Die Briten stimmen für den Brexit – und wie reagiert Russland darauf? Russlands Politiker und Experten machen sich vor allem Gedanken über die wirtschaftlichen Folgen für das Land. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow kommentierte nach der Abstimmung, Russland sei daran „interessiert, dass die Europäische Union eine blühende, stabile und berechenbare Wirtschaftsmacht bleibt“.
Russische Medien diskutieren vor allem, inwiefern der Brexit eine Ohrfeige für Brüssel darstelle – und ob er letzten Endes nicht so sehr der EU schade, sondern vielmehr Russland.
Komsomolskaja Prawda: Eine Ohrfeige für Brüssel
Michail Deljagin sieht im Brexit eine Ohrfeige für die EU – und eine Bestätigung für Russlands Politik, wie er im Boulevard-BlattKomsomolskaja Prawda kommentiert:
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Erstens wird der Druck auf Moskau seitens der sanktionsverrückten EU-Bürokratie sinken. Zweitens hoffe ich, dass Brüssel endlich versteht, dass die Förderung russophober Kräfte in Polen, dem Baltikum und ähnlichen Staaten zu einer Diskreditierung der Europäischen Union führt, und dass man sich auf die Rückkehr zu einer vernunftgeleiteten Politik besinnt. Wenn jetzt schon Großbritannien austritt … England beschimpft uns zwar verbal, praktisch aber hat es seine Handelsbeziehungen mit Russland ausgebaut. Und das wird sich jetzt wahrscheinlich noch intensivieren. […]
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Krim hat bei ihrem Referendum [über die Angliederung an Russland – dek] im Grunde zwischen europäischen Werten in der gegenwärtigen ukrainischen Version und Russland gewählt. Und sich für Russland entschieden. Was für die Europäische Union eine Ohrfeige war. Das Referendum wurde dort nicht anerkannt. Und nun hat sich auch Großbritannien beim Referendum gegen die allgemein-europäischen Werte in der gegenwärtigen Brüsseler Version ausgesprochen. Das ist ein eindrucksvolle Bestätigung, dass wir im Recht sind.~~~
Во-первых, ослабнет давление на Москву буквально обезумевшей от санкций европейской бюрократии. Во-вторых, надеюсь, в Брюсселе вырастет понимание, что поощрение русофобов из Польши, Прибалтики и прочих подобных стран ведет к дискредитации Евросоюза, и там задумаются о возвращении к политике здравого смысла. Коль уж сама Великобритания от них уходит… Сама Англия хоть на словах нас и ругает, на деле развивала торговые отношения с Россией. И теперь они, вероятно, укрепятся еще больше. […]
Еще один важный аспект. Крым на референдуме по большому счету выбирал между европейскими ценностями в сегодняшнем украинском издании и Россией. И выбрал Россию. Что было обидно Евросоюзу. Референдум там не приняли. А теперь и Великобритания на референдуме отвергла общеевропейские ценности в сегодняшнем брюссельском издании. Это наглядное подтверждение нашей правоты.
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Novaya Gazeta: EU schmarotzt vor sich hin
Auch in der unabhängigen Novaya Gazeta bewertet die Journalistin Julia Latynina, die für ihre umstrittenen Positionen bekannt ist, den Brexit als eine verdiente Abrechnung mit Brüssel:
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[…] Bei all ihren Pluspunkten, wie den offenen Grenzen und der einheitlichen Währung, ist die Europäische Union ein riesiger sozialistischer Staat, der so langsam vor sich hinschmarotzt auf den Ruinen der großen europäischen Zivilisation.
Es ist ja nicht so, dass sich Sozialismus auf Folgendes beschränkt: UdSSR, Stalin und Gulag. Die UdSSR, das war Kriegskommunismus und der Versuch, das ganze Land in eine Waffenfabrik zu verwandeln, mit dem Ziel, die ganze Welt zu erobern. Sozialismus hingegen, das ist Demokratie, die sich in eine Bürokratie auswächst.~~~
[…] Евросоюз, при всех его плюсах в виде открытых границ и единой валюты, является огромным социалистическим государством, медленно паразитирующим на развалинах великой европейской цивилизации.
Это неправда, что социализм — это СССР, Сталин и Гулаг. СССР — это военный коммунизм и попытка превратить всю страну в завод для производства оружия с целью завоевания всего мира. А социализм — это демократия, перерождающаяся в бюрократию.[/bilingbox]
Slon.ru: Schlag für die russische Wirtschaft
Kommentator Andrej Archangelski dagegen schreibt auf dem unabhängigen Portal slon.ru, der Austritt der Briten sei weniger ein Problem für die EU, sondern vielmehr für Russland:
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„[… die russische Elite] weiß selbst am besten, wie sehr durch die Weltwirtschaft längst alle miteinander verwoben sind und wie sehr Russlands Rohstoffwirtschaft in erster Linie von der europäischen Wirtschaft abhängt. Und dass jeder Schlag für die EU-Wirtschaft – und der Austritt Großbritanniens, einer Lokomotive der EU, ist zweifellos ein Schlag – automatisch auch ein Schlag für die russische Wirtschaft ist. Das heißt wiederum, dass man die Staatsausgaben und in der Folge auch die Sozialleistungen kürzen muss.
Letztendlich trifft der Austritt Großbritanniens gar nicht so sehr die EU als vielmehr die mangelhafte, träge und abhängige Wirtschaft Russlands. Das wissen die russischen Eliten nur allzu gut, aber im Feuereifer antiwestlicher Rhetorik denken sie nicht an die ökonomischen Folgen.“~~~
“[…российская элита] лучше других знает, насколько мировая экономика связала всех со всеми и насколько сырьевая экономика России зависит именно от экономики европейской в первую очередь. И что всякий удар по экономике ЕС – а выход Британии, локомотива ЕС, это, безусловно, удар – означает автоматически и удар по экономике России. А это в свою очередь означает, что госрасходы придется сокращать, а следовательно, и соцвыплаты, соцпакеты, пособия. В конечном счете выход Британии из ЕС ударит не столько даже по ЕС, сколько по несовершенной, инертной и зависимой экономике России. Это все прекрасно известно российским элитам, но в пылу антизападной риторики они не думают об экономических последствиях”
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Izvestia: Anfang vom Ende
Die kremlnahe Izvestia lässt den serbischen Politiker Nenad Popovic, Vorsitzender der national-konservativen Srpska Narodna Partija, zu Wort kommen. Der sieht die EU generell auf dem absteigenden Ast:
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Man hätte den Brexit womöglich vermeiden können, wenn Brüssel bei wichtigen Entscheidungen nach pragmatischen Interessen und nicht nach politisch vordiktierten Motiven gehandelt hätte. So etwa bei der Einführung der Russland-Sanktionen oder bei der Ausarbeitung gesamteuropäischer Gesetzgebungen im Bereich der Migrations- und Sozialpolitik, wo man die Besonderheiten der einzelnen Länder nicht berücksichtigt hat.
In der letzten Zeit nahm die Zustimmung zur EU unter den Bürgern kontinuierlich ab, sowohl bei den gegenwärtigen als auch bei den potentiellen Unionsmitgliedern. Die Flüchtlingskrise, die Unfähigkeit, den Terroristen zu trotzen, sowie die Lage in den jungen Mitgliedsländern haben das völlige Unvermögen Brüssels demonstriert. Das Referendum in Großbritannien ist der Anfang des formellen Zerfalls der Union. Die Idee der EU und der NATO ist ein Mythos, geschaffen von Lobbyisten eben jener Blöcke.
~~~Возможно, если бы Брюссель при принятии важных решений, таких как введение санкций против Российской Федерации, разработка общеевропейских законодательных актов в области миграционной и социальной политики, не учитывающих специфику отдельных стран, руководствовался бы прагматичными интересами, а не политически продиктованными мотивами, то Brexit […] получилось бы избежать. В последнее время рейтинг ЕС в глазах жителей стран — нынешних и потенциальных членов объединения — постепенно падал. Миграционный кризис, неспособность противостоять террористам и положение дел в молодых странах-членах демонстрировали полную несостоятельность Брюсселя. Референдум в Великобритании положил начало формальному распаду объединения. Идея ЕС и НАТО — это миф, созданный лоббистами этих блоков. [/bilingbox]
EJ: Europa wird nicht einstürzen
Die renommierte Politologin Lilija Schewzowa dagegen glaubt nicht an das Ende Europas, wie sie im unabhängigen EJ schreibt:
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Wird Europa einstürzen wie ein Kartenhaus? Ach wo! Nichts da. Europa wird sich neue Bindegewebe suchen – langsam, methodisch und beharrlich. Wenngleich die Europäer eine Menge Rost abkratzen müssen. Und nicht nur ihr politisches Regelwerk ändern, sondern jedes Äderchen ihrer Konstruktion säubern müssen.
Und was bedeutet diese Erschütterung für Russland? Hier von der Peripherie aus sehen wir, wie sich die weltstärkste Zivilisation auf die Suche nach neuen Existenzformen macht. Bei allen Turbulenzen – aber es ist diese Zivilisation, die weiterhin die Spielregeln und die Regeln des Fortschritts bestimmen wird. Deshalb ist es für Russland so wichtig, in welche Richtung sich der Westen bewegt.~~~
Европа станет карточным домиком? Бросьте! Не станет. Европа будет искать новые соединительные ткани — медленно, методично и упорно. Хотя европейцам придется соскрести много ржавчины. И сменить не только своих политических регуляторов, но и прочистить сосуды своей конструкции.
И что вся эта встряска означает для Россия? Мы со своей периферии видим, как самая мощная в мире цивилизация начала поиск новых форм жизнеспособности. Именно эта цивилизация, несмотря на свою лихорадку, продолжает устанавливать правила игры и прогресса. Поэтому для России так важно, в каком направлении двинет Запад. [/bilingbox]
Vedomosti: Die gelenkten Bürger
Maxim Trudoljubow sieht in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti den Brexit ebenfalls als Folge dessen, dass sich der „kleine Mann“ von den großen Entwicklungen nicht mitgenommen fühle. Dass dies in Russland womöglich anders sei, gereiche der Politik allerdings nicht unbedingt zur Ehre:
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Die Eliten von China und Russland […] wollen sich keineswegs demokratischen Risiken aussetzen und sind davon überzeugt, dass sie gut gelernt haben, die Stimmungen der Bürger so zu lenken, dass sie vor gesetzmäßigen, legitimen Aufständen vollständig geschützt sind.
Die autoritären Führer sind überzeugt, dass ihnen die Zukunft gehört, weil sie innenpolitisch Regeln geschaffen haben, nach denen sie auf dem heimatlichen Spielfeld nicht zu schlagen sind. ~~~
„Элиты Китая и России […] не согласны подвергать себя демократическим рискам и уверены, что хорошо научились управлять настроениями граждан, настолько хорошо, что полностью застраховали себя от законных и легитимных восстаний.
Авторитарные лидеры уверены, что за ними будущее, потому что они создали такие правила игры во внутренней политике, по которым выиграть у них на домашнем поле невозможно.[/bilingbox]
Ursprünglich gedacht als Paragraph gegen jede Art von Diskriminierung („… Schüren von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung von Individuen oder Gruppen …“), gilt Artikel 282 mittlerweile als Gummi-Paragraph des Russischen Strafrechts schlechthin: So wurden auch die Künstler, die sich 2005 an der Kunstausstellung „Achtung, Religion!“ in Moskau beteiligt hatten, nach Paragraph 282 verurteilt – ohne, dass ihre tatsächlichen Absichten berücksichtigt worden wären. Ihnen wurde vorgeworfen, die religiösen Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt zu haben.
In jüngster Zeit wurden außerdem immer wieder Nutzer Sozialer Netzwerke unter Anwendung von Paragraph 282 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, etwa wegen Reposts oder Likes politisch strittiger Inhalte.
Ausgerechnet Abgeordnete der rechtspopulistischen Liberal-Demokratischen Partei (LDPR) haben nun Mitte des Monats eine Gesetzesinitiative in der Staatsduma ergriffen, den umstrittenen Artikel 282 aus dem Russischen Strafgesetz zu streichen – mit dem Argument, der Paragraph könne zu leicht ad absurdum geführt werden und legalisiere letzten Endes politische Zensur.
Auf slon.ru argumentiert Oleg Kaschin, warum es vielleicht gerade gut ist, dass dieser Vorschlag aus Reihen der LDPR kommt – und weshalb er sogar Aussicht auf Erfolg haben könnte.
Eines sei gleich vorweggenommen – die SchlagzeileIn der Staatsduma wurde vorgeschlagen ... ist so ziemlich die peinlichste, die man sich denken kann, sie macht eine inhaltliche Erörterung eigentlich gleich überflüssig.
Wenn nämlich in den Nachrichten steht, dass in der Staatsduma etwas vorgeschlagen wurde, bedeutet dies in den meisten Fällen, dass irgendein einzelner Abgeordneter im Zuge einer eigenen kleinen Medienkampagne den Journalisten wieder einmal von einem seiner Einfälle erzählt hat, aus dem dann höchstwahrscheinlich nicht einmal ein Gesetzentwurf wird. Eigentlich ist das einzige Ziel, das die Abgeordneten damit verfolgen, selbst in die Schlagzeilen zu kommen.
Das sollte man stets im Hinterkopf haben, wenn von Initiativen seitens Abgeordneter in der heutigen Staatsduma die Rede ist. Allerdings sollte der Vorschlag der LDPR-Abgeordneten Michail Degtjarjow, Alexej Didenko und Iwan Sucharew, den Artikel 282 zu streichen, doch ein bisschen – wenn auch nicht wesentlich – ernster genommen werden als die üblichen hanebüchenen Ideen, die aus der Staatsduma kommen.
Nicht etwa, weil es sich um besonders ernstzunehmende Abgeordnete handelt. Aber wir haben es hier mit dem sehr seltenen Fall zu tun, dass eine lange geführte und höchst brisante öffentliche Diskussion eine offizielle Dimension bekommt, und sei es auch nur symbolisch. Und solche Gelegenheiten sollte man beim Schopf packen und die Debatte mit allen Mitteln vorantreiben.
Drei Monate vor den anstehenden Parlamentswahlen sollte man trotz all der offensichtlichen Unzulänglichkeiten bedenken, dass sich die Parteien der Systemopposition ein wenig Populismus leisten können. Außerdem hat die besagte LDPR schon längst den zweifelhaften Ruhm einer Partei, die vom Kreml gelegentlich genutzt wird, um die öffentliche Meinung zu verschiedenen strittigen Fragen zu sondieren.
