Glasjew, dessen Einfluss im Kreml derzeit stark zugenommen hat.
    Die Hyperinflation, herbeigeführt durch Emission von Wertpapieren und das Wachstum der Staatsausgaben, ist Folge nur einiger Maßnahmen des präsidialen Beraters für regionalökonomische Integration. Sie wird kleinen und mittleren russischen Unternehmen den Todesstoß versetzen und treibt eine noch größere Zahl von Bürgern in den Strudel der Armut.

    Die zweite Folge der direkten Beteiligung Liberaler an der Kremlpolitik ist: Die Chance für einen unblutigen Abgang der derzeitigen Regierung aus der politischen Arena steigt.

    In den aktuellen Wahlratings erreicht die demokratische Opposition mit ihren endlosen internen Konflikten nur äußerst geringe Werte. Noch geringer sind die Chancen, dass es der Opposition in den nächsten Jahren gelingen wird, die Panama-Fraktion des Kreml durch Wahlen und parlamentarischen Kampf wegzudrängen – auch wenn wir uns nachweislich in einer Übergangsphase zum konkurrenzfähigen Autoritarismus befinden.

    Opposition engt Verhandlungsspielraum des Kreml ein

    Die Chancen werden jedoch beträchtlich steigen, wenn es der Opposition gelingt, die typische Hauptforderung einer jeden autoritären Elite zu erfüllen, die angesichts einer ausgebrochenen Wirtschaftskrise spürt, dass eine Liberalisierung unausweichlich ist: Man muss ihr den Erhalt des angehäuften Kapitals und den Verzicht auf Strafverfolgung nach dem Ausscheiden aus der Regierung garantieren.

    Derzeit werden ständig Zimmer voller Pelzmäntel und Celli voller Geld aufgespürt und Schwarzbücher verfasst, was zweifellos Stimmen und Respekt bei den Wählern einbringt. Doch die Opposition macht dadurch einen unblutigen Machtwechsel unmöglich, weil sie den Verhandlungskorridor mit dem Kreml einengt. Denn der „Kollektiv-Putin“ wird nie und nimmer zulassen, dass die Opposition mit solchen Parolen eine auch nur halbwegs nennenswerte Anzahl von Sitzen im Parlament bekommt. Stattdessen wird er sich an die Kremlmauern klammern, das Rad der Repression zum Laufen bringen und solange jegliche soziale Unruhen unterdrücken, bis es zu spät ist.

    Druck auf den Kreml von zwei Seiten

    In der aktuellen Situation ist es notwendig, Druck auf den Kreml von zwei Seiten, im Tandem, auszuüben. Einerseits muss man, sozusagen von unten, die Protestwählerschaft weiter zusammentrommeln und um Sitze bei diesen Wahlen kämpfen, unter anderem mit der durchaus erfolgreichen Antikorruptions- und Anti-Offshore-Rhetorik – das ist die Aufgabe der demokratischen Koalition.

    Andererseits wird die herrschende Elite angesichts des immer stärker drohenden Verlusts von Macht und Kapital genötigt sein, jemanden zu finden, dem sie die Macht weitergeben kann – unter der Garantie, dass persönliche Strafverfolgungen ausbleiben. Diese Kompromissfiguren könnten, wenn es soweit ist, in der Regierung verbliebene und mit ihr kooperierende Systemliberale sein.

    Letzte Chance für unblutige Machtübergabe

    Alexej Kudrin, der seine guten Beziehungen zu Wladimir Putin und einer Reihe von Leuten aus dessen engstem Umfeld nicht verhehlt, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen natürlich nicht der einzige Kandidat. Aber er ist nach den oben beschriebenen Kriterien sicher einer der passendsten. Das Programm, das er nun zusammen mit einem Expertenteam aus dem Komitee für Bürgerinitiativen schreiben kann, wird auf jeden Fall nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Reformen enthalten. Und entschließt sich der Kreml für diese, dann wird er damit die grundlegendste Erneuerung seit den frühen 2000er Jahren anregen.

    Falls Wladimir Putin und sein Umfeld beschließen, die Konzepte Kudrins oder anderer liberaler Ökonomen umzusetzen, werden diese vielleicht inzwischen weniger ein Aktionsplan für die Wirtschaft sein als vielmehr eine letzte Chance für eine Machtübergabe ohne Blutvergießen.

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  • Presseschau № 27

    Presseschau № 27

    „Es ist Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“: Mit der Veröffentlichung eines derart markig betitelten Artikels sorgt Alexander Bastrykin, Chef des mächtigen, direkt Präsident Wladimir Putin unterstellten Ermittlungskomitees, dieser Tage für Aufregung in den russischen Medien.

    Bastrykin schreibt im Wochenmagazin Kommersant Vlast, gegen Russland sei ein hybrider Krieg im Gange, geführt von den USA und ihren Verbündeten. Dies hätte unter anderem zur Folge, dass der Islamische Staat gestärkt würde. Diesem hybriden Krieg müsse Moskau eine eigene Staatsideologie entgegensetzen und über eine strengere Internetzensur nach dem Vorbild Chinas und eine Verschärfung von Gesetzen, etwa im Hinblick auf Migranten, nachdenken.

    dekoder hat den Text ins Deutsche übersetzt. In der heutigen Presseschau bringt dekoder eine beispielhafte Auswahl der Reaktionen aus der russischen Medienlandschaft.

    SLON: Die „Kräfte-Perestroika

    Die Politologin Ekaterina Schulmann schreibt im unabhängigen Internetmagazin Slon, dass Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung fast interessanter seien als der Inhalt des „Manifests”. Zwar klinge der politische Teil von Bastrykins Text geradezu unheimlich und die Idee eines reaktionären Isolationismus, wie sie der Chefermittler hier entwerfe, könne getrost mit Nordkorea verglichen werden, so Schulmann. Der Zeitpunkt und die Veröffentlichung in der Presse deuteten jedoch darauf hin, dass es Bastrykin weniger um eine Programmschrift geht. Vielmehr wolle er sich vor allem im Ringen um Kompetenzen und Ressourcen innerhalb der Sicherheitsstrukturen, der sogenannten Silowiki, positionieren:

    „Ein mächtiger neuer Spieler hat jetzt das Kampffeld betreten – die Nationalgarde. Dadurch ändern sich Befugnisse und Zusammensetzung des Innenministeriums. Diese Ereignisse kann man als Kräfte-Perestroika bezeichnen. Man muss daran teilnehmen und dabei mit denjenigem ideologischen Fähnchen wedeln, das – nach Meinung des Autors – derzeit am besten vor Personal- und Budgetkürzungen sowie vor dem Verlust des eigenen Postens schützt. Ein Chef, der sich nicht um sich und sein Amt sorgen muss, würde sich kaum mit derart weitreichenden Aussagen an die Presse wenden. Die Silowiki sind unruhig.“

    MOSKOVSKIJ KOMSOMOLETS: WAS BASTRYKIN VERGESSEN HAT

    Das Massenblatt Moskovskij Komsomolets erinnert den studierten Juristen Bastrykin daran, dass er mit einigen Aspekten seines „Manifests“ gegen die russische Verfassung verstoße. Der Autor des Kommentars befürchtet allerdings, dass Bastrykin ihm bei einem persönlichen Treffen wohl unmissverständlich darlegen würde, dass er als Jurist im Recht sei, während der Autor als Amateur Unrecht habe. Zum Schluss hält er allerdings fest, dass dies Bastrykins persönliche Meinung sei. Garant der Verfassung in Russland sei schlussendlich immer noch Präsident Wladimir Putin.

    „Alexander Iwanowitsch [dek – Bastrykin] könnte folgende Verfassungsklausel interessieren: ‚In der Russischen Föderation wird die ideologische Vielfalt anerkannt. Es darf keine Staats- oder anderweitig verpflichtende Ideologie geben.‘
    Ich würde dem Vorsitzenden des Ermittlungskomitees außerdem empfehlen, sich erneut mit Artikel 29 Absatz 5 unseres Grundgesetzes vertraut zu machen: ‚Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Zensur ist verboten.‘ Offensichtlich hat Alexander Iwanowitsch diesen Punkt  auch vergessen.“

    RBK DAILY: WIDER DIE VERFASSUNG

    Die Wirtschaftszeitung RBK Daily hat unterschiedliche Medienvertreter um Reaktionen zu Bastrykins Vorschlägen gebeten, da dessen Zensur-Pläne nach chinesischem Vorbild die Arbeit der Branche empfindlich einschränken würden.
    So wolle Bastrykin in Russland etwa Online-Medien verbieten, welche ganz oder teilweise in ausländischem Besitz seien. Im vergangenen Jahr habe Moskau die Medien zudem bereits härter an die Kandare genommen, wie die Zeitung festhält. Am 1. Februar 2016 ist ein Gesetz in Kraft getreten, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medienunternehmen zu besitzen. Dies hatte bereits im Vorfeld zu großen Umwälzungen in der Branche geführt. Zudem gebe es technische und gesetzliche Hindernisse für Bastrykins Pläne:

    „Aus Bastrykins Text gehe nicht hervor, ob ein ‚Verbot‘ zum Beispiel bedeuten würde, dass man technisch gesehen keine .com-Domains mehr besuchen kann, sagt der Chefredakteur von Echo Moskvy, Alexej Wenediktow (die amerikanische EM-Holding hält eine Minderheitsbeteiligung an diesem Radiosender). Die Aussage des Vorsitzenden des Ermittlungskomitees zum ‚Maß an Zensur‘ wirke alles andere als verfassungsmäßig, sagt Wenediktow: Zensur sei in Russland durch das Grundgesetz verboten.“

    FORBES: SCHLAGSEITE GEN CHINA

    Andrej Soldatow, Publizist und Internetexperte, weist in der russischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes darauf hin, dass Bastrykin in Sachen Internetzensur in Russland nicht wirklich auf dem neuesten Stand sei. Schließlich erwähne er in seinen Vorschlägen auch solche, die schon längst umgesetzt seien. Internetfilter in Schulen und Bibliotheken existierten etwa schon lange, auch könnten Internetseiten in Russland bereits ohne Gerichtsentscheid blockiert werden. Bastrykin wolle nun gesetzliche Bestimmungen nach dem Vorbild Chinas kopieren. Die entsprechenden Behörden der beiden Länder tauschten sich aber bereits aus, wie Soldatow schreibt.

    „Der Grund für diese Schlagseite gen China könnte auch darin liegen, dass der russische Ansatz von Internetzensur immer wenig überzeugend wirkt. Man hatte versucht, die Online-Unternehmen einzuschüchtern, und nicht die Nutzer. Das war von 2012 bis 2014 durchaus erfolgreich, doch im Herbst 2015 hatte sich dieser Ansatz erschöpft. (…)

    Laut dem russischen Gesetz hätten internationale Unternehmen zum September 2015 ihre Server auf russisches Territorium verlegen sollen. Die Internet-Dienste, die der Anlass für all das waren – Google, Twitter und Facebook – ließen sich jedoch durchaus Zeit. (…)

    Seit vergangenem Herbst ist in Russland die Nutzerzahl von TOR [dek – Netzwerk zur Anonymisierung der Internetverbindung, über das auch Blockierungen umgangen werden können] explosiv angestiegen, bedingt durch die Blockierung von Rutracker [dek – bekannte Filesharing-Site]. Russland ist mit etwa 220.000 Nutzern pro Tag sofort auf den weltweit zweiten Platz der Zahl von TOR-Nutzern vorgerückt.“

    IZVESTIJA: PUTIN KANNTE TEXT NICHT

    Präsident Wladimir Putin habe Bastrykins Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen, zitiert die kremlnahe Izvestija Putins Sprecher Dimitri Peskow. Eine stärkere Regulierung des Internets sei jedoch im Sinne des Kremls.

    „Peskow lehnte es ab, den Inhalt des Materials zu kommentieren und ließ verlauten, er sei nicht Bastrykins Pressesekretär. Die Frage, ob die Position des Leiters des Ermittlungskomitees ein Posten innerhalb der russischen Regierung sei, beantwortete er nicht.

    Der Pressesekretär des Präsidenten merkte noch an, dass der russische Staatschef ‚mehrmals über das Internet als Gebiet des freien Informationsaustauschs gesprochen hat, wobei dieser freie Informationsaustausch in einer bestimmten Weise reglementiert werden muss‘.“

    Beatrice Bösiger aus Moskau

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  • „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    Alexander Bastrykin, Chef des einflussreichen Ermittlungskomitees und ein enger Vertrauter Wladimir Putins, hat Anfang der Woche heftige Debatten ausgelöst.

    In einem Artikel im – politisch weitgehend unabhängigen – Kommersant-Wlast erklärt Bastrykin, Russland sei Opfer eines hybriden Krieges des Westens, und schlägt radikale Gegenmaßnahmen vor: Umfangreiche Gesetzesverschärfungen, die zugleich auch den Terrorismus und extremistische Bedrohungen im Inneren Russlands eindämmen sollen. Viele Kommentatoren halten Bastrykins Lagebeschreibung für fragwürdig und merken an, dass die meisten dieser Gesetze kaum verfassungskonform wären und verheerende Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit hätten.

    Wir veröffentlichen den Text aus doppeltem Grund:

    Zum einen wird an ihm deutlich, wie der Begriff des hybriden Krieges derzeit von beiden Seiten verwendet wird, und zwar fast vollkommen spiegelbildlich – der Westen klagt Russland der hybriden Kriegsführung an, Russland seinerseits den Westen. (Über die Problematik des Begriffes „hybrider Krieg“ mehr in diesen Artikeln von Kofman, Galeotti, Siegert).

    Zum anderen gewährt der Text aber auch einen seltenen Einblick in die Vorstellungswelt eines Silowik, also eines Vertreters des staatlichen Machtapparats: Er malt die These des von allen Seiten bedrohten Russlands in grellen Farben aus und stellt Lösungsvorschläge in den Raum, die in ihrer Repressivität bisher ohnegleichen sind.

    Bastrykins Artikel hat in den vergangenen Tagen hohe Wellen geschlagen: Unabhängige Medien nehmen genauso auf ihn Bezug wie regierungsnahe Quellen, in den sozialen Netzwerken wird der Text heiß diskutiert. Die Fragen stehen im Raum: Steht der Text wirklich beispielhaft für Ideen der russischen Machtelite? Ist er gar eine programmatische Ansage, die in reale Politik umgesetzt werden soll? Oder handelt es sich eher um die – vielleicht bewusst überzeichnete – Darstellung einer persönlichen Meinung? Unsere Presseschau widmet sich ganz diesem Thema und fasst die Reaktionen mit übersetzten Original-Ausschnitten zusammen.

