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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Umzingelt von Freunden?

    Umzingelt von Freunden?

    Mit Donald Trump als designiertem neuen US-Präsidenten betritt im Januar ein Mann die internationale Bühne, der schon vor der ersten Amtshandlung das Credo „Make America Great Again“ ausgab. Wie er die USA in den alltäglichen Regierungsgeschäften führen wird, ist bisher allerdings unklar. Ebenso, welche Rolle das Land innerhalb der Nato und im Verhältnis zu Europa einnehmen wird – und damit in Syrien-Krieg und Ukraine-Konflikt.

    Von Russland aus betrachtet sehe diese neue Situation schon klarer aus, glaubt Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau. Zumindest ein bisschen. Denn neuerdings befinde sich Russland gewissermaßen unter Gleichgesinnten, schreibt er in dem oppositionellen Wochenblatt The New Times. Aber was hieße das für ein Land, das sich bisher eher als geächteter Außenseiter positionierte? Und was wird dann aus alten Feindbildern? Skizze eines komplizierten Ausblicks.

    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)
    Grafik © Chris Piascik/flickr.com (exp. background)

    Brexit, Sieg von Donald Trump, Erfolg des Putin-Freunds Francois Fillon bei den Vorwahlen (und höchstwahrscheinlich auch bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017) – nach all diesen Ereignissen fühlen sich Putin und seine Eliten beinahe wie Trendsetter der neuesten Innen- und Außenpolitik: „Wir haben’s euch ja gesagt! Und ihr wolltet nicht auf uns hören! Also, bitte sehr, da habt ihrs!“

    Festung plötzlich ohne Feinde

    Einerseits hat sich das äußere Umfeld für Russland tatsächlich verändert. Andererseits lassen all diese Veränderungen völlig unerwartet eine grundlegende, ungeschriebene Doktrin erodieren. Eine, auf der die Post-Krim-Konsolidierung der Putinschen Eliten beruht: die Doktrin der belagerten Festung. Der Westen übt Druck auf Russland aus, führt einen Informationskrieg, die NATO nähert sich Russlands Grenzen, und wir verteidigen uns, sichern die belagerte Festung, erweitern ihre Grenzen, führen gerechte Kriege, ergreifen innerhalb der Festung Nationalverräter und rücken um den Kommandanten dieser Festung eng zusammen, sprich um den Anführer der Nation.

    Ein solches Modell, das noch zusätzlich mit geistigen Klammern und Mythen wie den 28 Panfilow-Helden umrankt ist, hat nicht nur für die Konsolidierung der Eliten, sondern auch für die Bereitschaft von 70 Prozent der Bevölkerung gesorgt, eine selbstzerfleischende Politik von Gegensanktionen zu unterstützen (laut Angaben des Lewada-Zentrums eine der stabilsten Zahlen in soziologischen Erhebungen).

    Doch wenn wir unterdessen selbst die Trends in der Weltpolitik setzen – vor wem soll man sich dann noch schützen? Die belagerte Festung wird von Moos bewachsen und der Festungsgraben wird zum Sumpf mit Seerosen.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte sich Putin, in einer Reihe mit George Bush junior und Tony Blair zu stehen und nach ihren Regeln zu spielen. Aber weltpolitischer Anführer nach westlicher Art zu werden, klappte nicht. Mittlerweile ist er weltpolitischer Anführer auf seine Art. Und diese Art hat der Westen gekauft. Dort, im Westen, verkauft Putin erfolgreich Ängste – und im Inland Drohungen. Jetzt ist ausgerechnet er der Hügelkönig.

    Das für alle hässliche (aber für uns hübsche) Entlein Donald (Trump) passt perfekt zu den Bestrebungen von Russlands oberstem Politiker: #DonaldTrumpNasch, #FillonNasch, alle rechten (na, und die linken) Populisten gehören uns. Putin ist weltpolitischer Anführer. Was will man mehr? Mit wem soll man noch kämpfen?

    Trump kann Erwartungen auch verfehlen

    Nun ja, erstens hat sich die Post-Krim-Mehrheit nicht nur durch äußere Kriege konsolidiert. Innere Kriege mit der Fünften Kolonne, mit der Opposition, mit korrupten Liberalen (und Generälen ebenso – der Silowiki-Teil des Systems reinigt sich selbst) können genauso effektiv das eigene Ansehen heben. Zumindest bis zur Wahl 2018.

    Zweitens ist noch nicht völlig ersichtlich, ob sich die breit verkündete Trumpisierung der demokratischen Welt als stabiler Trend erweist, der das Putinsche Russland vom Geächteten zum Trendsetter macht.

    Sollte Trump dann mit einem Mal doch nicht die Erwartungen der russischen Führung erfüllen und Europa in seiner politischen Ausrichtung und in der Frage der Sanktionen solidarisch bleiben, sollte die Haltung der NATO für die westliche Welt weiterhin Konsens bleiben, dann wird die Frustration im Putinschen Russland äußerst heftig ausfallen. Es gibt nichts Schlimmeres als zu hohe Erwartungen. Trumps Amerika gegen Putins Russland – das wäre eine abenteuerliche Unternehmung mit offenem Ergebnis.

    Wenn wir nun über wirklich langfristige Trends sprechen, darf man außerdem nicht vergessen, dass alle Schlüsselländer der westlichen Welt Demokratien sind. Der Rechtspopulismus muss nicht von Dauer sein. Immerhin gehen Wahlen im Westen bisher noch nicht nach russischem Schema vor sich: Das Pendel des Wählervotums kann komplett in die andere Richtung ausschlagen. Wer weiß schon, wie lange sich dieser neue Politikertyp erfolgreich und stabil an der Macht hält.

    Muss Putin sich neu erfinden?

    Begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir die aktuelle Tendenz der Trumpisierung auf die Zukunft hochrechnen? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Faktoren, die diese Tendenz bedingt haben (das Verlangen nach Politikern neuen Typs, Migrationsströme, Terrorbedrohung), keineswegs verschwunden sind. Es ist ohne Zweifel ein Test für die Demokratie westlichen Typs, wobei ihre institutionellen Grundlagen stark genug sind, daher ist anzunehmen: Sie wird diese Regierenden al là Trump mittel- und langfristig verdauen.

    Kurzum, die Konturen der Außenwelt, in der sich die Putinsche Regierung fortan bewegt, beginnen gerade erst, sich abzuzeichnen. Bisher gibt es keine Klarheit darüber, worauf die Akzente des bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampfes für 2018 gesetzt werden und wie es mit der Suche nach neuen und alten Feinden aussieht, mit denen gekämpft werden muss, damit sich die Massen stabil um ihren Anführer scharen. Klar ist nur, dass Putin den Eliten mögliche Antworten auf die neuen außenpolitischen Herausforderungen aufzeigen muss, um sie davon zu überzeugen, dass er die Situation unter Kontrolle hat. Sonst könnte man ihn aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach 2018 als „lahme Ente“ wahrnehmen. Und dann jemanden suchen, der eine klare und deutliche Antwort auf die neuen Herausforderungen formulieren kann.

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  • Presseschau № 46: Putins Programmrede

    Presseschau № 46: Putins Programmrede

    Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hält im Dezember traditionell eine Jahresrede vor den wichtigsten Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien des Landes, sehr feierlich im prunkvollen Georgssaal des Kreml. Viel hat er in diesem Jahr über die wirtschaftliche Lage des Landes gesagt, aber auch über den Kampf gegen Korruption und Terrorismus. Auf ein Thema, das in den vergangenen Jahren dominierte – die Außenpolitik – setzte er wenige Akzente, kam vor allem auf Syrien zu sprechen, am Rande noch auf die USA, sprach von Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem neuen Präsidenten Trump.

    Viel Wert wird gewöhnlich auf das in dieser Rede skizzierte Programm gelegt, es gilt oft als eine zumindest rhetorische Richtschnur für das bevorstehende Jahr. Wie hat die russische Presse diesmal Putins Worte interpretiert? Und müssen es immer die Worte selbst sein, die bei diesem Auftritt wichtig sind? Was wurde nicht gesagt und warum? Sowohl unabhängige als auch staatsnahe Medien haben da ihre Lesarten. Eine Presseschau.

    Vedomosti: Putin 1981

    Die unabhängige Tageszeitung Vedomosti betont zunächst, dass der Sinn derartiger Botschaften darin bestehe, einen jeweils für notwendig erachteten Ton anzugeben. Nachdem die Kommentatoren eine Reihe von Unstimmigkeiten in der Rede Wladimir Putins aufgezeigt haben – etwa die, dass zwar das Wachsen des Bausektors erwähnt wurde, nicht aber die Tatsache, dass gleichzeitig die Kaufkraft der Wohnungssuchenden sinkt – ziehen sie eine Parallele zum Jahr 1981:

    [bilingbox]Solche Reden sind aber – neben allem anderen – auch immer Texte, in denen zwischen all den überzogenen Rechenschaftsberichten, patriotischen Losungen und den schwer realisierbaren Handlungsanweisungen auch ein Moment der Wahrheit steckt. […]

    ,Eine Stabilisierung, das bedeutet nicht automatisch einen Übergang zu einer dauerhaften Aufwärtsentwicklung. Wenn wir nicht grundlegende Probleme der russischen Wirtschaft lösen, nicht mit voller Kraft neue Wachstumsfaktoren schaffen, dann können wir für Jahre in einem Nullwachstum steckenbleiben. Und das hieße, wir müssten uns ständig einschränken, immer sparen und alle Entwicklung auf ein Später verschieben‘, nahm der Präsident das zur Kenntnis, was vor sich ging. Und korrigierte sich pflichtgemäß: ,So etwas können wir uns nicht erlauben.‘

    Die Stagnation wird noch 20 Jahre andauern, das prophezeite vor etwa einem Monat das Wirtschaftsministerium, das bald darauf auf dramatische Weise seiner Führung verlustig ging. An so etwas müssen wir uns nicht neu gewöhnen, denn wir erinnern uns ja: ‚Die Bilanz der Entwicklung der Volkswirtschaft bestätigt auf überzeugende Art und Weise die Richtigkeit der ökonomischen Strategie der Partei. […] Die Intensivierung der Landwirtschaft ermöglichte es, unentwegt den Umfang der Produktion zu steigern. […] Jetzt geht es darum, an der gewonnenen Erfahrung anknüpfend, Hindernisse beiseite zu schaffen, die das Wirtschaftswachstum bremsen.‘ Leonid Breshnew, XXVI. Parteitag der KPdSU, 1981.~~~Послания, ко всему прочему, это текст, в котором среди подтянутых отчетов, патриотических лозунгов и трудноисполнимых поручений всегда есть момент истины. ‚Стабилизация не означает автоматического перехода к устойчивому подъему. Если мы не решим базовые проблемы российской экономики, не запустим в полную силу новые факторы роста, то на годы можем зависнуть возле нулевой отметки и, значит, нам придется постоянно ужиматься, экономить, откладывать на потом свое развитие‘, – признал то, что уже происходит, президент. Но тут же дежурно поправился: ‘Такого мы себе позволить не можем‘.

    Стагнация продлится еще 20 лет, предсказывало месяц назад Минэкономразвития, вскоре драматично лишившееся руководителя. Нам не привыкать, мы помним: ‚Итоги развития народного хозяйства убедительно подтверждают правильность экономической стратегии партии […] Интенсификация сельского хозяйства позволила неуклонно увеличивать объем продукции. […] Теперь дело за тем, чтобы, опираясь на накопленный опыт, устранять препятствия, мешающие росту экономики‘. Леонид Брежнев, XXVI съезд КПСС, 1981 г.”[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Wahlkampfauftakt

    Die Novaya Gazeta sieht in der Rede von Wladimir Putin bereits eine Art frühen Wahlkampfauftakt – im März 2018 soll in Russland ein neuer Präsident gewählt werden. Das sei der Grund für den inhaltlichen Schwenk zur Innenpolitik.

