Nach der Vereinbarung einer Waffenruhe in Syrien beschäftigen sich die russischen Medien mit den Chancen und Risiken dieser Einigung. Innenpolitisch sorgte Oppositionspolitiker Ilja Jaschin mit seinem Bericht über Korruption in Tschetschenien und die Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow für Aufruhr. Außerdem: Die Russen feiern den Tag des Vaterlandsverteidigers mit der Präsentation allerlei neuen Kriegsgeräts.
Russland und USA verkünden Einigung. Rechtzeitig zum Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar konnte Präsident Wladimir Putin eine gemeinsam mit den USA erzielte Einigung über eine Feuerpause in Syrien verkünden. Beide Ereignisse, der Feiertag wie die Einigung zu Syrien, fanden in den Medien ausführlich Platz. Der Kommersant sieht in Syrien einen großen diplomatischen Sieg für Moskau. Die USA seien nach den bereits fünf Monate andauernden Luftschlägen gezwungen, Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen. Der am 27. Februar in Kraft tretende Waffenstillstand ist allerdings nicht verbindlich. Die bewaffneten Gruppierungen müssen ihre Beteiligung entweder Moskau oder Washington melden. Der sogenannte Islamische Staat und andere Terrorgruppen, welche von der UNO als solche eingestuft wurden, sind explizit davon ausgenommen, schreibt die Zeitung weiter. Gegen diese werde die Militäraktion weitergeführt.
Nach einem Telefonat mit Putin sicherte auch Syriens Präsident Bashar al-Assad die Bereitschaft seiner Regierung zur Unterstützung der Waffenruhe zu. Kremlnahe Medien sprechen von einer ehrlichen Chance, das Blutvergießen zu beenden. Auch die syrische Bevölkerung wolle Frieden, berichtet die Komsomolskaja Prawda in einer Reportage aus Latakia, wo sich eine russische Militärbasis befindet. Von Versöhnung oder Friedensverhandlungen ist allerdings nicht die Rede. Vielmehr sollen die bewaffneten Kämpfer nun an der Seite der offiziellen syrischen Armee weiter gegen den Islamischen Staat kämpfen, fordert einer der Gesprächspartner der Komsomolskaja Prawda.
Die Absicht hinter dieser Deeskalationsstrategie scheint klar: Das Ziel der russischen Militäroperation in Syrien wurde erreicht, das Assad-Regime stabilisiert und das von ihm kontrollierte Gebiet vergrößert, analysiert das unabhängige Magazin Slon. Um die umkämpfte Stadt Aleppo einzunehmen, reichen die Kräfte des Regimes jedoch nicht. Lässt sich Russland stärker in den Konflikt hineinziehen, riskiert Moskau damit weitere Sanktionen, schreibt das Magazin weiter. An der Einhaltung der Waffenruhe, wird sich lautVedomosti zeigen, wie groß der Einfluss Moskaus und Washingtons auf ihre jeweiligen Verbündeten in Syrien ist. Die Positionierung Moskaus neben Washington als zweiter Garant für die Waffenruhe bringt auch Risiken mit sich, so die Zeitung. Kremlkritische Medien wie Meduzabewerten die Chancen für eine stabile Waffenruhe negativ.
Gefahr für die nationale Sicherheit.Ramsan Kadyrow, tschetschenischer Republikchef, ist aus den russischen Medien kaum mehr wegzudenken: Zum einen wegen der Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzows, die sich am 27. Februar zum ersten Mal jährt und deren Spuren nach Tschetschenien führen – die Novaya Gazeta und TV Dozhd berichteten ausführlich über den Stand der Ermittlungen. Zum anderen veröffentlichte Ilja Jaschin, Vizepräsident der Oppositionspartei PARNAS, am Dienstag einen Bericht über die Korruption in der russischen Teilrepublik und über Kadyrows Privatarmee.Slonund The New Timeshaben die wichtigsten Punkte daraus zusammengefasst. Der Bericht schließt mit 20 Fragen, die Jaschin gerne vom tschetschenischen Machthaber beantwortet haben möchte. Hier die englische Übersetzung. Kadyrow reagierte auf Instagram: Es sei ein „Theater“, das Geschriebene „Geschwätz“, so der Republikchef, der sich damit brüstete, den Bericht noch vor der offiziellen Präsentation in Moskau veröffentlicht zu haben. In einem Radiointerview unterstellte Kadyrow Jaschin, bei seinem Besuch in Grosny mit niemandem gesprochen und bloß Klatsch aus dem Internet gesammelt zu haben. Erneut bedrohte er Jaschin als Volksfeind, die seien überhaupt die größte Gefahr für die nationale Sicherheit. Konsequenzen drohen Kadyrow dafür wohl kaum. Im Gegenteil: 31 Prozent der Russen respektieren den tschetschenischen Machthaber laut einer neuen Umfrage des staatlichen WZIOM–Instituts. 2007 waren es gerade einmal elf Prozent. Kadyrow sei für alle Seiten nützlich, deshalb führe er sich so auf, sagt Alexej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Center im Moskovski Komsomolets. Um das Problem Tschetschenien zu lösen, müsste Russland ein anderer Staat werden, konstatiert Malaschenko.