    Im Jahr 2015 gab es in der Russischen Föderation negative Entwicklungen in Bezug auf extremistische und terroristische Verbrechen.

    Es wurden 1329 Straftaten mit extremistischem Hintergrund registriert, das sind 28,5 % mehr als im Vorjahr (1043). In 56 Föderationssubjekten ist die Zahl von Straftaten dieser Art nachweislich gestiegen. Dieser Anstieg lässt sich sowohl auf äußere (geopolitische) als auch auf innenpolitische Faktoren zurückführen.

    Seit etwa zehn Jahren befindet sich Russland, wie viele andere Staaten auch, in einem sogenannten hybriden Krieg. Dieser Krieg wird auf verschiedenen Ebenen geführt – auf politischer, ökonomischer, medialer sowie auf juristischer Ebene. Wobei er in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat, nämlich die einer direkten Konfrontation.

    Zu den Mitteln ökonomischer Einflussnahme zählen vor allem Handels- und Finanzsanktionen, Dumpingschlachten auf dem Ölmarkt und Währungskriege. Solche Maßnahmen führten zu einer scharfen Abwertung des Rubels, zu sinkenden Realeinkommen in der Bevölkerung, einem Einbruch der industriellen Produktion und zur wirtschaftlichen Rezession.

    Leider werden das internationale Recht und die darauf gründende Justiz immer öfter zum Instrument dieses Krieges.

    Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert

    Markante Beispiele dafür sind die Entscheidungen im Fall YUKOS1, die Entscheidung im Mordfall des FSB-Offiziers Litwinenko, der Abschlussbericht des niederländischen Sicherheitsrates zum Absturz des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 sowie die Prüfung durch den amerikanischen Geheimdienst, ob die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften an Russland und Katar 2018 und 2022 rechtmäßig war – um nur einige zu nennen.

    Aber die verheerendste Wirkung hat der Informationskrieg. Die USA haben durch ihre Unterstützung von radikal-islamistischen und anderen radikalen ideologischen Strömungen die Lage im Nahen Osten vollständig destabilisiert. Die Auswirkungen von künstlich herbeigeführten Aufständen, Revolutionen und Krisen in dieser Region bekommt Europa derzeit zu spüren. Es wurde von Flüchtlingsmassen überrannt, die einem grundlegend anderen soziokulturellen Hintergrund entstammen und die ansässige Bevölkerung verdrängen.

    Folgen dieser Politik sind außerdem terroristische Vereinigungen wie der Islamische Staat, die Al-Nusra-Front, Al-Qaida und andere Organisationen, die am bewaffneten Konflikt in Syrien beteiligt sind. Personellen Nachschub werben diese Organisationen weltweit an, auch in Russland. Mehr als tausend russische Staatsbürger sind nach Syrien in den bewaffneten Kampf gezogen.

    Ein bewährtes Mittel im Informationskrieg ist die bis zur Radikalisierung reichende Manipulation einer Ideologie, mit der sich eine bestimmte soziale Gruppe identifiziert. Es ist offensichtlich: Das religiöse, ethnokulturelle und konfessionelle Wertesystem ist jene Schicht des gesellschaftlichen Daseins, die die Wesensmerkmale jeder Nation (jedes Volkes) und ähnlicher sozialer Gruppen bestimmt – es dient der Selbstidentifikation. Viele dieser Wertvorstellungen wurden über Jahrhunderte von Generation zu Generation entwickelt, bewahrt und tradiert. Deswegen möchte auch keine Nation auf ihre Identität verzichten. Sie ist wohl die einzige wertebasierte Gemeinsamkeit, die sie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen bereit ist, bis zum bitteren Ende, wie man so sagt.

    Im vollen Bewusstsein darüber, welch zerstörerische Kraft Konflikte entfalten, die auf Hass zwischen Nationen (oder Ethnien) gründen, haben die USA gezielt auf den Faktor Information gesetzt. Aus heutiger Sicht wird Folgendes klar: Die Unterminierung und Sabotage des ideologischen Fundaments der UdSSR, das gegründet war auf dem Prinzip der Brüderlichkeit der Völker, wurde ebenfalls von außen veranlasst und basierte darauf, Zwist zwischen den Nationen (der UdSSR) zu schüren.

    Heute ist völlig offensichtlich, dass die Konfrontationen in den 90er Jahren bereits Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren

    Es ist kein Zufall, dass Anfang der 90er Jahre praktisch zeitgleich so viele zwischenethnische Konflikte hochkochen: um Bergkarabach, um Transnistrien, zwischen Georgien und Abchasien, zwischen Osseten und Inguschen.

    Zur selben Zeit gibt es die ersten Massendemonstrationen von nationalistisch gesinnten Bürgern in Kiew. Zusätzlich wurde das Staatssystem durch antisowjetische Propaganda unterminiert sowie durch die Finanzierung der politischen Opposition in Litauen, Lettland, Estland, Georgien und weiteren Ländern.

    Natürlich wurden diese Ereignisse damals von der jeweiligen Bevölkerung als lokale Konflikte aufgefasst. Doch heute ist völlig offensichtlich, dass all diese Konfrontationen Elemente eines beginnenden, damals noch verdeckten Informationskrieges waren.

    Es besteht kein Zweifel, dass diese informationsideologischen „Waffen“ auch weiterhin zur Anwendung kommen werden. Davon zeugen die gestiegenen Ausgaben im US-amerikanischen Staatshaushalt für Programme zur sogenannten Stärkung demokratischer Institutionen in an Russland grenzenden und zentralasiatischen Staaten. Der wahre Zweck dieser Mittel geht aus ihrer Bezeichnung im Haushalt hervor: „Gegenmaßnahmen gegen die russische Aggression durch Public Diplomacy und Hilfsprogramme sowie Schaffung einer stabilen Regierung in Europa.“2

    Laut Haushaltsplan sind 2017 etwa 4,3 Milliarden Dollar für solche Ausgaben vorgesehen. Davon fließt etwa eine Milliarde in Programme der sogenannten Korruptionsbekämpfung und in die Förderung der demokratischen Gesellschaften in Russlands Nachbarstaaten.

    Es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort

    Schon früher hatten sich verschiedenste öffentliche Organisationen Finanzmittel aus diesen Programmen zu eigen gemacht – unter dem Deckmantel der Förderung von Bildung, der Entwicklung der Zivilgesellschaft oder anderer scheinbar guter Absichten. Dadurch wurden im Ergebnis antirussische Stimmungen in den an unser Land grenzenden Staaten angeheizt, eine proamerikanische und prowestliche, nicht-systemische Opposition in Russland herausgebildet und interkonfessioneller wie politischer Extremismus in unserem Land verbreitet.

    Die aktuellen Ereignisse in Bergkarabach zeugen vom wiederholten Versuch jener russlandfeindlichen Kräfte, den Frieden zwischen dem armenischen und dem aserbaidschanischen Volk ins Wanken zu bringen und einen weiteren Kriegsherd an der Grenze Russlands zu schaffen.

    Ich denke, es ist höchste Zeit, diesem Informationskrieg einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Es braucht eine harte, adäquate und symmetrische Antwort. Insbesondere in Anbetracht der bevorstehenden Wahlen und des möglichen Risikos, dass weitere Kräfte aktiviert werden, um die politische Lage zu destabilisieren. Schluss mit dem Spiel der Scheindemokratie, bei dem man pseudoliberalen Werten folgt! Denn Demokratie oder Volksherrschaft ist nichts anderes als die Macht des Volkes selbst, die in seinem eigenen Interesse umgesetzt wird. Das Mittel zur Verwirklichung dieser Interessen liegt im Allgemeinwohl und nicht in der absoluten Freiheit und Willkür einiger weniger Mitglieder der Gesellschaft.

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen

    Zur Bekämpfung von Extremismus können folgende Maßnahmen vorgeschlagen werden:

    Am Wichtigsten ist es, ein Konzept für eine ideologische Staatspolitik zu entwickeln. Grundelement sollte dabei die nationale Idee sein, sie allein vermag das multinationale russische Volk zu einen. Dieses Konzept sollte konkrete lang- und mittelfristige Maßnahmen vorsehen, die die ideologische Bildung und Erziehung unserer heranwachsenden Generation betreffen. Gerade die bewusste Widerstandsfähigkeit gegenüber radikalen religiösen und anderen Ideologien würde jenes Fundament schwächen, auf dem die derzeitigen extremistischen Ideologien gedeihen. Mit einem derartigen Schutz wäre auch die großzügigste Finanzierung einer Destabilisierung der Lage in Russland wirkungslos.

    Außerdem muss unbedingt beachtet werden, dass terroristische Gruppierungen gerade Jugendliche als eine Art natürliche Reserve ansehen. Daher müssen wir unbedingt die Initiative ergreifen und die jungen Menschen aus dieser Risikogruppe einbeziehen, um Gegenmaßnahmen zum bewaffneten Extremismus zu erarbeiten und umzusetzen.

    Es wäre sinnvoll, mit Hilfe von Aufsichts- und Kontrollorganen eine breitangelegte und detaillierte verfassungsrechtliche Überprüfung aller religiösen, nationalkulturellen und Jugendorganisationen vorzunehmen, bei denen Anlass zum Verdacht besteht, dass sie verbotene extremistische Tätigkeiten ausüben.

    Ausgehend von den im Nordkaukasus gesammelten Erfahrungen, muss eine konkrete und höchst zielgerichtete Präventionsarbeit mit Vertretern aus informellen Jugendvereinigungen organisiert werden. Ziel des Ganzen ist es, durch spezielle Maßnahmen an Informationen über negative Entwicklungen unter Jugendlichen heranzukommen sowie Ideologen und Führer radikaler Organisationen zu ermitteln, die versuchen, junge Menschen in extremistische Aktivitäten hineinzuziehen.

    Unterstützenswert sind auch positive Erfahrungen wie die in der Republik Inguschetien. Hier ist ein militärpatriotischer Verein gegründet worden: Er bringt Kinder von Ermittlungsbehörden-Mitarbeitern, die im Dienst ums Lebens gekommen sind, in Kontakt mit Kindern ehemaliger Mitglieder bewaffneter Untergrundorganisationen. Dies ermöglicht ihnen eine Annäherung und schafft eine Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses.

    Wir müssen festlegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen

    Das hier vorgeschlagene Konzept betrachtet es als angebracht, festzulegen, in welchem Maß in Russland das globale Netzwerk des Internets zensiert werden soll. Dieses Problem verursacht ja derzeit hitzige Debatten dadurch, dass es die Verteidiger der Informationsfreiheit  auf den Plan gerufen hat.

    In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant, die sich den USA und deren Verbündeten entgegenstellen. Angesichts des beispiellosen medialen Drucks sind sie dazu übergegangen, die ausländische Presse einzuschränken, um den nationalen Informationsraum zu schützen. So hat beispielsweise das chinesische Ministerium für Industrie und Informatik zum 10. März 2016 ein Verbot von elektronischen Medien eingeführt, die vollständig oder teilweise im Besitz von im Ausland lebenden Personen sind. Solche Medien können keine Informationen mehr im Internet verbreiten, sondern bestenfalls im Printbereich. Chinesische Medien dürfen von nun an nur noch mit ausländischen Online-Medien zusammenarbeiten, wenn sie dafür eine Erlaubnis des entsprechenden Ministeriums haben. Die Leitung nationaler Medien ist chinesischen Staatsbürgern vorbehalten. Voraussetzung ist dabei, dass sich die Server von Online-Medien in der Volksrepublik befinden.

    Es ist durchaus vorstellbar, diese Erfahrungen in vernünftigem Maße auch in Russland umzusetzen.

    Internet-Provider müssen im notwendigen Umfang einheitliche Datenschutzregeln für Kunden und User ausarbeiten – für den Fall, dass derartige Auskünfte bei der Untersuchung von Gesetzesübertretungen im Bereich der IT-Sicherheit angefordert werden.

    An öffentlichen Orten mit Zugang zum World Wide Web (Bibliotheken, Schulen und andere Bildungseinrichtungen) müssen Webfilter eingebaut werden, die Websites mit extremistischen Inhalten blockieren.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert

    Außerdem wäre es angebracht, ein außergerichtliches (administratives) Verfahren einzuführen, demzufolge extremistische Materialien auf eine landesweite Liste gesetzt werden. Auch müssen Domain-Namen von Websites blockiert werden können, wenn sie extremistische und radikal-nationalistische Informationen verbreiten. Falls sie den Extremismusvorwurf für nicht gerechtfertigt halten, können Informationseigner sich an die zuständigen staatlichen Organe wenden und vor Gericht ihre Unschuld beweisen.

    Mitunter rekrutieren Terrororganisationen ihren Nachwuchs im Netz. Um diese rechtswidrigen Handlungen bekämpfen zu können, muss das Spektrum strafrechtlicher Maßnahmen erweitert werden. Hierfür ist zu prüfen, wie der Besitz, die Sammlung oder das Herunterladen solchen Materials strafrechtlich zu ahnden ist.

    Migrationsbewegungen müssen besonders aufmerksam verfolgt werden. Gerade Migranten werden oft rekrutiert und radikalisiert. Viele von ihnen befinden sich trotz abgelaufener Aufenthaltserlaubnis in Russland und verschwinden so aus dem Blickfeld der Ermittlungsbehörden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Fragen des Aufenthalts ausländischer Staatsbürger und Staatenloser auf dem Gebiet der Russischen Föderation regeln, müssen unbedingt überprüft werden. Basierend auf den Ergebnissen müssen Ergänzungen zur Verbesserung der Gesetzeslage erfolgen.

    Spezielle Charakteristika  extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen

    Spezielle Charakteristika extremistischer Tätigkeit haben sich im Föderationskreis Krim herausgebildet. Dort wird versucht, eine antirussische Stimmung zu schaffen, indem Informationen über geschichtliche Tatsachen verfälscht und aktuelle Geschehnisse verzerrt dargestellt werden. So wird versucht, die Ergebnisse des Referendums über den Beitritt der Krim zu Russland in Zweifel zu ziehen. Dabei ist dieser Akt rechtlicher Willensbekundung der gesamten Krim-Bevölkerung zu einem unveräußerlichen Teil des russländischen Konstitutionalismus geworden. Im Hinblick auf den Rang, den dieser Akt in der Wertehierarchie von Staat und Gesellschaft in Russland einnimmt, muss ihm zweifellos besonderer rechtlicher Schutz zuteilwerden. Dazu gehören auch strafrechtliche Mittel.