    [bilingbox]Zum Glück ist es [in der Rede – dek] dieses Jahr ganz ohne Anspielungen auf die ,schwierige geopolitische Lage‘ abgegangen und ohne Kritik ,an unseren westlichen Partnern‘.

    Zum einen reagiert der Präsident darauf, dass die Gesellschaft offensichtlich der außenpolitischen Diskussionen müde ist – gerade wurde eine Umfrage des Lewada-Zentrums veröffentlicht, in der sich 75 Prozent der Russen für eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen aussprechen. Es deutet sich aber auch die Suche nach einem neuen Bild Putins an, für den Start der Kampagne im Präsidentschaftswahlkampf, die allem Anschein nach recht bald beginnen dürfte – und um die zu gewinnen, reicht die Krim allein schon nicht mehr aus.~~~К счастью, в этом году совсем обошлось без отсылок к ‚сложной геополитической ситуации‘ и без критики ‚наших западных партнеров‘.

    Президент, с одной стороны, реагирует на очевидную усталость общества от внешнеполитических дискуссий — накануне был опубликован опрос Левады, согласно которому 75 % россиян выступают за нормализацию отношений с Западом. Но также здесь намечен поиск нового образа Путина для старта президентской кампании, которая, судя по всему, начнется по историческим меркам совсем скоро — и выиграть ее одним Крымом уже не получится.[/bilingbox]

    Rossijskaja Gazeta: Innere Probleme größer als durch die Sanktionen

    Im Amtsblatt der russischen Regierung, der Rossijskaja Gazeta, wird dieser innenpolitische Fokus der Rede besonders betont – auch im Kontext der gegen und von Russland selbst verhängten Sanktionen. Die Zeitung hebt zudem hervor, dass der Präsident eine Steuerreform angekündigt hat.

    [bilingbox]Mehrere Male sprach das Staatsoberhaupt über die Sanktionen, ‚mit denen man uns dazu bringen wollte, nach einer fremden Pfeife zu tanzen‘. Aber die Hauptursachen für die Verlangsamung der Wirtschaft liegen Putins Ansicht nach vor allem in unseren innenpolitischen Problemen. Es gibt daneben jedoch auch viele positive Momente, in einer Reihe von Branchen ist ein Wachstum spürbar.

    In der Wirtschaft braucht es keine abstrakten Szenarien, sondern professionelle Prognosen für die Entwicklung, schloss das Staatsoberhaupt und wies das Kabinett an, gemeinsam mit den Unternehmerverbänden bis Mai einen Plan auszuarbeiten mit einem Zeithorizont bis 2025, dessen Umsetzung es erlaubt, zum Anbruch des neuen Jahrzehnts 2019 bis 2020 ein schnelleres Wachstum als der Weltmarkt zu erreichen.

    Außerdem schlug der Präsident vor, im Laufe des kommenden Jahres Vorschläge zum Umbau des Steuersystems zu prüfen, bis 2018 die Korrekturen vorzunehmen, und sie ab 2019 umzusetzen.~~~Несколько раз глава государства говорил о санкциях, ‚которыми нас пытались заставить плясать под чужую дудку‘. Но главные причины торможения экономики кроются прежде всего в наших внутренних проблемах, считает он. Впрочем, много и положительных моментов, в ряде отраслей заметен рост.

    В экономике нужны не абстрактные сценарии, а профессиональный прогноз развития, заключил глава государства и поручил кабмину с участием деловых объединений до мая разработать план до 2025 года, реализация которого позволит на рубеже 2019-2020 годов выйти на темпы экономического роста выше мировых.

    Также он предложил в течение следующего года рассмотреть предложения по настройке налоговой системы, в 2018 году принять поправки, а с 2019 года ввести их в действие.[/bilingbox]

    Tatjana Stanowaja bei Carnegie: Eine Rede aus dem Schwebezustand heraus

    Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung des Zentrums für Politische Technologien, ist überzeugt, Wladimir Putin habe gerade einfach nichts zu sagen, wolle Konkretes bewusst offen lassen. In einem Kommentar für das Portal des Thinktanks Carnegie Moskau meint sie, er brauche von der Gesellschaft ohnehin nur Vertrauensbekundungen, für programmatische Entscheidungen sei jetzt nicht die richtige Zeit.

    [bilingbox]Die konzeptionelle Gehaltlosigkeit der Agenda rührt von zwei Ursachen her. Erstens bleibt der Rahmen von Dialog und Austausch zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft darauf beschränkt, dass der Macht das Vertrauen ausgesprochen wird. Danach wird die inhaltliche Diskussion geschlossen, und der Dialog verengt sich auf die Themen Patriotismus und nationale Würde.

    Die zweite Ursache ist die Ruhe der Zwischenzeit. Es steht die Ausformulierung der Wahlkampagne Putins bevor, der sich auf massive Umstrukturierungen innerhalb des Regimes (die werden 2017 bis 2018 unumgänglich sein) und auf eine neue geopolitische Wirklichkeit vorbereitet. Programmatische Entscheidungen zur Entwicklung des Landes sind stets zweitrangig im Vergleich zur Arbeit an Institutionen und Kadern, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

    Die Programmrede kam zu einer Zeit, als Putin sich eine strategische Pause für die Ausformulierung der weiteren Entwicklungsrichtung des Landes nahm, wobei diese Richtung in vielerlei Hinsicht nicht von ihm abhängen wird.~~~

    Концептуальная пустота повестки стала следствием двух причин. Во-первых, узким оставлен предмет диалога между властью и обществом. Взаимодействие между властью и обществом по-прежнему сводится к получению первой мандата доверия, после чего содержательная дискуссия закрывается, а диалог сужается до тем патриотизма и национального достоинства.

    Вторая причина – затишье промежуточного периода. Предстоит сформулировать предвыборную программу Путина, готовящегося к крупным перенастройкам внутри режима (а они будут неизбежны на рубеже 2017–2018 годов) и к новой геополитической реальности. Концептуальные решения по развитию страны всегда вторичны по отношению к институциональной и кадровой настройке, которая пока далека от завершения.

    Послание пришлось на период, когда Путин взял стратегическую паузу в формулировании дальнейшего вектора движения страны, направление которого во многом будет зависеть не от него.[/bilingbox]

    Rosbalt: Zivilgesellschaft an den Tropf holen

    Der Kolumnist Sergej Schelin analysiert auf dem Portal der unabhängigen Nachrichtenagentur Rosbalt das Nichtgesagte. Zwischen den Zeilen liest er von einer Verstaatlichung der Zivilgesellschaft und einer Rückkehr zum sowjetischen Staatsmodell.

    [bilingbox]Wer dem breiten Publikum berufsmäßig die Präsidentenreden erklären muss, der hat es derzeit nicht leicht. Im 68-minütigen Auftritt Wladimir Putins vor den wichtigsten Menschen des Landes ist so wenig Konkretes, dass den Deutern nichts anderes übrig bleibt, als sich auf die Analyse des Tonfalls zu konzentrieren und sich über den versöhnlichen, beizeiten gar liberalen Ton zu freuen. […]

    Wenn man [hinsichtlich eines politischen Tauwetters] alles Gesagte und Nichtgesagte in knappe Worte zusammenfasst, dann lauten diese: Es gibt kein Tauwetter und keinen politischen Aktivismus, nirgends.

    Die weitschweifigen Ausführungen über die Förderung von Ehrenamt und Nichtregierungsorganisationen [NGOs] laufen auf eine einzige konkrete Empfehlung hinaus: Die Bürokraten sollen den NGOs für die Durchführungen ihrer Maßnahmen ruhig großzügiger Staatsgelder zuteilen, für die sie (die Bürokraten) sich dann vor ihren Vorgesetzten zu verantworten haben. Mit anderen Worten: Sollen sich die NGOs doch von den Staatsbediensteten aushalten lassen. Über den Kampf mit den ausländischen Agenten wurde dabei nichts gesagt. Also: In dieser Hinsicht bleibt alles beim Alten. […]

    In Putins Augen gibt es keine selbständige politische Kraft im Land, und es kann auch keine geben. Es gibt nur den Apparat der Staatsbediensteten, und dem wurde angeraten, sich delikater mit den Untertanen zu gebärden. Diese Ratschläge haben die Generalsekretäre der KPdSU ihrer Nomenklatur Tausende Male erteilt.~~~Тем, кто по роду занятий обязан разъяснять для широкой публики президентские речи, сейчас несладко. В 68-минутном выступлении Владимира Путина перед главными людьми страны настолько мало конкретики, что толкователям приходится концентрироваться на анализе интонаций и радоваться миролюбивому, а местами и либеральному тону. […]

    Если резюмировать все сказанное и несказанное на этот [политические послабления] счет в нескольких словах, то они будут такими: никаких послаблений и никакого политического активизма ни на одном участке.

    Пространные рассуждения о поощрении волонтерства и НКО подводят к одной единственной конкретной рекомендации: пусть бюрократы щедрее дают НКО казенные деньги на выполнение мероприятий, за которые они (бюрократы) отчитываются перед своим начальством. То есть пусть НКО будут у чиновников на жаловании. О борьбе с иноагентами не упомянуто. Следовательно, на этом участке все будет как было. […]

    В глазах Путина какого-либо самостоятельного политического актива в стране нет и быть не может. Есть только чиновничество, которому рекомендовано тактичнее вести себя с подданными. Генеральные секретари КПСС давали своей номенклатуре точно такие же советы тысячи раз.[/bilingbox]

    Kommersant: Das Persönliche zählt

    Andrej I. Kolesnikow geht in der Tageszeitung Kommersant auf die Form der Erarbeitung dieser Programmrede Putins ein und meint: Hier war klar, es spricht der Präsident – und sein Wort solle allen ein Befehl sein.

    [bilingbox]Unseren Informationen zufolge war diese Rede des Präsidenten im Großen und Ganzen etwa vor einem Monat fertig. Danach ging sie direkt an mehrere Adressaten für interne Abstimmungen und Korrekturen. Die Besonderheit dieser Rede besteht darin, dass sie sich nach allen Korrekturen – darunter auch den letzten des Präsidenten selbst – fast nicht verändert hat. Darin besteht, kann man sagen, auch ihre Einzigartigkeit: Normalerweise beginnt jeder, der sich dazu berufen fühlt (und das tun alle), fieberhaft an dem Text zu arbeiten, Änderungen, Korrekturen und Ergänzungen vorzuschlagen, und am Ende bleibt vom Text, der eigentlich allen schon von Anfang an gefallen hatte, fast nichts mehr übrig.

    Diesmal erwies sich die Rede frei von diesem ganzen Ballast, nur Wladimir Putin hat im letzten Moment noch einige Korrekturen eingefügt: Er hat, nach unseren Informationen, vor allem noch etwas ergänzt, nicht gekürzt. […]

    Dann nahm dieser ganze, recht widersprüchliche Haufen, diese wimmelnde, brummende Masse [im Saal – dek] Platz in ihren Sesseln, und er trat vor ihnen auf, pünktlich, um 12 Uhr, und begann seinen Vortrag. Übrigens: Warum hätte man den Text nicht einfach [ausgedruckt – dek] verteilen können, anstatt eine Stunde auf sein Verlesen zu verwenden? Nein, das wäre unter keinen Umständen möglich gewesen. Allen musste eines klar werden: Das alles sagt er. Das sind seine Worte, und fortan kann man ihm, der sie ausgesprochen hat, keine anderen mehr unterschieben, selbst wenn man das sehr wünscht. Für diese Worte muss Verantwortung übernommen werden, und das muss nicht Putin tun, sondern die, die im Saal sitzen – aber vor ihm, Putin, selbst. […]~~~

    Послание президента было в общих чертах готово, по данным “Ъ”, примерно месяц назад. После этого его проект поступил сразу по нескольким адресам для внутреннего обсуждения и корректировок. Особенность этого послания состоит в том, что оно после всех правок, в том числе и окончательных президентских, почти не изменилось. В этом, можно сказать, даже его уникальность: обычно все, кто способен (а способными оказываются все), начинают лихорадочно работать над текстом, предлагать изменения, поправки, дополнения, и в конце концов от окончательного текста, который на самом деле нравился всем с самого начала, почти ничего не остается.