Tag des Vaterlandsverteidigers. Am Dienstag, den 23. Februar feierte Russland seine Armee. Anlässlich des inoffiziellen Männertags (offiziell arbeitsfrei) übte sich das Verteidigungsministerium im zeitgemäßen Rebranding, während das Staatsfernsehen neues Kriegsgerät zeigte und die friedensstiftenden Aspekte der russischen Armee hervorhob: „Wie haben sich unsere Armee und unsere Fähigkeit, die Welt zum Positiven zu verändern, verbessert“, leitete die Moderatorin den Beitrag in den Abendnachrichten ein. Kritischere Stimmen, wie die des Journalisten Oleg Kaschin beklagen dagegen den Militarismus der russischen Gesellschaft, der anlässlich dieses Feiertags durchaus auch seltsame Blüten treibt. Was der Wehrdienst für eine Familie bedeuten kann, schildert auf Radio Svoboda eine Journalistin anhand der Erfahrungen ihres jüngeren Bruders in der sowjetischen Armee. Es wäre zynisch, würde sie ihm, wie in Russland üblich, zum Tag des Vaterlandsverteidigers gratulieren, vor allem seit der Annexion der Krim. Positiv sei einzig, dass ihn seine Zeit in der Armee zum überzeugten Pazifisten gemacht habe.
Was in der nächsten Woche wichtig wird. Wir beobachten, ob der Waffenstillstand in Syrien eingehalten wird. Am Samstag findet in Moskau ein Gedenkmarsch für Boris Nemzow statt. Zudem muss die russische Regierung bei der Budgetplanung nachbessern. Laut Finanzminister Anton Siluanow fehlen sogar die Mittel für den Anti-Krisenplan.
Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.
Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.
Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.
Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.
Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.
In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!
Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?
Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.
Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“
Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.
Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.
Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.
Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.
Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.
Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit …
Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.
Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“
Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.
Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenenNationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.
Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.
Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.
Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.
Kurz vor dem Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?
Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:
„In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben.
Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde.
Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“
Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.
„Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.
Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.
Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.
– In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.
Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.
– Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.
Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.
Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.
Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.
Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.
– Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.
Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.
Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.
Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.
– Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.
Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.
Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.
Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“
Informationen und Links:
Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.
Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.
Als „Jahrtausendereignis“ gefeiert wurde dieser Tage das Treffen von Patriarch Kirill und Papst Franziskus auf Kuba. In Aleppo werden derweil die Bombardements fortgesetzt und die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Russland und Europa gehen weiter. Außerdem: Innenpolitisch beginnt allmählich der Wahlkampf zu den Dumawahlen im September. Pünktlich zu dieser Gelegenheit zeigt Alexej Nawalny Putin wegen Korruption an.
Franziskus und Kirill. Diese Woche begann für die russischen Medien mit einem wahrhaftigen Jahrtausendereignis: Erstmals in der Geschichte der Christenheit, und fast tausend Jahre nach der Spaltung in West- und Ostkirche trafen sich die Oberhäupter der katholischen und der Russisch-Orthodoxen Kirche persönlich – und kündigten gemeinsame Schritte gegen die Christenverfolgung im Nahen Osten und für die Bewahrung des Friedens in der Welt und in der Ukraine im Besonderen an. Das Treffen von Kirill und Franziskus auf Kuba wurde in der russischen Presse entsprechend mit verbalen Superlativen belegt: „Ein Ereignis von zivilisatorischem Ausmaß“ betitelte TASS eine ausführliche Zusammenfassung von Reaktionen auf die Kirchenführer-Begegnung in Havanna. Warum das Treffen gerade jetzt klappte, sah die Zeitschrift Ogonjokso: Einerseits gibt es die – vom Patriarchat in Abrede gestellte – Version, Russland wolle so wenigstens im religiösen Feld aus der Isolierung gegenüber dem Westen ausbrechen. Andererseits wolle Kirill sein Gewicht auf einer in diesem Jahr anstehenden Synode aller orthodoxen Kirchen auf Kreta steigern – denn auch dieses Event wird schon über 50 Jahre vorbereitet.
Russland in Syrien. Russland ist Kriegspartei in Syrien, deshalb vergeht kein Tag ohne dieses Stichwort. Zuletzt hagelte es aus dem westlichen Ausland Vorwürfe, russische Bombenangriffe auf Aleppo seien schuld an einer neuen Flüchtlingswelle – und auch ganz konkret an der Zerstörung eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen. Letzteren Vorwurf dementierte der Kreml wie üblich routiniert, berief sich dabei aber auf die nicht minder fragwürdige Behauptung des syrischen Botschafters in Moskau, das Hospital sei von den Amerikanern angegriffen worden – eine Version, die auch schon eine Woche vorher hinsichtlich Aleppos seitens des russischen Militärs verbreitet wurde.
Interessanter als die endlosen gegenseitigen propagandistischen Schuldzuweisungen ist es, wenn in der Presse über die Perspektiven des Konflikts nachgedacht wird: In einem Kommentar des Kommersant werden interessante Vergleiche zwischen den beiden „Hybridkriegen des 21. Jahrhunderts“ in Syrien und der Ostukraine gezogen. Die These lautet, dass die Schlacht um Aleppo für die Entwicklung des Konflikts unter günstigen Umständen die gleiche Bedeutung haben könnte, wie die verbissenen Kämpfe um den Bahnknotenpunkt Debalzewo vor einem Jahr. Beides geschah vor dem Hintergrund von Friedensverhandlungen, damals in Minsk, jetzt in Genf. „Debalzewo zeigte, dass das Potential der großräumigen militärischen Auseinandersetzung erschöpft ist“, schreibt Sergej Strokan. Damit könnte, so der Kommentator, der Weg für ein Analog des Minsker Abkommens für Syrien frei werden, „sofern nach der absehbaren Zerschlagung der gegen Damaskus kämpfenden Gruppierungen oder der Androhung ihrer Zerschlagung Riad und Ankara die neuen Realitäten auf dem Schlachtfeld anerkennen“ und nicht etwa mit dem Einsatz von Bodentruppen die Initiative wieder an sich reißen.