    Hier ist anzumerken, dass es völlig üblich ist, das Leugnen oder die Verfälschung historischer Ereignisse, die von besonderer Bedeutung für den Staat und die Gesellschaft sind, unter Strafe zu stellen. So ist zum Beispiel in vielen Ländern der Welt, darunter auch in Russland, das Verbreiten faschistischer Propaganda strafbar. In Frankreich und auch in einer Reihe anderer Staaten steht mittlerweile das Leugnen des Völkermords an den Armeniern unter Strafe. In Israel steht das Leugnen des Holocaust unter Strafe.

    In Anbetracht dieser Ausführungen scheint es notwendig, den im föderalen Gesetz „Zur Bekämpfung extremistischer Tätigkeiten“ definierten Extremismusbegriff so zu erweitern, dass er auch ein Phänomen wie das Leugnen der Ergebnisse eines landesweiten Referendums umfasst. Auch die gezielte Verfälschung der Geschichte unseres Staates muss entschieden unterbunden werden. In diesem Zusammenhang könnte auch Artikel 280 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (öffentliches Anstiften zu extremistischen Handlungen) erweitert werden. Und zwar um ein Definitionsmerkmal, das ein Anstiften zu extremistischen Handlungen auch dann erkennt, wenn es in Zusammenhang mit verfälschten Informationen zu geschichtlichen Tatsachen und Ereignissen steht.

    Außerdem muss die Sozialgesetzgebung dahingehend überprüft werden, ob nahe Angehörige von Personen, die in irgendeiner Weise an Terrorismus beteiligt sind, im Fall des Todes der sie versorgenden Person Renten oder andere finanzielle Leistungen erhalten sollen. Eine Person, die sich zur Ausführung derartiger Verbrechen entschließt, muss sich darüber im Klaren sein, dass sie im Fall ihres Todes nicht nur in einem namenlosen Grab beerdigt wird, sondern dass sie damit auch ihre nahen Angehörigen um die finanzielle staatliche Unterstützung bringt.

    Eine weitere Möglichkeit des effektiven Kampfes gegen Extremismus, Terrorismus und andere kriminelle Gefahren stellt die strafrechtliche Konfiszierung von Eigentum dar.

    Entsprechende Gesetzesvorschläge sind bekanntlich in Vorbereitung und müssen schnellstmöglich verabschiedet werden. Leider hat sich dieser Prozess unnötig verzögert.

    Genauso wichtig ist es, das Rechtssystem für die internationale Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und anderen staatlichen Organen auszubauen, denen die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus obliegt.


    1.Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte das Den Haager Bezirksgericht die vom Schiedsgericht verfügte Strafzahlung von 50 Milliarden Dollar an ehemalige YUKOS-Aktionäre noch nicht aufgehoben. Dieses Urteil ist erst am 20. April gefallen. Eine weitere Runde in diesem Rechtsstreit ist zu erwarten.
    2. gemeint ist der Punkt: Countering Russian aggression through public diplomacy and foreign assistance programs, and building the resilience of governments and economies in Europe, Eurasia, and Central Asia in http://www.state.gov/r/pa/prs/ps/2016/02/252213.htm

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    Presseschau № 26

    In Russland wird der Tag der Raumfahrt gefeiert. Derweil verteidigt Putin den Cellisten Sergej Roldugin, der als einer der Hintermänner der russischen Offshore-Verwicklungen gilt. Ein Film unterstellt dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus den USA gesteuerte Umsturzabsichten und das enteignete Eigentümerkonsortium von Yukos lässt internationales Vermögen des russischen Staates beschlagnahmen.

    Tag der Raumfahrt. Die russische Öffentlichkeit liebt Jahrestage, am meisten runde. Am Dienstag war nicht nur, wie an jedem 12. April, der Tag der Raumfahrt, sondern auch noch der 55. Jahrestag des ersten Raumflugs in der Geschichte der Menschheit – und der war schließlich eine russische Errungenschaft. Die Raumfahrtbehörde Roskosmos nahm es zum Anlass, unter dem Motto Podnimi golowu! (dt. Kopf hoch!) eine patriotisch-optimistische Flashmob-Kampagne zu starten – auch auf Youtube. Das charmante Breitband-Lächeln des sowjetischen Superhelden Juri Gagarin prangte am Dienstag als Festtags-Logo von den Titelseiten vieler Zeitungen. Bei dem Kommersant-Tochterblatt Ogonjok zierte der Kosmonaut sogar die Titelseite, allerdings nicht mit Helm, sondern als Schelm mit einem fransigen Damen-Strohhut. Der Kosmos sei für Russland schließlich symbolisches Kapital und ein Markenprodukt, schrieb Vedomosti in einem Kommentar – „einzig zum Erhalt der Marke reichen die Mittel und die Qualifikation nicht aus“, weshalb man „alte Symbol-Vorräte ausnutzen“ müsse. In der harten Realität sei für die russische Raumfahrt Anfang des Jahres eine Mittelkürzung um 30 Prozent für das nächste Jahrzehnt beschlossen worden – und das demnächst startbereite neue Kosmodrom Wostotschny mache vor allem durch Skandale und Hungerstreiks der Bauarbeiter Schlagzeilen.

    Panama Papers. Zu anderen irdischen Problemen: Und die laufen in Russland – wie momentan in vielen anderen Staaten – unter dem Etikett Panama Papers. Als mutmaßlicher Strohmann und eine Putin besonders nahestehende Schlüsselfigur der russischen Offshore-Verwicklungen wurde darin der Cellist Sergej Roldugin enthüllt. Zwei Milliarden Dollar sollen über Briefkastenfirmen unter seinem Namen geflossen sein. Putin persönlich nahm ihn auf einem Petersburger Medienforum in Schutz: Roldugin sei einfach ein Musiker, der auch im Business aktiv sei und sein sauer verdientes Geld in den Ankauf von sündteuren Musikinstrumenten zur Talentförderung stecke. Russlands staatlicher Hauptpropaganda-Kanal, die Sendung Westi nedeli von und mit Dimitri Kisseljow, brachte daraufhin ein langes Sujet über den Musiker und präsentierte ihn und dessen piccobello restauriertes Petersburger Haus der Musik als jenen Kulturhort, in den der emsige Roldugin seine Reichtümer gesteckt habe. Das alte Adelspalais beeindruckt in der Tat – doch konterte die lokale Webzeitung fontanka.ru schon tags darauf mit eigenen Recherchen: Die Sanierung des Gebäudes sei für umgerechnet circa 50 Millionen Euro seinerzeit von der Stadt Sankt Petersburg bezahlt worden. Und kein einziges der im Film präsentierten mehrere Millionen Dollar teuren antiquarischen Instrumente stünde in der Bilanz von Roldugins Haus der Musik – das im Übrigen zu 80 Prozent vom Kulturministerium finanziert werde.

    Enthüllungen über Nawalny. Von Kisseljow am Sonntag bereits als Preview präsentiert, strahlte Rossija 1 am Mittwoch einen langen Film mit Enthüllungen über den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus. Die Kernaussage: Nawalny arbeite seit Jahren im Auftrag und auf Rechnung des Putin-Intimfeinds Bill Browder, der einst in Russland zu den größten Finanzinvestoren gehörte – und betreibe letztlich einen Umsturz in Russland. Mit allerlei angeblich erbeuteter oder abgehörter Kommunikation unterstellt der Film, dass auch der Haft-Tod des Browder-Anwalts Sergej Magnitzki von den beiden Putin-Gegnern initiiert wurde – und zwar über geheimnisvolle britische Agenten im russischen Strafvollzugssystem. Auch Nawalnys Enthüllung über das Geschäftsimperium der Söhne von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika sei auf Geheiß westlicher Geheimdienste erfolgt, heißt es in dem Material.

    Nawalny kündigte eine Klage gegen den Fernsehsender wegen Rufmords an. Das einzig Wahre darin über ihn sei, dass er Nawalny heiße, erklärte er. Und in seinem Blog veröffentlichte er eine Selbstanzeige beim FSB, in dem er um eine offizielle Untersuchung der publik gemachten Vorwürfe samt Beschlagnahme des angeblichen Belastungsmaterials bittet. Originellerweise fand er damit sogar Beifall bei Chef-Propagandist Kisseljow. Über die Qualität des Belastungsmaterials lästerte die Novaya Gazeta: Das Englisch der vermeintlichen britischen Agenten sei auf dem Niveau von Google-Übersetzungen beziehungsweise Russlands Sportminister Mutko (gegenüber dem Günther Oettinger geradezu Oxford-English spricht).

    Auseinandersetzung um Yukos. Ein weiterer ewiger Schauplatz von Battaglien zwischen dem Kreml und seinen Widersachern ist und bleibt Yukos: Das enteignete Eigentümerkonsortium GMT versucht international, seine Forderungen über 50 Milliarden Dollar vom russischen Staat einzutreiben – und hat in Frankreich Zahlungen in Höhe von 700 Millionen Dollar an die russische Raumfahrtbranche beschlagnahmen lassen – ein unschönes Geschenk zum Tag der Kosmonautik. Die russischen Ermittler versuchen derweil, in der schon satte 20 Jahre zurückliegenden Privatisierung von Yukos Kriminelles zu finden – was ermöglichen könnte, diese Forderungen international anzufechten. Der Ex-Eigner im Exil, Michail Chodorkowski, rückte davon unabhängig dieser Tage wieder auf die Forbes-Liste der 200 reichsten Russen: Das Magazin taxierte sein Vermögen auf 500 Millionen Dollar (Platz 170) – zu Beginn seiner zehnjährigen Haft hatte er das Rating noch angeführt.

    Direkter Draht mit Wladimir Putin. Ab Donnerstagmittag wird die russische Medienlandschaft aber erst einmal durch die Inhalte des Direkten Drahts mit Wladimir Putin geflutet: Der Präsident antwortet auf Bürgerfragen aus dem ganzen Land – erstmals auch aus dem sozialen Netzwerk VKontakte. Was auf dem Bildschirm nach einem relativ spontanen Dialog aussieht, ist ein gut eintrainiertes Spektakel: Wie rbc.ru berichtete, ist das Saalpublikum bereits seit Dienstag in einem staatlichen Vorort-Sanatorium kaserniert, wo die Frager ausgewählt werden und ihr korrektes Verhalten einstudiert wird.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg

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    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Die Besondere Meinung (Ossoboje Mnenije) ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Yevgenia Albats, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times, ist regelmäßig in der Sendung zu Gast. Geleitet wird Besondere Meinung von wechselnden Moderatoren, unter anderem von Tatjana Felgengauer. Die bekannte Radiomoderatorin ist stellvertretende Chefredakteurin des Senders.

    Besondere Meinung ist interaktiv, Zuhörer bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Videostream live aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht. Das Format bietet allerdings weniger tiefschürfende Analysen, sondern zumeist eine adhoc-Reaktion zu aktuellen Ereignissen.

    Das betrifft auch Yevgenia Albats’ unten stehende Aussagen zu Poroschenko unmittelbar nach Veröffentlichung der Panama Papers. Dies geschah noch, ehe sich der Hromadske.tv-Redaktionsbeirat von den Anschuldigungen distanziert hatte und ehe es eine weitere Einordnung und Differenzierung der umstrittenen Vorwürfe gegen den ukrainischen Präsidenten gab1.

    Bei Besondere Meinung werden nicht nur unabhängige Stimmen eingeladen, sondern auch regierungstreue. Echo Moskwy gilt als unabhängiger Sender mit langer Tradition (gegründet 1991), ist aber seit 2001 mehrheitlich im Besitz der Gazprom-Medienholding, die sich ihrerseits mehrheitlich in Staatsbesitz befindet. Zwischen der Redaktion und Gazprom-Media gab es in den vergangenen Jahren mehrfach Konflikte, auch tauchten Hinweise auf, dass in Einzelfällen heikle Inhalte vor ihrer Veröffentlichung mit staatlichen Stellen abgestimmt wurden.2  So lassen sich an dem Sender und seinen Formaten auch die Ambivalenzen der russischen Medienlandschaft ablesen, wo eine schnelle Einordnung in Schwarz oder Weiß nicht immer so einfach möglich ist. Auch das sollte man berücksichtigen, wenn man zuhört, wie sich bei Besondere Meinung zwei Grandes Dames des russischen Journalismus über tagesaktuelle Themen austauschen.

    Tatjana Felgengauer: Wir setzen die Sendung Besondere Meinung fort, ich heiße Tatjana Felgengauer und ich begrüße im Studio die Chefredakteurin des Wochenmagazins The New Times, Yevgenia Albats. Guten Tag. 

    Yevgenia Albats: Hallo, Tatjana. Ich muss mich entschuldigen, der Boulevardring war gesperrt wegen einer Eskorte.

    Ich stelle Ihnen dieselbe Frage wie vorhin den anderen, weil mich Ihre Meinung dazu interessiert: Weshalb braucht Wladimir Putin eine Nationalgarde?

    Deshalb, weil Wladimir Putin am allermeisten auf der Welt sein Umfeld fürchtet. Er braucht Leute, die ihn garantiert beschützen.

    Solotow, General Solotow, glaube ich, ist einer von denen, die Putin absolut treu ergeben sind und ihn bis zum Letzten verteidigen würden. Bei Weitem nicht alle in Putins Umfeld würden das tun.   

    Die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Bürger

    Eine mögliche Aufgabe ist außerdem der Kampf gegen den Terror (wie Putin gesagt hat), aber da haben natürlich alle Experten gesagt, dass es „außerdem ja auch Massenausschreitungen und Ähnliches“ gebe.

    Natürlich – die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Staatsbürger der Russischen Föderation. Tanja, ich habe gehört, was Golts dazu gesagt hat, den ich sehr liebe und schätze. Aber trotzdem, mir scheint, dass die derzeit wichtigste Frage die nach dem Schutz Putins ist. Wenn man die Rhetorik hier in der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett, wie soll ich sagen, putinozentrisch: Alles, was in der Welt passiert – alles ist gegen Putin Wladimir Wladimirowitsch gerichtet.