    Это послание оказалось избавлено от всех этих хлопот, и только Владимир Путин внес в последний момент еще несколько правок: в основном, по данным “Ъ”, дописывал, а не сокращал. […]

    Вся эта противоречивая, кипучая, бурчащая масса устроилась в конце концов в своих креслах в ожидании президента, и он появился перед ними вовремя, в полдень, и зачитал. Почему нельзя было просто раздать, кстати, текст и не тратить на зачитывание час? Нет, ни в коем случае. Надо, чтоб всем было ясно: это сказал именно он. Это его слова, и отныне его, произносящего их, ни с кем не спутаешь, даже если очень захочешь. За эти слова придется отвечать, и не ему, а им, сидящим в зале, причем перед ним же. […][/bilingbox]

    Komsomolskaja Prawda: Vor allem Zählen zählt

    Beim regierungsfreundlichen Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda wurde während der Rede vor allem eines getan: gezählt. Und zwar wie häufig es Applaus für Wladimir Putin gab – zudem dokumentiert, nach welchen Wörtern das Applaudieren einsetzte.

    [bilingbox]Die Komsomolka [Komsomolskaja Prawdadek] zählte während der 69-minütigen Rede des Präsidenten, dass im Saal zwölf Mal applaudiert wurde. Das hier sind die Themen, auf die im Georgssaal mit Applaus reagiert wurde:

    • Einigkeit des Volkes
    • Hilfe für junge Spezialisten
    • Gründung eines Notfall-Sanitärdienstes
    • Zentrum zur Unterstützung begabter Kinder
    • Der Erfolg Russlands – das ist die Entdeckung von Talenten
    • Arbeit von Nichtregierungsorganisationen
    • Im Bau sind 85 Millionen Quadratmeter Wohnraum
    • Erfolg in der Landwirtschaft
    • Internationale Konkurrenz der russischen Unternehmen
    • Mächtiger Schlag gegen die Terroristen in Syrien
    • Dankbarkeit für die Diensttuenden in der Armee, die Russland damit ihre Ehre erweisen
    • Wir erreichen alle von uns gesteckten Ziele

    Den lautesten Beifall gab es, nachdem die Dankbarkeit gegenüber den Soldaten in Syrien ausgedrückt worden war. […]~~~‚Комсомолка‘ подсчитала, что за 69 минут, пока длилось Послание президента, зал аплодировал 12 раз. Вот на какие темы собравшиеся в Георгиевском зале Кремля реагировали апплодисментами:

    • Единство народа.
    • Помощь молодым специалистам.
    • Создание службы санитарной авиации.
    • Центры поддержки одарённых детей.
    • Успех России – в раскрытии талантов.
    • Работа некоммерческих организаций.
    • В строй введено 85 миллионов квадратных метров жилья.
    • Успехи в сельском хозяйстве.
    • Международная конкуренция российских компаний.
    • Мощный удар по террористам в Сирии.
    • Благодарность военнослужащим, дорожащим честью России.
    • Достигнем и решим все стоящие перед нами цели.

    Причем, самые громкие апплодисменты звучали после слов благодарности нашим военным в Сирии. […][/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • „Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“

    Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.

    In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ - Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant
    „Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste.“ – Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant

    Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?

    Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.

    Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.

    Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.

    Der Physiker Sergej Schpilkin hat zur Analyse der Wahlen die Gaußsche Kurve herangezogen, die die Normalverteilung von Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Seinen Angaben zufolge waren 45 Prozent des Gesamtergebnisses von Einiges Russland gefälscht …

    Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.

    Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.

    Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.

    Was war denn die größte Enttäuschung?

    Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.

    Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.

    Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).

    Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?

    Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.

    „Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“

    Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?

    Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.

    So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.

    Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?

    Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.

    Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.

    Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

    Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.

    Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?

    Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.

    Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.

    Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?

    Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …

    Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.

    „Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“

    So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.

    Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?

    Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.

    Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?

    Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?

    Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.

    Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.

    Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.

    Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.

    Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?

    Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?

    Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.

    Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?

    Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.

    Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?

    Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?

    Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.

    Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.

    „In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“

    In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?

    In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.

    Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.

    Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?

    Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.

    Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.

    Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.

    Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?

    Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.

    Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.

    Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.


     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Dreieinhalb Jahre Haft lautete das Urteil. Alexej Gaskarow ist einer von mehr als 30 Menschen, die nach einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai 2012 in umstrittenen Prozessen vor Gericht gestellt wurden. Der Protestzug war durchs Moskauer Stadtzentrum zum Bolotnaja-Platz gezogen, dann kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten, gefolgt von einer Verhaftungswelle.

    Nur einen Tag danach trat Präsident Putin seine neue Amtszeit an. Seitdem hat sich in Russland viel verändert. Gaskarow, linker Aktivist, jetzt 31 Jahre alt, saß die meiste Zeit davon hinter Gittern. Nun wurde er entlassen – und zum gefragten Gesprächspartner. Wie hier im Interview der Journalistin Olessja Gerassimenko für snob. In dem Gespräch, das sie per Du führt, fragt sie nach seiner persönlichen Geschichte dahinter: Wie blickt er auf die Ereignisse von damals? Wie war der Lageralltag? Und wie nimmt er die Veränderungen im Land wahr?

    War der Prozess gegen dich fair?

    Insgesamt bereue ich, dass wir der Teilnahme am Prozess zugestimmt haben. Wir hätten, wie die politischen Gefangenen der Sowjetunion, mit dem Rücken zu ihnen stehen und schweigen sollen. Und es nicht als Versuch betrachten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Zeit in Chimki war ich noch voller Illusionen, und auf mehreren Videos war klar zu sehen: Die Sequenzen, in denen ich vorkam, lagen vor dem Zeitpunkt, als den Ermittlern zufolge die [Bolotnaja- dek.] Unruhen begannen. Ich dachte, das ist ganz einfach, ich zeige ihnen die Videos, und alles ist in Ordnung.

    Im Endeffekt zählte ich Beweise auf, die Richterin nickte, aber es folgte keinerlei Reaktion. Überhaupt sah das ganze Verfahren so aus: Die Entscheidung ist schon gefallen, das Urteil geschrieben, lasst uns das hier alles möglichst schnell hinter uns bringen.      

    Du hast einen Polizisten geschubst und einen Soldaten aus der Absperrung gezerrt?

    Das habe ich ja nie geleugnet. Übrigens ist nach der Kundgebung am Bolotnaja-Platz erstmal ein Jahr vergangen, ich arbeitete gerade an einem wichtigen Projekt, hatte nur noch eine Woche Zeit, und es war uncool, verknackt zu werden. Auch an diesem Sonntag, an dem die Bullen mich abholen kamen, musste ich zur Arbeit. Ich bin zum Laden rausgegangen, um Katzenfutter zu kaufen, und da steht diese ganze Clownsmannschaft vor dem Haus – zwei Jeeps, ein Kleinbus. Da stiegen dann so junge Typen aus, gestylt wie rechte Skinheads, ich dachte, das ist die [gnose-3259]BORN[/gnose] und überlegte, was ich jetzt mache, da zückten sie schon ihre Dienstmarken.

    Warst du in diesem Moment erleichtert?

    Nein, im Gegenteil. Vor der BORN hätte man davonrennen oder sonst was machen können. Jedenfalls haben die mich festgenommen und mir lange nicht gesagt, weshalb. Mit dem Gesicht nach unten im Bus und so, dieser Stil. Ich konnte mir schon ein paar Gründe ausmalen, weshalb – wir haben damals die Wohnheime der Firma Mosschelk und den Zagowski-Wald verteidigt, kurz vor der Festnahme haben Leute, die jetzt im [gnose-2183]Bataillon Asow[/gnose] kämpfen, versucht, meine Frau und mich zu überfallen. Mit denen hab ich mich angelegt – und das wurde gefilmt.

    Also, es gab so einiges. An die Bolotnaja-Sache hatte ich überhaupt nicht gedacht. Und als sie mir dann sagten, dass ich angeklagt würde, sah ich mir das an – das war der reinste Stuss – und sagte, ok, ich werde alles gestehen: Wir liefen in der Menschenmenge, ein [gnose-2717]OMON-Mann[/gnose] griff dann einen Kerl an, es entstand ein Gerangel, man versuchte, sie auseinanderzubringen, und da hieß es, ich hätte einen Polizisten am Bein gezogen.

    Als Beweise dienten ein Video schlechter Qualität und ein Gutachten mit dem Ergebnis, dass ich das nicht war. Aber ich wusste ja, dass ich das war, und sagte gleich: Leute, jetzt mal ein bisschen vernünftig. Aber ihnen war egal, ob ich da was gestehe oder nicht. Hätte ich einen [gnose-3265]212-er[/gnose] gestanden oder gegen jemanden ausgesagt, das wäre wohl was anderes gewesen …   

    “Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten.”

    Wollten sie das von dir?

    Nix da. Wieso hätten sie mich auch nach der Organisation von Unruhen fragen sollen, wenn sie doch selber wissen, unter anderem aus eigenen Abhöraktivitäten, dass da niemand irgendwas geplant hat. Sie haben sich strikt auf die Sache mit dem Bein beschränkt. Später fanden sie noch etwas, was ich schon ganz vergessen hatte. Vor der Absperrung war ein Gedränge entstanden, manche fielen hin, und ich habe einen an der Schulter gezerrt, um Platz zu schaffen. In der Anklageschrift stand, ich hätte auf diese Weise die Absperrkette durchtrennt, damit alle durchkommen und die Massenunruhen losgehen können. Dabei war diese Absperrung auf der anderen Seite.     

    Erzähl von der Haft. Das wollen alle hören. Sowas wie Aufstehen um 6, Nachtruhe um 10.

    Mhm. Natürlich leben die Drogensüchtigen, die da auf Entzug sind, vor allem nachts. Wenn Schlafenszeit ist, fangen die einen an zu rauchen, die anderen kochen Tschifir. Das blendet man einfach aus, man hat einen geregelten Tagesablauf, und das ist im Prinzip gesund. Am Sport hindert dich niemand: Es gibt ein Reck, einen Barren, ein paar Gewichte. Hier in Freiheit hat man immer Arbeit oder irgendwas zu tun, aber dort war ich so durchtrainiert wie nie. Hauptsache, man sucht sich immer eine Beschäftigung, damit man bloß keine Freizeit hat.  

    Mit wem hast du gesessen?

    Die Hälfte der Zeit war ich in Untersuchungshaft, mit ganz verschiedenen Leuten. Typen mit [gnose-3217]Paragraph 228[/gnose] mit krassen Geschichten, etwa wie Teenagern Haschisch aus Holland mit der Post geschickt wurde, und die kriegen 15 Jahre dafür. Von meinem eigenen Fall zu erzählen, war mir sogar peinlich – allen um mich herum blühten mehr als 10 Jahre. Als die Verhandlung begann, saßen wir in der [gnose-3269]Butyrka[/gnose], dort waren Diebe, irgendwelche Psychos, Jugendliche, Straßenkinder, Dagestaner. Leute von Rosoboronexport, vom Asien-Pazifik-Forum und von der Olympiade, gegen die ermittelt wurde, hab ich auch kennengelernt, mit Jemeljanenko hab ich trainiert.    

    Im Straflager lebten im allgemeinen Vollzug 300 Männer, davon waren 80 Prozent Einheimische aus Tula, die im Suff irgendwen angefallen, Datschen ausgeraubt und kleinere Überfälle begangen haben. Aber was ist das Geile am Lager? An ein und demselben Ort sitzt sowohl der Obdachlose, der in einer fremden Datscha überwintert, deswegen eingesperrt wird und hier sogar besser lebt als in Freiheit, als auch der Unternehmer, der einen Milliardenschaden angerichtet hat und gerade noch draußen auf seiner Yacht umhergeschippert ist.