Möglicherweise passiert aber genau das schon jetzt: Am Donnerstag berichteten russische Medien intensiv darüber, dass hunderte gut bewaffnete Kämpfer aus der Türkei nach Syrien eingedrungen seien, um vor allem gegen die vorrückenden Kurden zu kämpfen. In gewisser Weise ist das aus russischer Sicht verständlich, so Arkadi Ostrowski, der Moskauer Büroleiter desEconomistin einem Gespräch mit Echo Moskwy: „Die Türkei benimmt sich dort genauso wie Russland im Donbass. Für die Türkei ist Syrien nahes Ausland – es gehörte bis in die 1920er Jahre zum Osmanischen Reich. Das ist deren Ukraine.“
Apropos Debalzewo: Genau ein Jahr nach der Kesselschlacht hatfontanka.ru Debalzewo besucht, um in Bild und Text den Wiederaufbau zu dokumentieren. Fazit: Es geht voran, aber zäh. Das Eisenbahnerstädtchen gehört heute zwar zur Donezker Volksrepublik, doch die Eisenbahner sind bei der ukrainischen Bahn angestellt – und bekommen ihren Lohn in Griwna auf der anderen Seite der Frontlinie. Dorthin rollen unentwegt auch Züge mit Kohle aus den Donbass-Gruben, heißt es in dem Bericht.
Nawalny, Putin und der Wahlkampf. Zurück nach Russland, wo die Dumawahlen im September ihre Schatten vorauswerfen und die Parteien zwingen, ihre Strategien zu überdenken. Denn wieder einmal wurde das Wahlsystem geändert: Wie bereits bis 2003 wird wieder eine Hälfte der Parlamentssitze als Direktmandate vergeben. Das wird der Kreml-Partei Einiges Russland selbst bei einem sehr bescheidenen Ergebnis (2003 waren es beispielsweise 37,5 Prozent) ohne jede Schummelei beim Auszählen erlauben, in der Duma mit Hilfe der formell unabhängigen Wahlkreisabgeordneten eine solide Mehrheit zusammenzubekommen. Die Zeitung Vedomostisieht sich dabei von dem Umstand alarmiert, dass die vier jetzt im Parlament vertretenen Parteien sich darauf geeinigt haben, sich in 40 der 225 Wahlkreise keine Konkurrenz zu machen. Damit wird die Systemopposition endgültig gekauft, so Vedomosti.
Was die „echte“ Opposition angeht, so wird diese zunehmend zur One-Man-Show von Alexej Nawalny: Auf seinem Lieblingsfeld, der Korruptionsenthüllung, hat er jetzt Wladimir Putin persönlich ins Visier genommen – und gegen ihn frechweg Anzeige erstattet. Putin habe verfügt, dass aus einem Staatsfond dem Ölkonzern Sibur 1,75 Mrd. Dollar für ein Raffinerieprojekt zur Verfügung gestellt werden. Doch einer der Sibur-Großaktionäre ist Kirill Schalamow, der Ehemann von Jekaterina Tichonowa – und das ist Putins Tochter. Putin hätte sich aufgrund des Gesetzes über die Korruptionsverhütung in dieser Frage für befangen erklären müssen – und nichts mehr als diesen Umstand möchte sich Nawalny vom Gericht bestätigen lassen. Medien, die über Putins Töchter oder seine Ex-Frau berichten, leben im Übrigen gefährlich in Russland, stelltsnob.ru fest: Kaum schreibt man etwas über die heilige Familie, gibt es einen Anpfiff von der Medienaufsichtsbehörde – formell wegen irgendwelcher anderer Verfehlungen.
Patriarch und Pinguine. Zum Schluss noch mal zurück zum Patriarchen: Der besuchte nach seinem Treffen mit dem Papst nicht nur Südamerika – sondern einen ganzen weiteren Erdteil: Überraschend legte er nämlich einen Schlenker in die Antarktis ein. Denn in der russischen Polarstation Bellinghausen gibt es die einzige ständig mit einem Priester besetzte Kirche des Kontinents – den das Kirchenoberhaupt sogleich als Ideal der Menschheit pries: „Keine Waffen, keine Kriege, keine Grenzen, keine feindselige Konkurrenz, sondern Kooperation wie in einer Familie.“ Sprachs und stieg in bester Putin-Action-Manier mit Schwimmweste in ein Schlauchboot, um eine Pinguin-Kolonie zu besuchen.
Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.
Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.
Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.
Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.
Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.
Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.
Wird Syrien ein neues Tschetschenien?
Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.
In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.
Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.
Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.
Europa gespalten, Kerry konziliant
Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.
Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.
Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.
Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.
Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben
Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.
Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.
Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.
Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.
Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher
Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.
Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.
Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.
Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.
Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.
Wer ist schuld an der syrischen Flüchtlingskrise? Außenminister Sergej Lawrow sieht Angela Merkel in der Pflicht und bestreitet einen Zusammenhang mit russischen Bombardements. Völlig andere Themen beschäftigen die Moskauer in dieser Woche: In einer Nacht- und Nebelaktion wurden fast 100 Verkaufsbuden abgerissen, die bisher das Stadtbild prägten. Und auch Ramsan Kadyrow macht weiter Schlagzeilen.