    Putinophobie – sie ist die Hauptsache im derzeitigen Weltgeschehen. Die Welt hat überhaupt nichts anderes im Sinn als die psychische und sonstige Gesundheit von Putin Wladimir Wladimirowitsch, sein Vermögen, sein Geld, seine Freunde und so weiter.  

    Wenn man die Rhetorik der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett putinozentrisch

    In Wirklichkeit hat die Welt aber sehr viel anderes zu tun. Und Putin Wladimir Wladimirowitsch steht irgendwo auf Platz 125. Na, vielleicht 127 oder 115.

    Sowas kennt man ja. Diktatoren geraten immer wieder in ein Informationsvakuum, das sie selber erschaffen und dem sie selber zum Opfer fallen.

    Daher ist die Vorstellung von der Welt da draußen, grob gesagt, beschränkt auf das, was Rossija 24 oder Rossija 1 senden, oder MIA Nowosti und dergleichen, und auf die roten Akten, in denen es ebenfalls um Gefahren für Wladimir Wladimirowitsch Putin geht.

    Ganz generell zu den Reaktionen auf die Panama Papers, auf diese gigantischen Ermittlungen: Die Reaktionen anderer Länder und Russlands – inwieweit waren die für Sie vorhersehbar?

    Also, absolut klar war, dass man darauf in allen Ländern ablehnend reagieren würde. Weil die Regierungen aller Länder gern etwas verbergen, und Leute mit Geld verbergen gern ihr Geld.

    Am meisten interessiert mich natürlich, was hier in Russland passieren wird. Es hat nun endlich geheißen, dass die Generalstaatsanwaltschaft das prüfen wird. Außerdem haben wir gehört, dass Dimitri Peskow keine Anklage erhebt, weil er keine Zeit hat.   

    Und natürlich bin ich sehr neugierig auf die Reaktionen in der Ukraine. Bei den Offshore-Geschäften dort geht es ja nicht um große Summen, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Poroschenko mit dem Versprechen an die Macht kam, dass er alles absolut transparent machen wird. Und jetzt kommt raus, er hat eine Offshore-Firma, auf die, soweit ich das verstehe, sein Konditorei-Business übertragen wurde oder übertragen werden sollte. Das ist alles jenseits von Gut und Böse. Poroschenko wurde von Menschen zum Präsidenten gewählt, die bereit waren, für die Freiheit ihr Leben zu opfern. Und manche haben es auch geopfert. Da ist das natürlich völlig unmöglich.

    Lassen Sie uns nochmal auf Russland zurückkommen und auf die Russen, die von den Ermittlungen betroffen sind. Wer interessiert Sie da am meisten? 

    Vor allem interessiert mich natürlich dieses ganze Offshore-Netz, das, wie sich herausstellte, dem Cellisten Sergej Roldugin gehörte. Einfach weil das unheimlich viel Geld ist.

    Wie viel weiß Putin wohl von der unglaublich erfolgreichen Geschäftstätigkeit Roldugins, von dem er wahrscheinlich bisher annahm, dass er nur Cello spielt?

    Da tauchen enorm viele Fragen auf. Soweit ich weiß, wurden diese Offshore-Firmen auf den Virgin Islands und in Panama im Sommer 2015 geschlossen, wurden dann aber auf Offshore-Firmen in Belize übertragen. Ich möchte daran erinnern, dass zu dieser Zeit, genau im Jahr 2015, ein Gesetz erlassen wurde, für das Wladimir Putin selbst lobbyierte: Unternehmen und russische Staatsbürger, die Offshore-Firmen betreiben, waren nun verpflichtet, die Steuerbehörden darüber in Kenntnis zu setzen.

    Also möchte ich schon sehr gerne wissen, ob Herr Roldugin oder seine Gehilfen die Steuerbehörden wohl in Kenntnis gesetzt haben oder nicht? Und wie viel Ahnung Putin Wladimir Wladimirowitsch davon hat, was für eine unglaublich erfolgreiche Geschäftstätigkeit dieser Mensch ausgeübt hat, von dem er wahrscheinlich annahm, dass er nur Cello spielt.  

    Unsere Hörer kommen jetzt wieder auf das Thema der vergangenen Stunden zurück, auf die Nationalgarde. Erstens kam mehrmals die Frage: Der Wunsch, die persönliche Sicherheit zu verstärken, womit hat der zu tun? Und steht er in einem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation im Land? 

    Ich glaube, wichtig ist hier vor allem zu verstehen, dass Putin – abgesehen davon, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist – vor allem eine Funktion ausfüllt.

    Seine Funktion besteht für Unternehmen, für seine nächste Umgebung und so weiter darin, dass er im Land für eine Stabilität gesorgt hat, die es möglich macht, normale Business-Pläne zu erstellen und Einnahmen und Ausgaben zu kalkulieren. Dass er den Zugang zum westlichen Markt geöffnet und die Möglichkeit geschaffen hat, dass man ein Unternehmen in Russland führen und gleichzeitig in den leckeren Ländern Europas leben kann.

    Und auf einmal ist das alles vorbei. Und das billige Geld ist auch alle.  

    Plus die Sanktionen. Da wollten sie die Eurobonds platzieren – daraus wurde nichts. Plus die Nullinvestitionen. Die Geschäfte stagnieren.

    Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!

    Das Wichtigste – darüber schreibe ich gerade jetzt in der aktuellen Ausgabe von The New Times – ist, dass unser Horizont praktisch nur bis zum Jahr 2018 reicht. Wir wissen nicht, wie es dann weitergeht. Das ist furchtbar. So können die Menschen nicht leben, man kann weder ein Familienbudget planen noch ein Firmenbudget. Überhaupt nichts kann man planen, weil der Horizont so begrenzt ist. Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!

    Das Problem betrifft nicht nur Sie und mich. Wir wissen, dass das Bruttosozialprodukt mindestens noch weitere drei Jahre fallen wird, allen Prognosen zufolge. Und das heißt, wir wissen genau, dass wir Jahr für Jahr ärmer werden, immer ärmer und ärmer, und unser Leben ziemlich schwierig werden wird.

    Die Bedrohung für Putin geht von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten.

    Aber nicht nur wir wissen nicht, wie es weitergeht, das wissen auch die engsten Vertrauten Putins nicht. Sie haben sich nicht darüber beraten. Sie haben, als sie Putin an die Macht brachten und dann selber aufgestiegen sind, in ihn investiert und Unterschriften geleistet und so weiter. Und überwiesen haben sie diese ganzen … Was war das? Die Kerimow-Strukturen, vier Milliarden Rubel, und dann wurde das Recht, vier Milliarden zu fordern, für einen Dollar an Roldugins Vertraute verscherbelt, ja? Also die, die dafür zahlten und so weiter, die verstehen ja auch nicht: wofür eigentlich?

    Früher war klar: Er wurde reicher und sie wurden reicher. Aber jetzt werden alle ärmer. Daher geht die Bedrohung für Putin natürlich von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten. Nein, das sind die im nächsten Umfeld, die plötzlich kapiert haben, dass auch sie nach 2018 keine Zukunft haben. Das ist ein großes Problem.    

    Kurz zur Situation in Nagorny Karabach, weil auch dort viel passiert – es gibt noch keinen richtigen Krieg, aber die Situation spitzt sich zu. Was denken Sie, wird man den Konflikt wieder auf Eis legen können? Unser Hörer Dimitri fragt, von wem oder was jetzt eine Beruhigung in Nagorny Karabach abhängt.

    Die hängt weitgehend von Russland ab, weil Armenien eigentlich eine große Militärbasis für Russland darstellt. Dort befinden sich, glaube ich, drei russische Stützpunkte. Und Armenien ist komplett von der Russischen Föderation abhängig, sowohl was die Grenzüberwachung betrifft als auch die Finanzen. Im Grunde ist das ein absolut abhängiges Protektorat Russlands. Deswegen können Russland und Putin, oder wer auch immer, die Führung Armeniens durchaus zur Vernunft bringen. Sie können dementsprechend auch auf ihre Leute in Nagorny Karabach einwirken.

    Andererseits, Aserbaidschan … Die Nachricht, dass auf Seiten Aserbaidschans türkische Söldner kämpfen, gefiel mir gar nicht. Sie gefiel mir deswegen ganz und gar nicht, weil wir wissen, dass Putin natürlich gegenüber Erdogan auf Rache sinnt. Wenn nur diese Situation nicht genau dafür genutzt wird, den Türken irgendwie einen Schlag zu versetzen. Doch ich denke auf jeden Fall, dass der Schlüssel zu Karabach, zur Lösung des dortigen Konflikts, in Moskau liegt.

    Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Würde mich sehr interessieren, was er zu Nagorny Karabach sagt

    Außerdem, Tanja, es ist ein Wahnsinn, diese Nachrichten versetzen mich ständig zurück in meine Jugend. Wie ich für die Zeitung Moskowskije nowosti arbeitete und wir über Stepanakert schrieben, und Primakow nach Baku fuhr, und alle diskutierten die Lage in Nagorny Karabach und studierten die Karten und versuchten zu verstehen, was denn dort los ist. Ich hoffe inständig, dass der Albtraum, der damals in Aserbaidschan stattfand, sich nicht wiederholt für die Minderheiten, die in Aserbaidschan lebten und leben.

    Nein, nein, ich will da auf keinen Fall etwas zusammenreimen, aber es ist schon verblüffend, wie … Das erinnert mich sehr an 1989/90.

    Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Der hört wahrscheinlich unsere Sendung. Würde mich sehr interessieren, was er dazu sagt.  

    Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats. Danke.

    Danke.

    Auf Wiedersehen.


    1.Der Spiegel: Panama Papers: Warum Poroschenko diesmal zu Unrecht am Pranger steht und voxukraine.org: Poroshenko Offshore Case Raises Multiple Legal and Institutional Questions und Hromadske.tv: Rozsliduvannja «Slidstva» pro ofšory Porošenka – vysnovok Redakcijnoi rady
    2.Novaya Gazeta: «Šaltaj-Boltaj» opublikoval predpolagaemuju perepisku glavy Roskomnadzora

     

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  • Presseschau № 25

    Presseschau № 25

    Staatliche Medien haben die Panama Papers zunächst kaum thematisiert, einzelne Journalisten der unabhängigen Presse waren dagegen an den Recherchen beteiligt: Sie schreiben nicht nur über Putin-Freund Roldugin, sondern vor allem auch über Oligarchen und hohe Staatsbeamte, die in die undurchsichtigen Finanzgeschäfte verwickelt sind. Passend dazu berichten russische Medien über den gerade erst verabschiedeten Anti-Korruptionsplan und die neu gegründete Nationalgarde.

    Putin und Panama. Was man mit zwei Miliarden Dollar alles machen könnte: Das sind ein Drittel des russischen Gesundheitsbudgets für 2016, oder 1,5 mal soviel Geld wie in Russland für den Straßenbau bis 2020 vorgesehen ist. Man könnte aber auch einen ganzen Monat lang die Rente von zehn Millionen Pensionären bezahlen, wie Current Time zeigt, ein TV-Programm, das von Radio Free Europe und Voice of America co-produziert wird. Zwei Milliarden Dollar beträgt aber auch der Umsatz des Offshore-Netzwerks des russischen Cellisten und guten Freunds des russischen Präsidenten, Sergej Roldugin, wie die Panama Papers, Recherchen des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus (ICIJ) zutage förderten. In Russland war die kremlkritische Novaya Gazeta an der Aufarbeitung des nach eigenen Angaben größten Datenlecks der Geschichte beteiligt. Hier geben die Journalisten Einblick in ihre Arbeit.

    Interessant sind die laut Experten suspekten Transaktionen der Firmen von Cellist Roldugin, vor allem wegen dessen enger Freundschaft mit dem russischen Präsidenten. Der Musiker und der zukünftige Präsident lernten sich bereits in den  70er Jahren im damaligen Leningrad kennen. Trotz ihrer unterschiedlichen Karrieren hat ihre Freundschaft offensichtlich gehalten, wie ein Interview zeigt, das Roldugin 2014 der Zeitung Vechernaja Kazan gab. Ein Faktor, welcher die Journalisten des Konsortiums vermuten lässt, dass Roldugin die Gelder für jemand anderen, möglicherweise sogar für Putin selbst verwaltete, auch wenn der Name des Präsidenten selbst nirgendwo in den Panama Papers auftaucht.

    Roldugin ist allerdings nicht der einzige prominente Russe in den Panama Papers. Tatjana Nawka, die Frau von Putins Sprecher Dimitri Peskow, der Sohn von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sowie Maxim Lixutow, Vizebürgermeister von Moskau figurieren laut der Novaya Gazeta ebenso in den Dokumenten, wie mehrere Oligarchen, Gouverneure und Parlamentarier. Illegal sind Offshore-Konstruktionen in Russland nicht. Brisanz erhalten die Papiere aber dadurch, dass Beamte weder Auslandstransaktionen durchführen noch Bankkonten im Ausland besitzen dürfen, wie die Wirtschaftszeitung RBC Daily schreibt. 2015 ist zudem ein Gesetz über die „Deoffshorisierung“ in Kraft getreten, laut dem Unternehmen und Privatpersonen die zuständigen Behörden über allfällige Offshore-Vermögen informieren müssen. Dumaabgeordneten ist Geschäftstätigkeit generell verboten, so RBC Daily weiter.

    Die langsame Reaktion der russischen Staatsmedien auf die Panama Papers hat das unabhängige Internetmagazin Slon hier gesammelt. Falls überhaupt, wurde eher über den Offshore-Trust des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko berichtet und im Bezug auf die Firmen gegen russische Staatsbürger meist die offizielle Kreml-Position wiedergegeben: Es handle sich dabei um eine Auftragsarbeit, dahinter stecke die CIA. Die Recherche sei ausschließlich darauf abgezielt gewesen, Russland und vor allem Wladimir Putin zu schaden. In den Papieren stehe nichts neues, so Putins Sprecher, er hätte sich von dem Journalistenkonsortium qualifiziertere Arbeit erwartet. Bereits vergangene Woche hatte Peskow vor einem Informationskrieg gegen Russland gewarnt, mit dem das Land destabilisiert werden soll.