Das abscheulichste Gesetz des Russischen Strafrechts
Im Erfolgsfall könnte die Abschaffung des Artikels 282 Realität werden. Denn letzten Endes hat der Kreml nicht so viele Optionen, die einerseits einen tatsächlichen Tauwettereffekt hätten und verkantete Schrauben lösen würden, andererseits aber auch nicht als Zugeständnis an jene Kräfte verstanden würden, denen der Kreml nicht gerne Zugeständnisse macht (die so genannten „Liberalen“, „Bolotnaja-Aktivisten“, Fünfte Kolonne usw.). In diesem Sinne erscheint die Initiative der LDPR zumindest durchaus realistisch und realisierbar.
Artikel 282 ist in der Tat das abscheulichste Gesetz des Russischen Strafrechts. Es ist zwar weder der infamste Artikel (dieser Rang sollte dem neuen Artikel 212,1 zuteil werden, bei dem dreimalige Verwaltungshaft zu einem Strafverfahren und Freiheitsentzug führt – wie im Fall des einsitzenden Aktivisten Ildar Dadin) noch betrifft er die Massen (als „volksnah“ gilt Artikel 228 über Erwerb, Besitz, Verbreitung, Herstellung und Weiterverarbeitung von Drogen; auf seiner Grundlage werden Tausende zu Haftstrafen verurteilt; seine Anwendung in der Rechtsprechung lässt auf grenzenlose Missbrauchsmöglichkeiten dieses Artikels seitens der Verurteilenden schließen), und seine Abscheulichkeit lässt sich nicht an den üblichen Kriterien festmachen.
Es gibt sogar ein T-Shirt mit der Zahl 282
Die Zahlenkombination 282 ist sogar denen ein Begriff, die noch nie das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation aufgeschlagen haben: Sie ist in aller Munde, gar zu einem Mem geworden, taucht in Politikerreden und Künstlerinterviews auf, und sogar die Buchhandlung Falanster hatte ein T-Shirt mit der Zahl 282 im Angebot.
Die Ablehnung dieses Paragraphen eint Nationalisten, die einst als erste sein repressives Potential kritisierten, mit Linken und Liberalen (wobei es unter den Liberalen auch die verbreitete Auffassung gibt, dass ein solches Gesetz trotz allem notwendig ist und die Probleme, die im russischen Kontext mit diesem Paragraphen verbundenen sind, lediglich durch die falsche Anwendung zustande kommen) – und seit kurzem auch mit LDPR-Abgeordneten.
Die offizielle Formulierung des Gesetzestextes: „Handlungen, die auf das Schüren von Hass und Feindschaft sowie Erniedrigung von Individuen oder Gruppen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrer Herkunft, ihrer Konfession oder ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gerichtet sind und öffentlich oder mithilfe von Massenmedien oder Informations- und Telekommunikationsnetzwerken begangen werden, einschließlich des Internets […]“ fängt zwar mit dem Wort „Handlungen“ an, impliziert aber keinerlei Handlungen: Eine „Handlung” kann in den Medien oder im Internet einfach nur ein Wort oder ein Bild sein – mehr braucht es nicht.
Artikel gegen „Gedanken-Verbrechen“
Anders gesagt: Paragraph 282 betrifft das menschliche Denken und sieht die strafrechtliche Verantwortlichkeit für bestimmte sprachliche Äußerungen vor. Wie offizielle Gutachten bereits oft gezeigt haben, kann aber jedes Wort beliebig interpretiert werden, und so ist es nur allzu gerechtfertigt, diesen Artikel als Artikel gegen Gedanken-Verbrechen zu bezeichnen: Du hast vielleicht nicht direkt zu etwas aufgerufen, hast es aber impliziert; hier hast du das Gutachten und hier das Urteil, bitte sehr.
Wenn das heutige Russland einen Strafparagraphen hat, der dem sowjetischen Artikel 58 aus der Stalinzeit entspricht, so ist es ebendieser: ein offenkundiger schriftlicher Beleg für die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Land.
Die Befürworter des Artikels 282 berufen sich gerne auf die Erfahrung europäischer Länder, in denen Meinungsäußerungen ebenfalls bestraft werden können, vor allem die Leugnung des Holocaust. Dies ist ein bewährter scholastischer Trick der Verfechter, die stets mit Sorgfalt und liebendem Eifer im Ausland nach Analogien zu russischen Niederträchtigkeiten suchen und dabei ignorieren, dass in diesen Ländern Dinge existieren, die in Russland völlig undenkbar wären – zum Beispiel ein unabhängiges Gericht.
Ein Artikel im Schlafmodus, unter Putin zum Leben erweckt
Im Grunde genommen ist die Geschichte des Artikels 282 und seine bisherige Anwendung das beste Argument gegen ihn: Er entstand mit dem ersten postsowjetischen Strafgesetzbuch der Russischen Föderation, das im Übrigen dieser Tage sein 20. Jubiläum hat. In den ersten Jahren blieb der Artikel jedoch im Schlafmodus. Unter Jelzin wurde niemand auf seiner Grundlage verurteilt oder inhaftiert, erst in den frühen Putin-Jahren nach den Ausschreitungen auf dem Manegenplatz (als Fussballfans nach dem Public Viewing eines WM-Spiels Autos und Geschäfte im Moskauer Zentrum zertrümmerten) wurde ein Paket von Anti-Extremismus-Gesetzen verabschiedet und Artikel 282 zum Leben erweckt.
Wie so oft war der erste nach dem Artikel Verurteilte nicht etwa ein bekannter Oppositioneller, sondern die exotisch anmutende Randfigur Witali Tanakow aus der Republik Mari El, der ein Buch aus der Perspektive eines heidnischen Priesters geschrieben hatte, der den christlichen Glauben verleugnet. Tanakow kam vor Gericht und wurde wegen „Schüren von Hass auf die soziale Gruppe russischer Christen“ angeklagt. Wahrscheinlich wäre er dafür auch inhaftiert worden, wenn die Anklage nicht dank seines guten Anwalts ins „Schüren von Hass auf die soziale Gruppe der Angestellten des Kulturministeriums“ abgemildert worden wäre, in deren Folge Tanakow zu 120 Stunden Arbeitsdienst verurteilt wurde.
Bei dem Urteil von 2006 klang „soziale Gruppe der Angestellten des Ministeriums“ noch wie die Pointe eines unlustigen Witzes, aber die weitere lawinenartige Gesetzesanwendung machte den Witz zur Routine.
Auf einmal gab es Prozesse zum Schutz der sozialen Gruppen, der Milizangestellten, der wohlhabenden Bürger, der Fußballfans oder der Gopniks, und der Antifaschist Igor Chartschenko wurde für das Schüren von Hass auf die „soziale Gruppe der Skinheads“ angeklagt.
Der Wahnsinn dauerte bis 2011, als ein Urteil des Obersten Gerichts der breiten Auslegung von sozialen Gruppen Einhalt gebot und den haarsträubenden Urteilen ein Ende setzte.
2011 war eine liberale Zeit: Medwedew war Präsident, die Modernisierung lief, das Tandem Putin-Medwedew zerbrach, das Land versuchte sich von seinen abscheulichsten Eigenschaften zu befreien.
Tauwetter dauert in Russland nie lange
Eine Weile lang diente Artikel 282 als Standart-Dreingabe zur Absicherung (sollte der Hauptanklagepunkt sich zerschlagen) in Verfahren zu tatsächlicher Gewalt; beispielsweise, wenn ein Islamist, der einen Bombenanschlag in Dagestan verübt hatte und zusätzlich in Sozialen Netzwerken zum Mord an Ungläubigen aufrief. Oder wenn ein Moskauer Nazi, der einen Tadschiken niedergestochen hatte, mit Ausgaben von Mein Kampf Handel trieb.
Aber Tauwetterperioden dauern in Russland nie lange. Bereits ab 2012 wurden die Schrauben wieder angezogen. Irgendwann griff der Staat auch in den Sozialen Netzwerken durch und heute wundert es keinen mehr, wenn es für Reposts im Sozialen Netzwerk VKontakte.ruHaftstrafen gibt: Im Dezember vergangenen Jahres hat Oleg Nowoschenin aus Surgut ein Jahr Strafkolonie bekommen, weil er ein Video des ukrainischen Asow-Regiments gepostet hatte. Und erst kürzlich wurde Maxim Kormelizki aus Berdsk zu 15 Monaten Strafkolonie verurteilt. Er hatte auf seiner Seite das traditionelle Eisbaden orthodoxer Christen zum Epiphanias-Fest ironisch kommentiert.
282 als Wurzel allen Übels? Ein Trugschluss
Wie man sieht, kann ein und derselbe Strafrechtsparagraph im Laufe seines 20-jährigen Bestehens zu verschiedenen Zeitpunkten mal Verwendung finden wie am Fließband, mal in Ausnahmefällen, mal auch gar nicht zum Einsatz kommen. Wobei das weniger vom Ausmaß des extremistischen Gedankenguts in der Gesellschaft abhängt, als vielmehr von der aktuellen politischen Konjunktur – wobei dieses Problem nicht nur an einem konkreten, wenn auch abscheulichen Artikel liegt, sondern an der gesamten Rechtsstruktur Russlands.
Die Rechtsprechung nach Artikel 282 ist eine wunderbar eindrückliche Illustration des Prinzips „Das Gesetz ist wie eine Deichsel [wohin man es dreht, dahin weist es – dek]“. (Dieses Sprichwort war in Russland übrigens Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, aufgrund der Klage des Innenministeriums von Karelien gegen die Zeitung Sewernye berega [„Nördliche Ufer“] – wenn auch nicht nach Artikel 282.) Und dieses Prinzip wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn im Russischen Strafgesetzbuch nach Artikel 281 plötzlich gleich Artikel 283 folgen würde.
Die mediale Präsenz des Artikels hat seinen Feinden einen bösen Streich gespielt: Je mehr über diesen Artikel gesprochen wird, umso größer ist der Trugschluss, dass dieser die Wurzel allen Übels sei, und nicht etwa die Rechtswidrigkeit des gesamten russischen Staatsbaus.
Sollte die LDPR es wirklich schaffen, sich diese Schieflage zunutze zu machen und die Abschaffung des abscheulichen Artikels durchzusetzen, wird das eine Sensation. Aber mehr Gerechtigkeit wird es in Russland durch diese Sensation nicht geben.
Soll Südossetien an Russland angegliedert werden? Über ein Referendum zu dieser Frage sollte Ende Mai diskutiert werden, doch die Entscheidung wurde verschoben. Zum wiederholten Mal.
Die Kaukasusregion Südossetien hatte sich schon in den frühen 1990er Jahren als von Georgien unabhängig erklärt. Völkerrechtlich anerkannt wird das Gebiet erst seit 2008 und nur von Russland, Nicaragua, Venezuela und dem pazifischen Inselstaat Nauru, der kleinsten Republik der Welt.
Mit der Sowjetunion zerfiel auch der Kaukasus als ethnischer Schmelztiegel. Das Südossetien von heute ist ein Produkt dieser Prozesse. Schon kurz vor Auflösung der Sowjetunion hatte sich die iranischsprachige Volksgruppe der Südosseten als „Republik Südossetien“ für unabhängig von der Georgischen SSR erklärt. Nach dem Zerfall der UdSSR mündete die Situation Anfang der 1990er Jahre schließlich in eine Reihe von Sezessionskonflikten mit Georgien. 2004 hatte der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili angekündigt, Südossetien (und Abchasien) wieder unter georgische Kontrolle zu bringen. Im Sommer 2008 kam es schließlich zum offenen militärischen Konflikt, der enorme Zerstörungen mit sich brachte, vor allem in der Hauptstadt Zchinwali. Am 7./8. August nahmen georgische Einheiten große Teile Südossetiens ein, Russland stieß im Gegenzug weit in georgisches Kernland vor, es kam zu Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten, insgesamt gab es etwa 850 Todesopfer.
Seit dem Georgienkrieg ist Südossetien in höchstem Maße in die Einflusszone Russlands integriert. Seit 2008 kommen nicht nur die Währung und viele Pässe, sondern auch die Haushaltsmittel und die politische Elite der abtrünnigen Republik mehrheitlich aus Russland.
Irina Gordijenko recherchierte für die Novaya Gazeta vor Ort. Sie fand eine vergessene Region im Stillstand – und eine zumindest informelle Antwort auf die Frage: Soll Südossetien an Russland angegliedert werden?
Drei Jahre bin ich nicht in Südossetien gewesen. In dieser Zeit hat sich Grundlegendes verändert. Der Roki-Tunnel, der unter dem Kamm des Großen Kaukasus hindurch Nord- und Südossetien verbindet, ist nicht wiederzuerkennen. Ein- und Ausfahrt erblühen in den Farben der russischen und der südossetischen Flagge (je nachdem), und der Tunnel selbst befindet sich auf seiner gesamten Länge von vier Kilometern in tadellosem Zustand.
Vor der Hauptstadt Zchinwali [russisch: Zchinwal – dek] sind ein paar kleine, gepflegte Einfamilienhaussiedlungen entstanden, in denen Menschen wohnen, deren Häuser bei den Kampfhandlungen zerstört wurden. Die Hauptstraßen der Stadt sind asphaltiert, auf den Plätzen und Boulevards leuchten Blumen und Laternen, Springbrunnen plätschern. Das Parlamentsgebäude wurde wiedererrichtet, sogar gratis WLAN gibt es.
Die Renovierung des Schauspielhauses ist in vollem Gange, die Arbeiten werden jetzt von Regierungsbeamten persönlich kontrolliert, und die örtliche Presseagentur berichtet stolz, „der Rechnungshof der RF hat 2014 und 2015 [in der Republik] keinerlei finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt“.
Das ist erfreulich.
Staubstürme im Sommer, im Winter ein undurchdringlicher Sumpf
Nach dem viertägigen Krieg im August 2008 war Südossetien in Chaos und Zerstörung versunken. Die Leute hatten keine Heizung, keinen Strom, kein Warmwasser, viele nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Die Straßen der Stadt wurden zu breiten, holprigen Wegen, mit klaffenden Löchern statt Gullyschächten. Tonnenweise türmten sich Haufen von Steinen und Bauschutt an allen Kreuzungen. Deswegen wurde Zchinwali jeden Sommer von Staubstürmen heimgesucht, im Winter verwandelte es sich in einen undurchdringlichen Sumpf.
Obwohl in der Republik ein milliardenschweres Programm der Russischen Föderation zum Wiederaufbau aufgelegt wurde und auch über andere Kanäle Gelder flossen, wurde die Lage mit jedem Jahr katastrophaler. Indessen flatterten stapelweise Berichte über den „dynamischen Verlauf des Wiederaufbaus“ nach Moskau, aus Moskau kam als Antwort die nächsten Tranche.