Wer ist Schuld an der Flüchtlingskrise? Die Lage im syrischen Aleppo verschlimmert sich täglich, bereits Zehntausende sind laut internationalen Hilfswerken auf der Flucht. Für den Anstieg der Flüchtlingsströme hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ankara die russischen Luftangriffe verantwortlich gemacht. Moskau weist allerdings jegliche Mitschuld an der Katastrophe zurück. Im Gegenteil: Er sei erstaunt über die bedingungslose Unterstützung, welche Merkel der Türkei in der Syrienfrage zukommen lasse, meinte der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview mit dem Moskovski Komsomolets. Laut Lawrow seien die Menschen schon lange vor dem Beginn der russischen Luftschläge Anfang September 2015 aus Syrien geflohen. Auch der Kreml sieht keinen Zusammenhang. Für tote Zivilisten durch russische Bombardements gäbe es bislang „keine Beweise, die Vertrauen verdienen würden“, sagte Dimitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Merkel möge in Zukunft vorsichtiger in ihrer Wortwahl sein, so Peskow weiter.
Regierungsnahe Medien nahmen Merkels Aussage zum Anlass, die deutsche Flüchtlingspolitik zu kritisieren. Die blinde Unterstützung der amerikanischen Nahostpolitik habe Chaos, Terror und einen unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom nach Europa gebracht, behauptet die Komsomolskaja Prawda. Merkel sei zynisch, kommentiert das Massenblatt. Das Wüten des Islamischen Staates in Syrien mache das russische Eingreifen notwendig. Für westliche Politiker seien Trauer und Mitgefühl eine Ware, auf die man zurückgreifen könne, wenn es gerade opportun sei, kommt die Zeitung zum Schluss.
Es gibt aber auch kritische Stimmen: Der Kampf um Aleppo könnte zu einer weiteren Eskalation zwischen Moskau, dem Westen, der Türkei und den arabischen Ländern führen, schreibt etwa Vedomosti. Russland bringe mit seinen Bombardements zusehends seinen Platz am Verhandlungstisch in Gefahr. Laut Slon profitiert Russland immer weniger von dem Militäreinsatz, je länger dieser andauert, denn die Sanktionen sind immer noch in Kraft, und angesichts der Wirtschaftskrise im eigenen Land verpufft auch der Propagandaeffekt aus dem Kampf gegen den Terrorismus. Neueste Zahlen zeichnen kein positives Bild: Die finanziellen Reserven der Russen schrumpfen zusehends. Laut Rosstat überstiegen die Ausgaben der Bürger 2015 zum ersten Mal seit 1998 ihre Einnahmen.
Die Nacht der langen Schaufeln. Mit Unverständnis wurde so auch in vielen Berichten auf die „Nacht der langen Schaufeln“ reagiert, wie einige Medien dieNacht- und Nebelaktion tauften, in der die Moskauer Stadtregierung 97 Verkaufspavillons abreißen ließ. Es handle sich um eine Vernichtung von Arbeitsplätzen während der Wirtschaftskrise, schreibtSlon. Die Bagger fuhren Montagnacht vor mehreren zentralen Metrostationen auf und rissen Kioske ab, deren Genehmigungsstatus zumindest unklar war. Vorher-Nachher-Bilder gibt es hier zu sehen.
Aus dem Stadtbild Moskaus sind die kleinen Häuschen nicht wegzudenken. Kaum etwas, was es dort nicht zu kaufen gibt. Das Sortiment reicht von Fastfood über Blumen bis zu neuen Handys. Der Abbruch sei eine Frage der Ästhetik, die Hauptstadt werde damit in Ordnung gebracht, finden Befürworter. Laut Bürgermeister Sergej Sobjanin wurden die Pavillons illegal erbaut, stünden zum Teil auf Gas- und Elektrizitätsleitungen und entsprächen nicht den Sicherheitsvorschriften. Der offizielle Entscheid zum Abriss datiert von Anfang Dezember, alle geltenden Vorschriften seien eingehalten worden, betont die Rossijskaja Gazeta. Als Entschädigung hat die Stadtregierung den Bau neuer Pavillons auf eigene Kosten versprochen, welche dann in einer Auktion neu vergeben werden sollen.
Keine Frage der Ästhetik sondern eine Frage des Rechts ist die kontrovers diskutierte Aktion dagegen für Vedomosti. Die Kioskbetreiber hätten über rechtsgültige Dokumente verfügt. Gegen den Abbruch gab es noch offene Klagen, berichtetTV Dozhd. Ohne Gerichtsentscheid widerspricht der Abriss gar der russischen Verfassung, schreibt der Kommersant. Für Slon hat Sobjanin mit der Aktion gezeigt, dass das Recht auf Eigentum in Russland nicht existiere. Auf den Punkt brachte der Zeichner Sergej Jolkin die Kritik vieler Moskauer: Auf die wiederholten Beteuerungen Putins und Medwedews zur Unterstützung der Kleinunternehmer folgt – der Bagger.
Die Stadtregierung beruft sich jedoch auf ein neues Gesetz, das ihr gestattet, illegal errichtete Gebäude auch ohne Gerichtsentscheid abreißen zu lassen. Die Betreiber sollten sich nicht hinter Papieren verstecken, welche sie auf illegalem Weg erhalten hätten, so Sobjanin auf seiner offiziellen VKontakte–Seite.