    Nun interessiert sich aber trotzdem die russische Staatsanwaltschaft für die Offshore-Firmen, wie der Kommersant berichtet. Der parteilose Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow hat von den staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und Rossija Segodnja Auskunft darüber verlangt, warum die Panama Papers derart kurz abgehandelt wurden, so die Zeitung weiter. Er diskutiere die Redaktionspolitik nicht mit Parlamentsabgeordneten, entgegnete darauf Dimitri Kisseljow, umstrittener Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja. Von der Zeitung befragte Soziologen bezweifeln, dass die Enthüllungen das Verhältnis der Russen zu ihren Politikern ändern werde. Dass in Russland Korruption existiere, sei hinlänglich bekannt.

    Die Gleichgültigkeit der russischen Öffentlichkeit sei heute die zuverlässigste Verbündete des Kremls, kommentiert der Publizist Oleg Kaschin die Panama Papers. Das gelte auch im Falle des Mordes an Boris Nemzow oder den Krieg in der Ukraine. In naher Zukunft sei das Vermeiden von ähnlichen Enthüllungen eine der dringendsten Aufgaben der russischen Regierung. Möglicherweise kann die russische Medienöffentlichkeit schon bald asymmetrische Entlarvungen über Barack Obama erwarten, so Kaschin weiter. Auch wenn die Enthüllungen laut der Politologin Ekaterina Schulmann nicht auf ein russisches Publikum abziele, da hier kaum ernsthafte Reaktionen folgen würden, gelte es die umfassende Recherche des Konsortiums anzuerkennen. Man müsse schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man die Veröffentlichung als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen“, so die Politologin weiter.

    Korruption lässt Kosten steigen. Zufall oder nicht, wenige Tage vor den Offshore-Enthüllungen, hat Russland den neuen Anti-Korruptionsplan 2016/17 verabschiedet. Wichtigster Punkt: Staatsbedienstete, Leiter gesellschaftlicher Organisationen, aber auch Journalisten sollen ihre Jahreseinkommen offenlegen, damit Interessenskonflikte vermieden werden können. Der renommierte TV-Journalist Wladimir Posner spricht sich dagegen aus, damit würden die Rechte der Journalisten verletzt. Die neugegründete unabhängige Journalistengewerkschaft bedankt sich auf ihrer Facebookseite beim Kreml für die Empfehlungen, habe aber nicht vor, diesen zu folgen.

    Durch Korruption steigen allerdings auch die Lebenshaltungskosten in Russland. Eine Wohnung koste deswegen zehn bis 15 Prozent mehr als ihr tatsächlicher Wert, schreibt die Associated Press. Damit schließt sich auch wieder der Kreis zu den Panama Papers: Laut Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsfonds hat etwa die Stadt Moskau einen Vertrag mit dem Unternehmen Transmashholding über die Lieferung neuer Metro-Waggons für die kommenden 30 Jahre abgeschlossen. Ehemaliger Teilhaber von Transmashholding ist der Moskauer Vizebürgermeister Maxim Lixutow. Dessen Name taucht ebenfalls in den Dokumenten auf.

    Neue Sicherheitsstruktur. Russland hat seit dieser Woche eine Nationalgarde, einen entsprechenden Erlass unterzeichnete Putin am Dienstagabend. Geführt wird diese von Viktor Solotow, während langer Jahre Leiter der persönlichen Leibwache des Präsidenten, zuletzt Chef der Truppen des Innenministeriums. Die mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattete Behörde soll eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die vorher von anderen Strukturen des Innenministeriums, etwa der OMON, übernommen wurden: etwa die Sicherung der öffentlichen Ordnung, die Bewachung strategisch wichtiger Objekte und Terrorbekämpfung. Vieles ist laut dem in Lettland beheimateten Oppositionsmedium Meduza im Bezug auf die Behörde aber noch unklar, etwa wie die Kompetenzen unter den Sicherheitsstrukturen aufgeteilt werden. Offizielle Angaben über die Stärke der Nationalgarde sind laut Vedomosti bislang nicht bekannt. Laut dem Kreml hänge diese Neugründung jedoch nicht mit möglichen Unruhen zusammen, welche vor den Parlamentswahlen im September ausbrechen könnten. Spekuliert wird in den russischen Medien trotzdem: Putin fürchte sich vor den Leuten in seiner Umgebung, er brauche jemanden wie Solotow zum Schutz, der ihm bedingungslos ergeben sei, meint etwa Jewgenija Albaz, Chefredakteurin des unabhängigen Wochenmagazins The New Times auf dem Radiosender Echo Moskau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Putin und das Offshore-Kettensägenmassaker

    Panama Papers und keinen interessiert’s: Obwohl die Leaks darauf hinweisen, dass zahlreiche enge Mitstreiter Putins und höchste Regierungsmitarbeiter über Briefkastenfirmen in dubiose Offshoregeschäfte verwickelt sind – der Kreml hatte sich nach der Veröffentlichung betont gelassen gegeben. Zwar will die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachgehen, Präsidentensprecher Peskow sprach jedoch von „Spekulationen“ und davon, dass die beteiligten Journalisten von „ehemaligen Angehörigen des amerikanischen Außenministeriums und der CIA“ finanziert würden. Andrej Kostin, Chef der staatlichen Großbank VTB, bezeichnete eine Verstrickung Putins in Offshore-Strukturen als „Blödsinn“.

    Ausführlich berichteten etwa die renommierte Wirtschaftszeitung Vedomosti, die unabhängige Novaya Gazeta oder der unabhängige Online-Fernsehsender Doschd. Regierungsnahe Medien oder auch das reichweitenstarke Staatsfernsehen hatten den Fall zunächst nicht aufgegriffen. Doch selbst wenn es eine breitere mediale Berichterstattung dazu gäbe: Korrupte Politiker überraschen in Russland niemanden, schreibt die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann in ihrem Blog auf Snob.ru. Für den globalen Kampf gegen die Korruption machen die Leaks ihr aber dennoch Hoffnung.

    Man muss sich klarmachen, dass der Adressat dieser Enthüllungen nicht das russische Publikum war, sondern die Länder des Westens: ihre Wähler, ihre Medien und ihre Eliten. Die Bürger der Russischen Föderation sind nicht einmal die wichtigsten Protagonisten der Enthüllungen. Der wahre Protagonist ist das weltweite Netz der Geldwäsche, die Internationale der Korruption.

    Im Staatswesen eines gesunden Menschen (im Unterschied zum Staatswesen eines Rauchers) kann es in solchen Situationen zwei verschiedene Konsequenzen geben – oder eine Mischung aus beiden: ethische und juristische.

    ZWEI VERSCHIEDENE REAKTIONEN

    Hier zwei lebhafte Beispiele der einen oder anderen Art: Der Premierminister von Island kündigt seinen Rücktritt an, in Panama leitet die Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen gegen die Offshore-Firmen ein. Wir können sehen, wie ein Land der ersten und ein Land der dritten Welt durchaus konsequent auf die Enthüllungen reagieren.

    Island hat eine ethische Reaktion gezeigt – noch vor der Eröffnung von Strafverfahren: Dem Politiker ist klar, dass diese Art von Veröffentlichungen das Vertrauen in ihn untergräbt, und ohne Vertrauen kann er nicht weiter arbeiten. Panama hat mit rechtlichen Schritten reagiert: Das Land erklärt, dass es sich selbst um das kümmern werde, was auf seinem Territorium stattfindet, und dass es die Recherche der Journalisten genau prüfen werde.

    WIR SIND NICHT DIE ADRESSATEN

    In Russland werden wir weder das eine noch das andere erleben. Die einen Amtsträger werden überhaupt keine Stellungnahmen abgeben, die anderen werden sagen, dass man uns den Informationskrieg erklärt habe und es nichts zu diskutieren gebe. Und eigene Untersuchungen – obwohl wir ja mit Rosfinmonitoring und der Staatsanwaltschaft über entsprechende Dienste verfügen – wird höchstwahrscheinlich niemand einleiten.

    Und genau darum sind wir nicht die Adressaten dieser Enthüllungen. Wir denken immer, dass uns jemand ein bisschen aufschrecken will, so als würden wir im Theater sitzen und uns langweilen – es sei denn, man serviert uns ein Kettensägenmassaker. Aber es ist nicht das Ziel dieser Publikationen, den Leser emotional aufzurütteln. Wichtig ist nicht das Himmelschreiende der Veröffentlichungen, sondern ihre schlagende Beweiskraft. Gerade diese wühlt die Menschen in jenen Ländern auf, in denen es Recht, Gesetz und funktionierende Institutionen gibt.

    DER BEGINN EINER NEUEN ÄRA

    Inwiefern der Beweis erbracht ist, dass russische Staatsangestellte in Offshore-Geschäfte verstrickt sind, kann ich nicht beurteilen: Die schiere Anzahl der Dokumente ist sehr groß, und für eine differenzierte Analyse benötigt man die entsprechende Qualifikation und Kompetenz.

    Aber was ich sehe, ist die enorme, mehrere Jahre dauernde Arbeit eines großen Netzwerks von Autoren aus mehreren Dutzend Ländern. Das übertrifft jedes Vorstellungsvermögen. Derartigen horizontalen Vernetzungsstrukturen gehört die Zukunft, und nicht den vertikalen und gleichgeschalteten.

    Die jetzigen Enthüllungen sollte man deshalb als Beginn einer neuen Ära betrachten. Vor unseren Augen entstehen neue Werte, Strukturen und Praktiken jener Epoche, in der wir leben werden. Egal, ob wir das anerkennen oder nicht. Man muss schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man diese Geschichte als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen”.

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  • Der kaukasische Dschihad

    Der kaukasische Dschihad

    Dass es in den Reihen des IS auch russische Kämpfer gibt, ist weithin bekannt. Aber auch in Russland selbst schließen sich mehr und mehr islamistische Gruppierungen dem IS an: Dies geht aus einem Bericht hervor, den die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group kürzlich veröffentlicht hat (ru, en). Laut dem Bericht ist sogar zu befürchten, dass ganze Regionen im Nordkaukasus zu „Provinzen des Islamischen Staates“ werden könnten.

    Die Novaya Gazeta hat mit Jekaterina Sokirjanskaja gesprochen, die den Bericht verfasst hat. Sokirjanskaja ist auch Mitglied der NGO Memorial sowie des Expertenrats beim Menschrechtsbevollmächtigten der Russischen Föderation.

    Wie haben sich der Krieg in Syrien und die Entstehung des IS auf den islamistischen Untergrund im russischen Nordkaukasus ausgewirkt?

    Die Maßnahmen der Silowiki [vor den olympischen Spielen 2014 – dek] haben ja einerseits dazu geführt, dass die Aktivität der nordkaukasischen Untergrundkämpfer eingedämmt wurde. Das hat sich auch positiv in den Terrorstatistiken niedergeschlagen. Syrien hat dabei eine Schlüsselrolle gespielt, denn ein Teil der Kämpfer und auch viele Radikale, die mit den Kämpfern sympathisieren und sich ihnen angeschlossen haben, sind in den Syrienkrieg gezogen. Nach Angaben des Kawkaski Usel ist die Zahl der Terroropfer im Kaukasus über die letzten zwei Jahre auf ein Fünftel gesunken.

    Andererseits ist die Sicherheitslage nach wie vor kritisch und es muss uns klar sein, dass das Problem mit den Untergrundkämpfern noch nicht endgültig gelöst ist. Genaugenommen haben wir unseren regionalen Dschihad weit über die russischen Grenzen hinaus exportiert und auf diese Weise den nordkaukasischen Untergrund mit dem globalen Dschihad vereinigt.

    In Ihrem Bericht beschreiben Sie detailliert, wie nahezu alle zum hiesigen Untergrund gehörenden Wilajets sukzessive dem Kalifen des IS die Treue geschworen haben. Kann man daraus schlussfolgern, dass die Regionen im Nordkaukasus, die als Wilajets organisiert sind und den Treueschwur geleistet haben, in gewissem Sinne Teil des IS-Gebiets geworden sind?

    Die Wilajets selbst können auf nichts Einfluss nehmen. Aber der Virus wurde in Umlauf gebracht. Mit dem IS befinden wir uns faktisch im Kriegszustand. An die 5000 russische Staatsbürger sind nach Syrien in den Kampf gezogen, und das übrigens nicht nur aus dem Kaukasus. Russisch ist die drittwichtigste Sprache im IS. Unsere Landsleute besetzen dort recht hohe, sogar sehr hohe Posten, wie zum Beispiel Omar Schischani und Abu Dschichad, das sind Positionen unmittelbar in den Machtstrukturen des IS.

    Genaugenommen haben wir unseren regionalen Dschihad weit über die russischen Grenzen hinaus exportiert.

    Ihre Beziehungen und ihr Einfluss auf den russischen Untergrund – das ist ihre politische Ressource, das soziale Kapital, mit dem sie die Karriereleiter im IS erklimmen.

    Die Leute, die dort den endlosen Kampf gegen Russland fortsetzen, haben bereits erreicht, dass der IS Russland auf dem Schirm hat, und sie werden unser Land bei jeder Gelegenheit als Zielscheibe betrachten, als eine der Schlagrichtungen für den globalen Dschihad. Bei Bedarf können sie auf Unterstützer innerhalb Russlands zurückgreifen. Sie können russische Ziele im Ausland angreifen. Nun, und bei der erstbesten Gelegenheit werden sie nach Russland zurückkehren.

    Omar Schischani wurde unlängst bei einem Einsatz amerikanischer Luftstreitkräfte verwundet. Laut Berichten ist er klinisch tot. Zum russischen Untergrund hat er einen überaus mittelbaren Bezug. Sie lüften nun erstmals den Schleier und berichten über seinen engsten Mitkämpfer Abu Dschichad. Wer ist dieser Mensch?

    Er ist eine sehr wichtige Figur, doch weiß man über ihn in Russland seltsamerweise kaum etwas. Er wurde in der Ortschaft Ust-Dscheguta in Karatschaj-Tscherkessien geboren, es gibt über ihn nur eine einzige Veröffentlichung auf der Website Kavkazpress.

    Dort steht, dass er ein radikaler Islamist war, im Nahen Osten studiert hat, nach Russland zurückgekehrt ist, wo er Kontakte zum Untergrund knüpfte. Er hat nicht gekämpft, wurde aber nach Artikel 208 des Russischen Strafgesetzbuchs wegen Mithilfe zu einem Jahr Straflager verurteilt. Aus derselben Quelle geht hervor, dass er dabei viele Leute aus dem Untergrund bei den Rechtsschutzorganen angeschwärzt habe, aber diese Information lässt sich nicht überprüfen.