Die Kontrolle über die Verwendung der Mittel oblag im Wesentlichen dem Ministerium für regionale Entwicklung unter der Leitung von Viktor Bassargin. Am Ministerium wurde eine zwischenstaatliche Kommission zum Wiederaufbau Südossetiens eingerichtet, deren Vorsitz der stellvertretende Minister Roman Panow aus Tscheljabinsk innehatte. Mit Panow kamen immer mehr Emporkömmlinge aus der Oblast Tscheljabinsk in die Republik; zur Schlüsselfigur wurde der Unternehmer Wadim Browzew, der zum Premierminister Südossetiens ernannt wurde.
Je mehr Beamte vom „Wiederaufbau“ sprachen, desto schamloser wurde gestohlen
Baufirmen aller Art überschwemmten das Land. Bau- und die Sanierungsprojekte im Rahmen des Wiederaufbaus wurden nicht öffentlich ausgeschrieben und verliefen intransparent; wer Geld bekam und auf welcher Grundlage, war in diesen Jahren absolut nicht nachvollziehbar. Im Zeitraum von fünf Jahren wurde die Finanzierung der Republik dreimal umgemodelt, das Resultat blieb dasselbe.
Je mehr russische und südossetische Beamte vom „Wiederaufbau der Region“ und der „Einhaltung aller Auflagen“ sprachen, desto schamloser wurde dort gestohlen – ein Faktum, das im Rechnungshof der Russischen Föderation bereits aktenkundig wurde. Einstweilen lebte die Bevölkerung weiterhin in Armut.
Wie die Prüfung des Rechnungshofs ergab, investierte Russland von 2008 bis 2013 mehr als 45 Milliarden Rubel in Südossetien [gut 1,1 Milliarden Euro, Stand Januar 2013], rund 34 Milliarden [850 Millionen Euro] kamen aus dem russischen Staatshaushalt, 10 Milliarden [250 Millionen Euro] von Gazprom, 2,5 Milliarden [63 Millionen Euro] schickte die Stadtverwaltung von Moskau, rund 1 Milliarde [25 Millionen Euro] wurde auf ein spezielles Wohltätigkeitskonto überwiesen, und nochmal 13 Milliarden Rubel [330 Millionen Euro] flossen in das Programm für „sozial-ökonomische Entwicklung der Republik“. Für dieses Geld hätte man in der Region, in der damals schon etwas mehr als 30.000 Menschen lebten und deren Fläche nur etwa 4000 km² beträgt (davon 3600 km² Gebirge), Las Vegas nachbauen können.
Für das Geld hätte man in der Region Las Vegas nachbauen können
Als es bei den Präsidentenwahlen in der Republik im Dezember 2011 fast zu einem Aufstand kam, war das der Tropfen, der für Moskau das Fass zum Überlaufen brachte. Die Bevölkerung stellte sich gegen den Kandidaten, auf den Moskau insistierte – und führte als Grund dafür die totale Bestechlichkeit der südossetischen Führungsriege an.
Es gelang, den Aufruhr zu beenden, doch man zog Konsequenzen. Sergej Winokurow, von der Präsidialverwaltung der Russischen Föderation mit der Kontrolle über Südossetien betraut, wurde mitsamt seinem Team entlassen. Die Staatsanwaltschaft leitete sofort Strafverfahren wegen Entwendung und Veruntreuung ein, und kurz darauf wurde ein Ausschuss des Rechnungshofs in die Republik entsandt, der alles gründlich prüfte. Das Ergebnis war wenig erbaulich: Über ein Drittel der Gelder waren nutzlos vergeudet worden. Rund sechs Milliarden [Euro] steckten in unfertigen Bauprojekten fest, ein Teil des Geldes war einfach verschwunden.
Die Ergebnisse dieser Prüfung wurden dann gar nicht offiziell bekanntgegeben (ein Exemplar liegt der Redaktion vor), doch während der Durchführung hatten sich die Tscheljabinsker und sonstigen „Aufbaukünstler“ aus ganz Russland spurlos aus dem Staub gemacht. Mit den Strafverfahren war es dasselbe. Zu Beginn war von 17 eingeleiteten Verfahren berichtet worden, dann von 24, schließlich stieg die Zahl auf 72, doch von den Ergebnissen erfuhr die breite Öffentlichkeit ebenfalls nichts. Der Leiter der zwischenbehördlichen Kommission Roman Panow und einige seiner Mittäter landeten zwar wirklich im Gefängnis, doch wegen einer Strafsache, die mit dem Wiederaufbau Südossetiens gar nichts zu tun hatte.
Einen Wirtschaftssektor, oh weh, den hat es nie gegeben
Nach all diesem Hin und Her ging es mit dem budgetären Klondike merklich bergab. In der Präsidialverwaltung sind jetzt Wladislaw Surkow und Lew Kusnezow, der Minister für den Nordkaukasus, für die Aufsicht über die Republik zuständig. Das Budget Südossetiens besteht nach wie vor hauptsächlich aus russischem Geld (dieses Jahr waren das gut 9 Milliarden Rubel [rund 110 Mio Euro]), und es läuft ein Investitionsprogramm, das unter anderem den realen Wirtschaftssektor ankurbeln soll. Doch, oh weh, den hat es nie gegeben. In der Republik sind über 70 Prozent der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst tätig. Die restlichen 30 Prozent sind Taxifahrer und Kleinunternehmer, die mit Produkten aus Russland und Georgien handeln.
28 Millionen für Kühe, die keine Milch geben
Die Landwirtschaft ist nicht der stärkste Wirtschaftszweig Südossetiens, auch wenn ihr in den vergangenen acht Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Von den Maßnahmen, die vom südossetischen Ministerium für wirtschaftlichen Fortschritt angewiesen wurden und die im Bericht des Rechnungshofs genannt werden, klingt eine irrwitziger als die andere. So wurden etwa für den Kauf von Kalmücken-Rindern 28 Millionen Rubel [335.000 Euro] aufgewendet. Aber man hatte, wie sich herausstellte, für ein paar hundert Kühe gleich das Dreifache zuviel bezahlt. Doch vor allem hat sich gezeigt, dass die Kühe praktisch keine Milch geben, ja, das Kalmücken-Rind ist für die südossetischen Gegebenheiten überhaupt nicht gemacht. Im Endeffekt kam der Großteil des Bestands einfach auf die Schlachtbank.
Der Minister für Nordkaukasus-Angelegenheiten, Kusnezow, betonte bei einem seiner Besuche in Südossetien, dass der Akzent auf die Förderung des realen Sektors gelegt werden müsse: „Man muss diejenigen ausfindig machen, die, vom Staat unterstützt, in der Lage sind, ein leistungsfähiges Unternehmen zu gründen, das Arbeitsplätze schafft, vernünftige Gehälter sichert und sich zu einer Ertragsbasis für die Republik weiterentwickelt.“
Ich habe eines dieser leistungsfähigen Unternehmen gefunden, das unter anderem im Rahmen des Investitionsprogramms finanziert wurde: den Sportpalast Olymp. Der dreistöckige Palast im Zentrum Zchinwalis wurde mit Unterstützung der Wohltätigkeitsstiftung von Alina Kabajewa gebaut. Nach sechs Jahren Vertröstungen fand im Oktober 2015 tatsächlich die Eröffnung statt. Die Idee hatte wahrlich olympische Ausmaße: zwei Schwimmbecken (ein Kinderbecken, eins für Erwachsene), neun Sporthallen (für Gymnastik, Ringen, Boxen, Gewichtheben etc.), ein medizinisches Zentrum. „Alle Hallen sind komplett ausgestattet mit allem notwendigen Inventar“, hieß es in der Werbung.
Ein 25-Meter-Becken in einer Stadt, in der Wasser nur begrenzt verfügbar ist
Den Palast begutachtete auch der Berater des Präsidenten und Aufsichtsleiter in Südossetien Wladislaw Surkow. Nach der Besichtigung, gefolgt von Begehungen anderer sozialwirtschaftlicher Bauprojekte der Republik, „war er höchst zufrieden“.
Ein Jahr verging. Ein Jahr, in dem kein einziges Sportfest den Weg nach Südossetien gefunden hat. Der Sportpalast ist noch immer geschlossen. Kurz nach seiner feierlichen Eröffnung hieß es, für die Renovierung des gerade erst präsentierten Komplexes und für die Deckung der Fehlbeträge, die während der Bauarbeiten entstanden seien, seien mehrere hundert Millionen Rubel vonnöten. Das Lüftungssystem funktioniert immer noch nicht, das Dach ist überall undicht, die Wände sind von gelblich-grünem Schimmel überzogen, die Raumluft trägt das modrige Aroma subtropischer Wälder. Nun ja, und in einer Stadt, in der Wasser nur morgens und abends nach strengem Zeitplan verfügbar ist, sind Betrieb und Instandhaltung eines 25-Meter-Beckens sowieso problematisch.
Jetzt wurde der Palast dem Haushalt des staatlichen Sportkomitees für Südossetien zugeordnet, wo man allein beim Gedanken an die Renovierung und anschließende jährliche Wartung solch eines Monstrums ins Koma fällt. Das Geld, um „das bedeutendste Projekt der Alina-Kabajewa-Stiftung“ zu erhalten, hat einfach niemand.
Trotz der bitteren Erfahrung der vergangenen Jahre verkünden die Beamten mit erstaunlicher Hartnäckigkeit weiterhin Pläne – einer herrlicher als der andere.
Die Regierung dementiert stur die stetige Abwanderung
„Es ist von vornherein klar, dass sich derartige Großprojekte bei uns nicht rentieren“, sagt Assa Tibilowa, Dozentin an der Südossetischen Universität. „Wir müssen kleine Betriebe und Kleinunternehmer fördern. Die Leute wollen ja, aber großangelegte Projekte sind bei uns schwer umzusetzen.“ Warum nur?
Die Regierung dementiert stur die allmähliche, aber stetige Abwanderung aus der Republik. Doch die Straßen Zchinwalis sind nach 15 Uhr menschenleer, nur der Wind trägt angemalte Styropor-Stücke vor sich her, die sich von der Fassade des frisch renovierten Parlamentsgebäudes gelöst haben.
Voriges Jahr hat die Regierung die Ergebnisse der Volkszählung veröffentlicht. Den offiziellen Daten zufolge leben in der Republik 53.000 Menschen, und der Bevölkerungszuwachs hält an. Das zu bestreiten ist sinnlos. Ein kritischer Blick darauf lohnt sich aber:
Jedes Jahr zum Neujahrsfest überreicht die südossetische Regierung allen Kindern Geschenke. Die Listen dazu erstellt das Bildungsministerium, dem die Polikliniken, Kindergärten und Schulen der ganzen Republik ihre Daten liefern, damit nur ja kein Kind übersehen wird. 2016 waren es 9091 Kinder. In Südossetien sind die meisten Familien kinderreich und haben zwei bis vier Kinder. Nehmen wir also an, in jeder Familie sind durchschnittlich drei Kinder. Das macht 3030 Familien. Nehmen wir weiter das Maximum an, dass nämlich jede Familie komplett ist: Mama, Papa, zwei Großväter, zwei Großmütter und drei Kinder – zusammengezählt sind das 27.273 Menschen. Dann ist noch zu bedenken, dass bei der Zahl der Weihnachtsgeschenke auch die Kinder der Armeeangehörigen des russischen Stützpunkts mitgerechnet werden; dort dienen 4000 Personen, hinzukommen die Familien. Die Zahl der Menschen, die wirklich in Südossetien leben, ist also in Wahrheit noch geringer.
Die Angliederung an Russland interessiert niemanden, doch das würde keiner laut sagen
Wladimir Bossikow ist in Südossetien ein bekannter Unternehmer. In den vergangenen Jahren betrieb er verschiedene Projekte, er hatte eine eigene Möbelfabrik, dann versuchte er sich im Anbau von Nüssen, seine neueste Geschäftsidee ist Mineralwasser.
Bossikow fuhr durch Bergschluchten, untersuchte Mineralwasserquellen und wählte eine der besten am Südhang des Großen-Kaukasus-Bergkamms aus. Russische Laboratorien bestätigten die qualitative Einzigartigkeit dieses Heilwassers. Er rodete den Wald um die Quelle, kaufte die nötige technische Ausrüstung und errichtete eine kleine Fabrik zur Abfüllung.
„In unserer Anlage können wir 6000 Flaschen pro Tag abfüllen. Ich möchte versuchen, in den russischen Markt einzusteigen. Wir warten auf die Antwort des russischen Patentamtes“, sagt er. Die Antwort steht bereits seit sieben Monaten aus. Inzwischen steht seine neue Fabrik still, und das einzigartige Mineralwasser löst sich aufin den Wassern des Großen Liachwi.
„Bereits jetzt können wir leicht selbst, aus eigener Kraft 2 bis 3 Milliarden Rubel [24 bis 36 Millionen Euro] im Jahr verdienen“, sagt Alan Dschussojew, Anführer der sozialen BewegungDeine Wahl – Ossetien, „aber bitte unterstützt die Kleinbetriebe! Wir haben Potenzial, natürliche Ressourcen, nur die Behörden wollen nicht – weder unsere, noch die russischen. Trotz des Investitionsprogramms und vieler zwischenbehördlicher Abkommen mit Russland, geht es nie um reale Arbeit. Immer nur um Berichterstattung auf Papier. In dieser Situation von einem Referendum und einer möglichen Angliederung an Russland zu sprechen, das ist einfach nur viel Lärm um nichts. Meiner Meinung nach muss die Frage über unseren Status ein für alle Mal vom Tisch. Wir sind Russland sehr dankbar und hätten jetzt gern die Möglichkeit, uns zu entwickeln. So denken viele.“
Und das stimmt, ich habe mit vielen Menschen gesprochen: Die Frage nach der Angliederung an Russland interessiert niemanden, was die Leute beschäftigt sind Lebenserhalt und Verdienst, doch das würde niemand laut sagen. Wer sich öffentlich gegen ein Referendum ausspricht, kann für einen Gegner Russlands und einen Feind nationaler Interessen gehalten werden. Obwohl von antirussischen Stimmungen hier immer noch weit und breit keine Spur ist.