Bereits seit mehr als 20 Jahren versucht die Stadt, die Zahl der kleinen Pavillons rigoros zu begrenzen. Die Verkaufspavillons, die in den 1990er Jahren zur Förderung des Kleinunternehmertums von der Stadt zugelassen wurden, haben sich seit damals zu einem lukrativen Geschäft entwickelt.
Tortenwurf mit Folgen. Michail Kassjanow, Vorsitzender der Oppositionspartei PARNAS wurde in einem Moskauer Restaurant mit einer Torte beworfen. Der Parteichef bringt die Tätlichkeit mit seiner politischen Arbeit und den Drohungen des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow gegen die Opposition in Verbindung. Als vom Ausland gekaufte Volksfeinde bezeichnete Kadyrow die Oppositionellen. Zuletzt hatte er auf seinem Instagram-Account gar ein Video von Kassjanow veröffentlicht, über welchem ein Fadenkreuz montiert war. Instagram hat das Video später entfernt. Vor dem Restaurant in der Moskauer Innenstadt wurden nach dem Anschlag drei Mitarbeiter des tschetschenischen Innenministeriums verhaftet. Der Kreml sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Tortenwurf und den Aussagen Kadyrows und seiner Entourage. Kadyrow selbst hat sich von dem Angriff nicht distanziert. Tags darauf veröffentlichte er ein Foto des russischen Tenors Nikolaj Baskow, ebenfalls mit einer Torte im Gesicht. Nach dem Tortenwurf renne der Sänger von einer internationalen Instanz zur anderen und verlange eine Wiederholung des Banketts, lautet die Bildunterschrift.
Ramsan Kadyrow beschäftigt weiter die russische Öffentlichkeit: Er nimmt Oppositionspolitiker im wahrsten Sinne des Wortes ins Fadenkreuz und Putin lobt ihn für sein „effiziente Amtsführung“. Außenminister Lawrow liefert sich einen Schlagabtausch mit Frank-Walter Steinmeier, während die Kreml-Presse den Besuch von Bayerns Ministerpräsident Seehofer bei Putin feiert. Unterdessen bricht ein russischer Trickfilm um ein kleines Mädchen und einen Bären alle Rekorde. Unsere Presseschau in dieser Woche.
Dass allerdings jemals gegen Kadyrow ermittelt wird, ist mehr als unwahrscheinlich: Wladimir Putin lobte ihn vor kurzem ausdrücklich für seine „effiziente Amtsführung“. Dies nahm RBK zum Anlass für einen kritischen, aber ausführlichen statistischen Überblick in Form der 20 wichtigsten Fakten über Tschetschenien – von der höchsten Geburten- bis zur niedrigsten Kriminalitätsrate Russlands. Hintergrund von Kadyrows Hetzkampagne ist, so Vedomosti, dass sich dieser im Herbst erstmals in Tschetschenien zur Wahl stellen muss. Seine Amtszeit läuft aber offiziell schon im März aus, zu diesem Zeitpunkt müsste er also von Putin als Verweser seines eigenen Amtes eingesetzt werden. Deshalb will er sich als treuester Gefolgsmann des Präsidenten profilieren. Kadyrows Informationsminister versuchte im Nachhinein, die Kassjanow-Episode als Witz abzutun: Die Oppositionellen seien im Fadenkreuz eines Periskops abgebildet gewesen, behauptete er.
Lisa und Lawrow. Im Fall von „Lisa aus Berlin“ beruhigen sich die Gemüter langsam wieder, sowohl in Deutschland wie auch in Russland. Was nun wirklich mit Lisa während ihres 30stündigen Verschwindens passiert ist, interessiert zunehmend weniger – vor allem jene Medien, die auf russischer Seite die Empörung angefeuert hatten. Vesti, die Nachrichtensendung des Staatssenders Rossija, übernimmt beispielsweise weiterhin nur die Darstellung von Lisas Mutter (anhand eines Interviews mit Spiegel TV). Unabhängige Medien wieMeduzabemühen sich hingegen, die Sache aufzuarbeiten – und schreiben über die Probleme des Mädchens mit den Eltern und in der Schule wie auch über ihre Bekanntschaften mit volljährigen Männern.Gazeta.ru geht der Frage nach, inwieweit der Skandal den Ruf des russischen Außenministeriums beschädigt hat. Den Höhepunkt bildete in der vergangenen Woche ein Schlagabtausch zwischen den Außenministern beider Länder: Lawrow warf den deutschen Behörden vor, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen, Steinmeier tadelte Russland daraufhin wegen einer Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Propaganda. Lawrow erwiderte wiederum pikiert, dass es sich schließlich auch der Westen ständig erlaube, mutmaßliche Verletzungen von Menschenrechten einzelner Personen in Russland an die große Glocke zu hängen. Die Novaja Gazeta bringt dazu ein Interview mit dem ehemaligen Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster. Der überzeugte Putin-Kritiker bezeichnet den „Fall Lisa“ als vom russischen Geheimdienst aufgegriffene Gelegenheit für eine Propaganda-Show. Das Ziel sei, in Russland wie auch unter den Russischsprachigen in Deutschland Stimmung gegen die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu machen. Laut Reitschuster gibt es Hinweise auf einen russischen Plan, „Merkel zu stürzen“, denn sie sei „der Hauptgegner Moskaus“. Derartige Vorwürfe nötigten wiederum Putins Pressesprecher Dimitri Peskow zu einem Dementi: Russland schütze lediglich die Interessen seiner Staatsbürger, irgendwelche geheimen Intrigen dürfe man darin nicht suchen, erklärte er.