    Mittlerweile laufen bei Abu Dschichad die Fäden der gesamten russischsprachigen Propaganda zusammen.

    Nach seiner Entlassung ist er umgehend nach Syrien gegangen und hat unter Omar Schischani die ideologische Arbeit organisiert. Zweieinhalb Jahre war Abu Dschichad für Omar Schischanis Website zuständig. Ein wichtiges Thema auf der Website war die Teilnahme von Tschetschenen, anderen russischen Kaukasiern und Menschen aus Zentralasien am Syrienkrieg.

    Mittlerweile laufen bei Abu Dschichad die Fäden der gesamten russischsprachigen Propaganda zusammen. Wobei nicht nur in Russland Kämpfer rekrutiert werden, sondern auch in Zentralasien. Außerdem will man die schon ziemlich große russische Community im IS selbst erreichen, indem man den IS als Staat für alle Muslime anpreist, die im Einklang mit dem Islam leben wollen.

    Wie ist es Abu Dschichad – ohne besonderen Einfluss im hiesigen Untergrund – gelungen, die kaukasischen Wilajets zum Treueschwur auf den IS zu bewegen?

    Er tat in den Jahren 2011/2012, als Doku Umarow noch am Leben war, nichts dafür, die Teilnahme von Mitgliedern des Imarats Kawkas (IK) am Syrienkrieg zu verhindern. Sie konnten dort Kampferfahrungen sammeln und in Lagern trainieren. Damals war das von der russischen Gesetzgebung nicht kriminalisiert; den IS gab es noch nicht und viele reisten nach Syrien wie zum Haddsch, um zwei, drei Monate im Dschihad zu kämpfen – wohl eine Pflicht für jeden Gesetzestreuen.

    Aliaschab Kebekow, der nächste Anführer des Imarat Kawkas, war bereits kategorisch dagegen, dass seine Kämpfer nach Syrien fuhren, und verbot ihnen jeglichen Kontakt mit dem IS. Allerdings war das Imarat Kawkas im Vorfeld der Olympischen Spiele praktisch zerschlagen worden. Die Silowiki hatten seine Aktivitäten und Kommunikationssysteme lahmgelegt, viele Anführer und einfache Kämpfer waren umgebracht worden.

    Die Akteure im Untergrund wurden sehr misstrauisch, in jedem Rekruten sah man einen Agenten der Geheimdienste, dort neu reinzukommen wurde äußerst schwierig.

    Das Imarat Kawkas verwandelte sich im Grunde in ein Selbstmord-Projekt, die mittlere Lebensdauer eines IK-Kämpfers betrug ein Jahr, maximal zwei. Als es den Geheimdiensten gelang, Doku Umarow zu vergiften und damit die von ihm angekündigten Terroranschläge in Sotschi zu vereiteln, verlor das Imarat Kawkas endgültig sein Image als Organisation, die zu einem effektiven Dschihad fähig ist.

    Laut unseren Quellen wurde am Vorabend der Olympischen Spiele allen, die in Syrien kämpfen wollten, grünes Licht zur Ausreise gegeben. Und tatsächlich nutzten das viele.

    Gleichzeitig wurde laut unseren Quellen am Vorabend der Olympischen Spiele allen, die in Syrien kämpfen wollten, grünes Licht zur Ausreise gegeben. Und tatsächlich nutzten das viele. Aber schon bald nach Ende der Olympischen Spiele in Sotschi begannen die russischen Machthaber streng zu kontrollieren, wer nach Syrien ging. Und da beschloss Abu Dschichad: Warum sollten Omar Schischani und er nicht eine russische IS-Provinz gründen – im Kaukasus? Dies würde  ihre Position im IS merklich stärken und eine Brücke schlagen in die Heimat, die sie nicht vergessen hatten.

    Er schickte Mitteilungen an die Emire der nordkaukasischen Gruppen und forderte sie auf, ihre Haltung gegenüber dem Islamischen Staat zu definieren. Eine Reihe der Emire leisteten noch im November 2014 den Schwur. Danach trat eine lange Pause ein. Nach dem Mord an Aliaschab Kebekow, der den Einfluss des IS noch irgendwie gezügelt hatte, wurde das Rebranding des Imarat Kawkas in Provinz des Islamischen Staates jedoch vollendet.

    Wodurch unterscheidet sich der IS denn von anderen muslimischen Ländern, die im Einklang mit dem Islam leben?

    Durch eine ultraradikale Auslegung der Scharianormen, die in ihrer ungezügelten Grausamkeit selbst nach Meinung der Al-Qaida-Ideologen nicht den Gesetzen der Scharia entspricht.  Der IS ist ein sehr starres totalitäres Gebilde mit einem starken Gewicht auf den Geheimdiensten, in deren russischsprachigem Teil laut der uns vorliegenden Informationen nicht wenige Tschetschenen agieren.

    Sehr aktiv im IS ist die Spionageabwehr, dort werden regelmäßig Menschen hingerichtet. Einige aus dem Kaukasus hat man hingerichtet aufgrund des Verdachts der Spionage für die russische Seite, speziell für tschetschenische Machthaber, die wohl tatsächlich versuchen, dort ein Agentennetz aufzubauen.
    Im IS sind Folter, brutalste Prügel, Hinrichtungen weit verbreitet, und zwar für Vergehen, die nach den Gesetzen der Scharia bei Weitem nicht einer derart strengen Bestrafung unterliegen.

    In letzter Zeit äußern sich die Ideologen des IS ständig zu allen bedeutenden Ereignissen im Nordkaukasus. Zum Beispiel zu den Versuchen der Silowiki, salafistische Moscheen in Dagestan zu schließen. Diesen Äußerungen nach zu urteilen sehen sie den russischen Kaukasus offensichtlich als ihre Einflusssphäre an. Wie ist das so gekommen?

    Unseren Geheimdiensten wurde klar, dass Syrien eine attraktive Perspektive für unsere Untergrundkämpfer bietet. Das war 2012. Damals gab es den IS noch nicht. Aber im Vorfeld der Olympischen Spiele standen die Geheimdienste vor der Aufgabe, das Problem mit dem kaukasischen Untergrund zu lösen – und zwar schnell.

    Seit 2010 hatte man versucht, das Problem mit einer Strategie der kleinen Schritte zu lösen, die auf eine fortschreitende und langfristige Deradikalisierung abzielte. Es wurden Kommissionen zur Wiedereingliederung von ehemaligen Kämpfern geschaffen, ein Dialog zwischen Vertretern verschiedener Strömungen des Islam initiiert, gesetzestreuen Salafisten wurden mehr Freiheiten eingeräumt. Es wurde ermöglicht, neue Moscheen zu bauen, Medressen zu eröffnen, an gewaltfreien salafistischen Projekten teilzunehmen.
    Dieser Prozess hat durchaus Wirkung gezeigt – die Jugend hat begriffen, dass man seinen religiösen Bedürfnissen nicht nur in der Wildnis, sondern auch im bürgerlichen Leben nachgehen kann.

    Die Aktivität des islamistischen Untergrunds ist um 15 % gesunken. Aber für die Olympischen Spiele reichte das den Silowiki nicht, man musste in kürzester Zeit den Kaukasus von allen potenziellen Bedrohungen säubern. Daher kehrte man zu brutalen Methoden zurück, was im Grunde den Ansatz der kleinen Schritte zunichtemachte, der später dann nur in Inguschetien wiederbelebt worden ist.

    Die Propagandisten des boten eine neue Formel an: Engagiert euch vor Ort, schafft eure eigene Provinz des islamischen Kalifats.

    Erneut lief das volle Programm repressiver Maßnahmen. Laut unseren Quellen in den Rechtsschutzorganen und vielen Menschen im Kaukasus, wurden gleichzeitig die Grenzen für alle geöffnet, die in den Syrienkrieg ziehen wollten.

    Um zu verhindern, dass diejenigen, die zum IS gingen, nach Russland zurückkehrten, wurden Gesetzesänderungen vorgenommen. Die Teilnahme an Kampfhandlungen im Ausland wurde fortan als kriminell eingestuft und strafrechtlich mit einem Freiheitsentzug bis zu zehn Jahren geahndet. Schon der Vorsatz, nach Syrien auszureisen, brachte die Leute ins Gefängnis, wegen Anwerbung oder wegen Finanzierung des IS. Auch der IS selbst wurde den Kämpfern aus Russland gegenüber argwöhnischer. All diese Faktoren zusammengenommen haben den Zustrom zum IS erschwert und somit den russischen Zustrom nach Syrien verringert.

    Aber wichtig ist eines: Zur gleichen Zeit gewöhnten sich auch die Propagandisten des IS sehr schnell an die neuen Bedingungen, und verstärkten die ideologische Indoktrinierung von Sympathisanten. Sie boten eine neue Formel an: Leute, das Kalifat fängt in euren Gemeinden an, engagiert euch vor Ort, schafft eure eigene Provinz des islamischen Kalifats. Hatten sie es also früher auf die Aufnahme der Massen in ihre Organisation abgesehen, so begannen sie nun aktiv, ihre Ideologie nach außen zu tragen, ihren Virus in Umlauf zu bringen – unter anderem nach Russland.

    So reagierte beispielsweise umgehend der IS, als die Silowiki salafistische Moscheen in Dagestan schließen wollten. Die IS-Ideologen gaben eine Erklärung dazu ab, in der sie sich an die aufgebrachten Gläubigen richteten. Sie riefen dazu auf, nicht auf jene zu hören, die sich mit den Machthabern einigen wollten, sondern erstmal nach Hause zu gehen, ihrem Alltag nachzugehen und den richtigen Moment abzuwarten. Und dann, wenn niemand damit rechnet, den Schlag auszuführen wie die „Pariser Brüder“.

    Überhaupt, wenn man sich diese Erklärungen der IS-Ideologen so anhört (zum Beispiel von Achmad Medinski, einem Dagestaner, der sich dem IS angeschlossen hatte), dann wird klar, dass sie bis ins kleinste Detail alle Vorgänge, Konflikte und Akteure im Nordkaukasus kennen. Sie wiegeln geschickt die Radikalen gegen die gemäßigten Salafisten auf. Die verspotten die gemäßigten, ziehen sie ins Lächerliche und drohen ihnen sogar offen mit dem Tod, wenn diese sich bemühen oder dazu aufrufen, den Dialog mit den russischen Machthabern zu suchen.

    Überhaupt muss man begreifen, dass nur die gemäßigten Salafisten für die Ideologen des IS im russischen Kaukasus eine Gefahr darstellen. Und der Staat verfolgt diese Salafisten nunmehr, indem er einе Art „Prophylaxe für potenzielle Straftäter“ in Dagestan betreibt, Moscheen schließen lässt und die repressive Politik Kadyrows unterstützt.

    Dem IS spielt das alles nur in die Hände. Brilliant nutzen seine Ideologen die aufgestauten ungelösten Probleme, die Unfertigkeit und Inkonsequenz unserer Politik in dieser Region für die Radikalisierung der Unzufriedenen und bauen dadurch ihre eigenen unterstützenden Kräfte vor Ort aus. Das ist gefährlich, weil wir es mit einem perfiden, mobilen, ungreifbaren Gegner zu tun haben. Die Folgen davon sind, wenn wir keine effektiven Gegenmaßnahmen finden, unvorhersehbar.

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  • Presseschau № 23

    Presseschau № 23

    Am Dienstag ging nach mehrmonatiger Verhandlung der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko mit einem Schuldspruch zuende. Und die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse in Brüssel werden auch in Russland diskutiert.

    Hartes Urteil. Nach zwei Tagen, an denen Richter Leonid Stepanenko mit monotoner Stimme das Urteil verlas, verurteilte er am Dienstag die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Das Gericht sah es nach einem umstrittenen und international kritisierten Verfahren als erwiesen an, dass Sawtschenko verantwortlich für die Ermordung zweier russischer Journalisten im Juni 2014 in der Ostukraine sei. Sie habe deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben und im Anschluss daran illegal die Grenze nach Russland überquert. Dafür muss sie noch zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (etwa 400 Euro) zahlen. Der Kommersant fasst die wichtigsten Fakten des Verfahrens noch einmal zusammen.

    Die 34-jährige Offizierin, Berufssoldatin der ukrainischen Armee und Parlamentsabgeordnete, die als erste Frau die Ausbildung zur Kampfpilotin absolvierte und während des Krieges in der Ostukraine in den Reihen des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar kämpfte, bezeichnete sich selbst bis zum Schluss als unschuldig. Sie erkenne die Hoheit des Gerichts nicht an, werde deshalb das Urteil auch nicht anfechten, so die Pilotin. Wiederholt nutzte Sawtschenko den Gerichtssaal für ihre politischen Botschaften, zeigte dem Gericht ihren Mittelfinger, sagte Moskau einen Maidan voraus und bezeichnete Putin als Diktator und Russland als totalitäres Regime. Unmittelbar vor der eigentlichen Verkündung des Strafmaßes stimmte sie ein ukrainisches Revolutionslied an, ihre Unterstützer entrollten im Gerichtssaal eine ukrainische Flagge, der Ausruf „Ruhm der Ukraine!“ war zu hören.

    Die lange Haftstrafe überrascht nicht. Seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme wird Sawtschenko in den staatsnahen Medien als kaltblütige Tötungsmaschine und „Mörderin“ bezeichnet. Der Korrespondent des kremlnahen Boulevardblattes Komsomolskaja Prawda berichtet über die Geschmacklosigkeit, mit welcher sich anwesende ukrainische Journalisten über ihre ermordeten Kollegen geäußert hätten. Die Verteidigung Sawtschenkos kritisierte jedoch fehlende Beweise und Ungereimtheiten während des Verfahrens. Die Auswertung ihres Mobiltelefons etwa habe klar ergeben, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs, bei dem die beiden Journalisten ums Leben kamen, bereits von prorussischen Separatisten festgehalten wurde. Ein Kämpfer aus Luhansk mit dem Pseudonym Ilim, berichtete vor Kurzem dem in Lettland beheimateten Exilmedium Medusa, er habe Sawtschenko gefangengenommen und sie persönlich Igor Plotnizky, Chef der selbsternannten Volksrepublik Luhansk, übergeben. Vor Gericht wurde er jedoch nicht als Zeuge geladen.