    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob
    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob

    Als du rauskamst, hast du gesagt, das Wichtigste war, mit der Realität in Verbindung und gesund zu bleiben. Wie bleibt man dort gesund? Ist das Essen ok?

    Da ich von draußen gut unterstützt wurde, war ich fast nie in der Kantine. Ich hatte dort eine Mikrowelle. Die Strafvollzugsbehörde hat jetzt so einen Ansatz, dass sie einen nicht daran hindern, sich das Leben angenehmer zu machen. Die müssen da irgendeine Strategie zur Verbesserung der Haftbedingungen erfüllen, das Budget wird aber immer gekürzt. Wenn man ankommt, ist alles übelst, es tropft von der Decke, überall Schimmel. Aber sie haben nichts dagegen, wenn du das selber angehst. Du erklärst das zur humanitären Hilfe, und bekommst Teekocher und Mikrowelle, sogar ein Beamer hing bei uns, mit dem wir Filme guckten.

    Soweit ich weiß, wolltest du dort eine Weiterbildung machen.

    Leider musste ich feststellen, dass an der Universität, die mit dem Straflager kooperiert, unter dem Deckmantel der Bildung einfach ein Verkauf von Diplomen stattfindet. Ich hab dort etwas anderes gemacht: Bei meiner Arbeit habe ich oft alle möglichen Grundlagen von Unternehmertum und Planung gelehrt, und mit mir saßen Leute im Knast, mit denen man interessante Gespräche führen konnte – Bankchefs, Leute aus Ministerien.

    Es gab da eine Abendschule, die nötigen Räumlichkeiten. Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten. Jeder soll sich ein Projekt ausdenken, und wir planen es innerhalb von 8 Monaten (da sollte ich entlassen werden) konkret durch, am Ende kommt ein Business-Plan heraus. Zuerst haben sie das kategorisch abgelehnt, von wegen, du sitzt doch wegen der Bolotnaja-Sache und willst da bestimmt nur politische Diskussionen führen. Doch dann kam ein neuer Chef, und der ist uns entgegengekommen. Das war wie ein Stück Freiheit.  

    Als ihr nacheinander verhaftet wurdet, sagten alle, das wird der Prozess des Jahrhunderts, alle werden sich wegen euch, für euch zusammenschließen, und im Endeffekt – du bist schon draußen, und der Bolotnaja-Prozess, obwohl er noch gar nicht ganz zu Ende ist, interessiert keinen mehr. Hast du nicht umsonst gesessen?

    Na ja, was heißt umsonst. Ich hatte ja keine Wahl. Was Bolotnaja betrifft … Die Entscheidung, bei dieser ganzen Bewegung mitzumachen, war bereits mit Risiken verbunden. Wenn man das mit der Ukraine vergleicht, obwohl das bei vielen nicht gern gesehen ist: Wären die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz weitergegangen, glaube ich nicht, dass die Leute vor Erschießungen Halt gemacht hätten.

    In Kiew sind ein Haufen Leute umgekommen, und wir hier sollen uns von irgendwelchen Haftstrafen abschrecken lassen. Die haben willkürlich ein paar Personen herausgegriffen und eingesperrt, die Logik ist klar: Wer auch immer du bist, wenn du dich gegen den Zaren stellst, wirst du leiden. Was kann die Antwort darauf sein? Wir müssen den Mythos der Wirksamkeit solcher Repressionen entlarven.  

    Aber das stimmte ja. Es sind wirklich alle vor einem Hieb mit dem Schlagstock zurückgeschreckt, vom Gefängnis ganz zu schweigen. Viele Oppositionelle sagen, der Kampf gegen diese Regierung sei keinen Zentimeter persönlichen Wohlbefindens wert. Du bist praktisch der einzige, der nicht so denkt. Fühlst du dich einsam?

    Die meisten Leute waren noch nie im Gefängnis, und sie glauben wirklich, das sei das Ende: Ich komme ins Lager – und das war’s. Ich hab das alles einfach relativ normal erlebt. Aber ich überlege mir das so: Wenn die Staatsmacht Andersdenkende mit Repressionen unterdrückt, schrauben die Menschen ihre Aktivität zurück, und ihr Bedürfnis, sich für irgendetwas einzusetzen, schwindet, und so gerät das System eher aus den Fugen, als dass es stabiler würde, wie sich die Regierung das vorstellt. Das Land wird weniger konkurrenzfähig.  

    Aber die Leute müssen wenigstens minimale Aktivität beibehalten. Es ist schlimm, dass so viele den passiven Weg einschlagen. Bei den Ressourcen, die da sind, könnten wir es besser haben, aber viele sind auch so zufrieden. Dadurch kann sich das System lange halten. Man muss nicht die direkte Konfrontation suchen. Das dachte ich auch schon auf dem Bolotnaja-Platz, wir wollten eigentlich schon weggehen, weil wir begriffen hatten, dass diese ganzen Sitzstreiks und dergleichen ja genau das sind, was die Regierung braucht. Es gibt auch andere Wege, man muss sich ja nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen beschränken.

    “Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist.”

    Meinst du jetzt die Philosophie der kleinen Dinge?

    Unter anderem. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass viele, die am Bolotnaja-Platz aktiv waren, jetzt ehrenamtlich tätig sind. Und das ist ja wirklich nicht so schlecht. Hauptsache, die Energie bleibt erhalten. Oder was anderes: Der Kampf gegen Korruption, all diese Publikationen wirken sich auf das System aus, da kann man sagen was man will. Es gibt auch Leute in der linken Szene, die finden, es muss eine progressive Besteuerung geben, die können ja ihre Argumente vorbringen. Oder man gründet angesichts all dieser Konflikte irgendeine Friedensbewegung.   

    Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist. Dort kommen Leute zusammen, die keinen großen Hang zum Reden haben. Richtige Bauern. Alle nur erdenklichen Mythen haben sie im Kopf. Aber wenn du mit ihnen beisammen bist, brauchst du nicht mal groß zu streiten – einfach durch Gespräche und durch den Kontakt haben sich sogar die ärgsten Sturköpfe verändert. Insofern ist jede Arbeit, die die Verbreitung von Informationen und eine wenigstens minimale Aufklärung zum Ziel hat, wichtig.

    Und wovon hast du sie überzeugt?

    Von allem möglichen. Unter anderem was generell ihre Einstellung zur Opposition betrifft. Am Anfang war es sogar ganz angenehm für mich, von wegen, ach, auf dem Bolotnaja-Platz, das waren sowieso alles nur Junkies, die für Heroin auf die Straße gegangen sind – da haben sie mich in Ruhe gelassen. Aber mit der Zeit sehen die Leute ja, was du liest, welche Filme du auf dem Kultursender guckst, dass du beim Verfassen eines Berufungsantrags helfen kannst, … und sie merken, dass du kein Idiot bist, der für eine Dosis Heroin demonstrieren gehen würde. Es gab viele Konflikte über die Vorgänge in der Ukraine, vor allem weil viele einsaßen, die schon im [gnose-3273]Donezbecken[/gnose] gekämpft hatten, zurückkamen und verhaftet wurden.

    Weswegen?

    Rowdytum, Diebstahl, Plünderung, so typische Soldiers of Fortune. Und sogar über diese äußerst komplexe Frage ist es uns gelungen zu reden, die Wogen zu glätten.  

    Du bist in einem Land ins Gefängnis gekommen und in einem anderen wieder raus. Wie war es, über Nachrichten zu erfahren, dass draußen historische Ereignisse passieren? Tat es dir leid, dass du sie nur aus der Distanz sahst? Oder war das eher beruhigend?

    Ehrlich gesagt, zweiteres. Ich hatte oft Schwierigkeiten, mich zu positionieren. Als zum Beispiel massenweise Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns kamen, kamen auch welche und arbeiteten hier im Lager. Man beginnt mit ihnen zu reden und versteht, da gibt es eine Ideologie, aber es gibt auch die Geschichten der Menschen, und sich festzulegen war schwierig. Ich hab mir echt gedacht, wie gut, dass das für mich nur im Hintergrund läuft.  

    Wie sieht es mit deiner Arbeit aus? Was willst du machen?

    An oberster Stelle stehen jetzt materielle Probleme. Viele fragen mich, ob ich in die Politik gehen werde, die haben alle so hohe Erwartungen, aber was ist das schon für eine Politik heute. Ohne eigene Mittel ist es unmöglich, politisch aktiv zu sein. Natürlich sage ich, dass man sich vor dem Knast nicht zu fürchten braucht, aber trotzdem ist das ein ernstzunehmender Verlust – dreieinhalb Jahre. Eine Menge nicht realisierter Möglichkeiten und angehäufter Probleme.    

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  • Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Es ist ein Fall, wie ihn das gegenwärtige Russland noch nicht erlebt hat: Ein Regierungsmitglied wird verhaftet und von einem Gericht unter Hausarrest gestellt. Noch am selben Tag entbindet ihn Präsident Putin von seinem Amt als Wirtschaftsminister. Alexej Uljukajew – der zum liberalen Lager der Wirtschaftsreformer gezählt wird – steht unter der schweren Anschuldigung, Schmiergelder in Höhe von zwei Millionen Dollar im Zuge eines großen Übernahmegeschäfts erpresst zu haben. Sollte es zu einer Anklage und einer Verurteilung kommen, drohen bis zu 15 Jahre Haft.

    Das schlägt hohe Wellen in Russland. Beobachter sind überrascht und verwirrt vom Vorgehen des federführenden Ermittlungskomitees gegen den Minister, viele sehen Ungereimtheiten und bezweifeln, dass es tatsächlich um einen Korruptionsfall gehe – während die Hintergründe noch völlig offen sind. Putin hat bereits vor Jahren eine Strategie im Kampf gegen Korruption ausgerufen, zugleich bleiben Enthüllungen von regierungskritischer Seite mit schweren Vorwürfen gegen hochrangige Politiker und staatsnahe Unternehmer so gut wie folgenlos.

    In der Presse überschlagen sich die Kommentatoren mit Analysen – in unabhängigen Medien vor allem mit Fragen und Spekulationen über die Hintergründe, während in staatsnahen Medien eher der Kampf gegen die Korruption gelobt wird. Vielfach beschäftigt auch die Frage, welche allgemeinen Signale von diesem bislang einmaligen Vorgang ausgehen.

    Alexej Walentinowitsch Uljukajew - Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0
    Alexej Walentinowitsch Uljukajew – Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0

     

    Kommersant: Geheimdienste flehen um Spielraum

    In der Tageszeitung Kommersant meint Dimitri Butrin, stellvertretender Chef im Wirtschaftsressort, es sei keine tiefgehende Aufklärung des Falls zu erwarten – schon deshalb nicht, weil die Regierung zu dem dahinterstehenden Übernahmegeschäft (beteiligt sind die staatsnahen Mineralölkonzerne Rosneft und Baschneft) aus seiner Sicht nie die ganze Wahrheit sagen würde.