Im Frühjahr und Sommer 2014 sah man Igor Girkin (genannt Strelkow, „der Schütze“) nahezu täglich im russischen Fernsehen: Der ehemalige FSB-Mitarbeiter aus Moskau war, wie er selber angibt, maßgeblich an der Operation zur Angliederung der Krim beteiligt. Im Mai 2014 wurde er dann Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik und führte in Slawjansk persönlich die pro-russischen Separatisten an. Mit seinem Rücktritt noch im August desselben Jahres verschwand er wieder von den Fernsehbildschirmen. Er lebt seitdem in Moskau, wo er die Bewegung Noworossija leitet. Außerdem ist er Vorsitzender der Allrussischen Nationalen Bewegung, deren Ziel die „Wiedergeburt Russlands als russischer Nationalstaat“ ist, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Deklaration heißt.
Im Interview mit Znak spricht der überzeugte Nationalist über die von ihm angestrebte Vereinigung Russlands mit der Ukraine und Belarus, über das dreckige Geschäft der Politik und potentielle Spione in Putins Umfeld.
Die Bewegung Noworossija hat ihr Quartier in ein paar kleinen Zimmern unweit der Metrostation Taganskaja. Renoviert wurde lange nicht mehr, man muss aufpassen, wo man hintritt. Beim Eintreten verrät der Geruch: Hier ist der Lebensraum einer Katze. Während des ganzen Interview schläft ein riesiger roter Kater, genannt der „Grimmige“, auf Strelkows Tisch. An der Wand hängt ein Kalender mit einem Portrait von Nikolaus II., ein ebensolches steht auf Strelkows Tisch.
Neulich haben Sie eine Deklaration veröffentlicht. Ich würde gern zunächst nachvollziehen, wer die Verfasser dieser Deklaration sind. Außerdem enthält sie doch offensichtliche Widersprüche. Einerseits ist darin die Rede von europäischen Werten, von einer Annäherung an die Staaten der Ersten Welt, andererseits von der Notwendigkeit, die Ukraine und Belarus zurückzubekommen. Meiner Meinung nach lässt sich das nicht miteinander vereinbaren.
Erstens ist die Deklaration ein Gemeinschaftswerk. Ich war an der Redaktion beteiligt und habe den einen oder anderen Absatz selbst geschrieben. Aber ich streite nicht ab, dass der Grundtext von Vertretern des nationalistischen Flügels stammt.
Allerdings ist es eine Deklaration, es sind nicht die Zehn Gebote, die in Stein gemeißelt sind. Ein Arbeitspapier. Es kann sich verändern, wenn ein Wechsel der realpolitischen Zustände es erfordert. Sie müssen zugeben, dass alle demokratischen oder rechtlichen Normen nur gelten können, wenn sich der Staat oder die Gesellschaft in einem einigermaßen ruhigen Zustand befinden. In einer schweren Krise sind sie nicht nur wirkungslos, sie können sogar zu einem beschleunigten Zerfall von Staat und Gesellschaft beitragen.
Derzeit stellt die Deklaration, schlicht gesagt, eine Sammlung unserer Wünsche dar – das, was wir im Idealfall gern sehen würden, wenn der Übergang aus der jetzigen Situation ohne herausragende Erschütterungen vonstattengeht.
Ich verstehe trotzdem nicht ganz, möchten Sie eine Wiedervereinigung mit der Ukraine und Belarus oder möchten Sie Demokratie?
Ich lese Ihnen mal den Wortlaut vor: „Wir treten ein für die Vereinigung der Russischen Föderation mit der Ukraine und Belarus sowie weiteren russischen Gebieten zu einem gesamtrussischen Staat, für die Umwandlung des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion in eine bedingungslos russische Einflusszone.“
Gut möglich, dass die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht
Nun sagen Sie mir mal, wo steht da was von Krieg? Ich kann mir vorstellen, dass sich jemand, der diesen Satz liest, Strelkow vorstellt, den Überfall auf Slawjansk, die Geschehnisse auf der Krim, die fünf Kriege, die ich auf dem Buckel habe und davon ausgeht, dass dieser Strelkow definitiv eine Art Wehrmacht errichten und in die Ukraine, Belarus oder sonst wo einfallen wird. Aber wo steht das in der Deklaration?
Gut möglich, dass unsere politischen Gegner, die unzähligen Kreml-Lakaien und Trolle das so auslegen wollen, dass es da diesen dummen Militärmenschen gibt, ein Fascho, der davon träumt, den Ruhm eines Napoleon zu erlangen. Aber so ist es nicht.
Wie stellen Sie sich diese Vereinigung denn ohne Blutvergießen vor?
Ich sage es Ihnen nochmal, die Deklaration ist eine Reihe von Wünschen. Das, was wir anstreben. Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man zum Beispiel gar nicht Krieg führen. Mit besonnener Politik und unter der Voraussetzung, dass man Belarus nicht als ein mögliches Objekt der Plünderung betrachtet, wäre eine Vereinigung denke ich gut möglich, und zwar ohne jeden Krieg und ohne Blutvergießen.
Für eine Vereinigung von Russland und Belarus muss man keinen Krieg führen. Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage
Was die Ukraine betrifft, so ist das natürlich eine andere Frage. Der Krieg ist schon im Gange, da können wir nicht mehr raus. Jetzt müssen wir diesen Krieg gewinnen, denn im Fall einer Niederlage verlieren wir nicht nur in der Ukraine, sondern überall. Da bleibe ich bei meiner Meinung.
Das Dilemma wurde alternativlos mit der Angliederung der Krim. Dieser Schritt war richtig, aber ich möchte hier nicht seine Richtigkeit, sondern seine Bedeutung betonen. Seitdem gibt es keine anderen Möglichkeiten der Befriedung mehr: Entweder muss man die Junta zerschlagen oder vor ihr kapitulieren.
Und dennoch, wenn wir Ihrem Szenario folgen, dann kann doch von einer weiteren Annäherung an die „Erste Welt“, von der Sie in der Deklaration sprechen, gar keine Rede sein. Es werden nur weitere Sanktionen folgen.
Ich war nie Jurist, meine Grundausbildung sind die fünfmonatigen Seminare an der Akademie des russischen FSB, wo ich im Kampf gegen den Untergrund und in der Organisation der Arbeit mit dem Untergrund ausgebildet wurde.
Trotzdem, wenn es um so ernsthafte Dinge wie eine Deklaration geht, muss man sie wörtlich lesen und nichts erfinden. Wir sind dafür, Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus der sogenannten Ersten Welt für Russland zu gewinnen. Da steht nichts davon, dass wir eine Freundschaft mit der gesamten Ersten Welt auf allen Ebenen und zu ihren Bedingungen wollen.
Nein, wir sind für die Errichtung eines souveränen, freien und – so komisch das aus meinem Mund auch klingen mag – eines Rechtsstaates in Russland. Wenn das erreicht ist, kommen wir ganz von selbst auf ein Level mit den Ländern der Ersten Welt.
In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – ‚klauen, verkaufen, ins Ausland bringen‘
Außerdem sind wir jetzt in wirtschaftlicher Hinsicht wunderbar in das System der Ersten Welt eingebunden. Nämlich auf der Ebene vom Rohstoffanhängsel, der Pipeline, durch die man alle unsere Ressourcen aus uns rauspumpt. Und im Gegenzug bekommen wir finanzielle Mittel, die dann ebenfalls außer Landes geschafft werden. In dieser Hinsicht bin ich einer Meinung mit Nawalny: Das ganze System wird durch Korruption angetrieben – „klauen, verkaufen, ins Ausland bringen“.
Sie haben von einem möglichen Machtwechsel in Russland gesprochen. Wollen Sie um die Macht kämpfen? Haben Sie vor, für die Duma zu kandidieren?
Nein. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Sie interessiert mich nicht. Ich weiß nur zu gut, was Politik bedeutet. Als ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter weiß ich das ganz genau: Es ist eine schmutzige Sache, bei der jeder lügt. Lügen ist mir ein Gräuel.
Warum haben Sie sich dann auf die Politik eingelassen?
Aus demselben Grund, warum ich auf die Krim gefahren bin und später nach Slawjansk. Ich habe schon lange keinen Gefallen mehr am Krieg. Wie schon Napoleon sagte: Für den Krieg braucht man ein bestimmtes Alter. Ein Mann über vierzig, erst recht wenn er den Krieg kennt, will nicht mehr kämpfen. Er hat viel gesehen und weiß genau, dass es daran nichts Romantisches gibt. Das Erlebte lastet auf einem, und das Risiko reizt einen auch nicht mehr – im Krieg jedoch ist das Risiko unvermeidbar.
Aber ich habe meine Pflicht erfüllt. Für die Krim habe ich nichts bekommen, noch nicht einmal ein Dankeschön. Dasselbe habe ich in Slawjansk getan. Wenn man mich nicht buchstäblich dazu gezwungen hätte, die Maske abzunehmen (wie und warum ist eine andere Geschichte), würdet ihr immer noch glauben, dass der Oberst Strelkow ein cooler Hauptmann des GRU mit superbreiten Schultern ist, der mit links Flugzeuge von Himmel holt und mit einem Schuss ganze Panzerkolonnen abfackelt.
Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten
Mich reizt die Macht nicht, erst recht nicht in Zeiten des Friedens. In Kriegszeiten kann ich sie ergreifen – das ist überhaupt kein Problem. Ich habe kein Interesse an diesen ganzen Spielchen mit Wahlen, Umfragewerten und der Notwendigkeit, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen und dafür zu lügen.
Aber gerade sehe ich eine Krisensituation im Land und kann mich da nicht raushalten. Weil es das Schicksal nun mal so wollte, dass ich eine gewisse Popularität, eine gewisse Bekanntheit erlangt habe, habe ich kein Recht, sie nicht zu nutzen, quasi mein Pfund zu vergraben wie in dem berühmten Gleichnis.
Sie wollen also friedlich um die Macht kämpfen?
Wir werden nicht auf friedliche Weise um die Macht kämpfen, im Augenblick werden wir überhaupt nicht um die Macht kämpfen.
Und was haben Sie dann vor?
Wir haben schon lange gesagt, dass das jetzige Regime todgeweiht ist, es verschlingt sich selbst. Vor unseren Augen passiert die Selbstzerstörung eines Regimes, das sich nicht verändern will. Es zerfällt auf der Ebene der Wirtschaft, der Politik, sogar auf der Ebene der Machtvertikale, weil diese zersplittert.
Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe
Unsere Aufgabe ist es nicht, dieses Regime zu stürzen. Allein deswegen nicht, weil man am Beispiel der Ukraine sieht, wozu so ein Umsturz führt. Unsere Aufgabe ist es, in dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, die nötige Kraft aufzubringen, um das Land zu erhalten.
Uns geht es nicht um Widerstand gegen das jetzige Regime, sondern um die Rettung des Landes vor einer Katastrophe und die Errichtung einer neuen politischen Zukunft.
Also darum, in der Krisensituation die Macht zu übernehmen?
Ja, in gewisser Weise schon. Eine andere Möglichkeit an die Macht zu kommen, gibt es derzeit einfach nicht. Jeder Mensch, der in unserem Land lebt und kein pathologischer Heuchler oder Pateimitglied von Einiges Russland ist, begreift, dass die Wahlen einfach nur Fiktion und Betrug sind, und das seit Anfang der 90er.
Sie wissen doch, dass man in unserem Land Nationalisten für gewöhnlich einfach wegsperrt. Haben Sie keine Angst, dass Sie und Ihre Mitstreiter sich plötzlich im Gefängnis wiederfinden?
Habe ich nicht. Nicht weil ich glaube, dass man mich nicht einbuchten könnte, sondern weil ich einfach keine Angst davor habe, das ist alles. Wissen Sie, das ist der Unterschied zwischen mir und einem Nawalny: Nawalny war sein Leben lang Politiker, hat Geld verdient, für ihn hat der persönliche Komfort sehr großen Wert. Ich mag Komfort auch gern. Ich bin kein Eremit oder Mönch, ich trinke gern ein ordentliches Glas Bier, hab nichts gegen ein gutes Essen und reise gern. Aber ich war in meinem Leben auch in solchen Situationen, die Alexej Nawalny nicht mal vom Hörensagen kennt.
Ich kann mir vorstellen, was mit mir passieren könnte, wenn ich ins Gefängnis oder in U-Haft komme. Glauben Sie mir, ich kenne schlimmere Situationen. Vielleicht wirkte es nach außen anders, aber als ich in Slawjansk war, wurde mir klar: Das Hauptquartier ist mein Leben. Wobei die Chancen zu überleben wesentlich schlechter stehen, als die Chancen zu siegen. Ich bin kein derart zurückgebliebener Abenteurer, um unerschütterlich an den Sieg zu glauben. Mir war klar, dass die Chancen nicht sehr hoch sind und dass wir im Großen und Ganzen ins Ungewisse steuern, dass man uns vielleicht helfen würde, vielleicht aber auch nicht. Im Endeffekt hat man uns halb geholfen.
Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante
Mir war auch klar, dass die Chancen da lebend rauszukommen für mich persönlich etwa eins zu zehn standen. Ich bin nicht wegen des Ruhms dahin gegangen. Mir ist die Öffentlichkeit bis heute unangenehm, ich mag es nicht, wenn man mich auf der Straße wiedererkennt und ein Autogramm von mir will…
Geben Sie dann ein Autogramm?
Inzwischen hat man mich ein bisschen vergessen, und ich kann endlich wieder mit der Metro fahren. Manch einer schaut mich jetzt genauer an und versucht das Gesicht zuzuordnen, aber von den Fernsehbildschirmen bin ich verschwunden. An den Namen Strelkow erinnert man sich vielleicht noch, aber nicht mehr an das Aussehen.
Aber, um wieder zu ihrer Frage zurückzukommen: Ich habe keine Angst, dass man mich einbuchtet. Außerdem denke ich nicht, dass man mich einbuchten würde, ich halte es für wahrscheinlicher, dass man mich einfach aus dem Weg räumt – irgendein Autounfall oder so etwas in der Art. Als Geheimdienstler halte ich das für die praktikablere Variante.
Früher haben Sie gesagt, dass Sie Wladimir Putin unterstützen. Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm geändert?
Sehen Sie den Schrank da in der Ecke? Hinter dem steht ein Porträt von Wladimir Putin, verstaubt. Früher hing es mal an der Wand. Es hing da bis zum Beginn des Syrien-Abenteuers.
Putin verhält sich wie ein defätistischer Kapitulant
Aber es hing da nicht, weil ich ein großer Putin-Anhänger bin und ihn für den besten Anführer im Land halte, sondern weil während des Kriegs die Hoffnung bestand, dass er sich wie ein Oberbefehlshaber verhalten würde, und nicht wie ein defätistischer Kapitulant. Ich war bereit, ihn als Oberbefehlshaber anzuerkennen. Aber jetzt bewegt sich Putin eins zu eins auf dem Weg von Milošević. Wenn er diesen Weg wieder verlässt, wenn wir wieder den Putin von 2014 vor uns haben und ein paar Bedingungen erfüllt sind, dann kann es gut sein, dass ich ihn wieder unterstütze.