    Die Anwälte Sawtschenkos gehen nun davon aus, dass die Verurteilte nach dem Ende des Prozesses im Rahmen eines Gefangenenaustausches an die Ukraine übergeben werden könnte. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Wladimir Putin habe ihm einen solchen Austausch bereits in Aussicht gestellt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow stellte ein solches Versprechen allerdings in Abrede. Er wisse nichts von einer Absprache zwischen den beiden Präsidenten, so Peskow. Spekuliert wird nun, wie hoch Moskau den Preis für eine Rückkehr Sawtschenkos ansetzt. Kiew fordert einen bedingungslosen Gefangenenaustausch „alle gegen alle“: neben Sawtschenko gehöre dazu unter anderem auch der zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilte Regisseur Oleg Senzow. Die Ukraine ist dazu bereit, Moskau Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew zu übergeben, die 2015 im Donbass verhaftet wurden. Laut der Ukraine gehören die beiden dem Militärgeheimdienst GRU an, Moskau hat das allerdings nie bestätigt. Eine zweite Theorie wäre laut der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, die ein Interview mit einem Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes veröffentlichte, dass die Pilotin nur ausgetauscht wird, wenn Russland dafür einen Landweg von Rostow auf die Krim erhält.

    Anschlag in Brüssel. Die tragischen Ereignisse in Brüssel vom Dienstag sorgten auch in Russland für Schlagzeilen. Viele Medien richteten während des ganzen Tages einen Liveticker ein, in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen war das „barbarische Verbrechen“ die Hauptnachricht. Die Rede war allerdings nicht von Prävention, Integration oder religiöser Toleranz, sondern vielmehr von Aufrüstung, Grenzschließungen und Polizisten in Hightech-Uniformen. Erneut wurde auch Merkels Willkommenskultur kritisiert. Die Bundeskanzlerin verliere die Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik, rechte Kräfte wie Pegida seien auf dem Vormarsch. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei hätte nun der türkische Präsident Erdogan die Entscheidungsgewalt darüber, wer nach Europa gelangt und wer nicht, berichtet der Korrespondent des staatlichen Fernsehens weiter.

    Es gab nicht nur  Trauer und Beileidsbekundungen, etwa von Kreml-Chef Putin, sondern russische Politiker versuchten auch, die Tragödie für eigene Zwecke zu nutzen. Die EU müsse nun einsehen, dass ihre Migrationspolitik ein Fehler war, lautete vielfach der Tenor. Die russischen Geheimdienste hätten Belgien vor einem Anschlag gewarnt, hieß es gar auf dem kremlnahen Sender LifeNews. Präsident Putin habe auf der UNO-Vollversammlung für eine internationale Anti-Terrorallianz geworben, der Westen hätte sich dieser aber nicht anschließen wollen, heißt es aus den Reihen russischer Parlamentarier. Das unabhängige kremlkritische Internetfernsehen TV Dozhd hat hier einige Aussagen gesammelt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem Westen doppelte Standards vor. Mit Verweis auf Syrien meinte sie, man könne nicht zwischen guten und bösen Terroristen unterscheiden. In der Staatsduma sprach sich Wladimir Shirinowski, Parteichef der LDPR, gegen eine Schweigeminute für die Opfer aus. Darauf wies Parlamentssprecher Sergej Naryschkin ihn mit den Worten zurecht, der Westen würde liebend gerne über Humanismus und moralische Werte reden. Für Russland seien das aber nicht nur Worte, deshalb die Gedenkaktion im Parlament, sagte Naryschkin weiter.

    Terrorexport. Die Gefahr von Anschlägen bleibt aber auch in Russland bestehen, kämpfen doch laut dem FSB 2900 Russen in den Reihen des Islamischen Staates. Eine aktuelle Studie der International Crisis Group (ICG) kommt zu dem Schluss, dass von Seiten der russischen Politik gezielt versucht worden ist, die eigenen Terroristen zu „exportieren“. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 wurde der Druck auf den islamistischen Untergrund in Russland verstärkt, viele Extremisten seien darauf nach Syrien oder in den Irak gereist, kommentiert Vedomosti. Russisch sei zur drittwichtigsten Fremdsprache im IS geworden, erzählt Jekaterina Sokirijanskaja von der ICG im Interview mit der kremlkritischen Novaya Gazeta. Kämpfer aus Russland würden innerhalb der Terrormiliz hohe Positionen bekleiden. Von ihnen könnte nach ihrer Rückkehr Gefahr ausgehen, oder sie aktivieren ihre Anhänger, so die Expertin weiter.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org





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    „Sie wird zweifellos schuldig gesprochen“

    Nadija (russ. Nadeshda) Sawtschenko, Leutnant der ukrainischen Armee, wird in Russland der Prozess gemacht. Ihr wird vorgeworfen, für den Tod russischer Zivilisten auf ukrainischem Territorium  mitverantwortlich zu sein und danach illegal die Grenze nach Russland übertreten zu haben. Die Verteidigung erklärt hingegen, Sawtschenko sei bereits rund zwei Stunden vor dem Tod der Zivilisten gefangen genommen und nach Russland entführt worden. Am 21. und 22. März soll das Urteil verkündet werden. Ihr Schlusswort in dem Prozess hielt Sawtschenko bereits am Mittwoch vergangener Woche, dabei zeigte sie dem Gericht den Stinkefinger und sagte: „Russland wird mich so oder so an die Ukraine übergeben, ob tot oder lebendig.“

    Die Staatsanwaltschaft fordert für die Militärpilotin und Freiwillige des Bataillons Aidar sowie inzwischen auch Abgeordnete des ukrainischen Parlaments 23 Jahre Haft.

    Sawtschenko trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik, teilweise nahm sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich. Viele Politiker aus dem Westen, darunter US-Außenminister John Kerry, aber auch Intellektuelle wie die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy forderten die Freilassung der 34-Jährigen.

    Der hochpolitische Fall erregt sowohl in Russland als auch in der Ukraine die Gemüter: Die einen sehen in Sawtschenko eine Mörderin, die anderen eine Märtyrerin. In der Ukraine erfährt Sawtschenko breite Unterstützung von Seiten der Bevölkerung und der Politik, Präsident Petro Poroschenko erklärte sie gar zur „Heldin der Ukraine“. In Moskau und Petersburg wurden hingegen vereinzelte stille Aktionen, die Solidarität mit Sawtschenko zeigten, sofort aufgelöst und endeten teilweise sogar mit Festnahmen.

    Kurz vor der geplanten Urteilsverkündigung sprach Anton Krassowski von snob.ru mit Sawtschenkos Anwälten Mark Feigin und Nikolaj Polosow über den Fall.

     

    Wer ist Nadeshda Sawtschenko?

    Feigin: Sawtschenko ist Oberleutnant der Streitkräfte der Ukraine, die einzige Pilotin der ukrainischen Armee. Formell ist sie Waffensystemoffizier eines Kampfhubschraubers. Das ist das, was in ihren Militärunterlagen steht. Sie ist ein gradliniger, prinzipientreuer und unbequemer Mensch. In der normalen Gesellschaft wäre sie schwer zu ertragen. Damit meine ich, dass Menschen, die nicht ihrem Kreis angehören, sie seltsam finden, sich in ihrer Anwesenheit nicht wohlfühlen. In diesem Sinne haben wir es mit einer typischen Armeeangehörigen des frühen 21. Jahrhunderts in der Ukraine zu tun.

    Ist sie vielleicht durchgedreht? Wenn man sie sieht, wie sie im Gerichtskäfig auf den Stuhl springt, das Geschrei, die ausgestreckten Mittelfinger, fragt man sich: Verhält sie sich angemessen?

    Feigin: Angemessen in Anbetracht der Lage, in der sie sich befindet. Nein, sie ist nicht durchgedreht. Man sollte sie einfach so nehmen, wie sie ist. An sie werden Maßstäbe angelegt, die für die umgebende Gesellschaft ganz normal sind, während sie immer wieder in Extremsituationen war, sei es im Irak, auf dem Maidan oder im Donbass zu Beginn des Krieges.

    Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – da haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Im Irak?

    Feigin: Ja, ein halbes Jahr lang hat sie im Kontingent der Koalition im Irak gedient. Sie war einfache motorisierte Schützin. Für diese sechs Dienstmonate stand ihr eine Belohnung zu: die Aufnahme an der Charkiwer Universität für Luft- und Raumfahrt. Wir haben es also mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun, hier greifen andere Kriterien. Wenn man alles addiert – also: Frau, Militärangehörige, Leutnant, Ukraine – dann haben wir eine ausgesprochen explosive Mischung.

    Ich vermute, in Russland gibt es Hunderte weiblicher Armeeangehörige, Leutnants. Es gibt sogar weibliche Generäle. Was ist daran besonders?

    Feigin: Pilotinnen gibt es beispielsweise nicht. In Russland ist man der Ansicht, dass eine Frau weder ein Kampfflugzeug noch einen Kampfhubschrauber steuern könnte. Auch in der Ukraine war man dieser Ansicht. Bis Sawtschenko kam. Sie hat mit diesem Stereotyp gebrochen.

    Wie geriet sie in russische Kriegsgefangenschaft?

    Polosow: Das passierte am 17. Juni 2014. In diesem Moment gab es bereits heftige Zusammenstöße, die ukrainische Armee rückte von Norden her in Richtung Lugansk vor, das unter der Kontrolle der Aufständischen war. Sawtschenko ist dann mit den anderen Kämpfern des Bataillons Aidar in die Offensive gegangen.

    Wie unterscheidet sich das Bataillon Aidar von den regulären Streitkräften der Ukraine?

    Polosow: Aidar ist ein Freiwilligenbataillon, das Teil der Streitkräfte der Ukraine wurde. Das sind keine Freischärler vom Schlage der Machnowzi.

    Grob gesagt, hat Sawtschenko nicht gegen den Fahneneid verstoßen, sondern einen Befehl nicht befolgt: Sie hat Urlaub genommen und ist aus dem heimischen Brody in der Oblast Lwiw, wo ihr Regiment stationiert war, in den Donbass aufgebrochen, um die unerfahrenen Rekruten auszubilden, da sie die nötige Erfahrung besaß. Und als am 17. Juni die Offensive begann, ging sie mit. Während eines Panzerdurchbruchs beim Anmarsch auf das Dorf Stukalowa Balka gerieten die Panzer und Schützenpanzer in einen Hinterhalt. Als sie den Gefechtslärm hörte, bewegte Sawtschenko sich darauf zu, traf auf verwundete Soldaten, die bereits getroffen waren; sie leistete Erste Hilfe und versuchte, da sie keine vernünftige Verbindung hatten, im Stab anzurufen, damit die Kämpfer abgeholt werden.

    Sie hat mit dem Mobiltelefon angerufen?

    Polosow: Ja. Dazu ging sie auf die Mitte der Straße. Sie geriet unter Beschuss, ihre Hand wurde durchschossen, ein glatter Durchschuss. Nach einiger Zeit kam dann einer der Freischärler auf sie zu, ein junger Kerl. Wie sie später erklärte, schoss sie nicht auf ihn, trotzdem sie bewaffnet war, weil sie keinen Ukrainer töten wollte. Direkt hinter diesem Jungen tauchte ein zweiter auf, ihr Sturmgewehr wurde ihr abgenommen und sie wurde mit ihrem eigenen Schulterriemen gefesselt und in die Wehrverwaltung von Lugansk gebracht, wo sich zu diesem Zeitpunkt der Stab des Bataillons Sarja befand. Geleitet wurde der Stab zu der Zeit von Igor Plotnizki, dem späteren Oberhaupt der LNR. Sie verbrachte dort eine Woche. Danach wurde sie durch irgendwelche Schächte auf russisches Gebiet gebracht und in ein Auto mit russischen Nummernschildern gesetzt.

    Waren ihre Augen verbunden?

    Feigin: Ihre Augen waren mit einem gelb-blauen Kopftuch mit der Aufschrift „Selbstverteidigung des Maidan“ verbunden.

    Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt.

    Wie hat sie dann die russischen Nummernschilder sehen können?

    Polosow: Sie sagte, dass sie zu diesem Auto durch einen Wald gelaufen seien, der von lauter Gräben durchzogen war. Sie stolperten die ganze Zeit und dieses Kopftuch verrutschte immer wieder, sodass sie zumindest sehen konnte, was sich direkt unter ihr, also unmittelbar vor ihren Füßen befand. Erst beriet man, ob sie in den Kofferraum gesteckt werden sollte, dann wurde sie doch in das Wageninnere gesetzt. Eine Zeitlang wurde sie mit diesem Auto transportiert. Schließlich wurde sie in ein drittes Fahrzeug gesetzt, einen Lada Samara. Im Zuge der Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass das bereits in der Oblast Woronesh geschah. Das bedeutet, dass sie im Norden der Oblast Rostow über die Grenze und bis zur Oblast Woronesh gebracht wurde. Im Samara saßen zwei Personen in Zivil. Einer saß am Steuer. Sie wurde zu dem zweiten auf den Rücksitz gesetzt. Außerdem war sie gefesselt.

    An einer Kreuzung vor dem Dorf Kantemirowka in der Oblast Woronesh wurde das Fahrzeug von einer Streife der Verkehrspolizei angehalten. Die Verkehrspolizisten schauen ins Fahrzeug, fragen „Ist sie das?“ – „Das ist sie.“ Dann folgen Anrufe und nur wenige Minuten später kommt ein Minibus mit FSB-Mitarbeitern, von denen nur einer nicht maskiert gewesen ist. Sie setzen sie in den Minibus und bringen sie direkt nach Woronesh. Sie kommen an, bringen sie in der Nacht zur Ermittlungsbehörde, wo sie ein Ermittler in Empfang nimmt. Der hält Sawtschenkos Mobiltelefon in den Händen, das ihr in Gefangenschaft abgenommen worden war.