    [bilingbox]Zu viel war zu lesen über die ach so normalen Tätigkeiten der FSB-Mitarbeiter und der Mitarbeiter des Ermittlungskomitees – da entsteht unweigerlich ein Verdacht ob ihrer Verstrickungen in einem dunklen Spiel, das sie durch ihre vor der Gesellschaft verborgenen Ziele zur Hälfte selber am Laufen halten […]

    Was das Ermittlungskomitee derzeit über Alexej Uljukajew sagt, bedeutet – würde man das Gesagte haargenau so glauben – eine äußerst schreckliche Kritik auch in Bezug auf die Regierung: Es bedeutet, dass keinerlei Kontrollmechanismen gegen Korruption, die das Weiße Haus seit 2004 aufbaut, greifen. Ansonsten müsste man glauben, dass sich unter der Maske von Alexej Uljukajew, den wir nicht erst im letzten Jahrzehnt kennengelernt haben, seit Jahren der dreiste Räuber Fan Fan, der Husar verborgen hielt, der nachts mit lautem Gelächter staatliche Unternehmen um riesige Barschaften beraubte. Und tagsüber friedlich zu Regierungssitzungen ging, die Brille aufblitzen ließ und über die Dynamik des Bruttoinlandsproduktes raisonierte, und niemand, abgesehen vom heldenmütigen FSB, schöpfte auch nur den leisesten Verdacht, dass sich im herrschaftlichen Umfeld ein genialer verbrecherischer Schauspieler verbarg.

    Deswegen halte ich die Festnahme von Alexej Uljukajew unter den uns hier demonstrierten Umständen vorerst standardmäßig für den x-ten – sei es der 758. oder 759. – Versuch seitens des Ermittlungskomitees oder des FSB, die Staatsführung anzuflehen und um eine kostümierte Reinszenierung des Großen Terrors zu bitten und gleich auch neue schwarze Raben, die Sanierung der Lubjanka und die nächtlichen Überstunden der heldenhaften Ermittler zu bezahlen.~~~Мы слишком много читали об обычных занятиях сотрудников ФСБ и о занятиях сотрудников СКР, чтобы не заподозрить их в вовлеченности в какую-то мутную игру, половину которой они обеспечивают сами с неизвестными обществу целями.

    […]

    То, что сейчас рассказывает СКР про Алексея Улюкаева, если этому в точности верить, является самой страшной критикой по отношению и к правительству: это значит, что не работают вообще никакие механизмы контроля коррупции, которые Белый дом строил с 2004 года. Иначе придется поверить, что под личиной Алексея Улюкаева, которого мы знаем не первое десятилетие, годами скрывался дерзкий разбойник Фанфан-тюльпан, по ночам с хохотом грабящий государственные компании на крупные суммы наличности. А днем он спокойно ходил на заседания правительства, поблескивая очками и рассуждая о динамике ВВП, и никто, кроме доблестного ФСБ, не мог заподозрить, что в государевом окружении скрывался гениальный преступный актер.

    Поэтому пока по умолчанию я считаю задержание Алексея Улюкаева в тех обстоятельствах, которые нам продемонстрировали, очередной — семьсот пятьдесят восьмой или семьсот пятьдесят девятой — попыткой СКР и ФСБ поумолять власть начать костюмированную постановку «Большой террор», оплатив новые черные воронки, ремонт Лубянки и ночные сверхурочные доблестным следователям.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Izvestia: Anti-Korruptionskampf trägt Früchte

    Die regierungsnahe Tageszeitung Izvestia sieht in der Verhaftung von Uljukajew ein konsequentes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen Korruption bestätigt. Ohne Rücksicht auf Ansehen der Person.

    [bilingbox]Die Verhaftung von Alexej Uljukajew ist Teil der systemischen Entscheidungen im Kampf gegen Korruption. Vor drei Jahren hat der Präsident erklärt, dass Korruption eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle. Danach hat Wladimir Putin auf einem Treffen mit den regionalen Führungsspitzen gewarnt, dass diejenigen, die ihren staatlichen Aufgaben nicht nachkommen, hart bestraft werden. […]

    Wenn die Strafverfolgungsbehörden und der Pressesprecher des Präsidenten erklären, dass die Arbeit an dem Fall Uljukajew bereits vor einem Jahr begann, bedeutet das, es gab noch andere Materialien, noch eine andere Geschichte.  […] So bedeutet diese Verhaftung, dass der Kampf des Systems gegen Korruptionäre läuft und dass heute nicht mal mehr ein Ministerposten eine Garantie dafür ist, sich der Verantwortung entziehen zu können, dass man im schlimmsten Fall in den Ruhestand, auf Urlaub geschickt wird. Nein, unter Arrest wird man gestellt. Erst warnt der Präsident, dann straft er.~~~Арест Алексея Улюкаева — часть системных решений по борьбе с коррупцией. Три года назад президент заявил, что коррупция — это угроза национальной безопасности. Потом, на встрече с региональными лидерами, Владимир Путин предупредил, что будут жестко наказывать тех, кто не решает государственные задачи.

    […]

    Если правоохранительные органы, пресс-секретарь президента заявляют, что разработка Улюкаева была начата год назад, значит, были и другие материалы, была другая история. Просто сейчас она стала основанием для реализации оперативных материалов. […] Таким образом, этот арест говорит о том, что идет системная борьба с коррупционерами и на сегодня даже министерский пост — не гарантия того, что можно уйти от ответственности, что в крайнем случае человека отправят на пенсию, на отдых. Нет, отправят под арест. Президент сначала предупреждает, потом наказывает.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Vedomosti: Wirtschaftsstrafrecht als Instrument für Personalfragen

    Das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti hat sich entschieden, einen Kommentar im Namen des gesamten Meinungsressorts zu veröffentlichen, ohne einen konkreten Autor anzugeben, was selten vorkommt. Der Fall Uljukajew wird hier in einen größeren Trend eingeordnet, in dem der Geheimdienst immer stärker das Wirtschaftsstrafrecht instrumentalisiere.

    [bilingbox]Die erstarkte Rolle der Geheimdienste nach den Protesten von 2011 bis 2012 und später dann nach der Krim (2014) hat den Markt der Gefahren vergrößert. Die Produktion von Gefahren und die gegen sie zum Einsatz kommenden Kampfmittel ist heute eines der lukrativsten Geschäfte, da hierdurch politische und personelle Aufgaben gelöst werden können und natürlich Aktiva und Finanzströme aufgeteilt werden – was in einer unter Druck stehenden Rentenökonomie sehr wichtig ist.

    Große Wirtschafts- und Korruptionsfälle sind eine Angelegenheit des FSB, aber in den letzten zwei Jahren wurde er auf diesem Gebiet immer aktiver. Das sieht man an den Statistiken der auf seine Initiative hin eingeleiteten Wirtschaftsermittlungen: Allein in der ersten Hälfte 2016 waren es so viele wie in den jeweils zwölf Monaten der Jahre 2013 und 2014. Eine Schlüsselrolle in den Untersuchungen bedeutender Fälle spielt die FSB-Behörde für wirtschaftliche Sicherheit. […]

    Derzeit befinden sich die Ermittlungen in den Verfahren gegen drei Gouverneure in unterschiedlichen Phasen, die Anklage beruht nach dem russischen Strafgesetzbuch auf wirtschaftskriminellen Tatbeständen (Korruption und Betrug): Wjatscheslaw Gaiser, Alexander Choroschawin und Nikita Belych, das Verfahren leitet das Ermittlungskomitee, die operative Ausarbeitung oblag dem FSB, die Verhaftung der internen Sicherheitsabteilung.~~~Резкое усиление роли спецслужб в России после протестов 2011–2012 гг. и затем после Крыма (2014 г.) привело к разрастанию рынка угроз. Производство угроз и средств борьбы с ними сегодня одно из самых прибыльных, поскольку позволяет решать политические, кадровые задачи и, конечно, делить активы и финансовые потоки – что так важно в сжимающейся рентной экономике.

    Разработкой крупных экономических и коррупционных дел занимается ФСБ, но в последние два года она стала куда активнее. Об этом свидетельствует статистика возбужденных по ее инициативе экономических дел: только за первую половину 2016 г. их количество практически сравнялось с числом дел за все 12 месяцев 2013 и 2014 гг.

    Ключевую роль в расследовании крупных дел играет служба экономической безопасности ФСБ.

    […]

    Сейчас на разных этапах следствия находятся дела трех губернаторов, обвиняемых по экономическим статьям УК (взяточничество и мошенничество), – Вячеслава Гайзера, Александра Хорошавина и Никиты Белых, дела ведет СКР, оперативной разработкой занималась ФСБ, задержанием – УСБ ФСБ.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Spektr: Neues Stadium der Autokratie

    Arkadi Babtschenko ist überzeugt, es handle sich um einen Fake, bemerkt im Exilmedium Spektr spitz, ein Minister in Russland habe sicher bessere Geldquellen. Was hat das Ganze dann zu bedeuten?

    [bilingbox]Also was? Ein verdeckter Kampf von Ermittlungskomitee und FSB? Von Falken und Liberalen? Von Setschins und Kudrins Leuten?

    Ja, zweifellos. Das eine wie das andere. Zweifellos auch ein verdeckter Kampf der Kremltürme untereinander. Aber trotzdem ist es nur eine Folge. Die Hauptursache liegt, wie mir scheint, woanders. […]

    All diese ständigen Neubesetzungen, Abberufungen, Umbesetzungen, Verschiebungen von einem an den anderen Ort, Annäherungen und Entfernungen, Beförderungen und Ungnaden in letzter Zeit. Mir scheint, dass all das nur Eines bedeutet.

    Das Autoritäre hat das Stadium der liberalen Heuchelei hinter sich gelassen, ist sich endlich seiner selbst bewusst geworden und auf ein neues Niveau gewechselt.

    Der Autokrat muss nicht länger so tun, als würde er von diesem oder jenen Meister seines Fachs in der Regierung abhängen. Von diesem oder jenen Gouverneur in den Regionen. Von dieser oder jener Neubesetzung, oder von dieser oder jener Verhaftung.

    Die Autokratie in Russland ist sich ihrer selbst bewusst geworden als einzige Machtquelle im Land, als einziges Instrument der Staatsführung, als einziger Souverän, der auf keinerlei Mittelsmänner mehr angewiesen ist, seien sie auch im Range eines Ministers oder eines Gouverneurs, der weder die Unterstützung und noch nicht einmal die Loyalität von irgendwem benötigt.~~~Тогда что же? Подковерная борьба Следственного комитета и ФСБ? Ястребов и либералов? Сечинских и кудринских?

    Да, безусловно. И это тоже. Безусловно, подковерная борьба башен Кремля друг с другом. Но все же и это следствие. Главная же причина, как мне кажется, — в другом.

    […]

    Все эти перманентные в последнее время назначения, снятия, переназначения, перемещения с места на место, приближения и удаления, возвышения и опалы.

    Мне кажется, что все это означает одно.

    Авторитария в России прошла стадию либерального лицемерия, наконец-таки осознала сама себя и перешла на новый уровень.

    Автократу не надо больше делать вид, что он зависит от того или иного профессионала в правительстве. От того или иного губернатора в области. От того или иного назначения или от того или иного ареста.

    Автократия в России осознала себя как единственный источник власти в стране, единственный инструмент управления страной, единственного суверена, не нуждающегося больше ни в каких посредниках хоть в ранге министра, хоть в ранге губернатора, не нуждающегося больше ни в чьей поддержке и даже ни в чьей лояльности.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Sekret firmy: Persönliche Abrechnung?

    Der Moskauer Carnegie-Analyst, Andrej Mowtschan, spekuliert beim online erscheinenden Wirtschaftsmagazin Sekret firmy noch mal ganz anders zu den Hintergründen der Verhaftung – weil er nicht daran glaubt, dass es bei dem Vorgehen um einen Richtungsstreit in der Wirtschaftspolitik gehen könne.

    [bilingbox]Beinahe alles, was wir bisher über die Verhaftung von Alexej Uljukajew erfahren haben, ist ein leuchtendes Beispiel für eine false agenda. Wir haben keinerlei Anlass, der offiziellen Version zu glauben – aber noch weniger sinnvoll ist es in diesem Fall, sich auf die Überlegungen einzulassen, der Grund für die Verhaftung könne in der Unzufriedenheit mit Uljukajews Wirtschaftspolitik liegen.