Welche Bedingungen?
Als Putin 2014 den innen- und außenpolitischen Kurs scharf gewechselt hat, hätte er gleichzeitig die Kader austauschen müssen. Jegor Proswirnin kritisiert mich furchtbar dafür, aber das ist ein Zitat von Stalin, das einfach jedem im Gedächtnis ist: „Die Kader entscheiden alles!“ Wenn man die wichtigste und nützlichste Sache einem Halunken und Gauner anvertraut, wird er sicher etwas klauen, verschusseln, verkaufen.
Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus seinem Umfeld zusammengestellt, aus Judo- und Hinterhof-Kumpels. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.
Putins Truppe ist immer die gleiche. Ein Teil wurde aus Jelzin-Zeiten übernommen, den anderen hat er selbst aus Judo- und Hinterhof-Kumpels zusammengestellt. Diese Truppe kann nur klauen, sonst nichts.
Ich war fest davon überzeugt, dass ein Prozess der Kadererneuerung einsetzen würde, dass er mit Blick auf die neuen Aufgaben eine handlungsfähige Truppe zusammenstellen würde. Denn es ist doch unmöglich dem Westen auch nur im Politischen Paroli zu bieten, wenn die Kinder des Außenministers in Großbritannien studieren, wenn die eigenen Kinder in den Niederlanden leben, wenn Exfrau und Kinder vom Hauptzuständigen für die Ukraine in London leben. Man kann den Feind nicht bekämpfen, wenn man unter den ausführenden Kräften potentielle Spione hat. Wobei ich glaube, dass ein paar davon nicht nur potentiell sind.
Aber das ist nicht geschehen. Später, als wir in die Konfrontation mit dem Westen getreten sind, hätten wir ein Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft schaffen müssen. Wenn man außenpolitische Souveränität will, braucht man wirtschaftliche Souveränität. Eine Pipeline kann nicht unabhängig sein. Man hätte entweder eine Umgestaltung der Wirtschaft beginnen müssen oder zu einer Politik zurückkehren müssen, die mit der Wirtschaft übereinstimmt.
Denn bei uns laufen ja Politik und Wirtschaft in verschiedene Richtungen, deswegen laufen wir im Endeffekt nirgendwo hin, sondern treten auf der Stelle und verlieren auf beiden Linien.
Aber man spricht doch von Importsubstitution?
Die können sagen, was sie wollen. Aber dass beispielsweise Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline.
Ich habe letztens eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten und eine Pipeline an die Tafel gemalt, über die Erdöl von Russland in den Westen fließt. Dort wird es dann verkauft und ein Teil des Geldes fließt wieder zurück – um dann sofort wieder in den Westen zurückzugelangen. Aber die Pipeline verfügt über eine gewisse Durchlässigkeit. Sagen wir, es werden 100 % Ressourcen gewonnen, aber nicht alles davon erreicht den Westen, denn eine Pipeline trägt eine gewisse Bürde. Das sind Atomwaffen, Armee, Flotte, Wissenschaft, Kultur, Sozialleistungen, Rentner und der Staatsapparat. Diese Bürde verschlingt etwa 50 % von dem, was in den Westen gelangen könnte.
Dass Kudrin zur Ausarbeitung einer Wirtschaftspolitik zurückgeholt wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass sie nicht vorhaben, etwas zu verändern. Kudrin ist die Ökonomie der Pipeline
Deswegen hat der Westen ein Interesse daran, dass sich diese Bürde verringert, und auch Kudrin ist dafür, diese Bürde zu beseitigen. Nur sind das Sie und ich, das ist unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit, unsere Armee, das gehört uns. Derjenige, der seine eigene Armee nicht ernähren will, ernährt die fremde.
Haben Sie mal in Betracht gezogen, der Gesamtrussischen Nationalen Front beizutreten, um Putin bei der Durchführung von Reformen zu unterstützen?
Wenn Sie in einen Misthaufen kriechen, dann ist Ihnen doch klar, dass Sie sich schmutzig machen werden, oder? Das geht gar nicht anders. Mich widert das an, ich sehe diese ganzen Leute und mir ist klar, dass man ihnen jede beliebige Angelegenheit aufdrücken könnte. Gestern waren sie noch Kommunisten, bis 1991, dann wurden sie alle Liberale und Demokraten, später treue Staatsanhänger und Patrioten.
Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die
Aber ich bin kein Fähnchen im Wind und möchte mit solchen Leuten auch nicht in einem Boot sitzen. Sie können nichts außer klauen und sich den Machthabern anpassen. Wenn morgen bei uns Hitler an die Macht käme, wären sie sofort alle in der NSDAP, wenn morgen die Amerikaner bei uns landen würden, würden sie die mit Freudentränen empfangen. Wenn morgen Poroschenko auf einem Panzer einrollen würde, dann hätten sie alle einen ukrainischen Großvater oder die Großmutter wäre Jüdin. Aber ich bin nicht so wie die.
Ich versuche mit aller Kraft [meine Ansichten] zu vermitteln. Ich habe eine Vorlesung an der RANCHiGS gehalten, danach hat man mich überall verboten. Sogar in der Provinz. Überall gehen Anrufe meiner ehemaligen Kollegen ein und es heißt „geht nicht“. Dafür reicht die mit Feigheit und Loyalität durchtränkte Machtvertikale noch. Eine mächtige Blockade wurde um mich errichtet, selbst Erwähnungen sind verboten.
Sogar als Herr Posner über die „Deklaration der Faschisten“ sprach, hat er nur Proswirin und Krylow erwähnt, aber nicht Strelkow. Man solle den berümten Mann vergessen, danach kann man dann irgendwas mit ihm anstellen. Nur fehlt ihnen die Zeit dafür, sie haben Zeitnot [orig. Dt.– dek]. Sie bräuchten etwa fünf Jahre.
Und die haben sie nicht?
Nein. Sie haben maximal zwei. Sie betreiben gerade eine Politik à la Trischkas Kaftan: Ist ein Teil löchrig geworden, schneiden sie woanders etwas weg und flicken es damit. Aber der Rock wird immer knapper, überall nur Löcher. Zwei Kriege, in denen wir zur Hälfte drin, zur Hälfte draußen sind.
Den einen hätten wir im Handumdrehen gewinnen können, haben aber Schiss bekommen. In den zweiten sind wir eingestiegen und haben bald kapiert, dass wir den nicht gewinnen können, aber ein Bein hängt immer noch in der Falle. Unser Kontingent wächst beständig, die gesamte syrische Armee von Assad wird von uns versorgt. Es gibt keine strukturellen Reformen oder wenigstens die Einsicht, dass sie vonnöten wären. Nun hat man Kudrin aus dem Ärmel gezogen – vielleicht kann der ja Wunder bewirken? Aber das ist unmöglich.
Lassen Sie uns nochmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückkehren. Angenommen, Sie schaffen es, die Macht zu übernehmen, wenn das Land zu bröckeln beginnt. Was machen Sie dann mit ihren politischen Gegnern? Beispielsweise mit den Liberalen?
Sie hätten wohl gern, dass ich Ihnen Balsam auf die Seele gieße? Sie werden natürlich alle an der Kremlmauer hängen – die Kommunisten, die Liberalen, die Jedinaja-Rossija-Parteigänger. Kleiner Scherz. Ich muss Sie enttäuschen. Das wird es aus einem einfachen Grund nicht geben: Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe.
Ich bin nicht Nationalist, weil ich alle anderen Nationen vernichten möchte, sondern weil ich Mitleid mit unserer, mit der russischen Nation habe
Ich habe zu allen Nationen ein gutes Verhältnis, nur liebe ich die eigene am meisten. Wir müssen die Chance auf eine Zukunft haben, nicht zu humanistischen Gleichmachern werden – ich bin grundsätzlich gegen Gleichmacherei. Ich denke, dass es ohne Unterschiede keine Entwicklung geben kann. Ich bin für die Entwicklung jeder einzelnen nationalen Kultur, aber dabei für die Einheit von Russland. Ich möchte darauf hinaus, dass das russische Volk sehr geschwächt ist, und jeder Mensch ist wertvoll.
Natürlich ist beispielsweise Anatoli Borissowitsch Tschubais für mich nicht wertvoll, und andere Menschen von seiner Art sind für mich auch nicht wertvoll. Aber gegenüber den gewöhnlichen liberalen Weißbändchenträgern habe ich keine feindlichen Gefühle. Ich denke, wenn wir es schaffen, einen normalen Staat zu errichten, werden sie ihren Platz darin finden. Dann mögen sie in Gottes Namen glücklich und reich werden und viele Kinder kriegen.
Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über den Donbass sprechen. Vor dem Hintergrund der letzten Erklärung von Lawrow zum Verbleiben des Donbass in der Ukraine und unserer Nichtanerkennung des Donbass – bereuen Sie überhaupt nicht, was Sie getan haben?
Nein, das tue ich nicht. Erstens ist es dumm, etwas zu bereuen, was schon getan ist. Man kann begangene Sünden bereuen als Christ, aber etwas zu bereuen, das ich aus Aufrichtigkeit getan habe, ist sinnlos.
Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun
Ich bin nicht für Geld, Reichtum oder Ruhm dahin gegangen. Ich bin dahin gegangen, um der ansässigen russischen Bevölkerung zu helfen und habe das nach meinen Kräften und Möglichkeiten getan. Vielleicht habe ich nicht genug geholfen, vielleicht hätte ich mehr tun können. Aber im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt, dass der Krieg, den das Volk von Donbass-Noworossija führt, richtig ist. Wenn ich ihn zu Ende führen könnte, würde ich es gern tun.
Ich bin davon überzeugt, dass Kiew eine russische Stadt ist, und dass Russland ohne Kiew nicht Russland ist, sondern die Russische Föderation. Und die Russische Föderation ist nicht Russland, leider.
Am 18. September 2016 sind Duma-Wahlen: sowohl für die Opposition als auch für die Regierungspartei Einiges Russland eine wichtige Wegmarke im aktuellen politischen Geschehen.
Während die untereinander recht zerstrittene liberale Opposition eine Chance aufgreifen möchte, im Parlament vertreten zu sein, geht es für die Regierung darum, ihren Stand zu wahren. Zwar hat sie spätestens seit der Eingliederung der Krim einen sicheren Rückhalt in der Bevölkerung. Dennoch ist ihre Legitimität nach den umfassenden Wahlfälschungen 2011 und den massenhaften Protesten 2011/12 zumindest angekratzt. Dazu kommt die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die sich mittlerweile auch auf die Sozialleistungen und die Renten auswirkt.
Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung am Zentrum für Politische Technologien, analysiert auf Slon.ru das politische Programm der Regierungspartei – und sieht vor allem einen großen Fehler.
Bald sind Wahlen. Doch die Regierung lässt sich sichtlich Zeit damit, nach der Krim ein neues Programm auszuarbeiten – ein Programm mit einem zukunftsweisenden politischen Vorschlag.
Der Kreml ist mit Außenpolitik beschäftigt, die Wirtschaft überlässt man Theoretikern, die offenbar unfähig sind, sich zu einigen, und in der Innenpolitik herrscht ein Kampf unter Gleichen: um die Rangordnung, nicht um Ideen.
Die Wahlen scheinen zum planmäßigen Routineakt zu werden, und wer immer auch gewinnt, es wird jemand aus dem Putin-Lager sein. Sich in dieser Situation etwas Neues auszudenken, grandiose Pläne und Projekte zu ersinnen, dazu fehlt es an Geld genauso wie an Lust. Es ist nicht nur eine programmatische Krise, es ist ein programmatisches Vakuum.
Man kann natürlich sagen, formal führe die Regierung ihr traditionelles Programm fort: Patriotismus, Souveränität, Erfüllung sozialer Verpflichtungen, Mai-Dekrete (an die man sich plötzlich erinnert), behutsamer Kampf gegen Korruption und sogar eine Entwicklungsstrategie für die nächsten 20 Jahre. Das ist es, was die politische Elite schon die ganzen vergangenen vier Jahre bei Wahlen vorgeschlagen hat. Packen wir noch – beide recht frisch – Krim naschund die Importsubstitutionen dazu. Dem Volk gefällt’s. Und formal ist das natürlich ein Programm. Aber faktisch nicht.
Die Ideologie der „belagerten Festung“, Isolationstendenzen, Abstriche in der Ukraine, die schwache Verhandlungsposition gegenüber dem Westen bei zunehmender hurra-patriotischer Rhetorik – all das ist eine Art Anpassung der Elite an die neue Wirklichkeit, in der für das einfache Volk praktisch kein Platz bleibt.
Buchstäblich das gesamte Programm von heute betrifft den staatlichen, nicht den privaten Bereich. Was hat die Regierung bei den Wahlen heute der Großmutter und dem Großvater, dem Arbeiter und Bauern, dem Angestellten und Unternehmer de-facto denn anzubieten?
Das aktuelle politische Programm, mit dem die Staatsmacht zur Wahl antritt, ist diktiert von den Umständen und der objektiven Realität, in der zu leben die Regierungselite gezwungen ist. Die Schlüsselpunkte dieses Programms bedeuten, dass der Vertrag zwischen Gesellschaft und Staatsmacht neu geschrieben werden muss.
Soziale Askese
Punkt eins dieses Vertrags ist die soziale Askese. „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, so lautet eine absolut nicht zufällige rhetorische Entgleisung Dimitri Medwedews, die umgehend Wladimir Putins Unterstützung fand. Die Rentenerhöhung erfolgt nach dem Prinzip „was übrig bleibt“, die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst kommt irgendwann später.
Am Essen zu sparen ist gesund, echt russisch und richtig patriotisch. Der TV-Sender Erster Kanal berichtet dann, wie die westliche Konsumgesellschaft mit ihrer zu 70 % übergewichtigen Bevölkerung vor sich hin fault. „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn, wirst bald deinen letzten Seufzer tun“ – das ist im heutigen Russland durchaus aktuell.
Geld haben wir keins, und das wird sich auch nicht ändern: Diese Botschaft sendet die Regierung dem Volk, ohne sich dafür zu genieren oder sie wenigstens schön zu verpacken. Und noch ist das Volk bereit mitzumachen.