    Danach wurde sie aus dem Gebäude der Ermittlungsbehörde geführt und in den Minibus gesetzt. Sie sagt, man habe ihr Woronesh bei Nacht gezeigt, irgendein Schiff und irgendeine Kirche, dann wurde sie in einen nahegelegenen Vorort gebracht, in die Siedlung Nowaja Usman, wo sich das Hotel Jewro befindet, eine gewöhnliche Fernfahrer-Absteige: ein nicht sonderlich großes, zweigeschossiges Gebäude mit Imbiss im Hof. Dort bringt sie diese ganze Kawalkade bewaffneter Kämpfer auf die zweite Etage in ein Hotelzimmer, das aus zwei Räumen besteht. Sie wird allein in dem einem Zimmer untergebracht, die Bewacher bleiben in dem anderen. Dort verbringt sie eine weitere Woche. Genau zu dieser Zeit wird sie vom Ermittlungsbeamten aufgesucht. Dies ist Nadeshdas Version der Ereignisse.

    Man brauchte jemanden der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta.

    Warum wurde sie gefangen genommen, warum wurde sie hergebracht und warum wird ihr dieser Schauprozess gemacht?

    Fejgin: Man brauchte wenigstens jemanden von Bedeutung, jemanden, der herumgezeigt werden konnte, von dem man sagen konnte: Hier habt ihr das Gesicht der Junta, das sind sie, die freiwilligen Strafkommandos, wie dieses Aidar. Sie hat am besten gepasst, weil sie eine Frau ist. Die haben wohl damit gerechnet, dass sie leicht zu brechen sei, grob gesagt, um sie zu einem Geständnis zu zwingen unter Androhung einer langen Haftstrafe und so weiter.

    Woher stammt diese ganze Geschichte mit der Richtschützin, die für den Tod der russischen Journalisten Woloschin und Korneljuk verantwortlich sein soll? Konnte sie die Treffer beeinflussen?

    Polosow: Die Feuerleitung ist eine recht komplexe Sache. Wobei Pilot und Artillerist zwei unterschiedliche Dinge sind.

    Davon abgesehen wird sie beschuldigt, den Beschuss von einem Gebiet geleitet zu haben, das von Widerstandskämpfern kontrolliert wurde: Die Anklage behauptet, sie sei in das vom Bataillon Sarja kontrollierte Gebiet vorgedrungen, habe einen Mast bestiegen, die Zielkoordinaten angepasst, sei dann heruntergestiegen, habe die Positionen des Bataillons Sarja umlaufen und sei dabei in Gefangenschaft geraten.

    Was ist das für ein Mast? Konnte man von ihm aus erkennen, dass es sich um Journalisten handelte?

    Polosow: Nein. Die Journalisten konnte man als solche überhaupt nicht erkennen, sie trugen weder besondere Helme noch Flakwesten. Daher wurde dieser Anklagepunkt fallengelassen.

    Ein Gutachten hat festgestellt, dass dieser Mast der einzige Punkt ist, von dem aus man überhaupt hätte Menschen erkennen können. Deshalb wird sie nun des Mordes an Zivilisten aufgrund ihrer persönlichen Abneigung gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine beschuldigt.

    Nicht alle Opfer werden untersucht. Warum nicht? Weil der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Kam außer Woloschin und Korneljuk noch jemand bei diesem Beschuss ums Leben?

    Polosow: Es sind nur Freischärler des Bataillons Sarja getötet worden. Allerdings will die Anklage nicht alle Opfer untersuchen. Warum nicht? Weil anderenfalls der Anklagepunkt in sich zusammenfallen würde, dass sie das Feuer gezielt auf Zivilisten gerichtet hat.

    Wie haben in diesem Fall die Ukrainer gezielt feuern können?

    Feigin: Der Beschuss war ja gar nicht gezielt. Die schossen, wohin sie konnten. Sie kennen die ungefähren Koordinaten, also wird nachjustiert und gefeuert. Möglicherweise gab noch ein Zivilist per Telefon ein Signal, so geht das üblicherweise vor sich.

    Im Prinzip kamen damals alle zufällig ums Leben, auch die Journalisten vom WGTRK.

    Das heißt also, als unsere Journalisten getötet wurden, kam ein Anruf aus Moskau und es wurde schlicht befohlen, den idealen Sündenbock  zu finden?

    Fejgin: Ganz genau.

    Wie erklären die Ermittler denn die Tatsache, dass eine Bürgerin der Ukraine auf russischem Gebiet vor Gericht steht wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Staatsgebiet derselben Ukraine – an denen Russland angeblich nicht beteiligt ist?

    Feigin: Das ist eine Frage der sogenannten Rechtshoheit. Es gibt da den Artikel 12 des Strafgesetzbuchs, nach dem ein ausländischer Staatsangehöriger tatsächlich in Russland vor Gericht gestellt werden kann, wenn eine Straftat gegen einen russischen Bürger oder gegen die Interessen Russlands begangen wurde. Dann kann die betreffende Person strafrechtlich belangt werden. Das Problem ist ein anderes: Da sie der allgemein-strafrechtlichen Linie gefolgt sind, haben sie de facto die Kriegskomponente ausgeklammert, die in der Genfer Konvention geregelt ist. Warum? Weil es sich nicht um einen internationalen, bewaffneten Konflikt gehandelt hat. Warum er nicht international ist? Weil Russland seine Beteiligung daran leugnet.

    Polosow: Sie sprechen zudem nicht davon, dass sie entführt worden ist, sondern sie behaupten, sie sei selbst eingereist. Aus allgemein-humanitären Erwägungen heraus habe Plotnizki, so die Lesart der Anklage, zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, dass Sawtschenko einfach freigelassen werden müsse.

    Das heißt also, eine Woche lang saß sie in dieser Wehrverwaltung, und dann sagt er: 'Kommt, wir lassen sie frei’?

    Polosow: Ja, sie ist eine Frau und es gibt keine getrennten Toiletten und nur einen einzigen Raum, da können wir sie doch nicht gemeinsam mit männlichen Kriegsgefangenen festhalten, soll er gesagt haben, außerdem müsse sie auch verpflegt werden etc. Dann hat er sie angeblich an einen Mann mit dem Rufnamen „Cap Moisejew“ übergeben, der soll sie anschließend an den ungeregelten Grenzübergang Sewerny in der Nähe von Donezk gebracht und gesagt haben: Du bist frei, geh, wohin du willst. Und aus irgendeinem Grund geht sie nicht in Richtung Charkiw, sondern in Richtung Woronesh.

    Für die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 322, Abschnitt 1, „Illegaler Grenzübertritt“, bedarf es des unmittelbaren Vorsatzes. Man braucht ein Motiv. Warum gehst du dorthin? Was ist dein Ziel? Sie ist in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. Warum sollte sie dorthin gehen?

    Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich.

    Lass uns über das Verfahren sprechen. Wie seid ihr zu Nadeshda Sawtschenkos Anwälten geworden?

    Feigin: Am 9. Juli 2014 wurde bekanntgegeben, dass sich eine gewisse Nadeshda Sawtschenko auf russischem Staatsgebiet befindet und sich strafrechtlich vor Gericht zu verantworten hat. Und am 10. Juli, also buchstäblich am darauffolgenden Tag, rief mich Ljudmila Koslowskaja an, die Leiterin der Stiftung Offener Dialog. Das ist eine polnisch-ukrainische Organisation mit Sitz in Warschau. Sie sagte: Also, folgende Geschichte: Sawtschenko wurde ein Verteidiger namens Schulshenko zugeteilt, im Augenblick werde im Außenministerium die Frage erörtert, wer sich des Falls annehmen solle, da es ein sehr schwerwiegender Fall sei.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits die Aufnahmen von Sawtschenkos Befragung gesehen, wo sie Plotnizkis Fragen sehr frech beantwortet. Ich habe mir diese Aufnahmen noch einmal angesehen und nach nur zehn, fünfzehn Minuten gesagt: Gut, ich bin bereit. Der Chef des Konsularischen Dienstes beim Außenministerium der Ukraine rief mich an und sagte: Ich habe hier Vera Sawtschenko sitzen, Nadeshdas Schwester, könnten Sie ihr erklären, was jetzt zu tun ist? Darauf sagte ich: Es ist ganz offensichtlich, dass dieser Fall angesichts des Krieges kompliziert ist und ein politischer sein wird; alles, was ich momentan anbieten kann, ist, dass dieser Prozess sehr öffentlichkeitswirksam vonstatten gehen wird. Es wird nichts von dem geben, was, wie wir wissen, im Falle Senzows vorgefallen ist. Wir wussten bereits, dass Senzow gefoltert worden war. Am selben Tag bekam ich den von Vera Sawtschenko unterzeichneten Auftrag.

    Warum haben sie gerade Euch als Anwälte ausgewählt?

    Feigin: Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass sich jeder um diesen Fall gerissen hätte. Der Fall ist ja in der Tat toxisch. Kolja [Polosow] wird es bestätigen, er bekam einen Anruf: „Was treibst du da? Das ist dein Ende – sowohl beruflich als auch sonst." Darum ist es lachhaft zu behaupten, es hätte einen ernsthaften Wettbewerb gegeben. Sich mit diesem Fall zu befassen, ist gefährlich. Daher gab es auch in der Anfangsetappe, als der Fall noch nicht das war, wozu er heute geworden ist, nicht wirklich sonderlich viele Interesse.

    Na schön. Doch warum habt ihr euch so auf diesen Fall gestürzt? Er ist politisch und eine Niederlage vorprogrammiert.

    Polosow: Auch wenn es in Russland für solche Fälle keine funktionierende Gerichtsbarkeit gibt, sind wir überzeugt, dass das System dennoch bezwungen werden kann. Wir haben schon Erfahrung: Dies ist nicht unser erster Fall mit großer öffentlicher Resonanz, über den man nicht nur in Russland spricht. Davor haben wir unsere Erfahrung mit Pussy Riot gemacht. Ob diese Erfahrung ein Erfolg oder ein Misserfolg war, ist eine andere Frage. Aus Fehlern lernt man, nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Und daher waren wir der Ansicht, dass wir diesen Fall der Nadeshda Sawtschenko schultern können.

    Wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Verstehe ich das richtig, dass die Tätigkeit eines politischen Anwalts nicht wirklich Anwaltstätigkeit ist, sondern vielmehr ein politisches Statement?

    Polosow: Die Tätigkeit des politischen Anwalts ist mehr als gewöhnliche Anwaltschaft. Es gibt die juristische Ebene, auf der Rechtsmittel eingelegt, bestimmte Prozessentscheidungen angefochten werden, nach Unschuldsbeweisen gesucht und Schuldbeweise angefochten werden. Damit befassen sich hundert Prozent aller Anwälte. Wir fügen dieser Ebene noch die öffentliche Kommunikation mit Politikern verschiedener Schichten hinzu, ob im Ausland oder hier, das spielt keine Rolle.
    Wir helfen dabei, bestimmte politische Rahmenbedingungen zu schaffen. Da wird, wie zum Beispiel im Fall von Nadeshda Sawtschenko, eine Person in die Oberste Rada gewählt, wird Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und erlangt damit Immunität (die sich Russland übrigens anzuerkennen weigert).
    Dazu kommt noch eine Medienkampagne, um den Kreis derer zu erweitern, die auf die eine oder andere Weise in diesen Prozess involviert sind.

    Verstehe ich richtig, dass in einer solchen Situation die Freilassung keine Priorität ist?

    Feigin: Nein, im Gegenteil. All das ist letztendlich auf die Freilassung ausgerichtet, denn nur das kann die Freilassung des Angeklagten bewirken. Andernfalls, wie im Fall Senzow, wo es keine politische Anwaltschaft gibt, kriegt er trotzdem 20 Jahre. Eins musst du verstehen: Wenn du öffentlich nicht davon sprichst, dass jemand unschuldig ist und du beweist das nicht mit Prozessmitteln, sondern mittels politischer Methoden, dann ist das allen scheißegal, es ist allen gleich. Denn wenn niemand über den Fall spricht, dann gibt es keinen Fall. Wenn man über eine Person nicht spricht, dann existiert diese Person nicht.

    Das ukrainische Justizministerium wird eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat.

    Was wird weiter mit Sawtschenko geschehen?

    Feigin: Sie wird zweifellos schuldig gesprochen und verurteilt werden.

    Zu 23 Jahren?

    Feigin: Ob nun zu 20 oder 15 Jahren, für die spielt das überhaupt keine Rolle. Die Urteilsverkündung ist für den 21. und am 22. März angesetzt. Nach zehn Werktagen – am 1. bzw. 2. April wird das Urteil dann rechtskräftig. Ab diesem Moment wird das ukrainische Justizministerium im Rahmen der Konvention über die Auslieferung von Verurteilten aus dem  Jahr 1983, an der auch die Ukraine und Russland beteiligt sind, eine Anfrage einreichen über die Auslieferung Sawtschenkos in ihre Heimat, in die Ukraine, damit sie ihre Strafe dort ableisten kann. Dies ist die wahrscheinlichste Variante.

    Das wäre dann gewissermaßen die Organisation eines Austauschs?

    Feigin: Ja, und die anderen schicken dafür Jerofejew oder Alexandrow nach Russland.

    Habt ihr nicht den Eindruck, dass die Ukrainer selbst gar nicht wirklich wollen, dass sie nach Hause zurückkehrt?

    Feigin: Nein. Denn wenn das der Fall wäre, wenn auch nur etwas davon nach außen dringen würde, dann wäre Poroschenko im A***.

    Warum?

    Fejgin: Das würde bedeuten, jemand spielt mit ihren Leiden ein politisches Spiel. Die ukrainische Gesellschaft, in der es ganz gewiss eine öffentliche Meinung gibt, würde das niemals verzeihen.

    Wird Senzow auch Teil dieses Deals sein?

    Feigin: Nein. Sawtschenko ist ein Sonderfall, das ist eine Kriegsgefangene, die sich im Ergebnis einer militärischen Operation auf dem Gebiet des – faktischen – Feindes wiederfand. Mir wurde gesagt, dass Putin ursprünglich gar nicht über Senzow sprechen wollte. Na schön, die Sawtschenko, das ist eure Gangsterbraut. Aber Senzow? Von dem will ich nicht ein Wort hören, er ist russischer Staatsbürger, wenn wir ihn an euch ausliefern, dann bedeutet das was, bitteschön? Die Krim gehört nicht uns? Doch das ist nur ein Gerücht, das haben mir in der Ukraine Leute erzählt, die mit den Gesprächen im Normandie-Format zu tun haben.
    Ob das so ist oder nicht, kann ich nicht sagen, doch das ist deren Logik: Voilà, die Krim ist unser, den Prozess machen wir, wem auch immer wir wollen.

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