Mascha und der Bär. Lächerlich und vergeblich müssen all diese angestrengten Bemühungen um Meinungsmache und öffentliche Präsenz erscheinen, wenn man sie mit dem Medienerfolg von Russlands populärstem Exportprodukt vergleicht. Es heißt, nein – nicht Erdgas und auch nicht Kalaschnikow, sondern „Mascha und der Bär“. Nie gehört oder gesehen? Dann wird es höchste Zeit – eine 2012 veröffentlichte Folge unter dem Titel „Mascha plus Kascha“ dieser Trickfilmreihe hat jetzt bei Youtube die Schallmauer von 1 Milliarde Views (!) geknackt – was bisher nur 20 Webvideos überhaupt gelang. Das war sogar dem seriösen Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Kommentar wert: Schließlich verdient das hochprofessionelle Moskauer TrickfilmstudioAnimaccordmit seinem Mascha-Klamauk (es gibt ihn hier auch auf Englisch) allein auf Youtube jeden Monat 1,5 Mio. Dollar.
Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.
Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.
Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.
Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.
All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.
Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.
Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.
Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.
Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.
The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.
Am 14. Januar hat der Kanal Swesdaeine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.
Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen
In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.
„Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt
„Horrorgeschichten“ aus der EU
Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.
Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt
Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.
Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.
Neuer Aufschwung für PEGIDA
Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.
2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:
„Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen. In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“
The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.
PEGIDA-Kundgebung in Hannover
Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“
Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr
Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.
Russisches TV als Informationsquelle
Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.
Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.
Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen: Der russische Präsident erteilte der zuvor oft beschworenen Partnerschaft mit der NATO ein klare Absage und positionierte Russland in unerwartet deutlicher Rhetorik als wiedererstarkte Weltmacht, die in der von ihm propagierten multipolaren Weltordnung ihre eigene Rolle zu spielen gedenke. Wie unerwartet diese Äußerungen für den größten Teil der Zuhörer kamen, ja wie schockierend sie für viele waren, rekonstruierte kürzlich der CICERO: „Die Konferenzgäste tauschen ungläubige Blicke aus, heben die Hände, zucken die Schultern. Alle Gesten fragen dasselbe: Was soll das?“ Manche, berichtet der Autor des Artikels, sprachen gar vom Beginn eines neuen Kalten Krieges.
Mitte Februar steht nun wieder eine Sicherheitskonferenz in München an, zu der ursprünglich Putin erwartet wurde, nun aber wohl doch Premierminister Medwedew oder Außenminister Lawrow fahren werden – letzte Klarheit darüber, wer die russische Delegation leiten wird, scheint noch nicht erreicht. Die Tatsache, dass Putin kürzlich der BILD ein ausführliches programmatisches Interview gegeben hat, lässt vermuten, dass auch die diesjährige Konferenz den Rahmen für eine russische Standortbestimmung bieten könnte. In welcher Weise könnte Russland die heißen Eisen Ukraine, europäische Sicherheit, Terrorismus in der derzeitigen angespannten Situation handhaben? Wird versucht, einen neuen Dialog mit dem Westen anzuknüpfen, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation? Darüber macht sich Wladimir Frolow für SLON Gedanken.
Wladimir Putin wurde zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen, die traditionell im Februar stattfindet. Und obwohl die Teilnahme des russischen Präsidenten noch nicht offiziell bestätigt ist, gibt es Anzeichen, dass seine neue „Münchner Rede“ schon in Arbeit ist. Einmal in seinem letzten Interview in der deutschen Klatschpresse, und in dem neuen Dokumentarfilm Weltordnung, in dem Putin seine Sicht auf die heutige Welt darlegt.
Offenbar will sich Putin mit dem Westen aussprechen, und die neue Münchner Rede ist das ideale Format dafür. So erklärt sich auch die für viele befremdliche Auswahl der Boulevardzeitung BILDals Plattform für ein richtungsweisendes Interview. Die BILD ist eine Botschaft „an die Welt“ und „an die Völker“ (orbi). Der Auftritt auf der Münchner Konferenz eine Botschaft „an die Stadt“ (urbi) – also die westlichen Eliten.
Sagt uns nicht, wie wir leben sollen
Sollte Putin nach München fahren, dann wäre das ein mutiger Schritt. Im Vorjahr hatte man als Abgesandten den russischen Außenminister Sergej Lawrow dorthin geschickt, der vor dem Hintergrund des glänzenden Angriffs russischer „Freiwilliger und Fronturlauber“ auf den Donezker Flughafen und auf Debalzewo [Debalzewe] massivem Widerstand ausgesetzt war, um nicht zu sagen ausgelacht wurde. Das Publikum dort ist gnadenlos, und Antworten auf Zuhörerfragen gehören zum Format.
Im Laufe des Jahres ist aber, insbesondere seit dem Einsatz Russlands in Syrien, das Beziehungsklima zwischen Russland und dem Westen etwas milder geworden, und neuerliche Widerstände in München wird es wohl nicht geben. Auch weil Putin ein erfahrener Polemiker ist und auf unbequeme Fragen zu antworten weiß. In letzter Zeit allerdings klingt es immer mehr nach einem „sagt uns nicht, wie wir leben sollen“.