    All unser Wissen darüber, wie in der Russischen Föderation Angelegenheiten geregelt werden, sagt uns, dass ein Dissens in wirtschaftlichen Fragen niemals Anlass für ein derartiges Vorgehen sein kann.  […]

    Wenn man in der aktuellen Situation daher zum Spaß annimmt, Alexej Uljukajew habe einem hochstehenden Silowik die Liebste ausgespannt, ist das vernünftiger, als über einen Kampf gegen die vom Minister verfolgte Wirtschaftspolitik zu debattieren. Vielleicht spielt der persönliche Faktor in solch lauten Angelegenheiten eine prioritäre Rolle – und wir würden nicht mal drauf kommen, was all dem zugrunde lag.~~~Практически всё, что мы публично слышали об аресте Алексея Улюкаева — яркий пример false agenda. У нас нет никаких оснований доверять официальной версии — но ещё менее разумно в этом случае пускаться в рассуждения о том, что причиной ареста могло быть недовольство проводимой Улюкаевым экономической политикой.

    Всё, что мы знаем о том, как делаются дела в Российской Федерации, говорит нам, что никакие разногласия по экономическим вопросам никогда не могли служить поводом для подобных мер. […]

    Так что, в нынешней ситуации в шутку предполагать, что Алексей Улюкаев отбил любимую женщину у высокопоставленного силовика, разумнее, чем рассуждать о борьбе против экономической политики, которую проводил министр. Возможно, личный фактор в таких громких делах играет приоритетную роль — и мы не можем даже догадываться о том, что легло в основу этого дела.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Nesawissimaja Gaseta: Putin für 2018 fest im Sattel

    In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta fasst Wirtschaftsredakteurin Anastassija Baschkatowa Meinungen zusammen – um darüber hinaus nach politischen Schlussfolgerungen mit Blick auf die nächsten Wahlen zu fragen.

    [bilingbox]Die Verhaftung des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew hat ein großes öffentliches Echo hervorgerufen. Die Mehrheit der Experten meint, dass der „Fall Uljukajew“ – unabhängig davon, ob noch weitere Verhaftungen folgen werden oder nicht – ein klares Signal an die Vertreter der Elite ist, dass niemand im Land unantastbar bleibt.

    Experten stellen in dem Fall viele Unstimmigkeiten fest, und Uljukajew selbst leugnet die Version der Ermittler, indem er seine Verhaftung als Provokation bezeichnet. Als wichtigste politische Folge aus der Verhaftung zeichnet sich ab, dass Ausmaß und Reichweite des Vertrauens innerhalb der zur Elite zählenden Gesellschaftsschichten abnehmen wird. Und das wiederum lässt vermuten, dass Wladimir Putin – in der Rolle des einzigen politischen Moderators im Land – auch nach 2018 Präsident bleiben wird.~~~Арест министра экономического развития Алексея Улюкаева вызвал большой общественный резонанс. Большинство экспертов считает: независимо от того, последуют или нет новые аресты, «дело Улюкаева» – ясный сигнал для представителей элиты, что неприкасаемых в стране нет. Эксперты отмечают в деле много несоответствий, а сам Улюкаев оспаривает версию следствия, называя свой арест провокацией. Но, как представляется, главное политическое последствие ареста – это сокращение уровня и радиуса доверия в элитных слоях общества, что предполагает следующее: Владимир Путин останется президентом и после 2018 года, исполняя функцию единственного политического модератора в стране.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    dekoder-Redaktion

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    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

  • Russland – plötzlich im Spiegel der USA

    Trumps Wahlsieg hat in deutschen und internationalen Medien Anstoß zu zahlreichen Texten gegeben, die nach Gründen für seinen Aufstieg und für den Misserfolg von Hillary Clinton suchen. Die Autoren fragen sich, ob die politische Klasse noch eine gemeinsame Sprache mit der breiten Bevölkerung spreche, ob noch genug Verständnis für deren Probleme bestehe. Manche dieser Texte grenzen an Selbstkasteiung. Ganz so weit lässt es der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin in seinem bissigen Stück für Republic nicht kommen, er begreift die US-Wahl und die riesige Debatte darum jedoch als Anschauungsobjekt: Da es in Russland schon jetzt nicht an Führungsfiguren nach Trumps Muster mangele, müsse die russische Öffentlichkeit doch auch etwas lernen können, oder?

    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0
    „Menschen, die in Russland heute an der Macht sind, ähneln sich in vielem. Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks.“ Foto © [RAW] unter CC BY-NC-ND 2.0

    Ein anrüchiger reicher Mann mit komischer Frisur, schlechtem Geschmack, schwieriger Reputation und einem seit langem und auf lange Sicht beschädigten Verhältnis zur Presse, mit junger Ehefrau von modelhaftem Äußeren – wie heißt der? Natürlich Igor Setschin; aber wenn Sie an jemand anders gedacht haben, etwa an Donald Trump, dann wäre das nicht verwunderlich. Solch einzigartige Typen gibt es nicht so viele auf der Welt. Die einen kommen in Mode, die anderen geraten aus der Mode, so ist das beim Film, so ist das im Showbusiness, so ist das in der Politik.

    Russland erinnert sich noch, wie im Gefolge des ikonenhaften Lushkow in den Regionalregierungen das Standardgesicht „kerniger Wirtschaftsfunktionär“ auftauchte – und zügig die Helden der vorangegangenen Mode verdrängte, die Demokraten der ersten Welle –, bevor das Feld schließlich mit dem Amtsantritt Putins den wortkargen Silowiki und Bürokraten überlassen wurde. Moskau kann aber seine Standards nur nach unten, auf die Regionen übertragen, während es selbst, und mag sein Weg noch so „besonders“ sein, den globalen Trends ausgesetzt ist. Und da ist er schon: Trump, der neue globale Trend und eine echte Herausforderung. Welche Auswirkungen wird er auf die politische Mode in Russland haben?

    Gemeinsames Zauberwort suchen

    Einen russischen Trump zu finden, ist das Einfachste auf der Welt. Eine Kandidatur Igor Setschins wäre wohl die radikalste Variante, doch an seiner Stelle könnte stehen, wer will. Menschen, die in Russland heute an der Macht sind oder in deren Nähe, ähneln sich in vielem: Sie sind alle reich, sie sind – im Großen und Ganzen – alle Rednecks, und sie würden sich alle harmonischer ins Interieur des Casinos Trump Taj Mahal einpassen als in ein Co-Working Space im Silicon Valley. Der ideale russische Trump ist natürlich Wladimir Putin, den muss man nicht groß suchen, er ist eh ständig da und wird uns bei den nächsten Präsidentschaftswahlen erneut versprechen, Russland wieder groß zu machen. Soviel ist klar.

    Interessanter ist die Gesellschaft. Im amerikanischen Wahlkampf schien über den gesamten Verlauf auch unsere gesellschaftliche Dauerdiskussion durch: Debatten über das Volk, das plötzlich zum größten Konservativen geworden sei, über die progressive Minderheit, dazu verdammt, massenhaft auf Unverständnis zu stoßen, über die Grenzen des Populismus und die Grenzen der ideologischen Flexibilität des Regimes – solche Diskussionen werden bei uns schon lange geführt. Und wenn die gleiche Debatte sich nun plötzlich am amerikanischen Objekt wiederholt, dann ist das doch eine hervorragende Gelegenheit, sich von der Seite zu betrachten. Wann war denn so etwas schon mal möglich?

    Verweise auf die russischen Präsidentschaftswahlen von 1996 gelten vor dem Hintergrund dessen, was diesen Herbst in den amerikanischen Medien abging, längst als völlig unpassend. Wahrscheinlich ist der Vergleich insoweit unzutreffend, als dass der Wahlkampfsumpf für die Amerikaner ein Schauspiel von begrenzter Dauer war, während sich bei uns das Komplott von Regime und Presse gegen die Gesellschaft, dem im System keine Grenzen gesetzt sind, als unbefristet herausgestellt und in der Ära von „gekreuzigten Jungen“ zu ganz widerwärtigen Zuständen geführt hat. Auch ohne Bezug auf die Wahlen in Amerika ist es stets sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass bei uns alles mit guten Absichten begann, als Journalisten sich in Reih und Glied stellten, um die Regierung vor dem unvernünftigen Wähler zu schützen. Bei uns wurde darüber seit zwanzig Jahren nicht reflektiert, und vielleicht ist das der Grund dafür, dass die hysterischsten Texte über den Tod der amerikanischen Demokratie derzeit eben auch auf Russisch geschrieben werden.

    Das Jahr 1996 ist jedoch Geschichte, während 2011/2012 beispielsweise noch Gegenwart ist: Wir haben die Erfahrung einer Konfrontation der gutsituierten, protestierenden Moskauer Intelligenz mit dem Regime, das damals den breit angelegten Versuch unternahm, die Volksmassen auf seine Seite zu ziehen (oder diese Anziehung zu imitieren). Jetzt lieferte Amerika dem Bolotnaja-Platz von damals ein anschauliches Modell einer ebensolchen Konfrontation, bei der die Minderheit so sehr Recht haben mag, wie sie will, aber dennoch zur Niederlage verdammt ist. Es liegt auf der Hand: All jene, die in Russland irgendetwas erreichen wollen, sollten sich die amerikanische Suche nach jenem Zauberwort genau anschauen, mit dem man eine gemeinsame Sprache mit der Mehrheit finden kann. Es ist schwer zu sagen, welches dieses Wort sein könnte, aber eines steht fest: Es muss ehrlich sein und darf nicht von oben herab kommen.

    Moment für Eingeständnisse

    Das klassische „Russland, du bist wohl völlig durchgedreht“ nach den Wahlen (auch schon 1993, als die LDPR bei den Dumawahlen auf dem ersten Platz landete), das man heute paradoxerweise ins Englische übertragen kann, bedeutet und bedeutete im Grunde immer so etwas wie: „Wir dachten wir könnten die Meinung derer einfach ignorieren, die wir für Rednecks halten.“ Gerade ist wohl der Moment gekommen, sich einzugestehen, dass solche Formeln schäbig sind und man akzeptablen Ersatz für sie suchen sollte.

    Und hier steckt das größte Paradoxon: So oder so werden es die Amerikaner sein, die etwas suchen, um das bestehende Verhältnis zwischen der „klugen“ Minderheit und der „dummen“ Mehrheit zu erneuern. Aus der Niederlage, die Trump dem linksliberalen Establishment beibrachte, müssen unbedingt Schlüsse gezogen werden. Lektionen werden gelernt und auf Englisch formuliert werden, und zwar auf den Seiten der gleichen Medien, die jetzt den ganzen Herbst Angst verbreitet haben vor Trumps möglichem Einzug ins Weiße Haus. Und dann wird unsere verwestlichte „kluge“ Minderheit, die nicht immer fähig ist, etwas eigenes hervorzubringen, die aber sehr sensibel für die weltweite intellektuelle Mode ist, die amerikanischen Schlussfolgerungen vielleicht lesen, sie als gegeben annehmen und sich mit ihnen rüsten. Es mag wohl eine naive Hoffnung sein, aber dennoch: Wenn ein Autor des New Yorker überlegt, wie man sich verhalten sollte, damit der Spießbürger in Oklahoma nicht zu Trump umschwenkt, dann könnte es auch innerhalb der russischen kreativen Klasse möglich werden, ein solches Gespräch mit Menschen in Nishni Tagil zu führen, damit man dort nicht verstört schaudert und denkt: Dann lieber Putin als die da.

    Die Wahlen, die die amerikanische Intelligenz verloren hat, werden die Verlierer etwas lehren, woran sie bislang noch nicht gedacht hatten. Und auch die russischen Epigonen der amerikanischen Intelligenz werden dann etwas lernen. Wir haben genug eigene Trumps. Und es mangelt uns auch nicht an jenen, die überzeugend und detailliert darstellen, was für ein Pech sie doch hätten mit dem russischen Volk. Aber es mangelt uns an jenen, die mit der Volksmehrheit angemessen in deren Sprache sprechen können. In Amerika, so hat sich jetzt herausgestellt, gibt es ein ähnliches Problem, aber das werden sie wohl lösen. Und wir werden bei ihnen abgucken. Und es auch bei uns lösen.

