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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das Labyrinth der Pandora

    Das Labyrinth der Pandora

    Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?

    Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.

    MAUS IM LABYRINTH

    Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.

    Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!

    Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:

    Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.

    Herrschaft der Technokraten

    Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.

    Politik der „Projekte“

    Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.

    Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.

    2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte  in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.

    Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind

    Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.  

    Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.

    Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.

    Gefangene einer monströsen Illusion

    Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.

    Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.

    Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.

    Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen

    Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.

    All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.

    Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.

    Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.

    Revolution ohne Banner

    Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.

    Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.

    Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.

    Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen

    Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.

    Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.

    Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.

    Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
    Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.

    Büchse der Pandora

    Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.



    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Yevgenia Markovna Albats gilt als eine der Grandes Dames des russischen Journalismus. Wohl auch deswegen ist die Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times regelmäßig beim Radiosender Echo Moskwy in der Sendung Ossoboje Mnenije (dt. „Besondere Meinung“)  zu Gast.

    Bei diesem interaktiven Format bekommen die Zuhörer Gelegenheit, eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Video-Livestream aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht.

    Im Gespräch mit Moderatorin Tatjana Felgengauer, der stellvertretenden Chefredakteurin von Echo Moskwy, spricht Albats über die bevorstehende Dumawahl und darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wählen zu gehen.

    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus –  im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS
    Yevgenia Albats – die Grande Dame des russischen Journalismus – im Interview bei „Echo Moskwy“ / Foto © Anatoli Strunin/ITAR-TASS

    Tatjana Felgengauer: Willkommen zu unserer Sendung Besondere Meinung. Mein Name ist Tatjana Felgengauer, und ich freue mich, die Chefredakteurin der Wochenzeitung The New Times im Studio zu begrüßen: Guten Tag, Yevgenia Markovna.

    Yevgenia Albats: Hallo allerseits.

    Die WGTRK sendet die ersten Wahlkampfdebatten, sechs Parteien, darunter PARNAS, Jabloko und die neue Partei des Wachstums, nehmen teil. Interessiert das überhaupt irgendjemanden?

    Nun ja, ich werde das gucken, aber ich bin ja ein klassischer Politikjunkie. Ich finde Politik spannend. Sogar in der Form, in der sie derzeit gemacht wird, interessiert sie mich immer noch.

    Irgendwelche Erwartungen, Vorlieben?

    Nein, gar nicht. Ich erwarte mir nichts. Dass die Partei Jabloko in ihrem Programm von der Annexion der Krim schreibt, macht mich neugierig. Eigentlich ist das die einzige politische Partei, die damit in die Wahlen geht. Das ist etwas Besonderes. Dass nämlich dieser Standpunkt, den eine bestimmte Anzahl der Einwohner Russlands vertritt, immerhin von einer Partei formuliert wird.

    Und abgesehen von Ihnen, was denken Sie, wie weit kann das überhaupt den Wähler interessieren?

    Ich glaube, dass das den Wähler durchaus interessieren kann, in geringem Ausmaß. Es wird ja eigentlich alles dafür getan, dass man möglichst wenig darüber spricht.

    Für mich ist ganz offensichtlich, dass sich die staatlichen Sender, die staatlichen Medien um eine Senkung der Wahlbeteiligung bemühen.

    Die Regierung will die Wahlbeteiligung möglichst niedrig halten, das ist nämlich gerade für ihre Partei sehr günstig, wenn man so sagen will.

    Na, und weiter werden wir schon sehen. Wozu jetzt herumrаten?

    Wir sehen aber, wie die Zentrale Wahlkommission (ZIK) unter ihrer neuen Leiterin Ella Pamfilowa agiert: In einer der Regionen hat sie sich für Jabloko eingesetzt. Macht das ein bisschen Hoffnung?

    Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Regierung aus den Ereignissen vom Herbst/Winter 2011 ein paar Lehren gezogen hat. Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Leute im Sommer entweder auf der Datscha sind oder irgendwo im Urlaub, weit weg von Moskau, dann bleiben vom ganzen Wahlkampf im September keine vier Wochen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Wahlen davor Anfang Dezember.

    In diesem Sinne tut die Regierung alles dafür, dass sich die Leute bloß nicht aufregen. Deswegen Pamfilowa. Hauptsache, nicht Tschurow, nicht wahr?

    Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt

    Sie ist kein Tschurow, ohne Frage. Und Ella ist eine, die in der Politik nicht neu ist, und sie nimmt ihren eigenen Ruf ernst. Daher setzt sie natürlich alles daran, dass es möglichst wenig Skandale gibt.   

    Wie weit sie es dann schafft, mit den territorialen Wahlkommissionen (TIK) zurechtzukommen … Wir wissen ja, wie das läuft, nicht? Die Leute wählen, dann wird das alles in den TIK zusammengeführt, und dort fangen sie an, mit den Zahlen zu tricksen. Aber ich glaube, die ganz exotischen Dinge wird die Regierung zu vermeiden versuchen. Vor allem in den Großstädten, wo es die meisten Protestwähler gibt, wird die Regierung alles tun, um große Skandale zu verhindern.

    Dass die sogenannte Liste Chodorkowski zugelassen wurde, 18 von 19 Personen, praktisch alle – war das auch, damit es möglichst ruhig bleibt?

    Die Losung einer namhaften amerikanischen Revolution war „no taxation without representation“. Die Leute wollen wenigstens von irgendwem repräsentiert werden. Wohl wissend, dass in den Städten ein erheblicher Prozentsatz von Protestwählern lebt (Demokraten, Liberale), lässt die Regierung deswegen jene, die bis zu einem gewissen Grad die Ansichten dieser Leute vertreten, immerhin kandidieren. Ich glaube, genau deswegen wurden die registriert, die für Offenes Russland antreten.

    Bemerkenswert ist der Fall von Mascha Baronowa, die Unterschriften sammeln musste, bei denen eine Fehlerquote von nur 2,5 Prozent festgestellt wurde. Das ist wirklich wenig. Aber wir wissen ja noch, wie das bei den letzten Regionalwahlen in Kostroma war, als Ilja Jaschin aufgestellt wurde, nicht? Die Aufgabenstellung war ja klar. Es ging ganz einfach darum, zu zeigen: Bitteschön, sie sind angetreten, und geschafft haben sie mickrige zwei Prozent.  

    Ist die Aufgabe jetzt eine andere?

    Ich glaube, es ist ungefähr dieselbe. Vergessen Sie außerdem nicht, dass in Zentralrussland, in Moskau, eben ein Kandidat von PARNAS, der Historiker Andrej Subow, gegen Maria Baronowa antritt, die für Michail Chodorkowski kandidiert.

    Die Demokraten haben immer noch eine komplett feudale Vorstellung von Politik     

    Wir haben sie übrigens bei uns in der Redaktion, bei den Debatten, schon gefragt, ob sie sich nicht zusammentun wollen. Und ich war absolut verblüfft, dass, obwohl es auch so schon keine Plattform zum Ankurbeln einer Kampagne und dergleichen gibt, einer der Kandidaten (ich sage nicht, wer) abgelehnt hat: „Nein, sicher nicht“.

    Ja, was soll denn das?! Das zeigt doch, dass die Demokraten immer noch komplett feudale Vorstellungen von Politik haben.     

    Genau, merkwürdigerweise lernt die Regierung dazu, denkt sich irgendwelche neuen Tricks aus. Während das demokratische Lager immer dasselbe macht, immer wieder dasselbe. So wie immer alle gestritten haben, so streiten sie auch weiterhin, unverändert.

    Nun, wahrscheinlich ist das eine Frage der politischen Kultur. Wahrscheinlich hängt das auch noch mit dieser starken Zerrissenheit der demokratischen Kräfte zusammen. Mit dem gegenseitigen Misstrauen. Wobei, sehen Sie mal, Dimitri Gudkow führt genau dieselbe Kampagne wie 2013 Alexej Nawalny. Er versucht, Leute zu treffen und mit ihnen zu reden.

    Ich nehme an, Dimitri hat von ihm gelernt und weiß, dass man auf jeden Fall, worum auch immer es geht, vor allem das Vertrauen der Wähler gewinnen muss. Das versucht er zu tun. Schauen wir mal, wie sich die übrigen Kandidaten des demokratischen Lagers verhalten werden. 

    Also, „no taxation without representation“, das ist ganz wichtig. Dieses Problem mit der Vertretung gab es ja schon in den Staatsdumas der Zarenzeit. Und einer der Gründe, warum die Revolution von 1917 stattfand, hing genau damit zusammen, dass die Staatsduma als Repräsentationsform die größte Klasse des Landes, die Bauern, und die zweitgrößte, die Arbeiterklasse, sehr schlecht vertrat. 

    Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist

    Und deswegen stellte die Duma dieser Legislaturperiode, die Gott sei Dank jetzt zu Ende ging, eine kolossale Bedrohung für die Stabilität und die Staatsmacht dar, weil sie überhaupt niemanden repräsentierte außer, was weiß ich, die Präsidialverwaltung oder den Sicherheitssausschuss, wie ihn Jarowaja mit all diesen bescheuerten Gesetzen und dergleichen vertritt.

    Das ist wichtig! Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist. Das liegt daran, dass bei uns in der Sowjetzeit die Politik hyperinstitutionalisiert war: Alles floss in einer gelenkten Bahn, die KPdSU hieß. KPdSU – das war eine Staatsform, aber es war auch eine Bahn, innerhalb derer verschiedene Interessengruppen erlaubt waren. Und außerhalb dieser Bahn gab es nichts. Deswegen hatten die Dissidenten eigentlich keinerlei Einfluss im Land.   

    Nun, damit antworten Sie schon auf die Frage unseres Hörers Ilja, der wissen möchte: „Was meinen Sie, falls die Opposition den Einzug in die Duma schafft, kann sie dann etwas ausrichten? Und warum sind Straßendemos als Form der Meinungsäußerung endgültig in Vergessenheit geraten?“ 

    Also erstens, ja, kann sie. Ich erinnere Sie nochmal daran, dass zum Beispiel Dimitri Gudkow der einzige Abgeordnete der Duma war, der immer wieder gegen diese Neandertaler-Gesetze protestierte, die von der Duma beschlossen wurden. Er war allein. Gudkow hat uns gezeigt, was einer allein alles erreichen kann. Insofern hat das tatsächlich Gewicht. Denken Sie nur an den berühmten Italienischen Streik, den die zwei Gudkows und Ilja Ponomarjow angеzettelt hatten.

    Den Menschen ist klar: auf die Straße heißt ins Gefängnis

    Die Erfahrung des Widerstands ist eine sehr wichtige Erfahrung. Und gerade in unserem Land, das viele Jahrhunderte hindurch unter strengen Regimen lebte (egal, ob im absolutistischen Zarenreich oder unter dem totalitären Sowjetregime), ist es sehr wichtig, sich dieses Erlebnis des Widerstands zu erarbeiten, bis der Widerstand zur Institution wird, zu einer Lebensregel, nicht? Bis es absolut normal wird, sich unredlichen Gesetzen, unredlicher Macht, unredlichen Entscheidungen und dergleichen zu widersetzen.

    Was die Straßendemos betrifft, sehen wir doch der Realität ins Auge. Die Regierung hat seit den Ereignissen vom Mai 2012 wirklich alles daran gesetzt, dass den Menschen klar ist: Auf die Straße heißt ins Gefängnis. Deswegen wurde ja auch Dadin inhaftiert, für seine Ein-Mann-Demos. Zweifellos ist die repressive Komponente des Regimes äußerst bedenklich angewachsen. Die Regierung verfügt über die repressivste Einrichtung der Sowjetunion, den KGB. Ältere Leute wie ich, wir wissen einfach ganz genau, was das ist. Und der Nachwuchs hat während der Bolotnaja-Prozesse eine gründliche Lektion erteilt bekommen.

    Man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen

    Soll man wählen gehen?        

    Wissen Sie, meine Meinung ist, man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Man soll nach den eigenen Regeln spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen.

    In unserem Fall, auch wenn die Parteien oder Kandidaten, die Ihre Interessen vertreten, nicht auf dem Stimmzettel stehen, sollte die Regel in Kraft treten „Für jede beliebige Partei außer …“. Dieses Motto, das von Alexej Nawalny stammt, und das Verfahren, das 2011 erfunden wurde, das hat recht gut funktioniert. Allerdings finde ich, also zumindest in Zentralrussland gibt es gewisse Auswahlmöglichkeiten, nicht? Und vor allem muss einem klar sein, dass sich die Regierung, dass sich Einiges Russland, eine niedrige Wahlbeteiligung wünscht. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen.

    Die Regierung wünscht sich eine niedrige Wahlbeteiligung. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen

    Wissen Sie, die Hauptsache ist … Also, die Griechen haben ja nicht zufällig jene, die außerhalb der Gesellschaft standen, idiotos genannt, nicht wahr? Idioten. Um aber von der Regierung etwas fordern zu können, muss man leider trotz allem mit ihr in Verhandlungen treten, sonst bleibt einem nur der Revolver. Wahlen sind so etwas wie Verhandlungen, sind gewaltfreie Gespräche mit dieser Regierung, die bei mir keinerlei positive Emotionen hervorruft. Und deswegen glaube ich, ja, man soll wählen gehen.  

    Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats.

    Danke.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Wahlen, na und?!

  • Wahlen, na und?!

    Wahlen, na und?!

    Stell dir vor, es sind Wahlen und keinen interessiert’s. Was sind dann die Gründe dafür? Auf Poslednije Tridzat – einem Portal, das die Entwicklung seit der Perestroika in den Blick nimmt – analysiert Gleb Tscherkassow die kurze demokratische Tradition in Russland: Präsidentschaftswahlen gab es erstmals vor 25 Jahren. In den 1990er und 2000er Jahren sei die direkte Teilnahme der Bürger am politischen Prozess mehr und mehr durch Polittechnologien ersetzt worden, meint Tscherkassow. Für den stellvertretenden Chefredakteur des Kommersant tragen allerdings nicht nur korrupte oder autokratische Politiker die Schuld, sondern vor allem auch die Bürger selbst.