Die letzten Auftritte des russischen Präsidenten bestanden vorwiegend in der Aufzählung wohlbekannter Kränkungen, die der arglistige Westen, allen voran die USA, Russland zugefügt hat: die Ausweitung der NATO, die militärischen Interventionen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der vom CIA initiierte Arabische Frühling und die Destabilisierung des Nahen Ostens, der Ausbau der Raketenabwehr in Europa und Asien, der „Staatsstreich in Kiew“ und die „dumme Verhängung von Sanktionen gegen Russland“.
Doch dieses sentimentale Narrativ ist vor allem faktisch nicht ganz korrekt.
Der Streit um angebliche Versprechen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands die NATO nicht Richtung Osten auszuweiten, ist schon lange beigelegt. Derartige Versprechen, geschweige denn Verpflichtungen, hat es einfach nie gegeben: Im Jahr 1990 hatte niemand an eine NATO-Osterweiterung gedacht. Es gab lediglich das Versprechen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Truppen anderer NATO-Länder bereitzustellen (die Armee der BRD betraf das nicht).
Ausreichend wirksam verfocht Russland seine Sicherheitsinteressen in der Grundakte von 1997, in der verankert wurde, dass auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder keine Atomwaffen, keine militärische Infrastruktur und keine wesentlichen Truppenkontingente stationiert werden. Diese Garantien werden bis dato eingehalten. Ungeachtet dessen, dass einzelne NATO-Mitglieder versuchen, sie als Reaktion auf Russlands Vorgehen in der Ukraine und sein demonstratives militärisches Muskelspiel an den Nato-Grenzen aufzuheben.
Doch derartige Zwistigkeiten interessieren heute kaum jemanden, etwas Neues muss her. Was genau hat Moskau im Angebot?
Der erboste Moralapostel
In den 70er und 80er Jahren bestand eine Tradition der sowjetischen Außenpolitik darin, dass die UdSSR-Führung bei internationalen Themen stets öffentlich mit großangelegten Initiativen zur Friedensthematik auftrat (meistens ging es um atomare Abrüstung). Diese Initiativen wurden sodann auf internationalen Foren und in bilateralen Verhandlungen diskutiert und weiterentwickelt. Doch Wladimir Putin bringt in letzter Zeit nichts dergleichen hervor, abgesehen von seinem nicht auf Gegenliebe stoßenden Vorschlag an die UNO, gegen die in Russland verbotene Terrororganisation ISIS eine „neue Anti-Hitler-Koalition“ zu gründen. Ansonsten gibt es lediglich Versuche, den Westen mit Moralpredigten zu belehren.
Wie der Politologe Iwan Krastew feststellt, wirkt Wladimir Putin im Film Weltordnung wie ein „erboster Moralapostel“, der die Außenwelt wie ein „Familiendrama um Liebe, Hass und Verrat“ betrachtet. Russlands Außenpolitik der letzten Jahre beschreibt Krastew als „Großmachtsgefühlsduselei“, die sich nicht auf nüchternes Kalkül von Interessen stützt, sondern auf Kränkung durch Ungerechtigkeit.
Moskau ist der Ansicht, das europäische Sicherheitssystem befinde sich aufgrund der Osterweiterung von NATO und EU in der Krise. Diese Politik bedrohe die Interessen Russlands, das geradezu gezwungen gewesen sei, über die Angliederung der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donezbecken Gewalt anzuwenden, um „eine weitere Expansion westlicher Bündnisse auf für Moskau überlebenswichtige Territorien aufzuhalten …“.
Damit möchte Moskau natürlich dem Westen gegenüber rechtfertigen, dass es 2014 in der Ukraine die Hölle anfachte, anstatt, wie 2005, mit der bestehenden Regierung zu verhandeln. Doch für den Westen funktioniert diese Logik nicht. Die europäische Ordnung sah definitiv stabil und sicher aus. Die Probleme begannen 2014, und es war völlig klar, wer sie lostrat.
Die Frage der Agenda
Doch was kann das europäische Sicherheitssystem ersetzen, und wie kann das Sicherheitsvakuum gefüllt werden? Putin sagt im Großen und Ganzen, man hätte die mittel- und osteuropäischen Länder nicht in die NATO aufnehmen, sondern etwas „Neues, Gemeinsames, Europa Vereinendes“ schaffen sollen. Damit führt er quasi von Neuem die Breschnew-Doktrin ein: eine beschränkte Souveränität der zwischen Russland und Westeuropa liegenden europäischen Staaten – in einer Form, die sich nun schon weit über den postsowjetischen Raum hinaus erstreckt.
Gleichzeitig leistet sich Putin ein paar ziemlich unvorsichtige Aussagen. Zum Beispiel spricht er von der Priorität „menschlicher Schicksale“ vor Grenzen, vom Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Wogegen Moskau mit dem Konflikt im Nordkaukasus die gesamten 1990er Jahre hindurch deutlich verstieß. Ganz abgesehen vom „Prinzip der Gerechtigkeit“, das er zur Lösung territorialer Unstimmigkeiten ins Instrumentarium der russischen Politik übernahm (nun ja, Japan könnte ihm beipflichten).
Mit einem solchen Ideensortiment kann man in München nicht auf Erfolg zählen, und der Kreml wird sich für all diese mehrdeutigen Thesen eine unschuldigere Interpretation überlegen müssen. Eine positive Agenda von russischer Seite steht noch aus.
Die NATO auflösen?