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    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

  • Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    Presseschau № 44: Trumps Wahlsieg

    Putin gratulierte sehr schnell per Telegramm. Ließ verlautbaren, er hoffe auf einen gemeinsam Weg aus der Krise im Verhältnis beider Länder. Ähnlich äußerte sich Medwedew. Donald Trump hat die US-Wahl gewonnen – der Mann, der in Moskau gemeinhin als Wunschkandidat galt. In der Duma klatschten die Abgeordneten spontan, während das Staatsfernsehen am Mittwochabend erstmals seit langem mit wohlwollendem Ton über die USA berichtete. Zuletzt undenkbar, waren die Beziehungen beider Länder wegen der russischen Luftangriffe im Syrien-Krieg doch auf einen erneuten Tiefpunkt gesunken.

    In der Presse wird derweil nun lebhaft kommentiert, wie das politische Erdbeben aus den USA nach Russland ausstrahlen könnte. Wie ist der Sieg zu bewerten, welche Politik zu erwarten? Und wie könnte sich das Verhältnis beider Länder insgesamt entwickeln? Eine Nachlese zur Wahl in den USA.

    Izvestia: Bankrott der Soziologie

    Nach der Dumawahl 2016 war in der russischen Presse vielfach vom Versagen der Meinungsforschung die Rede – keines der Institute habe ein derart hohes Ergebnis für Einiges Russland vorhergesagt. Nach der US-Wahl sieht der Soziologe Aleksej Firsow in der regierungsnahen Tageszeitung Izvestia nun eine globale Krise seines Fachs.

    [bilingbox]Die Wahlen in Amerika zeigen, dass in der Soziologie das Gespür für die Gesellschaft verloren gegangen ist. Das betrifft nicht nur die Umfragedaten, sondern auch das Verständnis für den Untersuchungsgegenstand als solchen. Die Soziologen haben die Zunahme der rechten Bewegungen in Europa verschlafen. Die Soziologen haben den Ausgang des Brexit-Referendums falsch vorausgesagt. Und die Meinungsforschung hat voller Überzeugung in den USA auf einen Sieg von Clinton gesetzt.

    Die Prognosemaschine funktioniert nicht mehr. Würde so etwas in Russland geschehen, fänden die Kritiker leichterdings eine Reihe ausgesprochen „hausgemachter“ Gründe. Doch wir beobachten diesen Prozess jetzt in seiner globalen Dimension.~~~Американские выборы показывают, что социология теряет чувствительность к обществу. Причем речь идет не только об анкетных данных, а о понимании предмета своего изучения в целом. Социологи проспали рост правых движений в Европе. Социологи ошибочно предсказали результаты референдума по Brexit. Социология уверенно ставила на победу Клинтон в США.

    И вот — машина прогнозирования перестает работать. Если бы такое случилось в России, критики легко нашли бы целый ряд сугубо «домашних» причин. Но мы видим этот процесс в глобальном масштабе.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    Echo Moskwy: Trump schuldet Russland nichts

    Die regierungskritische Politologin Lilia Shevtsova stellt heraus, dass Russland erstmals eine wichtige Rolle im US-Wahlkampf gespielt hat und meint in ihrem auf der Seite von Echo Moskwy veröffentlichten Kommentar: Trump bleibe ein Nationalist, niemand solle auf ihn zählen.

    [bilingbox]Es wäre lächerlich, wenn irgendjemand in Russland erwarten würde, dass Trump im Gegenzug für die Unterstützung etwas zurückgibt: Trump ist dafür bekannt, dass er Schulden nicht zurückzahlt!

    Kann man eine Annäherung Russlands an Trumps Weißes Haus erwarten? Selbst wenn Trump auch weiterhin Sympathien in Bezug auf Wladimir Putin äußern sollte, ist ein „Reset“ der Beziehungen zwischen Russland und Amerika zweifelhaft. Erstens, weil Trump selbst ein Nationalist ist, der nach Größe lechzt und nicht in der Lage ist, in seinen Sympathien konsequent zu sein. Und weil es in Amerika Kräfte gibt, die hinsichtlich der Absichten des Kreml ein durchaus verständliches Misstrauen hegen. Doch das größte Hindernis für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und den USA dürfte in der Bereitschaft Trumps liegen, die Spielregeln zu missachten: Wenn das die Staatschefs beider Länder tun, können wir uns auf Probleme gefasst machen! Und das umso mehr, wenn die Wähler von ihnen jeweils eine Demonstration der Stärke erwarten.~~~Смешно, если кто-либо в России ожидает от Трампа компенсации за поддержку: Трамп известен тем, что долгов не отдает!

    Можно ли ожидать сближения России с трамповским Белым Домом? Даже если Трамп будет и дальше выражать симпатии в отношении Владимира Путина, новая «перезагрузка» отношений России и Америки сомнительна. И потому, что сам Трамп является националистом, жаждущим величия и не способным к последовательности своих симпатий. И потому, что в Америке оформились силы, испытывавшие вполне понятную подозрительность в отношении намерений Кремля. Но самым большим препятствием на пути нормализации отношений между Россией и США станет готовность Трампа нарушать правила игры: когда это делают лидеры обеих стран, жди проблем! Тем более, если от обоих лидеров их электораты требуют демонстрации силы.[/bilingbox]

     
    erschienen am 09.11.2016

     

    Pravda.ru: Amerika steht gegen liberale Auffassungen auf

    Der kremlfreundliche Ideologe und Schriftsteller Alexander Prochanow sieht in Trumps Sieg einen Aufstand der US-Bürger verwirklicht. Prochanow, der imperialistische Positionen vertritt, kommentiert den Ausgang der Wahl für die Internetzeitung Pravda.ru, die sich als Nachfolger des kommunistischen Parteiorgans versteht.

    [bilingbox]Und von daher begreife ich Trumps Sieg als einen Aufstand Amerikas. Amerika hat sich in seiner Tiefe erhoben gegen die Spitzfindigkeiten der liberalen Ansichten, gegen die liberale Politik, gegen jenes Spinnennetz, mit dem der amerikanische Kontinent umwickelt ist. Die ganze vorgeschobene, verlogene Toleranz, die Menschenrechte, während man andere Länder bombardiert, das vernichtet jegliches Freiheitsdenken im Keim …

    Das ist eine riesige, globale Lüge kosmischen Ausmaßes, die Clinton und ihre Unterstützer gepredigt haben. Und die ist letztendlich auf tiefliegende Seins- und Menschheitsgesetze gestoßen, auf eine Matrix, in der die Menschheit geschaffen wurde.~~~​И поэтому победу Трампа я трактую как восстание Америки. Америка, в своей глубине, восстала против казуистики либеральных взглядов, либеральной политики, той паутины, в которую оплели американский континент. Вся эта мнимая лживая толерантность и права человека, когда бомбят другие страны, уничтожают все ростки свободомыслия…

    Это огромная, космическая, глобальная ложь, которую исповедовала Клинтон и близкие к ней люди. Она, в конце концов, натолкнулась на какие-то глубинные законы бытия и человечества, какую-то матрицу, в которой человечество создавалось.[/bilingbox]

     
    erschienen am 09.11.2016

     

    Republic: Völlig unvorhersehbare Politik

    Vor voreiligen Schlüssen zur tatsächlichen Politik des neuen US-Präsidenten mahnt der Historiker Ivan Kurilla auf dem liberalen Portal Republic (ehemals slon) – weder Trumps Verhältnis zu Russland noch die US-Außenpolitik innerhalb der Weltordnung seien vorhersagbar.

    [bilingbox]Amerika zeigt mit diesem Sieg einige Charakteristika, die den Russen bekannt vorkommen. Mehr als die Hälfte der Amerikaner hat jemanden gewählt, der offen viele Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft abgelehnt hat. Schon melden sich die amerikanischen Intellektuellen zu Wort, die von ihren Landsleuten enttäuscht sind. Da ich unter ihnen viele Freunde habe, möchte ich sie etwas aufmuntern: Die Wahl Trumps ist keine Tragödie, in vier Jahren gibt es die Möglichkeit, einen anderen Präsidenten zu wählen, das ist unabwendbar. Nicht in allen Ländern hat das Volk eine solche Möglichkeit.

    Ich würde mich auch an der Stelle jener Landsleute nicht zu früh freuen, die Trump die Daumen gedrückt haben: Es gibt keine Garantie, dass dieses dark horse, dieses unbeschriebene Blatt, ein für Russland günstigerer Gegenspieler sein oder die globale Präsenz der USA zurückfahren wird, wie sich das viele bei uns wünschen. Es könnte auch genau das Gegenteil eintreten.~~~Америка с этой победой приобрела некоторые знакомые россиянам черты. Более половины американцев проголосовали за человека, открыто отвергавшего многие достижения либерального общества. Уже слышны голоса американской интеллигенции, разочарованной в своих соотечественниках. Поскольку среди них много моих друзей, хочу их подбодрить: избрание Трампа не трагедия, через четыре года появится возможность избрать другого президента, и это неотвратимо. Не во всех странах у народа есть такая возможность.

    Не стал бы я преждевременно радоваться и на месте тех соотечественников, кто «болел» за Трампа: нет никаких гарантий, что «темная лошадка» окажется более удачным оппонентом для России или что он свернет глобальное присутствие США, как многим бы у нас хотелось. Все может обернуться и прямо противоположным образом.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    Moskovskij Komsomolets: Endlich ein Verhandlungspartner

    Gerade die vielzitierte Unvorhersagbarkeit des neuen Mannes im Weißen Haus hält Michail Rostowski, politischer Kommentator des auflagenstarken, regierungsfreundlichen Moskovskij Komsomolets, dagegen zumindest für eine Chance.

    [bilingbox]In der amerikanischen Politik herrscht seit Jahrzehnten völliger Konsens zu vielen zentralen Fragen, beispielsweise zu der absolut vorrangigen Rolle der NATO und zum Auftrag Amerikas als „Kindermädchen“ und Beschützerin Europas. Donald Trump steht außerhalb dieses Konsenses. Er hat zu allem seine eigenen Vorstellungen, und die scheinen für Politiker der traditionellen Schule eine Art Sakrileg zu sein. […]

    Unvorhersagbarkeit bedeutet nicht nur Gefahren, sondern auch potenzielle Möglichkeiten. Mit Trump haben wir es mit einem US-Präsidenten zu tun, der keine festgefahrene persönliche Abneigung gegen Russland hat und der bereit ist zu verhandeln. Nach den Maßstäben des Herbstes 2016 ist das bereits sehr, sehr viel. Ich weiß nicht, ob Präsident Trump für die russisch-amerikanischen Beziehungen gut sein wird. Aber Präsident Trump wird diesen Beziehungen sicherlich eine neue Chance geben.~~~В американской политике уже многие десятилетия существует полный консенсус по целому ряду ключевых вопросов — например, об абсолютно приоритетной роли НАТО, о призвании Америки быть «няней» и защитницей Европы. Дональд Трамп не является частью этого консенсуса. У него свои идеи по поводу всего — идеи, которые кажутся политикам традиционной закваски чем-то вроде святотатства. […]

    Непредсказуемость — это не только опасность, это еще и потенциальная возможность. В лице Трампа мы имеем президента США, у которого нет застарелой личной антипатии к России и который не прочь договариваться. По меркам осени 2016 года это уже очень и очень неплохо. Не знаю, будет ли президент Трамп хорош для российско-американских отношений. Но президент Трамп точно дает этим отношениям новый шанс.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    Rossijskaja Gaseta: Russland soll sich lieber China zuwenden

    In der Tageszeitung Rossijskaja Gaseta, dem Amtsblatt der russischen Regierung, meint der Politologe Sergej Karaganow, Russland solle sich gar nicht so stark auf den neuen US-Präsidenten und seine mögliche Politik kaprizieren – sondern lieber stärker nach China schauen.