    Nach einer kleinen politischen Kampagne wurde Boris Jelzin 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt – eine Briefmarke erinnert an seinen Wahlsieg / Bild © gemeinfrei
    Nach einer kleinen politischen Kampagne wurde Boris Jelzin 1991 zum Präsidenten der RSFSR gewählt – eine Briefmarke erinnert an seinen Wahlsieg / Bild © gemeinfrei

    Ein gutes Bild für die Geschichte der Wahlen im zeitgenössischen Russland ist das alte Gleichnis vom Vater, der seinen in Wohlstand und Müßiggang aufgewachsenen Sohn ausschickt, um Geld zu verdienen. Die Mutter hat mit ihrem Herzensjungen Mitleid und gibt ihm heimlich Geld: Da, gib das dem Vater, sag ihm, du hättest es selbst verdient. Der Sohn gibt dem Vater das Geld, und der wirft es ins Feuer. Der Sohn zuckt mit den Schultern, bekommt am nächsten Tag wieder Geld von der Mutter und sieht es wieder verbrennen. Schließlich hat die Mutter kein Geld mehr und der Sohn muss es wirklich selbst verdienen. Als er ein paar Münzen nach Hause bringt, wirft der Vater sie wieder in den Ofen. Der Sohn schreit auf und beginnt, das Geld aus der heißen Kohle zu scharren. Da sagt der Vater: „Jetzt sehe ich, dass du das Geld selbst verdient hast.“

    Freie Wahlen entsprachen Flügen in andere Galaxien

    1987 entsprachen direkte, gleiche und freie Wahlen in etwa Flügen in andere Galaxien: Irgendwann ja, aber nicht in absehbarer Zukunft, weil es unmöglich ist. Bereits zehn Jahre später hatte jeder Bürger das Recht, die gesamte Regierung zu wählen, von der lokalen Selbstverwaltung bis zum Präsidenten.

    Was in anderen Ländern jahre- und jahrzehntelang erkämpft wurde, bekam die russische Bevölkerung mit  – nach historischen Maßstäben – minimalem Aufwand.

    Michail Gorbatschow wurde im März 1990 auf einem Kongress der Volksdeputierten zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Boris Jelzin wurde 1991 bereits in allgemeinen Wahlen zum Präsidenten der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) gewählt, nach einer kleinen politischen Kampagne und einem Referendum über die Einführung des Präsidentenamtes.

    Von den Wahlen erwartete man Wunder

    Das sind wohl die einzigen Beispiele dafür, dass sich die Bürger für ihr Wahlrecht einsetzten. Genau deswegen gelten die späten 1980er und frühen 1990er Jahre auch als Zeit eines außergewöhnlichen politischen Elans. Die Konzentration von Ereignissen führte zu Hoffnungen, die in einem anderen Moment nicht hätten entstehen können.

    Von den Wahlen erwartete man Wunder. Es schien, als würde es genügen, bestimmte Gesetze zu erlassen, damit alles sehr gut würde. Vielleicht sogar ausgezeichnet. Und um diese Allheil bringenden Gesetze zu erlassen, brauchte man nur die Richtigen zu wählen.

    Man wählte. Die Gewählten versuchten anfänglich sogar, die Allheil bringenden Gesetze zu erlassen. Das unvermeidliche Ausbleiben der gewünschten Ergebnisse führte man darauf zurück, dass man doch nicht ganz die Richtigen gewählt hatte.

    Als sich die Hoffnungen nicht erfüllten, begann man den Wahlen fernzubleiben, und zwar ohne damit besonderen Widerstand leisten zu wollen. Es heißt, das habe unter Wladimir Putin begonnen, aber den Präzendenzfall gab es schon während der Regierungszeit seines Vorgängers Boris Jelzin:

    1993 wurden beide Kammern der Föderationsversammlung durch Direktwahlen bestimmt. 1995 war die Präsidialverwaltung aber sehr interessiert daran, ihre Beziehungen zu den regionalen Eliten zu verbessern. Aus diesem Grund entstand ein Gesetzesentwurf, der vorsah, den Föderationsrat durch regionale Gouverneure und Vorsitzende der Regionalparlamente zu ergänzen. Die Öffentlichkeit nahm das gleichgültig hin. Das System zur Bildung des Oberhauses, sprich des Föderationsrats, hat sich seither mehrmals geändert, aber von Direktwahlen war nie mehr die Rede.

    Die Öffentlichkeit nahm alles gleichgültig hin

    Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion war Russland beinahe das einzige Land, in dem regionale Regierungsoberhäupter, meist heißen sie Gouverneure, direkt gewählt wurden. Zunächst in den Jahren 1993 bis 2004; seit 2012 ist das nun wieder so. Die Erinnerung an öffentliche Kampagnen für die Einführung der Gouverneurswahlen beziehungsweise gegen ihre Abschaffung fällt schwer. Es gab nämlich keine. Es heißt zwar, dass man sich auf dem Bolotnaja Platz 2011 unter anderem für die Gouverneurswahlen einsetzte. Falls es diese Forderung tatsächlich gab, war sie sicherlich keine der vorrangigen.

    Dasselbe gilt für die Abschaffung der Einerwahlkreise: Ohne Trauer nahm man 2004 die Abschaffung zur Kenntnis, ohne Freude 2012 die Wiedereinführung.

    Würde man die Dumawahlen abschaffen, gäbe es wohl kaum Protest

    Die Abschaffung direkter Bürgermeisterwahlen, die im Moment flächendeckend stattfindet, stößt zwar auf Widerstand, der aber in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Prozesses steht. Öffentliche Anhörungen, zwei, drei Kundgebungen, ein paar Artikel und Blogeinträge.

    Gut möglich, dass es keine großen Proteste geben würde, wenn sich morgen herausstellt, dass die Dumawahlen  leider aus irgendeinem Grund abgeschafft werden müssten. Warum sollte man denn groß Lärm schlagen?

    Übrigens hat sich die große Masse der Bürger schon lange bevor man den Wahlen fernblieb vom alltäglichen politischen Engagement verabschiedet. Das Verständnis dafür, dass das Einwerfen des Wahlzettels nur ein winziger Teil einer großen Aufgabe ist, verlor sich in den frühen 1990er Jahren beinahe sofort.

    An der Aufstellung der Kandidaten mitwirken, ihre Programme diskutieren, Unterstützung organisieren, Stimmen verteidigen, gegen Wahlverstöße protestieren – mit all dem haben sich zu wenige Bürger über zu kurze Zeit befasst. Alles war so schnell gegangen, dass man das Gefühl hatte, es gebe nichts weiter zu tun und man brauche sich nur noch an den Früchten der Demokratie zu erfreuen. Und als diese Früchte ausblieben, war man enttäuscht.

    Politisches Engagement als Synonym für Idiotie

    Politisches Engagement wurde allzu bald zu einem Synonym entweder für prinzipienloses Karrieredenken oder für offenkundige Idiotie. Aus diesem Grund führten die Polittechnologen ihre Kampagnen schon Mitte der 1990er Jahre lieber ohne Aktivisten durch. Mit angeheuerten Helfern ging es einfacher.

    In Wirklichkeit hat der rasante Aufschwung der Polittechnologie über die vergangenen 25 Jahre in Russland damit zu tun, dass ein Ersatz für politisch engagierte Bürger hermusste. Wo es keine Begeisterung gibt, braucht es Instrumente und die Fähigkeit, die Massen zu lenken. Die besten Polittechnologen gingen aus der demokratischen Welle hervor, nur galten die Werte, die ihnen in den späten 1980er Jahren noch am Herzen lagen, bereits zehn Jahre später nur noch bedingt.

    Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen. Dahinter steckte keine Absicht, man entschied sich nicht bewusst dafür, die Wahlen in einen Wettlauf der Beschaffung von Geld und Technologie zu verwandeln. Die Werte änderten sich schleichend, nach und nach. Es ist kein Zufall, dass die Polittechnologen aus den späten 1980er Jahren beinahe immer nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung überzeugen mussten, dass ihr Kandidat, ihre politische Kraft gar nicht so schlecht sei, letzten Endes vielleicht sogar besser als die anderen.

    Eigentlich haben dieselben Leute die Wahlen eingeführt, die sie später zu Grabe trugen

    Die Kriege der begeisterten Söldner konnten nicht ewig weitergehen. 2011 war der Anstieg des politischen Engagements deswegen so fühlbar, weil Tausende Menschen nicht einfach nur an Kundgebungen teilnahmen oder Wahllokale aufsuchten, sondern Wahlkommissionen beitraten und so ihre Bereitschaft zeigten, sich über längere Zeit politisch zu engagieren. Vielleicht wird das alles im Sande verlaufen. Möglich ist aber auch, dass der wiedererwachte Wunsch, wenigstens ein bisschen Kraft und Zeit in den politischen Umbau zu stecken, früher oder später Früchte tragen wird.


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Presseschau № 39: Säbelrasseln auf der Krim

    Presseschau № 39: Säbelrasseln auf der Krim

    Die Krim rückt wieder mehr in die internationale Aufmerksamkeit: Vergangene Woche hatte der russische Geheimdienst FSB erklärt, am Wochenende ukrainische „Terrorangriffe“ auf der Krim vereitelt zu haben. Ein FSB-Mitarbeiter und ein russischer Soldat seien von ukrainischen „Saboteuren” ermordet worden, Drahtzieher sei Jewgeni Panow gewesen, ein ukrainischer Geheimdienstmitarbeiter. Putin erklärte außerdem, es sei sinnlos, die geplanten Gespräche im Normandie-Format (Russland, Deutschland, Frankreich und Ukraine) zu führen. Kiew wies die Anschuldigungen zurück, versetzte die eigenen Truppen aber in Alarmbereitschaft.

    Bei einem heutigen Treffen in Jekaterinburg mahnte Außenminister Steinmeier seinen russischen Amtskollegen Lawrow, „alles zu unterlassen”, was die Lage weiter verschärfen könnte. Unterdessen kämpfen im Osten der Ukraine prorussische Separatisten weiter gegen ukrainische Truppen.

    Russische Medien diskutieren unter anderem, wer tatsächlich Terror säe: Moskau oder Kiew? Welche Rolle spielen die USA? Und droht nun gar ein Krieg?

     

    Rossijskaja Gaseta: Gespräche bringen nichts

    Jewgeni Schestakow verurteilt in der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta den „Terror“ Kiews und verteidigt die Äußerung Putins, Treffen im Normandie-Format vorerst auszusetzen:

    [bilingbox][…] Wie Politologen meinen, haben die letzten Treffen im Normandie-Format die Beilegung des Donbass-Konflikts nicht vom Fleck bewegt: Nach jedem einzelnen hat Kiew eine Menge von Kniffen gefunden, um die erreichten Vereinbarungen nicht zu erfüllen oder ihren Inhalt gänzlich auszuhöhlen.

    Solange die Ukraine nicht von Schritten absieht, die die Situation auf der Krim und im Donbass verschärfen, wirkt die Nichtteilnahme des russischen Präsidenten am Normandie-Format gerechtfertigt, als konsequente Entscheidung in der gegebenen Situation.

    Wie Wladimir Putin erklärte, sind „die Menschen, die seinerzeit die Macht in Kiew ergriffen haben und sie immer noch halten, von der Suche nach Kompromissen zu Terrorhandlungen übergegangen“. Eine friedliche Konfliktbeilegung in der Ukraine mit einem Staatsoberhaupt zu verhandeln, dessen Militärs die Provokation auf der Krim organisiert und russische Bürger getötet haben, wird im Kreml als eine perspektivlose Angelegenheit gesehen.~~~[…] в последнее время, как считают политологи, встречи в "нормандском формате" уже не сдвигали с мертвой точки урегулирование на Донбассе: ведь после каждой из них официальный Киев находил множество уловок, чтобы не выполнять достигнутые договоренности или полностью выхолостить их содержание. Так что неучастие российского президента в "нормандском формате", пока Украина не откажется от шагов, направленных на обострение ситуации в Крыму и на Донбассе, выглядит оправданным, последовательным решением в сложившейся ситуации. Как заявил Владимир Путин, "те люди, которые захватили в свое время власть в Киеве и продолжают ее удерживать, вместо поиска компромиссов перешли к практике террора". А обсуждать мирное урегулирование на Украине с главой государства, чьи военные организовали провокацию в Крыму, убив российских граждан, в Кремле посчитали делом бесперспективным.[/bilingbox]

    Slon: Es ist Krieg

    Auf dem unabhängigen Portal Slon.ru dagegen schreibt Oleg Kaschin, warum Putins Gesprächsabsage zeige, dass auf der Krim kein Konflikt, sondern ein Krieg im Gange sei:

    [bilingbox]Die schlechteste und besorgniserregendste Neuigkeit zum Schusswechsel auf der Krim kommt nicht von der Krim, sondern aus Moskau. […] Zum wichtigsten russischen Sprecher des Krim-Problems wurde überraschenderweise Wladimir Putin, der die FSB-Version mit ihren direkten Beschuldigungen wiederholte und sich in dem Sinne äußerte, dass Kiew mithilfe der Schießerei das eigene Volk von wirtschaftlichen Problemen ablenken wolle und das Treffen im Normandie-Format nun keinen Sinn mehr ergeben würden.

    Nach den Erklärungen Putins […] ist es nun eine vom Präsidenten selbst bezeugte Tatsache, dass es sich um einen zwischenstaatlichen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine handelt. Und überhaupt ist dies tatsächlich ein Krieg (im Gegensatz zu Donbass und Syrien), weil Krieg sich nicht durch Schüsse und Opfer auszeichnet, sondern durch Worte, und diese Worte hat Wladimir Putin bereits gesprochen.

    Das bedeutet überhaupt nicht, dass den Worten unbedingt eine heiße Phase der militärischen Konfrontation folgen muss, es besteht auch kein Bedarf dafür. Der Krim-Vorfall eröffnet eine Menge von Möglichkeiten für die schärfste innenpolitische Rhetorik, für neue Jarowaja-Pakete, für beliebige Spekulationen und Spiele im letzten Monat vor den Duma-Wahlen. ~~~Cамая плохая и самая тревожная новость по поводу крымских перестрелок пришла не из Крыма, а из Москвы […] Главным российским спикером по крымской проблеме неожиданно стал сам Владимир Путин, повторивший версию ФСБ с прямыми обвинениями в адрес украинских властей и высказавшийся в том духе, что Киев с помощью стрельбы пытается отвлечь собственный народ от проблем в экономике и что встречаться в нормандском формате теперь не имеет смысла. После заявлений Путина […] факт именно межгосударственного конфликта России и Украины засвидетельствован российским президентом, и вообще-то это и есть война (в отличие от Донбасса или Сирии), потому что в войне первичны не выстрелы и не жертвы, а именно слова, и эти слова уже сказаны Владимиром Путиным.