Vielleicht hat Moskau vor, dem Westen eine aktualisierte Version des Vertrags über europäische Sicherheit vorzulegen – dieser Vertrag war die erste außenpolitische Initiative von Präsident Medwedew, sehr feierlich am 5. Juni 2008 in Berlin verkündet und bisher der fundierteste Vorschlag der Russischen Föderation zur Modernisierung des europäischen Sicherheitssystems. Er sollte eine Mischung darstellen aus Nichtangriffspakten vom Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928) und den Statuten des Völkerbundes. Er schlug – gestützt auf die These einer geeinten und unteilbaren Sicherheit – ein Beratungssystem der Mitgliedsländer vor, das Russland ein schlecht verschleiertes Vetorecht gegen alle Unternehmungen der NATO eingeräumt hätte.
Das ist natürlich besser, als NATO und EU aufzulösen oder ein neues Jalta-Abkommen über die Aufteilung der Einflusssphären zu schließen. Doch der Westen braucht einen solchen Vertrag nicht, insofern ist hier kein Erfolg zu erwarten. Außerdem wird Putin wohl kaum mit dem Ziel nach München fliegen, die gescheiterte Initiative Medwedews fortzuführen.
Vor dem Hintergrund des Feldzugs in Syrien ist zu erwarten, dass Putin in seiner Münchner Rede den Schwerpunkt darauf setzen wird, gemeinsam mit dem Westen den internationalen Terrorismus im Nahen Osten und in Afghanistan zu bekämpfen. Erst recht, weil in dieser Hinsicht bereits erste Schritte mit Frankreich gemacht worden sind, was Syrien betrifft (Putin bezeichnete französische Militärangehörige als „Verbündete“), und manche Vorzeichen auch für eine solche Entwicklung in Libyen sprechen.
Moskau formuliert derzeit neue Organisationsprinzipien seiner Außenpolitik: Maßnahmen gegen die Verbreitung von Chaos und den Zusammenbruch des Staatswesens sowie die Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle in denjenigen Regionen, die für die Russische Föderation von existentiellem Interesse sind. Hier wird dem Anspruch nach eine neue außenpolitische Doktrin formuliert, die im Gegensatz zur amerikanischen Doktrin der „Förderung von Demokratie“ steht. Stattdessen bietet Moskau die Erhaltung und Festigung autoritärer Regime als schrittweisen Übergang zu einer Demokratie mit „nationaler Färbung“. Das ist natürlich eine globale Agenda, die Agenda einer Supermacht. Aber mit Europas Sicherheit steht sie indirekt dennoch in Zusammenhang.
Taktik der kleinen Schritte
In München will man jedoch etwas anderes hören: vor allem von einem Ende des Konflikts in der Ostukraine. Aber alles hängt am Unwillen Moskaus, sich auf die Demontage der „Volksrepubliken“ einzulassen. Und Anzeichen, dass man diese Position überdenkt, gibt es bislang nicht. Eher setzt man darauf, dass durch Kiews Verschulden die Verhandlungen scheitern und die Sanktionen aufgehoben werden, weil Minsk II (die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zur Russischen Föderation) von Seiten der Ukraine nicht erfüllt werden kann.
Wenn Wladimir Putin den Dialog mit dem Westen über Sicherheit wiederaufzunehmen und das unglückliche Kapitel „Ukraine“ irgendwie zu beenden gedenkt, sollte er Themen wie Geopolitik, Aufteilung von Einflusssphären, neue Weltordnung und Umformatierung der bestehenden europäischen Sicherheitsstrukturen lieber vermeiden.
Wenn aber der russischen Regierung die konfrontative Atmosphäre des Blockdenkens lieber ist, dann gibt es keinen besseren Weg, die eigene Bedeutsamkeit auf den Status einer Supermacht zu heben, als den, mit der NATO über Rüstungsbeschränkungen zu verhandeln.
Der Sorge darüber, dass die jeweiligen militärischen Infrastrukturen territorial wieder näher aneinander heranrücken, kann durch eine Modernisierung des Wiener Dokuments entgegengetreten werden: zum Beispiel, indem man die Anforderungen verschärft, dass geplante Manöver – eben auch jene, die zur Überprüfung der Kampfbereitschaft überraschend durchgeführt werden – unbedingt angekündigt werden müssen, sowie durch neue Abkommen über die Abwehr militärischer Vorfälle im Luftraum und auf See.
Man könnte weitergehen und die Verhandlungen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa wiederaufnehmen (2015 hat Russland seine Mitwirkung an den Mechanismen des KSE-Vertrags aufgekündigt) und neue Beschränkungen für den Aufbau schwerer Waffen ausarbeiten, durch die die Angst vor einem plötzlichen Einmarsch sinken würde. Man könnte den Dialog über Raketenabwehr und den Austausch von Daten zu Raketenstarts, über die Art der Bedrohung durch Raketen und das Zusammenspiel der Systeme von NATO und Russland weiterführen.
Auf dem Gebiet der Sicherheit gibt es eine gemeinsame Agenda, mit der man sich befassen könnte, um so allmählich wieder Vertrauen aufzubauen. Würde Putin den Akzent auf eine reale, nicht auf eine fiktive Agenda setzen, auf eine Rückkehr zur Taktik der kleinen, aber konsequenten Schritte, auf Berechenbarkeit, so würde seine zweite Münchner Rede bedeutender werden als die erste. Sofern er sich überhaupt zu dieser Reise entschließt.