„Putinisierung” der Elite
Punkt zwei ist die Putinisierung der Elite. Bis 2014 sah die Machtkonstruktion des Regimes so aus: Auf der einen Seite stand Putin als alleiniger Herrscher, der das gesamte System legitimierte, auf der anderen Seite das Volk, das damit einverstanden war. Nach 2014, als gegen Russland Sanktionen verhängt wurden, wandelte sich „Putin“ von einem Personen- zu einem System-Phänomen. Zum nationalen Leader gesellt sich die „politisch verantwortliche Elite“, Putins Patrioten.
Immer bemüht, seine Mitstreiter vor Sanktionen zu bewahren, muss Putin seine Legitimität nun mit einer beachtlichen Anzahl von Personen in seinem Umfeld teilen: mit den Rotenbergs, den Kowaltschuks, mit Timtschenko und Roldugin. Gern und freimütig teilt Putin seine Legitimität mit Leuten, die sehr bald zu renommierten Plünderern der Erfolge seiner Ära werden könnten.
Für den einfachen Menschen hat diese einseitige Abänderung des Gesellschaftsvertrags auch eine ganz praktische Bedeutung. Die zeigt sich etwa am Phänomen des Systems Platon, das öffentlich und unmissverständlich vom Präsidenten unterstützt wird.
Der Krieg
Punkt drei ist der Krieg: Ein nicht erklärter hybrider Krieg gegen Russland, angezettelt von den Ländern des Westens beziehungsweise von den USA und ihren willenlosen Bündnispartnern. Man könnte meinen, genau hier gehe es um staatliche Interessen. Aber nein, hier doch gerade nicht. Der Staat stellt sich da ganz fest hinter die Interessen des Durchschnittsrussen, um ihn vor dem zersetzenden Einfluss des Westens zu beschützen.
Beschränkungen bei Auslandsreisen, Rechenschaft über ausländische Konten bei der Steuerbehörde, verschärftes Strafmaß bei Teilnahme an Protestaktionen, strafrechtliche Verfahren wegen Weiterverbreitung von Beiträgen in sozialen Netzwerken, Kündigung von Arbeitsplätzen aufgrund politischer Meinungen, das Sperren von Websites der Nicht-System-Opposition, eine kritische Einschränkung von Qualitätsjournalismus zu Politik und Wirtschaft: Der Krieg aus dem Fernsehen greift langsam aber sicher auf das Privatleben zwar nicht aller, aber vieler über.
Natürlich will heute keine Mehrheit gegen Putin protestieren. Auch vor fünf Jahren wollte sie das nicht – hätte aber protestieren können. Ja, heute verachtet die Mehrheit die Liberalen – aber vor fünf Jahren konnte man noch wählen zwischen hurra-patriotischen Medien und einer [unabhängigen – dek] Qualitätspresse. Wenn man sich heute in seiner Auswahl einschränkt, dann nicht mehr freiwillig, sondern gezwungenermaßen.
Perfektionierung des Systems
Der vierte Punkt ist, dass man das bestehende System perfektioniert, anstatt es zu verändern. Gleich wird’s mit der Wirtschaft bergauf gehen, das Schlimmste liegt hinter uns (und überhaupt war das nicht unsere Schuld), die Inflation sinkt. In der Politik läuft der demokratische Wettbewerb auf vollen Touren: zwischen der Gesamtrussischen Nationalen Front (ONF) und Einiges Russland (ER), innerhalb der Partei ER selbst, zwischen ONF und unabhängigen Kandidaten für Putin, zwischen unabhängigen Kandidaten für Putin und ER. Beinahe ein perfektes politisches System, beinahe eine effiziente Wirtschaft. „Bei uns ist alles gut“, das sagt Putin dem Volk seit drei Jahren.
So mancher könnte glauben, auf dem Programm stünden Reformen, doch das ist ein Irrtum: die Einbeziehung Kudrins in den Wirtschaftsrat ist nicht mehr als eine Suche nach politisch schönen Ideen. Sie zeugt aber nicht von irgendeinem Willen zur Veränderung.
Objektiv gibt es kein einziges Signal, nicht den winzigsten Hinweis darauf, dass Putin zu einer tatsächlichen Transformation des Systems bereit wäre: zu Justizreformen, dem Schutz der Eigentumsrechte, zur Entwicklung von wirtschaftlichem Wettbewerb, zur Auflösung der Monopole und realer Privatisierung (statt Minderheitsanteile an Freunde und Bündnispartner zu verkaufen).
Nicht nur, dass der konservative Trend dem reformativen nicht weicht, er gewinnt vielmehr noch an Stärke dazu. Seine relative Vervollkommnung lässt sich für den gewöhnlichen Russen leicht in eine bodenständigere und einfachere Form bringen. Das bedeutet dann ungefähr Folgendes: Radikale Veränderungen wird es in eurem Leben keine geben, auf den Staat könnt ihr nicht zählen. Sogar die Renten sollte man besser selber ansparen – es geht also um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Szenarien von Gegenreformen des Rentensystems.
Dummköpfe und Straßen
Schließlich Punkt fünf – der einfachste und vertrauteste: Er betrifft Dummköpfe und Straßen. Die Dummköpfe – das sind Sündenböcke, die strafrechtlich und öffentlich zur Verantwortung gezogen werden. Sie helfen dem Regime dabei, Ballast abzuwerfen: verfolgte Gouverneure, verhaftete Bürgermeister, mit Geldstrafen belegte Unternehmer, die Gehälter nicht auszahlen. Hinzu kommt als Drauf- und Dreingabe auf jeden Fall die Festnahme von Ganoven, wie die des Sohns vom Lukoil-Vizepräsidenten.
Diese lokal begrenzten Einzelfälle werden künstlich hochstilisiert und dem Regime zu Gute gehalten. Doch so ist es nicht: Das Regime ist nicht nur nicht bereit, Korruption systematisch zu bekämpfen. Es hält das sogar für gefährlich.
Abschließend die Straßen. Doch in Kombination mit den Dummköpfen will einfach kein schönes Bild entstehen: Nicht nur die Demokratie westlicher Ausprägung kann sich in Russland nicht festsetzen, auch dem Asphalt gelingt das nicht. Das hindert aber niemanden daran, die Straßensanierung zur nationalen Idee 2016 zu erklären, auch wenn die Dimensionen kleiner werden (2007 gab es die „Nationalen Projekte“, 2012 die Mai-Dekrete).
Und wenn es keine Proteste gegen Platon gegeben hätte, wäre man nicht einmal bis zu den Straßen gekommen: Erst die Reaktionen darauf erzeugten den Wirbel um die Straßen, der dann die Regionen erfasst hat. Nach dem Direkten Draht mit Putin, bei dem die Straßensanierung endgültig zur Idée fixe wurde, wurde demonstrativer Feuereifer auf diesem Gebiet zur Grundvoraussetzung für das politische Überleben regionaler und lokaler Obrigkeiten. Straßen wird es vielleicht nie geben, Baustellen dafür überall.
Das Besondere an den Wahlen 2016 wird sein, dass die Staatsmacht mit einem Programm zum Schutz staatlicher Interessen antreten wird, wodurch die Interessen der Bürger praktisch vollständig verdrängt werden. Die Wähler sind weg und ihre Probleme ebenso – sogar sich zu beklagen wird gefährlich. Ein echtes Programm wurde durch ein notdürftiges Lunchpaket ersetzt, das nur minimale politische Notwendigkeiten erfüllt.
Versprechen wird man aber wie immer viel, großzügig und vor allem abstrakt. 2016 wird das Jahr, in dem sich der Unterschied zwischen dem Fernsehrussland und dem echten Russland deutlich herausbilden wird; zwischen einem angekündigten Programm und einem, das objektiv zustande kommt. So beginnt der moralische Verschleiß des Regimes.
In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.
Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.
In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?
Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.
In breiter Front
Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.
Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.
„Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.
Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“
Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können
Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.
„Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.
Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.
Der Goldenen Morgenröte entgegen
Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.
Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.
Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.
„Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.
Alle Schuld den Amerikanern
Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.
Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.
Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.
Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.
2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.
Syriza hin …
Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.
Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.
Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat
Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.
Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.
Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen
Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.
Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.
… Syriza her
Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.
„Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“
Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.
Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage
Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.
Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht
Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“
Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.
Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.
Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.
In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.
Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.
Lange war darauf hingearbeitet worden: Am Mittwoch dieser Woche, dem 25. Mai, durfte die ukrainische Militärpilotin Nadija Sawtschenko in die Ukraine ausreisen.
Sie war zwei Jahre in Russland festgehalten und im März zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nun wurde sie gegen die russischen Staatsbürger Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew ausgetauscht. Die beiden waren 2015 im Donbass aufgegriffen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, als Angehörige des russischen Militärgeheimdienst gegen die Ukrainische Armee gekämpft zu haben, was Moskau allerdings bestritt. Ein Kiewer Gericht hatte sie noch im April zu je 14 Jahren Haft verurteilt.
Sawtschenko war während ihrer Gefangenschaft zur Ikone in ihrer Heimat aufgestiegen: In Abwesenheit wurde ihr etwa die Auszeichnung „Heldin der Ukraine“ verliehen. Im Fall Jerofejew/Alexandrow dagegen hatte Moskau vor allem betont, dass sie als Freiwillige in der Ukraine gekämpft, ihren Dienst in Russland zuvor quittiert hätten. Offiziell sind keine russischen Einheiten vor Ort.
Entsprechend fiel der Empfang für die drei Freigelassenen in ihren Heimatländern jeweils sehr unterschiedlich aus: Sawtschenko wurde von Präsident Petro Poroschenko und weiteren hochrangigen Politikvertretern geradezu triumphal willkommen geheißen, Jerofejew und Alexandrow dagegen in Moskau lediglich von ihren Frauen begrüßt.
International fand die Freilassung große Resonanz. Hochrangige Politiker, darunter der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, äußerten die Hoffnung, dass der Gefangenenaustausch sich auch auf die weitere Lösung des Konflikts positiv auswirke.
Rossijskaja Gaseta: Auf Wunsch der Hinterbliebenen
Der Kreml betonte, dass die Freilassung vor allem den Hinterbliebenen der – laut Anklage von Sawtschenko – getöteten Medienleuten zu verdanken sei. Die Witwe und die Schwester zweier Verstorbener hätten Putin bei einem Treffen um Begnadigung Sawtschenkos gebeten und so einen Gefangenenaustausch erst ermöglicht. Die Rossijskaja Gaseta, Amtsblatt der russischen Regierung, berichtet:
[bilingbox]Wie der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow erklärte, „waren dem Treffen Schreiben der genannten Personen vom 22. und 23. März an das Staatsoberhaubt vorausgegangen, in denen sie, Marianna Dimitrijewna und Jekaterina Sergejewna, aus humanitären Erwägungen den Präsidenten darum bitten, Sawtschenko zu begnadigen.“ Das Staatsoberhaupt unterschrieb einen Ukas über die Begnadigung der ukrainischen Pilotin.~~~Как пояснил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков, „этой встрече предшествовали обращения на имя главы государства от упомянутых родственниц, которые были написаны еще 22 и 23 марта соответственно, в котором Марианна Дмитриевна и Екатерина Сергеевна исходя из соображений гуманности просят президента помиловать Савченко“. Глава государства подписал указ о помиловании украинской летчицы.[/bilingbox]
Slon.ru: Verlegenes Schweigen
Nun sind auch die beiden Gefangenen Jerofejew und Alexandrow wieder in ihrer Heimat – Russland wisse jedoch einfach nicht, wie es mit ihnen umgehen soll, kommentiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Portal Slon.ru:
[bilingbox]Jewgeni Jerofejew und Alexander Alexandrow sind für Russland nicht einfach nur keine Helden, sondern es ist völlig unklar, wer sie überhaupt sind – im besten Fall Opfer des ukrainischen, repressiven Systems . […]
Das verlegene Schweigen, mit dem Russland Nadeshda Sawtschenko zum Flugzeug begleitet und mit dem es zwei der eigenen Staatsbürger mit unklarem Status empfängt – das ist vielleicht die wichtigste psychologische Folge des Donbass-Krieges für Russland. Der hat Russland gelehrt, verlegen zu schweigen. Und begleitet von diesem Schweigen müssen wir nun immer weiterleben.~~~Евгений Ерофеев и Александр Александров для России не просто не герои, а вообще непонятно кто, в лучшем случае жертвы украинской репрессивной системы. […]
Неловкое молчание, которым Россия провожает Надежду Савченко и встречает двух своих граждан с непонятным статусом, – это, может быть, главное психологическое последствие донецкой войны для России. Она приучила Россию неловко молчать, и под аккомпанемент этого молчания нам еще жить и жить.[/bilingbox]
Spektr: Nadeshda, halte durch!
Auch der Journalist und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko vergleicht die unterschiedliche Art und Weise, mit der Sawtschenko, Jerofejew und Alexandrow in ihren Heimatländern jeweils empfangen werden. Auf dem russischen Exil-Medienprojekt Spektr, das unter dem Dach einer lettischen Medien-NGO firmiert, warnt er Sawtschenko:
[bilingbox]Meiner Meinung nach beginnt für die ukrainische Gesellschaft im Fall Sawtschenko jetzt tatsächlich eine der schwierigsten Zeiten: die Entheiligung. Denn ein lebender Mensch wird niemals dem von der Gesellschaft für ihn erdachten Bild entsprechen – und das ist für viele schmerzhaft und schwer. Für manche mag es gar wie Verrat wirken. Und nach Sawtschenkos Temperament zu urteilen – geradeheraus, harsch und nicht gewohnt, sich in Worten und Taten zurückzunehmen – wird sie diesen Vorgang nur beschleunigen.
Also, Nadeshda, halte durch: Jetzt werden sie dich so richtig in die Mangel nehmen, wie noch nicht mal vorm Kadi in Donezk.~~~На мой взгляд, для украинского общества в вопросе Савченко теперь вообще начинается один из самых трудных периодов — деканонизация. Потому что живой человек никогда не будет соответствовать придуманному ему обществом образу, а это для многих очень болезненно и тяжело. А кем-то воспринимается даже как предательство. И, судя по характеру Надежды — прямому, резкому, не привыкшему сдерживать себя ни в словах, ни в поступках — она этот процесс только ускорит.
Так что, Надежда, держись: как теперь тебя начнут «полоскать» — не полоскали даже на судилище в Донецке.[/bilingbox]
TASS: Guter Anfang
International wurde der Gefangenenaustausch immer wieder mit der Hoffnung auf weitere Fortschritte im Rahmen der Minsker Vereinbarungen verbunden. Ähnlich äußerte sich auch Pawel Krascheninnikow, Chef des Duma-Ausschusses für Gesetzgebung, den die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert:
[bilingbox]„Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. […] Sowohl im Fall Sawtschenko als auch bei unseren Jungs wurden alle Verfahrensweisen eingehalten. Alles wurde im Einklang mit der Russischen Verfassung und den Rechtsnormen durchgeführt“, erklärte Krascheninnikow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS.