    Это совершенно не значит, что за словами обязательно последует горячая фаза военного противостояния, да в нем и нет нужды. Крымский инцидент открывает множество возможностей для самой резкой внутриполитической риторики, для новых «пакетов Яровой», для каких угодно спекуляций и игр в оставшийся до выборов Госдумы месяц.[/bilingbox]

    Izvestia: Giftnadel ins Herz Russlands

    In der kremlnahen Tageszeitung Izvestia fragt der bekannte Schriftsteller Alexander Prochanow nach dem Ziel der sogenannten „Saboteure“:

    [bilingbox]Das Ziel der Kiewer Saboteure besteht nicht darin, einen Angriff gegen Erdöltanks oder Militärlager zu führen. Und nicht darin, Panik an Badestränden zu schüren und Konvois von Würdenträgern zu beschießen. Es ist der Versuch, einen Angriff auf die Tiefen des russischen Selbstverständnisses der eigenen Geschichte zu landen, seines historischen Schicksals, des Mythos Krim, der russischen Staatlichkeit und der russischen Staatsführung.

    Die Krim – sie ist die Hauptstadt der russischen Welt, die Wiege fünf großartiger Imperien, die eins nach dem anderen das russische Leben umkleidet haben mit der Hülle eines mächtigen Staates. Eben hier, in dieses geistige Herzstück, sollte der Schlag der Terroristen treffen. Bewaffnet mit Maschinenpistolen und Sprengstoff, waren sie ausgestattet mit der heimtückisch schwarzen Aufgabe, den heiligen Ort zu entweihen, eine Giftnadel ins mystische Herz Russlands zu stoßen.~~~Цель киевских диверсантов не в том, чтобы нанести удар по нефтехранилищам и военным складам. Не в том, чтобы посеять панику на пляжах или обстрелять вельможный кортеж. Это попытка нанести удар в глубины русских представлений о своей истории, о своей исторической судьбе, о мистическом Крыме, о русской государственности и о русской власти.


    Крым — столица русского мира, колыбель пяти грандиозных империй, которые одна за другой облекали русскую жизнь в плоть могучего государства. Именно сюда, в эту духовную сердцевину, был направлен удар террористов. Вооруженные автоматами и взрывчаткой, они были вооружены злокозненной черной задачей осквернить священное место, вонзить иглу с ядом в мистическое сердце России.[/bilingbox]

    Rus2Web: Krieg oder Frieden?

    Vedomosti-Reporter Ilja Barabanow dagegen, der seit 2014 immer wieder aus der Ukraine berichtet hatte, sieht die Schuld weniger bei Kiew, sondern skizziert auf dem unabhängigen Portal Rus2Web die Wahlmöglichkeit des Kreml zwischen einer friedlichen und einer kriegerischen Variante des weiteren Geschehens:

    [bilingbox]Im schlimmsten Fall kommt es noch zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Angesichts der Anzahl von Streitkräften, die in der letzten Zeit über die russisch-ukrainische Grenze verschoben wurden, erscheint dieses einst absolut unglaubwürdige Szenario schon nicht mehr ganz so unwahrscheinlich.

    […]

    Ein großangelegter Krieg muss nicht unbedingt schon morgen beginnen. Ob man es zugeben will oder nicht, aber auf eine gewisse Art ist der schon seit März 2014 im Gange. Und wenn dann das Geld ausgeht und das Finanzministerium schon ganz offen sagt, dass keiner weiß, wie man im kommenden Jahr die Renten und Gehälter zahlen soll, dann hast du zwei Möglichkeiten: entweder den Krieg doch endlich zu beenden und so eine Aufhebung der Sanktionen zu erreichen oder einen neuen Krieg zu entfesseln, um die verarmende Bevölkerung gegen den äußeren Feind zu vereinen. Leider scheint es nach den Ereignissen der vergangenen […] Tage immer unwahrscheinlicher, dass der Kreml sich für die friedliche Variante entscheidet.~~~В худшем случае — вооруженный конфликт России с Украиной все же произойдет. С учетом того, какое количество войск в последнее время перебрасывали к российско-украинской границе, этот, казавшийся прежде абсолютно фантастическим, сценарий уже не смотрится таким невероятным

    […]

    Полномасштабная война не обязательно должна начаться завтра. Как бы кому ни хотелось этого признавать, но в том или ином виде, она уже идет с марта 2014 года. И когда у тебя заканчиваются деньги, а Минфин уже вполне открыто говорит, что в следующем году не знает, как платить пенсии и зарплаты, то варианта у тебя два: либо войну все же заканчивать, добиваясь этим отмены санкций, либо развязывать новую, чтобы сплотить беднеющее население против внешнего врага. К сожалению, в то, что Кремль выберет мирный вариант, после событий последних […] дней верится все меньше.[/bilingbox]

    Nesawissimaja Gaseta: USA wollen von Syrien ablenken

    Oleg Odnokolenko, Kommentator der einst unabhängigen Nesawissimaja Gaseta, macht eine Verbindung auf zwischen den Ereignissen in Aleppo und denen auf der Krim – und vermutet die USA als Helfer der Ukraine:

    [bilingbox]Die Drahtzieher hinter Petro Poroschenkos Mannschaft auf der anderen Seite des Ozeans müssen gewusst haben, dass […] die Krim scharf bewacht ist, und dass ein heimlicher Grenzübertritt mit Waffen und Sprengstoff höchst problematisch würde. Was es nun auch wurde.

    Die andere Frage ist: Warum mussten sie die Lage bis zum Höchstmaß verschärfen? […]

    Wie unschwer zu erraten ist, ist es jetzt die Hauptsache, Moskau mit allen Wahrheiten und Unwahrheiten von den aktuellen Ereignissen in Syrien abzulenken. Bei allem ist es ja nicht so wichtig – laut Michael Morella, dem ehemaligen stellvertretenden CIA-Direktor und heutigen Berater der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton – wo man „Russen tötet“. Vielleicht ist es sogar besser, wenn es auf der Krim passiert, denn dort ist Russland besonders empfindlich.~~~Заокеанские кураторы команды Петра Порошенко не могли не знать, что […] Крым охраняется в особом режиме и проскочить через границу с оружием и взрывчаткой незамеченными будет крайне проблематично. Что, собственно говоря, и произошло.

    Другой вопрос: зачем им понадобилось доводить обстановку до крайней степени обострения? […]

    И теперь главное, как нетрудно догадаться, – всеми правдами и неправдами отвлечь Москву от текущих событий в Сирии. При этом не так уж важно, где, следуя советам бывшего заместителя директора ЦРУ, а ныне советника кандидата в президенты США от Демпартии Хиллари Клинтон Майкла Морелла «убивать русских». Возможно, в Крыму даже лучше, поскольку для России это чувствительнее.[/bilingbox]

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  • Krieg der Silowiki

    Krieg der Silowiki

    In Russlands Elite tobt ein Machtkampf. Am Donnerstag, 28. Juli, hat Wladimir Putin innerhalb eines Tages gleich mehrere Führungsposten umbesetzt: Bei dem heftigen Stühlerücken erhielten zwei FSB-Männer Gouverneursposten in Kaliningrad und Jaroslawl. Während der ehemalige Gouverneur der Oblast Kirow, der einst liberale Politiker Nikita Belych, in U-Haft sitzt, ging sein Amt nun an Igor Wassiljew über – einen ehemaligen KGB-Kollegen Putins. Das Zollamt bekam ebenfalls einen neuen Leiter: Wladimir Bulawin. Auch der war jahrzehntelang bei den Geheimdiensten tätig.

    Bei dieser Art von russischem Macht-Roulette wird durchaus auch Milde gewährt: Gegen den Gouverneur Sewastopols, das von Korruptionsskandalen erschüttert ist, wird nicht ermittelt. Sondern die Krim wurde als eigenständiger föderaler Kreis kurzerhand abgeschafft und der ehemalige Gouverneur empfiehlt sich nun als bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten – in Sibirien.

    Experten werten das für Außenstehende komplett undurchsichtige Ämterkarussell zwei Monate vor den Parlamentswahlen als geschickten Schachzug: um nämlich die Geheimdienste FSB und FSO zu stärken und die regionalen Machteliten so unter Kontrolle zu halten – und zwar schon im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2018.

    Ekaterina Schulmann warnt auf slon.ru jedoch vor allzu voreiligen Schlüssen und Vereinfachungen. Die These der renommierte Politologin dagegen lautet: Die Konkurrenz unter den Silowiki wächst – und das ist gut so.

    Weshalb sollte sich ein gewöhnlicher Bürger für Veränderungen in den Verwaltungsstrukturen und für den Kampf der Silowiki untereinander interessieren, wenn er selbst nicht in diesen Strukturen arbeitet und kein Silowik ist?

    Die Notwendigkeit, die FSB-Abteilung Innenrevision unterscheiden zu können von der Abteilung für Wirtschaftssicherheit ebendort, den speziellen Sicherheitsdienst des Präsidenten zu unterscheiden vom Föderalen Dienst für Bewachung (FSO) insgesamt, die Abkürzung GUEBiPK entschlüsseln zu können, sowie auf der Karte problemlos die Dörfer Jaschtscherowo, Akulinino, Sosny und Osero zu finden – das hat etwas ziemlich Überflüssiges und Entwürdigendes.    

    Viel vernünftiger erscheint das Aufspüren von „Tendenzen“ und „Trends“ in all den zusammengewürfelten Zufälligkeiten, die unsere Nachrichten täglich füllen. Versuchen wir mal, das Geschehen wenigstens ansatzweise zu verstehen. Ohne, dass man dafür irgendwelche komplexen Schemata wie „dieser und jener ist ein Mann XYs“ abspeichern muss, noch irgendwelche Namen zu kennen braucht.   

    Keine „Säuberung“, sondern der Lauf der Dinge

    Was wir hier sehen, ist keine koordinierte Kampagne, kein „Kampf gegen Korruption“, keine „Säuberung“, sondern der unvermeidliche Lauf der Dinge: Innerhalb der Elite verschärft sich die Konkurrenz, weil die Ressourcen knapper werden. Das ist die Hauptursache für das, was passiert. Es gibt ein paar zusätzliche Gründe, die zeitlich damit zusammenfallen:

    Der wichtigste davon ist der naturgegebene Generationenwechsel (die „ersten Begleiter“ des Präsidenten sind alt geworden, junge Silowiki sind in die Generalsränge hineingewachsen und haben nun einen Generalsappetit). Was ist also hier anders?

    Der Jäger kann schnell zum Gejagten werden

    Der Unterschied zwischen Korruptionsbekämpfung und Säuberung liegt eigentlich ausschließlich in der Haltung der Person, die diese Termini benutzt (Operation „Saubere Hände“ ist eher was Gutes, Ausrottung von Andersdenkenden – schlecht) – organisatorisch ist es praktisch dasselbe. Die weltweite Erfahrung mit Unternehmungen dieser Art zeigt: Charakteristisch für sie ist die Bildung spezieller Organe (Sonderausschüsse, eigene Unterabteilungen der Staatsanwaltschaft, Chambre Ardente etc.), manchmal auch die Einführung spezieller Gesetze.
    Es braucht außerdem eine ideologische Grundlage, die vorab deklariert wird (das Jahr des großen Umbruchs, Feuer auf das Hauptquartier, ethnische Säuberung), und keine nachträgliche mediale Ausschlachtung jedes weiteren „Opfers“.     

    In unserem Fall funktioniert die Jagd nach dem Motto „Jeder wie er will und kann“. Für erfolglose Teilnehmer gibt es keine Sicherheitsgarantie – der Spieß kann umgedreht und der Jäger zum Gejagten werden, wie der Fall Sugrobows zeigte.  

    In diesem neuen Krieg sinkt der Wert der „persönlichen Loyalität zum Präsidenten“. Alle sind ungefähr gleich loyal in dem Sinn, dass alle die gleichen Worte sagen. Eine Vielfalt von Ansichten und Meinungen bei wichtigen Fragen gibt es innerhalb der herrschenden Bürokratie schon ziemlich lange nicht mehr. Einfacher ausgedrückt: Wenn alle Patrioten und Staatsfreunde sind, wird der Wettbewerb, wer der glühendste Patriot und wer der überzeugteste Staatsfreund sei, gar nicht mehr durchgeführt.

    DEN EINEN KREML GIBT ES NICHT UND AUCH KEINE ANWEISUNGEN

    Schon lange ist empirisch nachgewiesen, dass es keinerlei formale „Anweisungen aus dem Kreml“ gibt. Genauso wie es nicht den einen Kreml gibt – sondern einen kollektiven Akteur. Erst recht ist der „direkte Erlass des Präsidenten“ ein apparativer Mythos – sofern er nicht in Form einer öffentlichen Erklärung oder eines Dekrets daherkommt. Einen fiktiven Kreml umringen Klans von Bürokraten, die ihm unterschiedlich nahe stehen. Und jeder von ihnen versucht zu erraten, was genau die Obrigkeit im Sinn hat, um entsprechend zu handeln.   

    Da um administrative und finanzielle Ressourcen gekämpft wird, muss man wissen, dass es sich bei den Gegnern aber eigentlich gar nicht um Klans, sondern vielmehr um Interessengruppen handelt. Eine solche Gruppe ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der Belegschaft einer Behörde. Deswegen ist es nicht ganz richtig, von einer Konfrontation zwischen FSB und FSO oder zwischen FSB und Innenministerium zu sprechen. Das ist wieder so ein Mythos wie die vor einigen Jahren beliebten „Kremltürme“. Denen hatte man sogar irgendwelche ideologischen Diskrepanzen zugeschrieben: in den einen säßen die „Liberalen“, in den anderen die „Hardliner“.

    Die Grenzen sind fließend

    So wird zum Beispiel die Abteilung Innenrevision eines jeden staatlichen Gewaltorgans um FSB-Kader aufgestockt. Innerhalb des FSB selbst wiederum steht diese Abteilung ebenfalls im Konflikt mit anderen Verwaltungsbereichen. Es ist nicht unüblich, dass die Stellvertreter eines Amtschefs verschiedene Gruppen repräsentieren, längst nicht alle von ihnen sind Strohmänner der Leitung.

    Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass Grenzen und Zusammensetzung dieser Gruppen fließend sind. So gerne man das Machtsystem Russlands auch mit der Mafia vergleicht, es ist dennoch anders strukturiert: Es besteht nicht aus Verbänden, die ihrem Patron bis in den Tod treu ergeben sind, sondern aus Opportunisten mit gewöhnlicherweise wachsendem Appetit. Es eint sie weder eine Ideologie noch Pläne zur Neustrukturierung Russlands noch die Liebe zum Chef, sondern einzig und allein die Hoffnung auf ihr Stück vom Ressourcenkuchen.

    Die scheinbar beständigen Parteien „alte Freunde Putins“ oder „Kollegen aus der DDR“ lösen sich auf, die „Datschenkooperative Osero“ wird vom Dorf Jaschtscherowo ersetzt.   

    Da wir es hier weder mit einer Anti-Korruptionskampagne noch mit einer Säuberung wie zu Sowjetzeiten zu tun haben, lohnt es sich, einige wichtige Merkmale des Geschehens hervorzuheben:

    Es gibt keine oberste Säuberungszentrale

    Erstens gibt es keine oberste Säuberungszentrale, kein Kampagnenkommando; jeder bemüht sich nach Maßgabe eigener Vorstellungen. Derzeit sieht der FSB wie der führende Vollstrecker und das „Richtschwert“ aus, doch innerhalb des Geheimdienstes ist eine Umgestaltung der Abteilung für Wirtschaftssicherheit  im Gange – vor dem Hintergrund dessen, dass die Abteilung Innenrevision gestärkt wird. Die Schwächung des Ermittlungskomitees kann eine Stärkung der Generalstaatsanwaltschaft bedeuten. Der Kampf um den Zoll – eine Quelle mächtiger Finanzströme – wird zum Objekt harter Konkurrenz werden, unter anderem auch abteilungsintern.  

    Es gibt keinen endgültigen Sieger

    Zweitens wird es keinen endgültigen Sieger geben. Damit das System in seiner aktuellen Form bestehen bleibt, muss es das labile Gleichgewicht zwischen den Schlüsselakteuren stützen – kein einziger von ihnen kann alle anderen besiegen. Ja, es können sich nicht einmal zwei führende Spieler herauskristallisieren, die gegeneinander antreten.

    Beispiele dafür, wie das System dieses Gleichgewicht aufrechterhält, konnten wir bei der Gründung der Nationalgarde sehen. Sie ist ein neues, starkes Organ, sowohl personalmäßig (vorgesehen sind darin bis zu 400.000 kampfbereite Mitarbeiter) als auch, was die Nähe seines Chefs zum Präsidenten betrifft. Zeitgleich mit der Auslagerung der gesamten bewaffneten Einheit aus dem Innenministerium stärkt man das Ministerium aber, indem man das Föderale Migrationsamt (FMS) und den Föderalen Dienst für Drogenkontrolle (FSKN) darin eingliedert. Dem neuen Gesetz zufolge gibt man der Nationalgarde keine Ermittlungs- und Fahndungsvollmachten, und ihr Leiter wird Mitglied des großen, nicht aber des kleinen Sicherheitsrates (kein ständiges Ratsmitglied).

    Zeitgleich mit der Einführung eines Gesetzespakets zur Gründung der Nationalgarde beginnt eine Umgestaltung und Verstärkung jener FSB-Unterabteilungen, die für Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftssicherheit zuständig sind. Parallel dazu wiederum werden mehrere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten zu Gouverneuren ernannt. So versucht das System, Schieflagen zu vermeiden.

    Die angeregten Strafverfahren verlaufen im Sand

    Drittens werden die angeregten Strafverfahren weder vertieft noch erweitert, wie das für Säuberungsprozesse eines Apparates von Fremdkörpern oder für großangelegte Kampagnen zur Korruptionsbekämpfung ansonsten üblich ist. Im einen wie im anderen Fall zieht jeder Beteiligte konzentrische Kreise von Kollegen und Bekannten hinter sich her, in schwierigen Fällen auch Verwandte, Nachbarn und sonst alle, deren Namen er sich beim Verhör entsinnen kann.

    In der jüngsten Geschichte Russlands entsprach allein der Fall YUKOS diesem Muster. Und der wurde, auch wenn er das gesellschaftliche Klima enorm beeinträchtigte und die Standards der Gerichts- und Rechtsschutz-Maschinerie sinken ließ, nicht zum Musterszenario für folgende Prozesse. Sondern er verkapselte sich als Einzelfall im Körper des Systems – weder abgestoßen noch integriert.

    Die gegenseitigen Angriffe der Silowiki untereinander sind jedoch eher punktuell. Es sind nicht so viele davon betroffen, und das Ziel ist oft nicht die Inhaftierung als solche, sondern eine Untersuchungshaft (wo man mit dem Opfer um einiges leichter darüber verhandeln kann, ob es Erwirtschaftetes und unter seiner Kontrolle Befindliches würdigeren Personen überlassen will) oder eine simple Amtsenthebung.

    Vergleichweise vegetarische Gepflogenheiten

    Natürlich ist das alles ein Entwicklungsprozess eines Systems – und hier ist das Fehlen von Intention und Drehbuch merkwürdigerweise dem Allgemeinwohl eher zuträglich. Das Ausbleiben von Massenverhaftungen und geräuschvoll beginnende, doch milde (außergerichtlich) verlaufende Verfahren gegen Staatsbedienstete lassen zwar den kollektiven Sinn für Gerechtigkeit unbefriedigt (Gerechtigkeit ist allem Anschein nach generell eins der aussterbenden Dinge des Jahrhunderts). Doch man muss auch zugeben, dass die Beibehaltung vergleichsweise vegetarischer, elitärer Gepflogenheiten gewissermaßen ein Szenario der Art abwendet, wie wir es in aller Pracht in der Türkei bewundern können.

    Die Silowiki kontrollieren sich gegenseitig

    Eine Situation, in der Silowiki in ständiger Ressourcenknappheit und permanenter Angst voreinander leben müssen, kann natürlich nur eine Parodie auf das System von Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Kontrolle sein, das es in Demokratien gibt. Aber immer noch besser als allmächtige Silowiki, die vor Nichts und Niemanden Angst haben.  

    In so einem Krieg, wie wir ihn derzeit beobachten, sind die Beteiligten erstens dazu gezwungen, ein Minimum an Leistung zu zeigen (salopp gesagt, wenigstens durchblicken zu lassen, dass sie ihre Arbeit machen, darauf achten, dass die Elektritschkas fahren und die Zolleinnahmen steigen).

    Zweitens nutzen alle Konfliktparteien aktiv die Presse. Wir sind daran gewöhnt, das Leaks zu nennen und als irgendwie unehrenhaft für Journalisten und Medien zu erachten. Doch tatsächlich macht eine solche Öffentlichkeit die politischen Akteure selbst abhängig von der allgemeinen Meinung: Wenn deine Schuhschachteln und Fotos jederzeit in den Nachrichten gezeigt werden können, überlegst du dir unwillkürlich, ob du, solange du im Amt bist, nicht wenigstens nach außen hin lieber bescheidener lebst, und den Palast mit den hellblauen Türmchen erst im Ruhestand bauen lässt.      

    Das System braucht die Konkurrenz, zum Glück

    Doch diese positiven Effekte können nur dann eintreten, wenn der Krieg der Silowiki keinen eindeutigen Sieger hervorbringt. Wenn sich nicht eine neue Superstrafbehörde KGB 2.0 herausbildet, die alle anderen säubert und selbst vor niemandem Angst hat.

    Zum Glück fordern die Interessen einer Systemsicherheit (und nicht einer erdachten „Staatssicherheit“) eine Bewahrung des Gleichgewichts, die nur zu erreichen ist, wenn die Konkurrenzsituation bestehen bleibt. Es ist eben die Existenz eines Siegers und nicht der Krieg aller gegen alle, die zu dem führen kann, wonach Beobachter oft gefragt werden: zur Spaltung der Führungselite und zu Umsturzplänen.

    Einen Komplott zu schmieden hat dann Sinn, wenn das dadurch entstehende Risiko niedriger ist als das Risiko, das eine Niederlage im Wettstreit der Eliten mit sich bringt. Mit anderen Worten: Wenn es einen absoluten Sieger gibt und alle anderen sind Verlierer, werden sich diese Verlierer zusammenmauscheln – Schlimmeres kann ihnen ja nicht mehr passieren. Wenn aber niemand den Sieg davonträgt, keine Runde die letzte ist und alle Teilnehmer etwas zu verlieren haben, dann büßen Pläne zur gewaltsamen Machtergreifung ihren Reiz ein. Daher wird die oberste Staatsgewalt mit allen Mitteln dazu beitragen, dass der Kampf unentschieden bleibt.

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  • Presseschau № 38: Treffen von Putin und Erdogan

    Presseschau № 38: Treffen von Putin und Erdogan

    Seit der plötzlichen Aussöhnung zwischen Putin und Erdogan Ende Juni lag dieses Treffen auf der Hand. Am 9. August trafen die beiden Staatschefs nun in Sankt Petersburg zusammen: Erdogan bezeichnete Putin mehrmals als seinen „geschätzten Freund“, der Kreml-Chef blieb etwas kühler und sagte, die „guten Beziehungen“ zwischen den beiden Ländern sollten wiederhergestellt werden.

    Entsprechend wurden bei dem rund dreistündigem Gespräch die ganz heißen Themen wie der Syrienkrieg, in dem Russland und die Türkei unterschiedliche Seiten unterstützen, nicht weiter vertieft. Stattdessen ging es vor allem um die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern.

    Russische Medien, staatliche wie unabhängige, bewerten das Treffen mit zurückhaltender Begeisterung:

    Essen vom Freundschaftsteller – Putin und Erdogan trafen sich am 9. August in St. Petersburg

    Rosbalt: Keine Zungenkuss-Freundschaft

    Iwan Preobrashenski fragt sich auf dem unabhängigen Nachrichtenportal Rosbalt, inwiefern die Annäherung der beiden Präsidenten wirklich eine nachhaltige Grundlage für eine russisch-türkische Freundschaft ist:

    [bilingbox]Anders gesagt, aus einer Zungenkuss-Freundschaft wird natürlich erstmal nichts. Am ehesten wegen eben dieser Syrien-Geschichte. Die Positionen Russlands und der Türkei haben sich schon so sehr angenähert, dass man beispielsweise überhaupt mal die Zukunft Assads diskutieren kann. Aber sie habe sich noch nicht genug angenähert, als dass man sich über diese Zukunft auch einigen könnte.

    Letztlich darf man nicht vergessen, dass die Beziehungen der beiden Länder, wie zu Zeiten des monarchistischen Europas, vollständig abhängig sind von der Freundschaft ihrer Herrscher – die kann ebenso rapide erlöschen wie sie wieder aufflammen kann. Und das lässt sich wohl kaum als feste und stabile Basis für eine russisch-türkische Freundschaft bezeichnen, ganz gleich wie schnell sich die beiden Länder derzeit einander annähern. ~~~Иначе говоря, «дружбы взасос» пока явно не получается. Скорее всего, все по той же сирийской причине. Позиции России и Турции настолько сблизились, что они вообще могут уже откровенно обсуждать, например, будущее Башара Асада. Но все еще не настолько, чтобы они могли об этом будущем договориться. В конце концов не надо забывать, что отношения двух стран, как в эпоху монархической Европы, полностью зависят от стремительно гаснущей и также стремительно возрождающейся дружбы двух государей. А это вряд ли можно назвать твердой и стабильной основой для российско-турецкой дружбы, несмотря на нынешнее стремительное сближение двух стран.[/bilingbox]

    Life.ru: Putins Linie hat sich bewährt

    Auf der Internetseite des kremlnahen Fernsehsenders LIFE dagegen sieht Anna Gimadejewa nach dem Treffen neue Chancen für eine Lösung der Situation im Nahen Osten:

    [bilingbox]Statt eines weiteren feindlich gesinnten Staates an der eigenen Grenze bekommt Russland nun eine günstige strategische Auszeit und die Möglichkeit, an einer Reihe von Energie-Projekten weiterzustricken. Die Türkei wird natürlich kein strategischer Verbündeter oder Freund Russlands. Jedoch kann sie unter dem Druck der Umstände und objektiven Bedingungen ein berechenbarer Partner bei der Lösung von unterschiedlichsten Problemen in der Welt sein.

    Außerdem muss man darauf hinweisen, dass sich die außenpolitische Linie von Präsident Putin vollends bewährt hat: Erstens hat Putin verhindert, dass Russland in einen gefährlichen Militärkonflikt mit der Türkei (und entsprechend mit dem ganzen NATO-Block) hineingezogen wird. Zweitens hat er Ausdauer und Beharrlichkeit bewiesen, dass er der türkischen Führung genau in dem Moment entgegen kommt, der geopolitisch gesehen für Russland am vorteilhaftesten ist.~~~Россия вместо очередного недружественного государства у своих границ получит благоприятную стратегическую паузу и возможность „расшить“ ряд энергетических проектов. Турция, безусловно, не станет стратегическим союзником или другом России, однако под давлением обстоятельств и объективных условий способна быть предсказуемым партнёром в решении целого ряда мировых проблем.


    Также необходимо указать и на то, что полностью оправдала себя внешнеполитическая линия президента Путина, который, во-первых, не дал втянуть Россию в острое военное противостояние с Турцией (и всем блоком НАТО соответственно), во-вторых, продемонстрировал выдержку и упорство, пойдя навстречу турецкому руководству в наиболее выгодный для России с геополитической точки зрения момент.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Klub der Ausgestoßenen

    Eine Ursache der raschen Annäherung von Erdogan und Putin liegt für Alexander Tschursin von der unabhängigen Novaya Gazeta im Zwist der Türkei mit Deutschland wegen der deutschen Anerkennung des Genozids an den Armeniern:

    [bilingbox]Dadurch, dass der türkische Präsident einen eigenen Kalten Krieg gegen Deutschland, und somit gegen die gesamte Europäische Union begonnen hatte, brauchte er Verbündete. Und der Kreml passte am besten in diese Rolle – Russland lebt schon seit zwei Jahren unter Sanktionen, die politische Elite Russlands verwandelt sich in internationale Aussätzige, und Propaganda hat die öffentliche Meinung mit antiwestlichen Einstellungen durchsetzt.~~~Начиная свою собственную холодную войну против Германии, а в ее лице против всего Евросоюза, турецкий президент нуждался в союзниках. И Кремль лучше всего подходил на эту роль — Россия два года живет под санкциями, российская политическая элита превращается в международных изгоев, общественное мнение пропаганда пропитала антизападными настроениями.[/bilingbox]

    Argumenty i Fakty: Türkei nicht allzu eng umarmen

    Im Boulevardblatt Argumenty i Fakty warnt Wjatscheslaw Kostikow vor einer zu engen „Umarmung“ der Türkei:

    [bilingbox]Die russische Diplomatie war in einer äußerst heiklen Situation. Sich ausgerechnet in dem Moment in eine Umarmung mit Erdogan zu stürzen, in dem die Türkei in eine islamische Spielart des Totalitarismus abgleitet, das würde bedeuten, genau diejenigen politischen Vorlieben an den Tag zu legen, vor denen sich Moskau sonst beflissen sträubt. Denn egal wie laut wir auch immer wieder behaupten: „Eurasien, Eurasien über alles!“, unsere Gedanken sind sowohl historisch als auch aktuell mit Europa verbunden. Den Riss zu Europa noch zu vergrößern, das ist gefährlich für Russland. Die Gespräche über eine „Partnerschaft“, über „besondere Beziehungen“, wie sie unsere Diplomatie so gerne führt, muss man im Bezug auf die Türkei mit einem Konjunktiv versehen: „Wir sind nicht dagegen, falls, natürlich…“

    Klar, sehr viele (42 Prozent) wollen an die warmen und süßen Küsten zurück. Aber es ist offenkundig, dass man, wie beim wunderbaren „all inclusive“-System, auch die gefährlichen Besonderheiten der türkischen Politik im Kopf haben muss.~~~Российская дипломатия оказалась в крайне деликатной ситуации. Броситься в объятия Эрдогана в тот момент, когда Турция скатывается в исламскую разновидность тоталитаризма, значило бы продемонстрировать те политические вкусы, от которых Москва старательно открещивается. Ведь как бы громко мы ни твердили: «Евразия-Евразия превыше всего!», наши помыслы и исторически, и актуально связаны с Европой. Углублять разрыв с Европой опасно для России. Разговоры о «партнёрстве», об «особых отношениях», столь любимые нашей дипломатией, в случае с Турцией следует облекать в форму сослагательного наклонения: «Мы не против, если, конечно…»

    Понятно, что очень многим (42%) хочется вернуться к тёплым и вкусным берегам. Но очевидно, что, вспоминая чудесную систему «всё включено», следует помнить и об опасных особенностях турецкой политики.[/bilingbox]

    Blog Echo Moskvy: Türkei ist ein gefährlicher Nachbar

    Auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei Jabloko, Grigori Jawlinski, sieht in der Türkei einen eher gefährlichen Bündnispartner für Russland – wie er auf dem Blog des unabhängigen Radiosenders Echo Moskvy deutlich macht:

    [bilingbox]Für Russland ist es sehr gefährlich, einen solchen Nachbarn zu haben. Hierzu gäbe es viel zu sagen: Dass Erdogan diese Situation mit seiner extrem autoritären Politik selbst herbeigeführt hat, dass diese Politik die Türkei weiter zerlegen wird … Aber angesichts der bestehenden brutalen Konfrontation mit den Kurden und angesichts dessen, dass Erdogan sich nun immer mehr auf islamistische Radikale stützen wird, ist klar, dass dies alles für Russland sehr gefährlich ist. Denn die Türkei ist unser nächster Nachbar.~~~Для России иметь такого соседа — очень опасная вещь. Здесь много о чем можно говорить: что привел к этой ситуации сам Эрдоган своей сверхавторитарной политикой, что теперь эта политика будет дальше разваливать Турцию… Но учитывая существующее жестокое противостояние с курдами, учитывая, что теперь Эрдоган все больше будет опираться на исламистских радикалов, мы понимаем, что все это очень опасно для России. Потому что Турция — наш ближайший сосед.[/bilingbox]

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  • Trump ein Agent Putins?

    Trump ein Agent Putins?

    Putin und Trump auf Kuschelkurs? Putin bezeichnet den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten als „talentierten Politiker“, Trump äußert Verständnis für die russische Angliederung der Krim. Trumps Wahlkampfchef Manafort war zudem lange Jahre Berater des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch (der sich nach seinem Sturz im Februar 2014 nach Russland absetzte).

    Für viel Aufregung im Clinton-Lager sorgte zuletzt außerdem die Veröffentlichung sensibler E-Mail-Kommunikation der Demokraten auf der Plattform Wiki Leaks – laut FBI das Werk russischer Hacker.

    Aber heißt das gleich, dass Trump im Auftrag Moskaus agiert? Ein paar unklare Momente gebe es zwar, meint der Politologe Wladimir Frolow, aber den US-Wahlkampf lenke der Kreml sicherlich nicht. Ihm nutze Trump vielmehr innenpolitisch.

    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com
    Donald Trump geschultert von Putin? – Bild © DonkeyHotey/flickr.com

    Im New-York-Times-Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Donald Trump wurden Positionen laut, die mit den außenpolitischen Interessen Russlands überaus stark im Einklang stehen. Das Interview schlug in den USA ein wie eine Bombe und hat in den führenden Print- und Internetausgaben für eine Flut von Kommentaren gesorgt. Die meisten Experten kommen zu einem wenig tröstlichen Schluss: Trump handelt, vielleicht nicht einmal willentlich, im Interesse Russlands.

    Der US-amerikanische Politologe Sam Greene meint, man könne beim Thema „Trump ist ein Agent Putins“ – was natürlich Unsinn ist – schon von einem Medienhype sprechen.

    Sollte man das nicht etwa begrüßen?

    Moskau dürfte vieles von dem gefallen, was Trump sagt. Seine außenpolitischen Einfälle könnten die Stellung der USA in der Welt bedeutend schwächen und die Beziehungen zu den wichtigsten Partnern der USA in Europa und Asien zerstören. Das wiederum würde den amerikanischen Druck auf Russland verringern.

    Von den Absichten Trumps und seiner Mannschaft ist Folgendes bekannt: Er möchte die US-Verpflichtungen im Sicherheitsbereich beträchtlich einschränken (darunter auch die atomaren Sicherheitsgarantien für die NATO-Staaten, Japan und Südkorea); er möchte von der „Demokratieförderung“ im Ausland und dem Sturz autoritärer Regime Abstand nehmen; in Syrien möchte er mit Präsident Assad und mit Russland gegen den Islamischen Staat zusammenarbeiten; er möchte der Ukraine keine amerikanischen tödlichen Waffen zur Verfügung stellen, und er möchte zur russischen Führung konstruktive Beziehungen aufbauen.

    In den Versprechen Trumps, die Beziehungen zu Russland als einer „Supermacht“ wiederherzustellen, sieht Moskau die Bereitschaft, das Recht Moskaus auf seine Interessensphäre im postsowjetischen Raum anzuerkennen.

    Wenn der möglicherweise zukünftige US-Präsident erklärt, dass die Sicherheitsgarantien der NATO erst nach einer Wirtschaftlichkeitsprüfung greifen sollten, dann bedeutet das auch ein Ende des auf die NATO konzentrierten Sicherheitssystems in Europa. Davon konnte Moskau bislang nur träumen.

    Wenn Newt Gingrich, Mitglied des Trump-Teams und einst vehementer Befürworter einer NATO-Erweiterung, sagt, die USA würden wegen Estland, das „in den Vororten von St. Petersburg“ liegt, keinen Atomkrieg anfangen, was ist das dann bitteschön anderes als eine deutliche Anerkennung der russischen Einflusssphäre?

    Wie meinte doch Präsident Putin, der Trump im Laufe des vergangenen Jahres zwei Mal als „markanten und talentierten Politiker“ bezeichnet hat: „Sollte man das nicht etwa begrüßen?“

    Dubiose Berater

    Die Frage ist nur, ob Moskau deswegen etwas mit der Kandidatur Trumps zu tun hat und ob es dessen Wahlkampf unterstützt, was einen Verstoß gegen US-Gesetze darstellen würde. Ergäbe sich diese Möglichkeit, würde der Kreml sie natürlich mit Freuden nutzen. Schließlich geht man im Kreml davon aus, dass die USA und die EU auf eben diese Weise vorgehen, wenn sie prorussische Führer in den postsowjetischen Weiten oder im Nahen und Mittleren Osten absetzen. Tatsächlich aber hat Moskau solche Möglichkeiten nicht.

    Die USA sind nicht Frankreich, wo Oppositionsparteien wie der Front National von Marine Le Pen bei ausländischen Banken Millionenkredite aufnehmen können. In Amerika ist eine ausländische Wahlkampffinanzierung streng verboten.

    Andeutungen, das Unternehmensimperium von Trump und folglich auch sein Wahlkampf seien wohl von russischen Geldern abhängig, scheinen wenig zu beweisen. Tatsächliche Spuren, dass Trump kommerzielle Projekte in Russland oder mit russischer Beteiligung verfolgt, sind ebenfalls nicht zu finden. Es stimmt zwar, dass er in Moskau einen Trump-Tower bauen wollte; dazu gekommen ist es allerdings nicht.

    Manafort und Moskau

    Viel gesprochen wird von Moskaus Einfluss auf Paul Manafort, Trumps Wahlkampfchef. Als Begründung dient hier, dass Manafort einige Jahre als Medienberater von Viktor Janukowitsch gearbeitet hat, als jener noch Ministerpräsident und dann Präsident der Ukraine war. Wer hieraus eilige Schlüsse zieht, übersieht, dass der Kreml all die Jahre eine Entlassung Manaforts erwirken wollte, da dieser als amerikanischer Einflusskanal betrachtet wurde (hierin lag auch einer der Gründe für Moskaus Misstrauen gegenüber Janukowitsch). Janukowitsch hatte anscheinend verstanden, dass der Kreml dadurch seine Kontrolle über ihn zu stärken suchte, und hat Manafort daher nicht gefeuert.

    Eine politische Rolle hat der amerikanische Berater in keiner Weise gespielt. Vielmehr verfolgte Manafort in der Ukraine seine unternehmerischen Ambitionen, für die seine Verbindungen zu Janukowitschs Beamten und Bürokraten die Grundlage bildeten.

    Mit anderen Worten: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Manafort heute unter dem Einfluss Moskaus steht.

    Eine eingehende Betrachtung verdient allerdings jene mysteriöse Geschichte, dass auf dem Parteitag der Republikaner Änderungen im außenpolitischen Programm der Partei vorgenommen wurden. Aufgrund einer direkten Intervention nicht näher genannter Berater Trumps wurde aus dem Programm die Forderung gestrichen, der Ukraine tödliche, US-amerikanische Waffen zu liefern.

    Wer und was hinter dieser Korrektur der Ukraine-Passage steht, ist eine spannende Frage, und hier gibt es Anlass zum Verdacht. Eine direkte Initiative Moskaus scheint es eher nicht gegeben zu haben. Ob es aber mit Hilfe Dritter informelle Konsultationen mit der russischen Botschaft in Washington gegeben hat, könnte wohl Gegenstand einer Untersuchung durch das FBI werden.

    Russlands Spur bei den US-Wahlen

    Zumindest ansatzweise reale Anhaltspunkte für Versuche Russlands, die Präsidentschaftswahlen in den USA zu beeinflussen, finden sich allenfalls in der skandalösen Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs des Democratic National Committee auf der Website WikiLeaks. Die Mails waren von zwei Hacker-Gruppen erbeutet worden, die wiederum US-amerikanischen Cybersecurity-Experten zufolge mit den russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Zeitpunkt der Veröffentlichung (gleich nach dem Parteitag der Republikaner und kurz vor dem der Demokraten) und Inhalt des vorgelegten Materials zeugen von der Absicht, Clintons Ruf konkret zu schaden. Clintons Wahlkampfteam holte zum Gegenangriff aus: Robby Mook, Kampagnenleiter der Demokraten, beschuldigte in einer Livesendung Russland, sich zugunsten von Donald Trump in den US-Wahlkampf einzumischen.     

    Tatsächlich sieht die Geschichte mit dem Klau und der Verbreitung der E-Mails aus der demokratischen Parteizentrale wie eine klassische „aktive Maßnahme“ aus: Platzierung von kompromittierendem Material, Bloßstellung des zu belastenden Objektes, Demoralisierung seiner Anhängerschaft, indirekte Stärkung der Position des Bündnispartners. Doch zu behaupten, das werde einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wäre unzulässig.

    Mal angenommen, die Idee zu dieser Aktion stamme aus Russland, so zeugt sie doch von absolutem Unverständnis der Mechanismen amerikanischer Innenpolitik und inadäquater Bewertung der Einflussmöglichkeiten. So etwas wird in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern, freien Medien und einem Milliarden-Dollar-Budget für Wahlkampagnen wohl kaum etwas ändern können.

    Wenn es um ein bescheideneres Ziel gegangen wäre – einen Vergeltungsschlag gegen die US-Präsidentschaftskandidatin für den Versuch, mit dem Datenleak der Panama Papers (hinter deren Veröffentlichung Moskau die US-amerikanischen Geheimdienste vermutet) die russische Staatsführung zu diskreditieren, dann kann man eine solche „aktive Maßnahme“ durchaus als erfolgreich bezeichnen. Viel Lärm, die Führung zufrieden, praktischer Effekt gleich Null. Doch mit dem hat man auch kaum gerechnet. Bringt man das aber mit Trump in Verbindung, das heißt nimmt man an, er habe von der Top Secret-Aktion des russischen Geheimdienstes gewusst – dann ist das schon die reinste Verschwörungstheorie.      

    Mit Wettrüsten zermürben

    Die offiziellen russischen Medien machen kein Hehl aus ihrer Sympathie für Trump und ihrer negativen Einstellung gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton. Doch ist das bereits ein Hinweis darauf, dass Russland Trump unterstützt? Nein. Wer sieht sich in den USA schon Nachrichten auf Russisch an? Sogar das englischsprachige RT, das „für Trump feuert“, hat in den USA ein so unbedeutendes Publikum, dass es lächerlich wäre, von einem wie auch immer gearteten Effekt auf die Wahlen zu sprechen.

    Der Grund, warum das russische Fernsehen den republikanischen Kandidaten unterstützt, liegt in der russischen Innenpolitik: Es ist lediglich ein weiteres Mittel, die Regierung Russlands zu legitimieren, wenn sogar ein US-Präsidentschaftskandidat sagt, dass Wladimir Putin eine starke Führungsfigur ist und alles richtig macht. Ein äußerst überzeugendes Argument für den einfachen Bürger Russlands.