Ihm zufolge sei das ein Ausdruck für die immer noch bestehende Möglichkeit eines Dialogs zwischen Russland und der Ukraine auf völkerrechtlichem Gebiet. „Es ist durchaus erfreulich, dass es auf juristischer Ebene Kontakt zwischen den Ländern gibt“, fügte Krascheninnikow hinzu.~~~„Мы своих не бросаем. […] А в случае и с Савченко, и с нашими ребятами все процедуры были соблюдены. Все было проведено в соответствии с Конституцией РФ и правовыми нормами“, – заявил Крашенинников ТАСС.
По его словам, это говорит о сохраняющейся возможности диалога между Россией и Украиной в международно-правовой сфере. „Не так плохо, что есть контакт в правовой области“, – добавил Крашенинников.[/bilingbox]
Vedomosti: Kein großer Schritt vorwärts
Die Autoren der regierungsunabhängigen Tageszeitung Vedomosti dagegen warnen vor allzu großen Hoffnungen:
[bilingbox]Die Rückkehr von Sawtschenko sowie Jerofejew und Alexandrowitsch zeigt wohl eher, dass Fortschritt prinzipiell möglich ist. Was die Erfüllung des Minsker Abkommens angeht, ist es ein Schritt vorwärts, aber kein großer. Zumal das Minsker Abkommen einen gleichzeitigen Austausch „aller gegen alle“ vorsieht. Andererseits ist nun auch möglich, dass sich etwas bewegt in den Fällen anderer Gefangener, die es auf beiden Seiten gibt. […] Hat der Kreml Sawtschenko ausgetauscht für eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug? Da wird sich in den nächsten Monaten nichts bewegen. Das ist erst für das Jahr 2017 realistisch, sofern es weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung gibt. Vorerst hat sich Russland vor allem damit hervorgetan, dass es Humanität gezeigt hat.~~~Возвращение Савченко и Ерофеева с Александровым скорее обозначает принципиальную возможность прогресса. Это шаг вперед в плане выполнения минских соглашений, но небольшой. Тем более что минские соглашения предусматривают обмен „всех на всех“ и одномоментно. С другой стороны, теперь возможны подвижки в делах других кандидатов на обмен, которые есть с обеих сторон. […] Обменял ли Кремль Савченко на ослабление санкций? Не в ближайшие месяцы. Реалистичный срок при условии прогресса в урегулировании – 2017 год. А пока главная награда для России – ощущение проявленного гуманизма.[/bilingbox]
Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.
Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.
Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.
Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.
Der Start
Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.
Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.
EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN
Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.
Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.
Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und NawalnysFortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezemberund die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.
Dabei sein ist alles?
Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?
Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.
Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“
DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL
Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.
Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.
Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.
Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.
Der Weg zum Scheitern
Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.
Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.
Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.
Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.
Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“
Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.
KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN
Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.
Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.
Der vergessene Wähler
Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.
Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.
Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.
WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?
Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.
Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.
Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.
Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.
Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.
Es war der Höhepunkt nach immer stärkerem Druck auf eines der wichtigsten investigativen Medien in Russland: Ende vergangener Woche, am Freitag, den 13. Mai, wurde die dreiköpfige Chefredaktion von RBC entlassen. Es habe keinen Konsens bei wichtigen Themen gegeben, hieß es in der offiziellen Begründung der Geschäftsführung.
RBC stand für investigativen Journalismus wie kaum ein anderes Medium in Russland. Neben fundierter Wirtschaftsberichterstattung war die Redaktion berühmt geworden mit Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass.
RBC hatte auch als eines der wenigen Medien in Russland mit den Recherchen der Panama Papers auf der Titelseite aufgemacht.
Seit 2009 war RBC im Besitz des Oligarchen Michail Prochorow. Büros seiner Onexim Group waren bereits im April von Steuerermittlern durchsucht worden. Außerdem hatte es in den vergangenen Wochen auch Ermittlungen und Razzien gegen einzelne Vertreter des Unternehmens gegeben. Zur Medien-Holding gehören neben der Online-Ausgabe unter anderem noch eine Zeitung sowie ein TV-Sender.
Die Auflösung der bisherigen Chefredaktion hat vor allem in der unabhängigen Presse große Bestürzung ausgelöst: Viele sehen Parallelen zu anderen, ehemals kritischen Medien, die durch Eigentümerwechsel oder politische Einflussnahme „auf Linie“ gebracht worden waren.
Snob.ru: Was wäre wenn
Auf RBC und ihren Herausgeber Michail Prochorow war schon länger Druck ausgeübt worden. Kolumnistin Xenija Sobtschak jedenfalls sagte auf Snob dem Medium schon Ende April ein düsteres Schicksal voraus, nach Durchsuchung von Prochorows Onexim Group:
[bilingbox]Wir müssen uns endlich eingestehen, dass viele von uns eine idiotische und naive Hoffnung hatten: Was, wenn es Michail Dimitrijewitsch [Prochorow] doch auf irgendeine wundersame Weise gelungen ist, Absprachen zu treffen. Was, wenn es den Machthabern doch nützt, dass es im Land zumindest ein Portal gibt, das die Wirtschaft auf diese Art beleuchtet und solche Recherchen betreibt. Was, wenn man wegschaut, sie plötzlich in Ruhe lässt? Denn innerhalb des vergangenen Jahres wurde RBC tatsächlich zum besten Nachrichtenportal im Land, und das, was sie gemacht haben, war megacool.
Aber nix von wegen „was, wenn“. So etwas gibt es nicht mehr.~~~Пора признаться себе, что у многих из нас была безумная и наивная надежда: вдруг Михаилу Дмитриевичу [Прохорову] удалось как-то особым образом договориться? Вдруг власти выгодно, чтобы в стране был хотя бы один такой портал, с таким освещением бизнеса и такими расследованиями? Вдруг пропустят, вдруг не тронут? Ведь за последний год РБК действительно стал лучшим новостным порталом в стране, и то, что они делали, было мегакруто.
Но — никаких „вдруг“. Сейчас так уже не бывает.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Die totale Kontrolle
Auch die kremlkritische Novaya Gazeta weist darauf hin, dass RBC keine Ausnahme sei und zieht Parallelen zum Sender NTW – ihn hatte 2001 ein ähnliches Schicksal ereilt. Und doch gebe es einen bedeutenden Unterschied:
[bilingbox]Im Unterschied zum Jahr 2001 halten die Machthaber die Kontrolle nur über die Fernsehsender nicht mehr für ausreichend. Auch die Presse muss vollends loyal und kontrolliert sein. Im Grunde ist das ziemlich merkwürdig – 2001 gab es intensive Machtkämpfe zwischen mehreren starken Gruppen, aber derzeit ist die Ruhe der Kreml-Bewohner doch durch nichts bedroht: Die Bevölkerung insgesamt befürwortet die Arbeit von Partei und Regierung.
Doch gleichzeitig breitet sich in den Medien das Kasernen-System immer weiter aus: Die Nachricht vom Austausch des RBC-Teams fiel zusammen mit der soundsovielten Verlautbarung des Medienministeriums, dass es bis 2020 in Russland ein eigenes, souveränes Internet geben wird, das völlig unabhängig von ausländischen Kanälen Informationen verbreitet.~~~B отличие от 2001 года, теперь власти считают контроль над телевидением мерой недостаточной. Пресса тоже должна быть полностью лояльной и подконтрольной. На самом деле это довольно странно: в 2001 году шла интенсивная борьба за власть между несколькими сильными группировками, а теперь спокойствию кремлевских обитателей вроде бы ничего не угрожает — народ в целом одобряет деятельность партии и правительства. Но при этом казарменная система в медиа распространяется все шире — новости о смене команды РБК пришли одновременно с очередными реляциями Минкомсвязи о том, что к 2020 году в России будет построен собственный, суверенный интернет, совершенно не зависящий от иностранных каналов распространения информации.[/bilingbox]
Meduza: Das zerstörte Wunder
Das Online-Portal Meduza, das im lettischen Exil sitzt, wurde 2014 von Galina Timtschenko gegründet – nachdem sie als Chefredakteurin bei Lenta.ru gekündigt und durch einen politisch loyalen Nachfolger ersetzt worden war. Viele ihrer Mitarbeiter gingen mit ihr. Die Meduza-Redaktionreagierte sogleich auf die Entlassungen bei RBC:
[bilingbox]Freitag, der 13. Mai – ein wirklich mieser Tag für uns alle, für die Journalisten und für die Leser. Ein Tag, an dem vor unseren Augen ein Wunder zerstört wurde. Es gibt keinen einzigen Grund, der das rechtfertigen könnte. Hinter dieser Entscheidung stehen keinerlei sinnvolle Erwägungen des Besitzers wie auch keinerlei „staatliche Interessen“. Einzig Empfindlichkeiten und Rachsucht – die haben irgendwie komisch geschaut, die haben sich irgendwie komisch benommen, die haben irgendwie komisch geschrieben. Man hat euch doch gesagt, ihr sollt euch nicht einmischen – doch ihr mischt euch ein.
Das, was da mit RBC geschehen ist, ist kein Kampf mit einem ideellen Gegner. Nein, das ist eine Schlägerei in einer Toreinfahrt.~~~Пятница, 13 мая — по-настоящему скверный день для всех нас, и для журналистов, и для читателей. Это день, когда на наших глазах было уничтожено чудо. Нет ни одной причины, которая могла бы это оправдать. Позади этого решения нет никаких взвешенных размышлений собственника, как нет и никаких «государственных интересов». Есть только обидчивость и мстительность — посмотрели не так, вели себя не так, написали не так. Вам же говорили не лезть, а вы лезете. То, что случилось с РБК, — это не борьба с идейным противником. Нет, это разборки в подворотне.[/bilingbox]
Lenta.ru: Das Schweigen der Oligarchen
Auf Lenta.ru weist eine freie Mitarbeiterin auf die Parallelen zwischen RBC, Lenta.ru, NTW und anderen (ehemals) kritischen Medien hin. Und thematisiert vor allem die Rolle der Oligarchen als Herausgeber:
[bilingbox][…] die Oligarchen werden gar nicht mehr gefragt, Fragen aus der Öffentlichkeit fließen an ihnen vorbei wie Bäche an Baumwurzeln. Die Besitzer werden kaum erwähnt, wenn es wieder einmal in einem journalistischen Medium, das ihnen gehört, zu einem Umsturz kommt. Und nicht nur, weil „sowieso alles klar ist“, sondern auch, weil sie – als Besitzer der Medien – die Arbeitgeber der sogenannten „sprechenden Klasse“ sind. […]
Zu den Geschehnissen befragen kann man die Machthaber, die Kollegen, den glatzköpfigen Teufel [Sprichwort – dek], nur nicht den Besitzer. Die Oligarchen sind im Grunde gegen Vorwürfe gefeit, sie können nicht einmal wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Über das Schicksal der sprechenden Klasse entscheidet die schweigsamste soziale Gruppe.~~~[…] с олигархов больше не спрашивают, общественные вопрошания обтекают их, как ручей корягу. Владельцы почти не упоминаются, когда в очередном СМИ, им принадлежащим, происходит переворот. И не только потому, что «и так все ясно», но также и потому, что они, владельцы СМИ, — работодатели так называемого «говорящего класса». […] Спрашивать о происходящем можно у власти, у коллег, у черта лысого — но никак не у владельца. Олигархи почти неприкосновенны для претензий. И практически непризываемы к ответу. Судьбы говорящего класса решает самая молчаливая социальная группа.[/bilingbox]
Rossijskaja Gaseta: Politische Einflussnahme wäre absurd
Die Rossijskaja Gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, verzichtet auf eigene Kommentare und zitiert stattdessen Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, der jede Einflussnahme von Seiten des Staates bestreitet:
[bilingbox]Wir sehen keinen Anlass für eine Beunruhigung seitens internationaler Organisationen in dieser Sache. Behauptungen, dass irgendein Druck staatlicherseits bei den Umbesetzungen im Redaktionsteam der Holding eine Rolle gespielt habe, halten wir für vollkommen grundlos.
Es ist eine private Holding, und so sollten die Entscheidungen des Eigentümers dieser Holding von ihren Vertretern erklärt werden und nicht von Vertretern des Staates. […] Wir können nur voller Gewissheit sagen, dass es absurd ist, hinter dieser Sache irgendeinen politischen Druck zu vermuten.~~~Мы не видим каких-либо оснований для того, чтобы какие-либо международные организации испытывали бы обеспокоенность в этой связи. Мы считаем абсолютно несостоятельными какие-либо утверждения о том, что какое-то давление со стороны властей имеет отношение к кадровым изменениям в редакции холдинга. Холдинг частный, и в данном случае решения владельца этого холдинга должны объясниться именно представителями этого холдинга, а не представителями власти. […] Можем только с уверенностью сказать об одном, что абсурдно увязывать это с каким-то политическим давлением.[/bilingbox]
The New Times: Schlecht, einen guten Job zu machen
Im regierungskritischen Wochenmagazin The New Timesdagegen beklagt Kolumnist Juri Saprykin den zunehmenden Druck, unter dem Journalisten in Russland arbeiten – und vor allem die unausweichlichen Folgen, die dies habe:
[bilingbox]Aber es gibt eine wichtige und unumkehrbare Veränderung: Allen innerhalb dieses Berufsstandes wird immer klarer, dass es schlecht ist, einen guten Job zu machen. Aus dem Nichts die einflussreichste Wirtschaftszeitung zu machen, die meistzitierten und -diskutierten Materialien zu bringen, den Umsatz zu steigern – sogar auf dem Höhepunkt der Krise, das alles ist zweitrangig.
Das Wichtigste ist, dass du dich nicht mit hochrangigen Leuten anlegst. Am besten spannst du dir freiwillig Absperrbänder, begehrst nicht auf und provozierst keine Widerrede, man muss sich auch gar nicht besonders um die Qualität kümmern – dann bleibst du am Leben.~~~Но есть [одно…] важное изменение, которое невозможно развернуть назад: всем внутри этой профессии все больше становится очевидно, что работать хорошо — это плохо. Что сделать из ничего самую влиятельную деловую газету, придумывать самые цитируемые и обсуждаемые материалы, зарабатывать все больше денег, даже на пике кризиса — это все вторично; а главное — ни с кем высокопоставленным не ссориться. Лучше добровольно обложить себя флажками и барьерами, не рыпаться и не нарываться, можно даже не особо заботиться о качестве — и тогда будешь жив.[/bilingbox]
Putin, so soll es Kanzlerin Angela Merkel kurz nach dem russischen Eingreifen auf der Krim gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“. Die Debatte, wie ein Dialog mit Russland zu führen ist, ob er überhaupt geführt werden kann, schwelt seitdem und spaltet zumal die deutsche Öffentlichkeit in die Lager vermeintlicher „Russland-Versteher“ und „Russland-Basher“.