    Die viel wichtigere Frage ist, wie Trump im Fall eines Wahlsieges sein außenpolitisches Programm in die Tat umsetzen wird. Die Realisierung seiner außenpolitischen Pläne wird die globalen Turbulenzen nur verstärken, zu akuten regionalen Krisen und zur Verbreitung von Nuklearwaffen führen. Bei aller Attraktivität der Schwächung globaler Positionen der USA entspricht das nicht den Interessen Russlands.

    Andererseits werden einzelne Aspekte von Trumps Konzepten bereits von Obama umgesetzt – etwa der Verzicht auf die Lieferung tödlicher Waffen in die Ukraine und die Ablehnung eines gewaltsamen Sturzes der Regierung Assads in Syrien. Tradition haben in der amerikanischen Außenpolitik außerdem die Forderungen, den Beitrag der Bündnispartner zur gemeinsamen Verteidigung mit den USA zu erhöhen.

    Moskau betrachtet die Präsidentschaft Trumps vorerst als Window of Opportunities in einem Manöver, bei dem man annimmt, von einer Präsidentschaft Clintons sei außer einer noch schärferen Konfrontation nicht viel zu erwarten. Das Problem der „Unerfahrenheit Trumps“ ist Moskau bewusst. Und es bestehen Befürchtungen: Könnten seine populistischen Aufrufe, „Amerika wieder groß zu machen“ (Make America Great Again), zu einem Versuch ausarten – in Reminiszenz an die erste Amtszeit Reagans – die führende Position der USA wiederherzustellen und Russland durch ein Wettrüsten zu zermürben?



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  • Presseschau № 37: Putschversuch in der Türkei

    Presseschau № 37:  Putschversuch in der Türkei

    Rund 300 Tote, 1400 Verletzte, 6000 Festnahmen und 2700 abgesetzte Richter. Das ist die bisherige Bilanz nach dem türkischen Putschversuch in der Nacht zu Samstag.

    Russische Medien debattieren die offenen Fragen: Wer steckt hinter dem Putsch? War am Ende alles nur inszeniert?

    Aber auch: Könnte Gleiches in Russland passieren? Und was bedeutet der Putsch für die NATO sowie für die gerade erst aufgefrischte türkisch-russische Freundschaft?

    Izvestia: Ende der russisch-türkischen Freundschaft?

    Andrej Manoilo, Politikwissenschaftler und Professor an der Moskauer Staatlichen Universität, außerdem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Russischen Sicherheitsrats, vermutet in der kremlnahen Izvestia eine Einmischung der USA und ein baldiges Ende der russisch-türkischen Freundschaft:

    [bilingbox]Womöglich wurden die türkischen Generäle zu diesem verfrühten Aufmarsch von ihren „Partnern“ aus Washington angestoßen, mit denen die Aufständischen ihren finalen Handlungsplan abgestimmt haben.

    […] Der Putsch wurde von der Armee organisiert, die eintritt für „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“. Er sollte die Position Moskaus untergraben (die durch die Wiederaufnahme der Beziehungen zur Türkei gestärkt worden war) und gleichzeitig der ganzen Welt zeigen, was mit politischen Führern passiert, die sich Russland annähern. […]

    Doch Erdogan hat letzten Endes sowohl die aufständischen Generäle als auch die Amerikaner ausgespielt. […]

    […] als sein [Erdogans] Schicksal am seidenen Faden hing, brauchte er wenigstens einen Verbündeten oder Partner. Ein Land, das ihm im Fall des Falles politisches Asyl gewährt. Jetzt, nach dem Sieg und Gericht über die aufständischen Generäle, wird er zum echten Diktator und braucht keine Hilfe mehr, von niemandem. Und so werden die russisch-türkischen Beziehungen möglicherweise wieder zurückgedreht.~~~

    Возможно, к преждевременному выступлению подтолкнули турецких генералов их «партнеры» из Вашингтона, с которыми мятежники согласовывали окончательный план действий. […] путч, организованный военными, выступающими за «демократию, свободу и права человека», должен был подорвать позиции Москвы (восстановление отношений с Турцией эти позиции укрепило) и одновременно показать всему миру, что бывает с политическими лидерами, взявшими курс на сближение с Россией. […]

    Но Эрдоган в итоге переиграл и мятежных генералов, и американцев. […]

    В условиях, когда его судьба висела на волоске, ему нужен был хотя бы один союзник или партнер — страна, которая в случае чего предоставит ему политическое убежище. Теперь же, после победы и суда над мятежными генералами, он станет полноценным диктатором и ни в чьей помощи уже нуждаться не будет. И тогда, возможно, российско-турецкие отношения будут отыграны назад.[/bilingbox]

    Vedomosti: Gut für Russland in Syrien

    Pawel Aptekar dagegen schreibt in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti, dass Russland nun leichteres Spiel mit der Türkei haben wird, wenn es um Syrien geht:

    [bilingbox]Russlands Verurteilung des Umsturzversuchs ist ein unzweideutiger Wink, dass man von der Türkei Veränderungen in ihrer Haltung gegenüber Syrien erwartet. Zwar wird Erdogan wohl kaum auf die Unterstützung der [dortigen] Opposition verzichten, aber für Russland wird es nun leichter sein, sich mit der Türkei über „rote Linien“ zu einigen. Ankara wird sich auf den Norden konzentrieren, Moskau auf Latakia, Tartus und wahrscheinlich Damaskus.~~~Осуждение Россией переворота – недвусмысленный намек, что от Турции ждут изменения позиции по Сирии. Эрдоган вряд ли откажется от поддержки оппозиции, но, вероятно, теперь России будет легче договориться с Турцией о «красных линиях», Анкара сконцентрирует свое внимание на севере, а Москва – на Латакии, Тартусе и, вероятно, Дамаске.[/bilingbox]

    Colta: Besser so

    Politologe Wladimir Frolow ist auf dem unabhängigen Portal colta.ru davon überzeugt, dass der Westen froh darüber sein kann, dass der Putsch misslang – und nicht nur der Westen:

    [bilingbox]Für Russland gilt ungefähr [folgende] Logik: Es ist besser, es mit der bekannten Größe Erdogan und einer stabilen Regierung zu tun zu haben, mit denen die Beziehungen nach einstweiligen Schwierigkeiten nun fast in Ordnung sind, als mit der nicht allzu bekannten Größe der Militärs, die traditionell gegen Moskau eingestellt sind. Sogar hinsichtlich Syriens, in der Kurden-Frage, deutet sich heute zwischen Moskau und Ankara gegenseitiges Verständnis an.~~~Для России действует примерно та же логика: лучше иметь дело с понятным Эрдоганом и стабильным правительством, с которыми после временных трудностей отношения уже почти налажены, чем с не очень понятными военными, традиционно настроенными против Москвы. Даже в связи с Сирией между Москвой и Анкарой сегодня намечается взаимопонимание по курдскому вопросу.[/bilingbox]

    Slon: Türkisches Szenario als Vorbild

    Oleg Kaschin stellt auf dem unabhängigen Portal slon.ru fest, dass der Kreml Umstürze weltweit stets mit großer Aufmerksamkeit verfolge. Und er stellt die Frage, ob ein Putschversuch seitens der Armee auch in Russland möglich wäre – oder ob vielleicht Putin selbst sich von den Ereignissen in der Türkei inspirieren lassen könnte:

    [bilingbox]

    Es lohnt sich, auf 1918 zurückzublicken, als die Bolschewiken für ihre Armee Soldaten und Kommandeure mobilisierten und deren Familienmitglieder als Geiseln nahmen – diese Erfahrung ist sehr wichtig, um das Grundprinzip der Roten Armee zu verstehen, das sich bis heute gehalten hat, wie der Donbass mit seinen anonymen Bestattungen und den Verzichtleistungen der Ehefrauen gezeigt hat: Russische Armeeangehörige muss man sich eher als bewaffnete Geiseln vorstellen und nicht als eine klassische Armee. Und ihr derzeitiger Häuptling, der Volksheld Sergej Schoigu – der ist eben ein Kommissar, also ein vom Kreml eingesetzter Vorgesetzter, und keineswegs der Anführer eines Offizierskorps, das eigene Interessen und Werte besitzt. Sollte es Sergej Schoigu plötzlich in den Sinn kommen, sich an Wladimir Putins Macht zu vergreifen, müsste er mindestens mit Viktor Solotow ein knallhartes Gespräch führen – allein das Sicherungssystem des Kreml vor politischen Überraschungen kann als Meisterwerk der Verteidungskunst gelten […]

    Die russische Armee kann dem Beispiel der türkischen nicht folgen und sich gegen den Kreml erheben – aber den Kreml hindert nichts daran, das türkische Szenario in der Version russischer Verschwörungstheoretiker zu wiederholen und bei uns einen drolligen Putsch zu veranstalten, dessen drollige Niederschlagung zu allem anderen als drolligen Ergebnissen führen wird.~~~

    […] стоит иметь в виду опыт 1918 года, когда, мобилизуя в свою армию солдат и командиров, большевики брали в заложники членов их семей, – этот опыт очень важен с точки зрения понимания базового принципа Красной армии, сохранившегося, как показал опыт Донбасса с анонимными похоронами и отречениями жен, до сих пор – к российским военным правильнее относиться как к вооруженным заложникам, а не как к классической армии, и нынешний ее предводитель, народный герой Сергей Шойгу – он как раз комиссар, то есть назначенный Кремлем начальник, а вовсе не лидер офицерского корпуса, имеющего какие-то свои интересы и ценности. Если вдруг Сергею Шойгу придет в голову посягнуть на власть Владимира Путина, ему придется иметь очень суровый разговор как минимум с Виктором Золотовым – система защиты Кремля от политических неожиданностей сама по себе может считаться шедевром оборонительного искусства. […]

    Да, российская армия не может последовать примеру турецкой и выступить против Кремля – но самому Кремлю вообще ничто не мешает повторить турецкий сценарий в пересказе российских конспирологов и устроить у нас потешный путч, потешное подавление которого приведет к совсем не потешным результатам.[/bilingbox]

    Arkadi Babtschenko (facebook): Da kann Putin noch was lernen

    Kriegsreporter Arkadi Babtschenko zeigt sich auf seinem persönlichen Facebook-Account unmittelbar nach den Ereignissen in der Türkei überzeugt, dass Erdogan den Putsch selbst inszenierte:

    [bilingbox]Hm. Erdogan als Regisseur einer Show – geht so. Das ist der erbärmlichste „militärische Umsturz“, den ich kenne. Obwohl – meiner Meinung nach hat er nicht mal selbst kapiert, wie nah er die Türkei gestern an den Rand des Bürgerkriegs gebracht hat. Die Chancen standen wirklich fifty fifty. Es hätte auch schiefgehen können, ganz unerwartet. Nun, es hat hingehauen. Alles paletti […] Was solls, meinen Glückwunsch an die Erdogansche Türkei zu ihrem langersehnten Sieg über die Demokraktie und die Rückkehr zu geistigen Klammern, Größe und Obskurantismus. Galt der Genosse früher in Bezug auf das Ansichreißen von Macht als kleiner Putin, so kann Putin nun sicherlich selbst etwas dazulernen. Im Grunde hat in der Türkei tatsächlich ein Staatsstreich stattgefunden, und Erdogan hat die Macht ergriffen. Den Kurden natürlich mein herzliches Beileid.~~~

    Нда. Ну, как постановщик шоу, Эрдоган – не очень. Это самый лажовый "военный переворот", который я знаю. Хотя, по-моему, он даже сам не понял, насколько вчера поставил Турцию на грань гражданской войны. Там расклад реально пятьдесят на пятьдесят. Могло бы полыхнуть, как и не ожидал. Ну, прокатило. Сработало. […] Что ж, мои поздравления эрдоганской Турции с её долгожданной победой над демократией и возвращению к скрепам, величию и мракобесию. Если раньше товарища считали за маленького Путина в плане захвата власти, то теперь, безусловно, Путину есть чему поучиться самому. Собственно, государственный переворот в Турции то как раз и состоялся. Власть захватил Эрдоган. Курдам мои соболезнования, конечно.[/bilingbox]

    Komsomolskaja Prawda: Armutszeugnis der NATO

    Im Interview mit dem Radiosender Komsomolskaja Prawda, das vom gleichnamigen Boulevardblatt verschriftlicht wurde, sieht Igor Korotschenko, Chefredakteur der monatlichen Militärzeitschrift „Nationale Verteidigung“, den Putschversuch vor allem als Niederlage der NATO:

    [bilingbox]Die NATO ist nicht im Stande, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Verzeihen Sie, aber die NATO, die in Warschau verkündet hat, dass die größte Sicherheitsbedrohung von Russland ausgehe, erlebt in Nizza einen Schlag durch den internationalen Terrorismus und gleich am nächsten Tag einen Militärputsch in der Türkei. Wir sollten der NATO jetzt sagen: Schaut mal in den Spiegel … aber stattdessen versucht ihr den Spieß in Richtung Russland umzudrehen. Das heißt, wir sollten Zähne zeigen auf der Informations-Ebene. Aktiv sein. Das mag vielleicht zynisch klingen, aber die Situation sieht so aus, dass wir der NATO mal ordentlich zeigen können, wo der Hammer hängt.~~~НАТО не может обеспечить свою собственную безопасность. Извините, НАТО, которое заявило в Варшаве, что главная угроза безопасности – Россия – фактически получило удар от международного терроризма в Ницце и дальше на следующий день – военный переворот в Турции. И мы должны сейчас НАТО сказать – посмотрите в зеркало… а вы пытаетесь стрелки переводить на Россию. То есть, мы должны здесь зубки показать информационные. Быть активными. Ну, знаете, может, это цинично звучит, но ситуация такова, когда мы можем ткнуть НАТО «фейсом об тейбл».[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Presseschau № 35: Ausblick auf NATO-Gipfel

    Presseschau № 35: Ausblick auf NATO-Gipfel

    Auf dem Gipfel in Warschau am 8. und 9. Juli werden die NATO-Staaten vor allem auch die Beziehung zu Russland in Augenschein nehmen.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel machte in ihrer Regierungserklärung am Tag vor dem Treffen Moskau für den Vertrauensverlust verantwortlich. Die russische Presse hingegen diskutiert im Hinblick auf den Gipfel nicht nur die Aufnahme zahlreicher osteuropäischer Staaten in die Allianz in den vergangenen Jahren, sondern auch die mögliche NATO-Mitgliedschaft Finnlands.