Auf Slon.ru greift Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow die Dialog-Frage nun von russischer Seite auf: Russland will mit dem Westen reden, es muss mit dem Westen reden. Erste Signale würden auch schon gesendet. Doch vor allem einen wichtigen Punkt gelte es vorab zu klären.
Schon seit mehr als zwei Jahren haben Russland und der Westen Kommunikationsprobleme. Beide Seiten senden sich immerzu verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Die Empfangsgeräte laufen auf unterschiedlichen Frequenzen, die Entschlüsselungscodes sind verlorengegangen, man befindet sich in parallelen Informations-Universen.
In der Anfangsphase der Konfrontation ging es noch darum, Unterschiede in der Herangehensweise zu markieren und gegenseitige Vorwürfe zu verschärfen. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Heute dagegen zeigt sich auf beiden Seiten der Wunsch nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse der Entfremdung. Jetzt muss man herausfinden aus dem Lost in Translation, damit die Kommunikation irgendwie wieder im gleichen Signalsystem stattfinden kann.
Die Vergangenheit ruhen lassen
Moskau hat in den letzten drei Monaten seine Rhetorik ein wenig korrigiert und sendet dem Westen unzweideutige Signale: Man sei bereit, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen in Bereichen, wo die Interessen übereinstimmen – insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung und bei der Lösung des Syrienkonfliktes. Im April gab Wladimir Putin beim Direkten Draht zu verstehen, dass Russland keine weiteren außenpolitischen Abenteuer plane, und lobte Barack Obama dafür, dass dieser seine außenpolitischen Fehler in Libyen eingestehe.
Der Sekretär des SicherheitsratesNikolaj Patruschew und seine Stellvertreter geben keine Interviews mehr mit Verschwörungstheorien, dass das amerikanische Außenministerium insgeheim plane, Russland Sibirien abspenstig zu machen. Im Gegenteil: Kürzlich fand eine Konferenz des russischen Verteidigungsministeriums zu internationalen Sicherheitsfragen statt, auf der Patruschew, der Leiter des FSB Bortnikow, Verteidigungsminister Schoigu und der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Gerassimow die Zusammenarbeit Russlands mit den USA bei der Bekämpfung des IS in Syrien als ein Beispiel anführten für das mögliche und notwendige russisch-amerikanische Zusammenwirken auch in anderen Bereichen. De facto gab man so zu verstehen, dass Moskau an einer baldigen vollständigen Wiederherstellung der Zusammenarbeit mit Washington interessiert sei.
Als ersten bedeutenden Schritt hierfür sieht Moskau den Beginn der in Genf beschlossenen Kooperation: Russische und amerikanische Militärs werden bei der Überwachung der Waffenruhe und beim Trennen der kämpfenden Parteien in Syrien zusammenarbeiten. Und gerade eine solche direkte militärische Zusammenarbeit, die nach der Krim von den Amerikanern aufgekündigt worden war, hat die russische Seite nachdrücklich verfolgt. Warum, versteht sich von selbst: Sie ist ein Signal, dass Krim und Donbass der Vergangenheit angehören.
Vom Bestreben des Kreml, „den Ton in der Kommunikation mit der Außenwelt zu ändern“ zeugt auch das symbolträchtige Konzert von Gergijew und Roldugin: in den Ruinen des de facto von Russland befreiten Palmyra.
Doch sobald es um die inhaltliche Seite der Botschaft an die Welt geht, kommt es zu schweren Ausfällen in der Kommunikationsstrategie Moskaus: Der Sinn der Mitteilung erreicht seinen Adressaten nicht.
Schwammige Ziele
Moskau versucht, eine klare Formulierung seiner politischen Ziele zu vermeiden. Sicher ist nur, dass Russlands Hauptinteresse nicht in „Kriegstänzen“ in Syrien und nicht in der „Rettung von Soldat Assad“ liegt. Dies ist nur ein Werkzeug, das ausgetauscht und in etwas wirklich Wichtiges umgewandelt werden muss, etwas, wovon die Zukunft des Landes und der Machthaber abhängt.
Das soll offensichtlich eine Formel für ein neues, stabiles Sicherheitsgleichgewicht in Europa sein. Und gleichzeitig ein neues Paradigma der Beziehungen mit dem Westen, das einerseits Konfrontation und Wettrüsten ausschließt, andererseits jegliche Einflussnahme auf die russische Innenpolitik und die politische Einstellung der Bürger verhindert.
Darum ist aus dem russischen Außenministerium auch zu vernehmen, dass es in den Beziehungen mit dem Westen kein business as usual geben könne, wobei man auch angebliche Forderungen des Westens im Sinn hat, „dass wir allen etwas schulden würden, und vor allem so werden müssten wie sie“, beispielsweise in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe.
Den Westen interessiert vor allem, dass Russland bestehende Staatsgrenzen respektiert
In Wirklichkeit interessiert den Westen nur, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, das heißt vor allem, dass es bestehende Staatsgrenzen respektiert. Russland seinerseits möchte eine Form der Zusammenarbeit mit dem Westen, die keine weitere Annäherung oder gegenseitige Integration vorsieht. Genauer gesagt eine Form, die eine Integration Russlands in Europa ausschließt, aber „eine Integration des Westens in Russland“ zulässt, sprich die Übernahme des russischen Systems „traditioneller Werte“.
Wenn das ein Aufruf zu einem „neuen ideologischen Kampf“, zu russischem Messianismus und russischer Einzigartigkeit sein soll, dann ist es dumm. Wenn es die legitime Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ sein soll, warum wird sie dann auf so eine verdrehte Art formuliert?
Das neue Jalta ist gestrichen
Ein weiteres schlecht artikuliertes Ziel der russischen Politik ist, den Westen zu nötigen, russische Lösungswege wichtiger regionaler Probleme zu akzeptieren. Gemeint ist hier offenbar, dass es unzulässig sei, wenn der Westen beim Sturz diktatorischer Regime einseitig eingreife oder auch die Opposition während der sogenannten Farbrevolutionen durch Waffen unterstütze.
Bei der Konferenz des Verteidigungsministeriums gaben die russischen Sprecher zu verstehen, dass die russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der globalen Sicherheit nur dann erfolgreich sein kann, wenn Washington die russischen Rezepte der Konfliktregulierung, also die russischen Bedingungen der Zusammenarbeit, annimmt. Alle anderen Bedingungen werden von Vornherein als „antirussisch“ oder gar „russophob“ abgelehnt.
PATHETISCHE RHETORIK VS. PRAGMATISCHE ÜBEREINKÜNFTE
Sicherlich ist dieses Ziel Moskaus nicht völlig unrealistisch. In letzter Zeit hat sich die Herangehensweise des Westens, und vor allem der USA, in Syrien, Libyen und Ägypten sichtlich der russischen angenähert. Doch daraus irgendwelche langfristigen Abmachungen oder Tauschgeschäfte bei anderen Themen zu machen, ist nahezu unmöglich. Hier folgt der Westen einer einfachen Logik: Warum sollte man Russland für etwas bezahlen, das es aus Eigeninteresse tut?
Deswegen war der „Abtausch“ der Ukraine gegen Syrien seit jeher nicht besonders realistisch. Und die ungeschickten und provokanten Erklärungen aus Moskau, die westlichen Länder würden internationale Terroristen unterstützen und sie zur Destabilisierung unerwünschter Regime benutzen, lassen jegliche Lust auf einen vertrauensvollen Dialog vergehen. Hier muss man sich entscheiden, ob man sich in pathetischer Rhetorik übt, die auf das innere Auditorium abzielt, oder ob man pragmatische Übereinkünfte erreichen möchte.
Russlands wichtigstes strategisches Ziel ist es letztlich, eine Erweiterung der NATO und der EU zu verhindern, insbesondere wenn diese Erweiterung Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Aber nicht nur – wie die Warnschüsse in Richtung Schweden, Finnland und Montenegro gezeigt haben.
In seiner Rede bei der Militärparade am Tag des Sieges erklärte Wladimir Putin, man sei bereit, an der Erschaffung eines „modernen blockfreien Systems der internationalen Sicherheit“ zu arbeiten. Auch zuvor erklangen die Thesen vom Übergang zur „blockfreien Sicherheitsarchitektur“ und vom Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ mehrfach in den Reden und Interviews von Sergej Lawrow.
DAS JALTA-PRINZIP
Aber es bleibt völlig unklar: Was genau wollte Moskau in diese Richtung vorschlagen, abgesehen von der totgeborenen Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit? Natürlich kann es nicht um die freiwillige Auflösung der NATO oder der EU gehen. „Die NATO ist Realität“, gestand Sergej Lawrow ein. Aber Moskau hätte gern, dass sie bleibt, wo sie ist, und sich niemals mehr irgendwohin bewegt. Dasselbe gilt für die Erweiterung der EU.
Es gibt nur ein Problem dabei, diese Auffassung in einem internationalen Abkommen zu kodifizieren: Weder die NATO noch die EU oder Russland können für andere Staaten entscheiden, wie sie für ihre Sicherheit sorgen und wo sie sich wirtschaftlich integrieren. Das wäre das Jalta-Prinzip, und darauf lässt sich keiner mehr ein. Das hat man anscheinend auch in Moskau begriffen und aufgehört, vom „neuen Jalta“ zu sprechen, das die Resultate des Kalten Krieges neu festlegen würde.
Die Lehre vom Zerfall der Sowjetunion
Es versteht sich von selbst, dass unabhängige Staaten frei über ihre Neutralität entscheiden dürfen. Andere Staaten und ihre militärischen Bündnisse müssen diese dann respektieren. So lautet das Prinzip des Vertrags von Wien 1955 und der Schlussakte von Helsinki. Doch das setzt hundertprozentige Garantien von Russland voraus. Und deren Glaubwürdigkeit liegt seit der Eingliederung der Krim fast bei Null.
Für den Westen besteht überhaupt keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unterzeichnen, dass man von einer Erweiterung absehe – alle Entscheidungen diesbezüglich wurden längst getroffen. Keine einzige der postsowjetischen Republiken hat ernsthafte Perspektiven auf eine NATO-Mitgliedschaft (die geplante Erweiterung bezieht sich nur auf die Balkanstaaten).
Wenn Russland also irgendwelche verpflichtenden Übereinkünfte möchte, die die militärische Aktivität der NATO oder die Expansion der EU regeln, dann muss es dafür in Verhandlungen treten und eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen machen. Und wie die aussehen sollten ist, insbesondere im militärischen Bereich, längst bekannt.
Verhandlungen würden die Diskussion um die Ukraine wieder neu aufrollen
Doch neuen ernsthaften Verhandlungen mit dem Westen weicht Russland geflissentlich aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Verhandlungen setzen voraus, dass man sich auf eine gemeinsame Verständnisebene eines Problems und seiner Ursachen begibt, dass man Bedenken und Vorbehalte der anderen Partei berücksichtigt und das eigene Verhalten entsprechend an ausgehandelte Kompromisse anpasst. Das würde unweigerlich zurück zur Diskussion führen, weshalb sich Russland im Jahr 2014 in die Ereignisse in der Ukraine eingemischt hat, und darüber, welche Verantwortung es für die Eingliederung der Krim trägt. Genau das versucht Moskau mit allen Mitteln zu vermeiden.
Verhandlungen über Rüstungskontrolle oder Kompromisse betrachtet der Kreml als einen Rückfall in Gorbatschows „neues außenpolitisches Denken“, das angeblich zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hatte. Dieser Logik folgend wären Verhandlungen über eine Normalisierung und Erneuerung der Zusammenarbeit – zum Preis einer notwendigen Korrektur des eigenen Vorgehens, etwa im Donbass – gleichbedeutend mit dem Weg in den Abgrund.
Stattdessen inszeniert man ein Theaterstück über die alleinige Schuld des Westens an der bestehenden Krise, über die von Gott weiß woher aufgetauchten Sanktionen und über die Verlagerung von NATO-Militärstruktur in Richtung russischer Grenze. Gleichzeitig werden scharfe, an Fouls grenzende Aktionen gegen Kriegsschiffe und Flugzeuge der Nato unternommen. Sie sollen der NATO die Unzufriedenheit Russlands signalisieren und sie dazu bewegen, quasi ganz von selbst Russlands Bedingungen und Bedenken anzuerkennen.
Moskau setzt auf Unberechenbarkeit, um die eigene Position zu stärken
Moskau riskiert die Eskalation: Mittels der Demonstration seiner Unberechenbarkeit und mittels jäher Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen möchte es seine zukünftige Verhandlungsposition stärken. Es möchte das Gefeilsche mit dem Westen quasi in einer Zeit der Post-Ukraine beginnen, dabei aber die Ukraine selbst ausklammern, liege doch die „Ursache für die Krise im Agieren von Kiew“ – das also seine Position anzupassen habe, und zwar durch Erfüllen der Bedingungen von Minsk-2.
Die Machtkomponente „Unberechenbarkeit“in der Außenpolitikmacht beim Westen allerdings nicht den nötigen Eindruck. Der sieht in Moskaus „pubertärem Verhalten“ viel eher eine Methode, Schwäche und Unsicherheit zu kaschieren. „Den Troll füttern“ möchte keiner. Im Westen gibt es zurzeit eine lebhafte Diskussion darüber, wie man mit Russland am besten kommunizieren soll.
Man ist sich dessen bewusst, was Putin möchte: Nämlich, dass der Westen Russland in Ruhe lässt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Aber gleichzeitig soll er – und zwar verpflichtend – bei allen Fragen Rücksprache halten, die Russlands Interessen betreffen.
Man weiß dort auch, dass nur eine Person in der Russischen Föderation den Inhalt dieser Interessen bestimmt, und man ist bereit mit ihr zu verhandeln. Das Problem besteht offenbar darin, dass Moskau inhaltlich nicht vorbereitet ist auf ein konstruktives Gespräch – wir wissen nicht genau, was wir wollen – und in der psychologisch motivierten Angst, sich auf Verhandlungen einzulassen. Die versteht man als Zeichen der Schwäche.
Doch früher oder später wird man mit dem Westen Gespräche über die Regeln des Zusammenlebens führen müssen. Die Lehre aus der Sowjetunion besteht darin, es zu tun, bevor es zu spät ist.