    Die Exilpresse im Baltikum wiederum beschäftigt vor allem die Erwartung der osteuropäischen Länder an das Bündnis.

    Kommersant: NATO in der Krise

    Nach dem Außenpolitik-Experten Fjodor Lukjanow, Chefredakteur des Journals Russland in der globalen Politik, haben Russland vor allem zwei Entwicklungen der NATO beunruhigt: die Aufnahme neuer Mitgliedsländer im Osten Europas und die wachsende militärische Aktivität außerhalb des NATO-Gebiets. Die neue-alte Aufgabe der Eindämmung Russlands, so meint er, sollte aber nicht über eine andauernde Krise der Allianz hinwegtäuschen:

    [bilingbox]Die NATO ist – trotz der lautstarken Verkündigungen von Einigkeit und Entschlossenheit – kein monolithischer Block. Europas Norden, Süden, Osten und Westen sind sich uneins in den unterschiedlichsten Fragen. Die Türkei ist sowieso ein Fall für sich. Die Balance zwischen der Alten und der Neuen Welt ist labil, in den USA ist man zunehmend genervt vom Unwillen der Europäer, für die eigene Sicherheit tief genug in den Geldbeutel zu greifen. Die völlige Ahnungslosigkeit darüber, was man im Nahen Osten machen soll, sorgt für zusätzliche Unstimmigkeit in der Allianz. Hinzu kommt das allgemeine Gefühl, dass der atlantische Raum im Vergleich zum pazifischen immer mehr zur Peripherie wird. Und diesen ganzen Blumenstrauß versucht man mit dem Bändchen „aggressives Russland“ zusammenzuhalten, damit er schön aussieht und nicht auseinanderfällt. […]

    Die NATO ist in einer Krise, die nicht durch innere Differenzen hervorgerufen wurde, sondern durch eine Struktur, die für das 20. Jahrhundert konzipiert ist und den Umständen des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert nicht entspricht.~~~НАТО, несмотря на бравурные заявления о единстве и решимости, не монолитно. Север, юг, восток и запад Европы находятся друг с другом в нелинейных и противоречивых отношениях по самым разным вопросам. Турция — вообще отдельный случай. Баланс между Старым и Новым Светом неустойчив, в США растет раздражение нежеланием европейцев как следует раскошелиться на собственную безопасность. Полное непонимание, что делать на Ближнем Востоке, вносит в стройность рядов альянса дополнительный разнобой. К этому стоит добавить общее ощущение того, что атлантическое пространство становится все более периферийным по сравнению с тихоокеанским. И весь этот букет пытаются связать ленточкой с надписью "агрессивная Россия", дабы он стоял красиво и не распадался. […]

    НАТО в кризисе, который вызван не отдельными разногласиями внутри, а несоответствием структуры, спроектированной для ХХ столетия, обстоятельствам второго десятилетия XXI века. И решить эту проблему воссозданием "угрозы из Москвы" не получится.[/bilingbox]

    Vesti: Vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg

    Vesti bringt eine Replik von Alexander Priwalow auf einen Gastbeitrag von Wolfgang Ischinger im Spiegel. Der ehemalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes legt darin u. a. nahe, trotz möglicher „negativer Reaktionen in Moskau auf den Gipfel” weiter den Dialog zu suchen, etwa einen NATO-Vertreter für Gespräche nach Russland zu schicken. Von solchen Vermittlungsversuchen hält Priwalow jedoch nicht viel:

    [bilingbox]Dem Autor ist selbst klar, dass der Westen absolut nicht gewillt ist, seinen friedliebenden Ratschlägen zu folgen. […] Warum wohl sind sich die NATO-Leute der „negativen Reaktionen“ seitens Moskaus so sicher? Nämlich deswegen, weil sie das Ziel des Warschauer Gipfels gut kennen. […]

    Es wird zunächst so aussehen, dass neue NATO-Truppen nahe der russischen Grenzen aufgestellt werden: gut weitere tausend Soldaten im Baltikum und in Polen. Man wird die für die postsowjetische Zeit höchsten Aufstockungen im Verteidigungsbudget der NATO-Staaten beschließen. Man wird (noch ganz vorsichtig) Gespräche über den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands vorschlagen.

    Mit einem Wort: Man wird bewusst einen bedeutenden Schritt hin zu einer Verschärfung der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland machen.

    Von der Auflösung des Warschauer Pakts bis zum Warschauer NATO-Gipfel sind 25 Jahre vergangen und fast schließt sich der Kreis: vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg.~~~Aвтор и сам понимает, что следовать его миролюбивым советам Запад отнюдь не намерен […]. Почему же натовцы так уверены в „предсказуемо негативной" реакции Москвы? А потому, что хорошо знают цель Варшавского саммита. […]

    Выглядеть это на первых порах будет так — будут размещены новые войска НАТО вблизи российских границ: по дополнительной тысяче военных в прибалтийских странах и в Польше. Будет принят план крупнейшего за постсоветский период увеличения расходов стран-членов НАТО на оборону. Будут (пока весьма осторожно) продолжены разговоры о вступлении в НАТО Швеции и Финляндии. Одним словом, будет сознательно сделан заметный шаг к усилению конфронтации Запада и России.

    От роспуска Варшавского договора до Варшавского саммита НАТО – двадцать пять лет и почти полный круг, пройденный за это время. Круг от холодной войны к холодной войне.[/bilingbox]

    Facebook, Lilija Schewzowa: Russland hat NATO provoziert

    Die renommierte Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa erwartet vom Treffen in Warschau keine Wende. Auf ihrem Facebook-Account schreibt sie, die Aufgabe des NATO-Gipfels bestehe darin, dass alle Mitglieder an einem Strang ziehen und dies auch demonstrieren. Sie müssten sich darüber im Klaren werden, wie man das Verhältnis zwischen Dialog und Abschreckung ausbalancieren kann. Russland habe die Allianz herausgefordert – und diese Herausforderung werde die Allianz konsolidieren. Dabei spart sie nicht mit Kritik am russischen Vorgehen:

    [bilingbox]Warum war das nötig, dieses Geschöpf [die NATO – dek] zu wecken und es am Schwanz zu ziehen? Um zu verstehen, dass es sich noch bewegen kann? Oder um eine Antwort auf unsere nationale Frage zu bekommen: „Hast du Respekt vor mir?“ Oder wollte man „Wer blinzelt zuerst“ spielen? Oder versuchen, das Vakuum auf der Weltbühne zu füllen, solange der Westen kriselt? Man könnte sie ja noch mit den Iskander-Raketen in Kaliningrad reizen– das wird ein Vergnügen!

    Wie auch immer: Moskau hat einen strategischen Fehler gemacht, der Russland dazu treibt, den sowjetischen Zusammenbruch zu wiederholen. Ein Versuch, den Koloss zu foppen, der 940 Milliarden Dollar für Kriegs-Spielzeug in der Tasche hat, ist selbstmörderisch.

    Im Übrigen hat Putin bei seinem Treffen mit dem Präsidenten Finnlands Niinistö gesagt: „Wir werden versuchen, auf dem Gipfel in Brüssel einen Dialog mit der NATO anzufangen.“ Auf Initiative der russischen Seite hat ein Gespräch zwischen Putin und Obama stattgefunden. Vor dem NATO-Gipfel in Warschau, übrigens. Das bedeutet, im Kreml versteht man doch, dass es Zeit ist, miteinander zu sprechen …~~~Спрашивается: зачем было будить это создание и дергать его за хвост? Чтобы понять, может ли оно еще двигаться? Или получить ответ на наш национальный вопрос: «Ты меня уважаешь?» Или захотелось поиграть в «Кто моргнет первым?» Или попытаться заполнить вакуум на мировой сцене, пока Запад вошел в кризис? А ведь можно еще их пощекотать «Искандерами» в Калининграде-вот удовольствие то будет!
    В любом случае Москва сделала стратегическую ошибку, которая толкает Россию к повторению советского обвала. Пытаться дразнить махину, у которой в кармане 940 млрд долл на военные игрушки, самоубийственно.
    Впрочем, Путин на встрече с президентом Финляндии Ниинисте сказал: «Попробуем начать диалог с НАТО на саммите в Брюсселе». По инициативе российской стороны состоялся разговор Путина с Обамой. Кстати, перед саммитом НАТО в Варшаве. Значит, в Кремле все же понимают, что пришла пора разговаривать…[/bilingbox]

    Spektr: Nichts als Worte

    Das russische Exilmedium in Lettland Spektr thematisiert die Erwartungen der osteuropäischen Länder:

    [bilingbox]Sie [die osteuropäischen Staaten – dek] erwarten von dem Treffen in Polen demonstrative Einigkeit und Entschlossenheit gegenüber dem Kreml. Charakteristisch dafür ist der Titel eines Artikels in der Financial Times: „Der NATO-Gipfel in Warschau ist ein Test, den der Westen bestehen muss“.

    Es ist jedoch kaum möglich, die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen noch weiter zu verschlechtern. Kaum vorstellbar, dass der scharfen Rhetorik ernsthafte politische Schritte folgen, dass etwa ein Aktionsplan zur Mitgliedschaft postsowjetischer Republiken angestoßen wird. Zum Ausgleich für deren Regierungen kann man Russland im Abschlussdokument erneut auf die Liste der größten Sicherheitsbedrohungen setzen. Allerdings: Mit dem Konstatieren von Fakten allein beeindruckt man heute keinen mehr. ~~~От встречи в Польше они ждут демонстрацию единства и решимости в контактах с Кремлем. Характерным является заголовок редакционной статьи в Financial Times – «Саммит НАТО в Варшаве – экзамен, который Запад обязан сдать».

    Впрочем, это едва ли способно дополнительно ухудшить и без того тяжелое положение в российско-западных отношениях. Сложно представить, что за острой риторикой последуют серьезные политические шаги, такие как предоставление плана действий по членству постсоветским республикам. В качестве компенсации их властям в итоговом документе Россию могут вновь включить в список главных угроз безопасности альянса, но простой констатацией факта сегодня никого не удивишь.[/bilingbox]

    Rubaltic: Gleiche Rhetorik auf beiden Seiten

    Auf dem Kaliningrader Portal Rubaltic, das sich den Ländern des Baltikums widmet, berichtet Wadim Radionow über eine wachsende Zustimmung zur NATO im Baltikum seit den Ereignissen in der Ukraine 2014. Was die Rhetorik beider Seiten betrifft, erinnert er sich an den Ausspruch einer Fremdenführerin in Sankt Petersburg vor zwei Jahren:

    [bilingbox]„Das sind unsere Verbündeten: die Armee und die Flotte“. Und sie fügte hinzu, dass Russland auf niemanden sonst in dieser Welt zählen könne. Diesen Gedanken hatte sie sich offensichtlich von Alexander III. geborgt, dem dieser Satz zugeschrieben wird.

    Eine ähnliche Rhetorik kann man auch in Lettland hören: Auch hier spricht man inzwischen von der NATO als quasi einzige Hoffnung und Stütze. Die Rhetorik ist auf beiden Seiten recht ähnlich. Man gewinnt den Eindrück, als würden beide einander bloß „spiegeln“. Doch diese Spiegel sind noch dazu verbogen, was die Situation ins Groteske führt. […]

    Im Grunde regiert die Angst – beide Seiten handeln, während sie immerzu aufeinander schauen. Die NATO schickt ein paar Panzer ins Baltikum – Russland verstärkt seine Truppen in Kaliningrad. Um das aufzuhalten, müsste man wohl aufhören, sich gegenseitig zu fürchten. Aber das ist, wenn man die allgemeine Nervosität bedenkt, keine leichte Aufgabe. Und genau an guten Psychiatern fehlt es momentan.~~~«Наши союзники – армия и флот». И добавила, что России больше не на кого рассчитывать в этом мире. Эту мысль она, судя по всему, почерпнула у Александра III, которому приписывают эту фразу.

    Похожую риторику можно услышать и в Латвии, здесь теперь тоже говорят об армии НАТО как практически единственной надежде и опоре. Риторика в обеих странах очень похожа. Складывается впечатление, что они просто «зеркалят» друг друга. Но зеркала эти еще и кривые, что доводит ситуацию до гротеска. […]

    По сути, ситуацией управляет страх – стороны действуют, глядя друг на друга. НАТО пригоняет танки в Балтию, Россия усиливает свою группировку в Калининграде. Наверное, чтобы остановиться, нужно перестать бояться друг друга. Сделать это, учитывая общую нервозность, будет очень непросто. А хороших психиатров сейчас как раз не хватает.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Duma: Masse statt Klasse?

    Duma: Masse statt Klasse?

    Die kritische Internet-Community nennt sie oft den „durchgedrehten Drucker“, der massenhaft Gesetze ausspuckt: die russische Staatsduma. Die Volkskammer der sechsten Legislaturperiode (seit der Verfassungsreform von 1993, mit der das Parlament eingeführt wurde) hat Ende Juni ihre Arbeit beendet. Nach der parlamentarischen Sommerpause stehen im September 2016 Neuwahlen an.

    Nach heftigen Wahl-Protesten hatte die sechste Staatsduma im Dezember 2011 ihre Arbeit aufgenommen und in der Zeit bis Ende Juni 2016 mehr Gesetze beschlossen, als in jeder Legislaturperiode zuvor. Der Paukenschlag kam vor der letzten Sitzung: Das umstrittene Anti-Terrorpaket mit womöglich verheerenden Auswirkungen auf die Meinungs- und Informationsfreiheit, nach der initiierenden Abgeordneten auch JarowajaGesetz genannt, wurde durchgewunken.

    Es ist nicht der einzige umstrittene Gesetzesentwurf der vergangenen Legislaturperiode: Das Dima-Jakowlew-Gesetz, das unter anderem US-Amerikanern die Adoption russischer Kinder verbietet, ein weiteres Gesetz, das homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt, das NGO-Agentengesetz, wonach NGOs nicht mit ausländischen Geldern finanziert werden dürfen, sowie die rechtlichen Grundlagen für die Angliederung der Krim 2014 – das sind nur einige der Neuerungen, die zwischen 2011 und 2016 verabschiedet wurden.

    Zur finalen Sitzung fand Präsident Wladimir Putin lobende Worte und dankte den Abgeordneten unter anderem für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands.

    Doch welch politisches Klima bleibt nach so viel Gesetzesnovellen und -änderungen? Wie sehr kann die Duma parlamentarischen Kompetenzen nachgehen? Die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann zieht auf Vedomosti kritische Bilanz.

    Präsident Wladimir Putin dankt den Duma-Abgeordneten für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands – Foto © kremlin.ru
    Präsident Wladimir Putin dankt den Duma-Abgeordneten für ihre „konsolidierende Unterstützung“ zum Wohle Russlands – Foto © kremlin.ru

    Russlands sechste Staatsduma hat ihre Arbeit für die laufende Legislaturperiode abgeschlossen. Fünf Jahre und neun Sitzungsperioden liegen hinter uns, mit über 6000 zur Prüfung vorgelegten Gesetzesentwürfen und 1816 neuen Gesetzen, 383 davon allein in der letzten Sitzungsperiode.

    Pro Sitzungsperiode hat die Staatsduma in der sechsten Legislaturperiode  zwischen 150 und 380 Gesetze verabschiedet. Zum Vergleich: Der Kongress der Vereinigten Staaten hat seit Januar 2015 183 Gesetze beschlossen; in der zweijährigen Legislaturperiode werden in den USA zwischen 175 und 279 neue Gesetze verabschiedet.

    „Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er“

    Was macht den Gesetzgebungsprozess derart schnell? Und warum bringen gerade semiautokratische Regime so viele Gesetze hervor? Dafür gibt es dreierlei Gründe – zwei schlechte und einen eher guten.

    Der erste Grund für die ungesunde gesetzgeberische Produktivität ist allgemeiner Natur und betrifft nicht nur das gegenwärtige politische System Russlands: Eine instabile Rechtslage ist per se gut für den Staat und schlecht für den Bürger. Es ist der Staat, der jedes neue Gesetz implementiert, und unabhängig von dessen Inhalt ist ein Teil des Verwaltungsapparats jeweils damit beschäftigt, es umzusetzen und Verstöße zu ahnden. Jedes neue Gesetz bedeutet neue Befugnisse und neue Möglichkeiten. Den Bürger seinerseits schützt bekanntlich Unwissenheit vor Strafe nicht – und die fortwährende Änderung der Regeln, nach denen er lebt, macht ihn in jedem Moment zum potentiellen Gesetzesbrecher. „Corruptissima re publica plurimae leges“, heißt es bei Tacitus: Je verdorbener der Staat, desto mehr Gesetze hat er.

    Jedes Gesetz der Beginn eines Feuerwerks von Überraschungen

    Zweitens funktioniert der Entscheidungsprozess in einem System, das sich von der Außenwelt abschottet und nur einem immer enger werdenden Kreis von Akteuren und Einflussgruppen zugänglich ist, nach zwei Prinzipien: Schnelligkeit und Geheimhaltung – eine Entscheidung muss plötzlich und unerwartet fallen. Dementsprechend werden bei solchen Entscheidungen, auch den gesetzgeberischen, weder unabhängige Expertenmeinungen noch die öffentliche Meinung zugelassen.

    Einmal in der Welt, entspricht die Entscheidung dann oft nicht den Erwartungen ihrer Initiatoren; ihre Umsetzung bewirkt ein nicht endenwollendes Feuerwerk von Überraschungen – umgehend werden Nachbesserungen erforderlich: Bis zu 85 Prozent der Gesetzesinitiativen, die die Duma prüft, sind keine im eigentlichen Sinne neuen, sondern Abänderungen schon bestehender Gesetze. Die Verabschiedung eines Gesetzes ist im russischen System nicht das Ende, sondern der Anfang der Diskussion über die „Regelung“ einer Branche oder Sphäre.

    Viele Gesetze – besser als viele Dekrete

    Und damit kommen wir zum dritten Grund, in dem man mit einigem guten Willen die positive Seite der parlamentarischen Stoßarbeit sehen kann: In vielen (lateinamerikanischen, nahöstlichen) Autokratien, die Russland typologisch ähneln, werden sämtliche aktuellen Fragen des politischen Lebens durch Dekrete oder Erlasse des Staatsoberhaupts gelöst. Das Parlament hat rein dekorative Funktion – nicht in dem Sinn, dass es „nichts mitzureden hat“, wie man in Russland sagt, sondern dass es gar nichts mitzureden gibt: Es gibt keinen Bedarf an neuen Gesetzen.

    In Russland ist dieses „Dekretrecht“ relativ schwach ausgebildet; die Zahl und das Gewicht der Fragen, die qua Erlass des Präsidenten entschieden wurden, sind nach der Regierungszeit Boris Jelzins unter Wladimir Putin gesunken (siehe z. B. Thomas Remington: Presidential Decrees in Russia: A Comparative Perspective, New York 2014).

    Das heißt, statt eines rein formalen Parlaments mit einem ersten Mann an der Spitze, der die Strahlen seiner Gnade via Ukas aussendet, haben wir ein Parlament, das eine große Zahl von Gesetzen beschließt – die ihrerseits eine noch größere Zahl von gesetzlichen Bestimmungen nach sich ziehen.

    Doch auch unter den gegenwärtigen Bedingungen werden Gesetze offener formuliert und diskutiert als Präsidentenerlasse. Und selbst eine noch so streng reglementierte und zentralisierte Duma ist allemal transparenter als jedes Ministerium – von der Präsidialadministration ganz zu schweigen.

    Kaum ein gutes Wort

    Über die nun zu Ende gegangene sechste Legislaturperiode wird kaum jemand ein gutes Wort verlieren. Der Präsident rechnete ihr in seiner Abschlussrede eine Reihe legislativer Maßnahmen als Verdienst an, mit denen sie nur sehr am Rande zu tun hatte, insbesondere die sogenannte rechtliche Integration der Krim.

    Aus einem anderen Blickwinkel kann man das scheidende Parlament dafür loben, dass es das Interesse der Bürger und der Medien für den Gesetzgebungsprozess verstärkt hat, ja, dass es die Bürger des Landes zu ersten Аnsätzen von Rechtsbewusstsein gezwungen hat. Und sei es nur in Form der permanenten Sorge, es könnte schon wieder die nächste Scheußlichkeit beschlossen worden sein. Die früher nur von einschlägigen Spezialisten und Duma-Mitarbeitern frequentierte Parlaments-Internetseite ASOZD gehört mittlerweile zu den populärsten im Runet.

    Russland und der Welt vorgeführt, wie man Gesetze eben nicht diskutiert

    Abgesehen davon war der sechsten Staatsduma nichts zu schade, um Russland und der Welt vorzuführen, wie man Gesetze eben nicht diskutiert und verabschiedet und wie es in einem funktionierenden Parlament nicht zugehen sollte: Gesetzesprüfungen im Eilverfahren durchpeitschen, parlamentarische Verfahrensweisen missachten und zentrale Debatten unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen, Kompetenzen an die Exekutive abgeben, die damit verbundene Rechenschaftspflicht aber behalten, Abgeordnete der Fraktions- und Parteiführung unterwerfen und Elemente eines imperativen Mandats einführen – das sind Sünden gegen den Parlamentarismus.

    Die Verabschiedung einer ganzen Reihe von repressiven, expropriatorischen, rückwärtsgewandten und im Wortsinn volksfeindlichen Gesetzen war erst deren Folge.

    Drei Gruppen schädlicher Gesetze

    Rekapitulieren wir, welche Art von Schaden die scheidende Duma Russlands Rechtssystem im einzelnen zugefügt hat. Das Massiv der verabschiedeten Gesetze lässt sich nach Quantität und Schädlichkeit in drei Gruppen unterteilen:

    Die erste Gruppe, das sind überaus medienwirksame neue Gesetze, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es geht dabei um konkrete Verbote, also Rechtsnormen, die bestimmte Handlungen untersagen: die Teilnahme an Demonstrationen, das Verunglimpfen der Staatsführung im Internet, den Besitz von Medienunternehmen (für Ausländer), die Entgegennahme von Spenden aus dem Ausland (für NGOs).

    Zu dieser Gruppe gehören auch diverse Verschärfungen im Straf- und im Strafvollzugsrecht: die Einführung von neuen Straftatbeständen und neuem Strafmaß im Strafgesetzbuch, die Verlagerung von bestimmten Tatbeständen aus dem Verwaltungs- ins Strafrecht.

    Den konkreten Verboten schließen sich konkrete Geldabgaben an: diverse neu eingeführte Steuern und Abzüge, die Erhöhung von Verbrauchssteuern und Gebühren, das Einfrieren vermögensbildender Rentenanteile, die Umverteilung von Staatseinnahmen weg von den Bürgern hin zum Verwaltungsapparat.

    So verheerend die Verbote und Geldabgaben für diejenigen sind, die sie zu spüren bekommen: Was die Gesundheit des Rechtssystems und ihre Auswirkungen angeht, sind sie eher punktuell und wieder gutzumachen. Rechtsnormen dieser Art lassen sich leicht aufheben, und der Schaden, den sie anrichten, ist reparabel.

    Nicht die Härte der Gesetze ist das Problem – sondern ihre Vagheit

    Doch diese Kategorie eher stumpfer gesetzgeberischer Werkzeuge wird erweitert durch Gesetze, die auf subtilere Weise Schaden anrichten: das sind Rechtsnormen, die Kompetenzen und Vollmachten in die unteren Etagen der Verwaltungspyramide verlagern.

    Der zentrale Hebel der Repression in Russlands Regierungspraxis ist nicht die Härte der Gesetze, sondern deren Vagheit.

    An der Mehrzahl der neuen strafrechtlichen Normen – dem Extremismusgesetz, dem Betrugsparagraphen, den Bestimmungen des NGO-Gesetzes über ausländische Agenten – lässt sich das gut ablesen. Was ist Extremismus, worin unterscheiden sich unternehmerische von betrügerischen Aktivitäten, wann liegt eine politische Tätigkeit vor, was hat man unter Propaganda nichttraditioneller Familienwerte zu verstehen?

    Die betreffenden Gesetze sind entweder so allgemein formuliert, dass sie sich auf alles mögliche anwenden lassen, oder so nebulös, dass man überhaupt nicht versteht, was gemeint ist. In der Praxis bedeutet das, dass die Ausdeutung der jeweiligen Rechtsnorm delegiert wird – an den Abschnittsbevollmächtigten, den Ermittler, den Gerichtsgutachter, den Mitarbeiter des Justizministeriums.

    Am Ende profitiert die Exekutive

    Die Duma, die sich den Ruf des größten Gendarms und Schutzherrn unserer Zeit erworben hat, stattet auf diese Weise also keineswegs sich selbst mit immer größeren Befugnissen aus, sondern die Mitarbeiter der Exekutive und des Justizvollzugs.

    Dasselbe gilt für die Gesetze zur verschärften Kontrolle von Internet, Telekommunikation, Handelsketten oder Mobilfunkanbietern – überall profitiert am Ende die Struktur der Exekutive, deren Verordnung oder Dienstanweisung den jeweiligen Bereich reguliert, während das Gesetz nur auf die nachgeordnete Vorschrift verweist.

    Nachdem die Duma die Hoheit über Sanktionen wie Finanzen also der Exekutive überlassen hat, was bleibt ihr noch?

    Die gegenwärtige Lage konservieren

    Die dritte Kategorie gesetzgeberischer Neuerungen ist die Gruppe der konservativen Gesetze – konservativ nicht im Sinn des Schutzes „traditioneller Werte“, worin auch immer diese bestehen, sondern ganz wörtlich: Rechtsnormen, die darauf abzielen, die gegenwärtige Lage zu konservieren. Dazu gehören sämtliche Änderungen des Wahlgesetzes, Neuregelungen der Teilnahme an der Wahl, des Wahlkampfs, der Finanzierung, der Debatten, des Status des Abgeordneten und sogar, seltsamerweise, der Möglichkeit des Mandatsentzugs.

    So komplex und chaotisch diese Novellierungen auch waren (allein die 2014 verabschiedete neue Fassung des Gesetzes „Über die Wahlen der Abgeordneten der Staatsduma“ wurde schon achtmal geändert), so schlicht ist doch das Ziel, dem all diese Filter, Barrieren und Verbote dienen: Sie sollen denen, die im System sind, maximale Privilegien sichern, und gleichzeitig allen neuen, Systemfremden, als „Outsider” wahrgenommenen Elementen den Zugang dazu erschweren.

    Schweres Erbe

    So hat die Duma ihrer sechsten Legislaturperiode mithin die politische und wirtschaftliche Freiheit der Bürger eingeschränkt, sie hat die Exekutive mittels vage formulierter neuer Gesetze mit neuen Befugnissen ausgestattet und zum eigenen Vorteil die Zeit angehalten: Das ist, kurz gesagt, ihr gesamtes gesetzgeberisches Erbe.

    Von dem Stigma zweifelhafter Legitimität, das ihr von Anfang an anhaftete, suchte sie sich zu befreien, indem sie sich einer außenpolitischen Agenda anschloss, die sie nicht selbst formuliert hatte und auf die sie keinerlei Einfluss hatte.

    Dem Brauch der permanenten Korrektur folgend wird das nächste Parlament die Novellen der sechsten Staatsduma wiederum überarbeiten. Wie eine Sisyphusarbeit mutet dies umso mehr deshalb an, weil diejenigen, die die Gesetze beschlossen haben, weitgehend identisch sind mit denen, die sie aufheben.

    Noch die einfachste Aufgabe für die Zukunft dürfte sein, zuvor verschärfte oder detaillierter ausformulierte Rechtsnormen wenn nötig wieder „abzumildern“ oder zu „entbürokratisieren“ – eine neue Regierung oder politische Führung kann sich auf diese Weise leicht den Ruf von „Reformern“ erwerben (selbst wenn sie aus denselben Personen besteht wie zuvor).

    Schwerer wird es – falls überhaupt irgendjemand darin eine Notwendigkeit sieht –, das Ungleichgewicht zwischen den Gewalten zu korrigieren und einem verantwortungsvollen Parlament zumindest einen Teil seiner Kompetenzen zurückzugeben; noch schwerer bis unmöglich: seinen Ruf halbwegs wiederherzustellen.

    In dieser Hinsicht droht uns das Erbe der sechsten Legislaturperiode noch lange erhalten zu bleiben.

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