    [bilingbox]Amerika kann stark sein, das ist vollkommen klar. Allerdings weiß ich nicht, ob es Trump seinen Plan umsetzen lässt, der einen partiellen Isolationismus und die Konzentration der USA auf eigene Probleme nach sich zieht (übrigens hat das tatsächlich, in erheblich abgeschwächter und liberalerer Spielart, auch Obama geboten). […]

    Trump hat in seinem Wahlprogramm viel vom Dialog mit Russland gesprochen. Aber es muss klar sein, dass die amerikanische Elite zu einem erheblichen Teil Russland schlichtweg ganz offen hasst, insbesondere die Liberalen. Doch das Entscheidende ist, dass Trump keine ernsthaften Pläne in Bezug auf Russland hat. Der Dialog mit den USA ist nötig, und die Beziehungen müssen wir und können wir womöglich ein wenig gesunden lassen. Das Wichtigste ist jedoch, dass Russland seine Politik ungeachtet von Trumps  Regierungsübernahme weiterführt.

    Ich bin sehr beunruhigt, dass viele russische Beobachter in hohem Maße unsere Politik davon abhängig machen wollen, wer bei den amerikanischen Wahlen gewinnt. Wir müssen uns nach Osten wenden, die Beziehungen zu China vertiefen, peu à peu mit den führenden europäischen Staaten zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass Europa auf eine neue Spaltung zuschlittert.~~~Америка может быть сильной, это совершенно понятно. Однако не знаю, дадут Трампу реализовать его план, подразумевающий частичный изоляционизм и концентрацию США на собственных проблемах (кстати, такое предлагал, правда, гораздо в более мягком и либеральном варианте Обама). […]

    В своих предвыборных программах Трамп  много говорил о диалоге с Россией. Но нужно понимать, что значительная часть американской элиты просто откровенно ненавидит Россию, в основном либеральная часть. Но, главное, у Трампа нет серьезных планов в отношении России. Диалог с США нужно вести и отношения нужно и, может быть, даже можно немного оздоровить. Однако главное, что нужно сделать России, это продолжать свою политику вне зависимости от прихода к власти Трампа.

    Меня очень настораживает, что многие российские обозреватели в  значительной степени связывали нашу политику с тем, кто победит на американских выборах. А нам нужно поворачиваться на Восток, углублять отношения с Китаем, потихонечку работать с ведущими европейскими странами, чтобы предотвратить соскальзывание Европы к новому расколу.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    Sekret firmy: Geschäft wichtiger als Politik?

    In dem auf Unternehmerschaft in Russland spezialisierten Online-Magazin Sekret firmy schließt Redakteur Andrej Babitzki mit der Frage, ob am Ende nicht etwas ganz anderes als die große Politik eine entscheidende Rolle spielen könnte.

    [bilingbox]Außenpolitisch wird Trumps Position fast sicher weicher sein als Clintons. Seine Ansichten sind ein wenig isolationistischer, er meint, die USA sollten weniger im Ausland kämpfen. Im Verhältnis konkret zu Russland sind seine Worte genau so unbeständig wie im Verhältnis zu allen andern. Er hat sich einerseits so geäußert, dass er im Falle einer russischen Invasion die baltischen Staaten nicht verteidigen würde, andererseits sagte er, dass er zum Abschuss eines russischen Flugzeugs bereit wäre, sollte es sich einem amerikanischen zu sehr nähern. Zudem hat er oft gesagt, dass man mit Putin eine gemeinsame Sprache finden müsse.

    Am Ende, wie der Sohn des gewählten Präsidenten einmal gesagt hat, der in den Unternehmen der Familie arbeitet, würden die Russen einen überproportional großen Anteil der Immobilienkunden in Entwicklungsprojekten von Trump darstellen. Und Geschäft sei wichtiger als Politik.~~~В смысле внешней политики позиция Трампа почти наверняка будет мягче, чем у Клинтон. Он держится чуть более изоляционистских взглядов, считает, что США должны меньше воевать за рубежом. В отношении конкретно России его слова так же изменчивы, как в отношении всего остального. Ему приходилось говорить и о том, что он не будет защищать балтийские страны от российского вторжения, и о том, что он готов сбить российский самолёт, если тот пролетит слишком близко от американского. Кроме того, он много раз говорил, что с Путиным надо искать общий язык.

    Наконец, как рассказывал сын избранного президента, работающий в семейном бизнесе, русские составляют непропорционально большую часть покупателей недвижимости в девелоперских проектах Трампа. Бизнес важнее политики.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    Snob: Feindbild wird fehlen

    Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Ekaterina Schulmann fragt im international ausgerichteten Gesellschaftsmagazin Snob, welches Feindbild in Russland bemüht werde, nun, da Obama von der Mattscheibe verschwinde.

    [bilingbox]Die Russische Fernsehpropaganda wird es bitter zu spüren bekommen, das Fehlen „des bösen Obama und der niederträchtigen Clinton“, die beide „Russland Schaden bringen und die Kiewer Junta unterstützen“. Allein mit den „Brüsseler Bürokraten” ohne die „Washingtoner Strippenzieher“ kommt man nicht weit. Von „geklauten Stimmen des amerikanischen Volkes“ zu sprechen, gelingt nicht. Man wird – wie Prophet Bileam, der Israel verdammen sollte, es dann aber dreimal segnete, – die großartige amerikanische Demokratie loben. […]

    Mittelfristig könnte uns Enttäuschung erwarten und Streitigkeiten aus nichtigen Gründen, wie im Szenario mit Erdogan. Die Enttäuschung könnte um so bitterer ausfallen, als dass der neue Präsident als Isolationist und Beschützer einheimischer Produzenten höchstwahrscheinlich beginnen wird, die Förder- und Exportbeschränkungen von amerikanischem Öl zu senken. Und das bedeutet, dass der Ölpreis sinken wird.~~~Российская телепропаганда будет остро ощущать нехватку «злого Обамы и подлой Клинтон», которые «вредят России и поддерживают киевскую хунту». На одних «бюрократах из Брюсселя» в отсутствие «вашингтонских кукловодов» далеко не уедешь. Не получится говорить об «украденных голосах американского народа». Придется — как Валааму, которого пригласили проклясть, а он трижды благословил, — хвалить великую американскую демократию. […]

    В среднесрочной перспективе нас может ждать разочарование, ссора по случайному поводу, по сценарию Эрдогана. Разочарование может быть тем острее, что новый президент, как изоляционист и защитник отечественного производителя, с большой вероятностью начнет снимать ограничения на добычу и экспорт американской нефти. А значит нефть будет дешеветь.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.11.2016

     

    dekoder-Redaktion

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    Historische Presseschau: Oktober 1917

  • Historische Presseschau: Oktober 1917

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Am frühen Morgen des 25. Oktober (7. November) 1917 erklärten die Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin die Regierung in Petrograd für abgesetzt und noch am selben Tag besetzten sie die wichtigsten infrastrukturellen Punkte der Stadt: den zentral gelegenen Nikolajewski Bahnhof, die Telefonzentrale, das zentrale Elektrizitätswerk und die Staatsbank. Die Regierungsmitglieder – im Amt war eine parlamentarische Übergangsregierung unter Führung von Alexander Kerenski – wurden in der folgenden Nacht im Winterpalast festgenommen. Kerenski selbst konnte fliehen. 

    Die Geschehnisse dieser zwei Tage, der Umsturz und die Machtübernahme der Bolschewiki, sind unter dem Namen Oktoberrevolution in die Geschichte eingegangen. Ereignisse, die unter Historikern bis heute Kontroversen produzieren. Russland erlebte damit bereits die zweite massive Umwälzung politischer Verhältnisse innerhalb kürzester Zeit, denn erst im Februar 1917 war die herrschende Zarenfamilie zu Fall gebracht und das Land seitdem provisorisch von der parlamentarischen Übergangsregierung geführt worden.

    Nach Machtergreifung der Bolschewiki nun war einer der ersten Schritte die Einführung einer Zensur. Der Beschluss fiel bereits am 27. Oktober: In einem Dekret über die Presse erklärte das bolschewistische Revolutionskomitee, es sähe sich gezwungen, „eine ganze Reihe an Maßnahmen gegen konterrevolutionäre Presse aus verschiedenen Richtungen“ zu unternehmen. Einige Medien, wie etwa die liberalen Zeitungen Retsch und Birshewyje wedomosti, wurden unmittelbar nach der Machtübernahme geschlossen. Viele Zeitungen verschwanden oder passten sich in ihrer politischen Ausrichtung im Laufe des Jahres an.

    Die Zeitungen, die noch im Dazwischen des Machtwechsels – am 26. Oktober – erscheinen konnten, bieten eine Möglichkeit, hinter die Kulissen dieses historischen Datums zu schauen. Dazu haben wir aus dem Zeitungsarchiv der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg eine Historische Presseschau zusammengestellt.

    Rabotschi put (Prawda): Der Kampf hat erst begonnen

    Die Tageszeitung Rabotschi put (Prawda) berichtete direkt am 26. Oktober (8. November), dass die Provisorische Regierung gestürzt worden sei und wies zugleich auf die unsichere Stellung der neuen Machthaber hin. Das Blatt war das Parteiorgan der Bolschewiki und forderte, an diesem Punkt dürfe nicht nachgelassen, der Kampf gegen die Bourgeoisie müsse fortgesetzt werden.

    [bilingbox]Die Kerenski-Regierung ist gestürzt. In Petrograd hat die Revolution gesiegt. Bedeutet das etwa, dass die Revolution schon endgültig gewonnen ist, dass der Sieg feststeht?

    Nein, es wäre ein Verbrechen, sich jetzt auf den Lorbeeren auszuruhen und zu glauben, die Kräfte der Revolutionsfeinde seien schon zerstört.

    Auf keinen Fall sollte einer Konterrevolution einfach so das Feld überlassen werden. Für die Gutsbesitzer und Kapitalisten steht nun wirklich alles auf dem Spiel. Die Bourgeoisie, sie ist ein beharrlicher, hartnäckiger und findiger Feind. Kaum den Rückzug angetreten, bereitet sie sich schon auf einen neuen Angriff vor.

    Die Kerenski-Regierung hat die Flucht ergriffen. Wir zweifeln jedoch nicht daran, dass sie einen Einmarsch in Petrograd vorbereitet. Wir sind davon überzeugt, dass die gestürzten konterrevolutionären Interimsherren nicht einen Gedanken daran verschwenden werden, gegen die Deutschen Front zu machen, nur um über das eigene Volk einen blutigen Sieg zu erringen.

    Der Kampf hat erst begonnen – der Kampf geht weiter.~~~Правительство Керенского низложено. Революция победила в Петрограде. Означает ли это, что революция уже победила окончательно, что победа ее закреплена?

    Нет, преступлением было бы успокоиться теперь “на лаврах” и считать силу врагов революции уже уничтоженной.

    Контр-революция так легко ни в коем случае не уступит поля битвы. Для помещиков и капиталистов все, ведь, поставлено на карту. Буржуазия – враг настойчивый, упорный и ловкий. Отступая, она немедленно готовит новое наступление.

    Правительство Керенского бежало. Но мы ни минуты не сомневаемся в том, что оно готовит поход на Петроград. Мы не сомневаемся в том, что низложенные контр-революционные времещники не задумаются ни на минуту открыть фронт немцам, лишь бы одержать кровавую победу над собственным народом.

    Борьба началась – борьба не кончена.[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 46

    Nowaja shisn: Die Machthaber müssen auch Opfer verlangen

    Wassili Desnizki (er schrieb unter dem Pseudonym W. Strojew) sympathisierte in seinem Artikel in der Nowaja shisn offen mit den Bolschewiki. Die erst im April 1917 gegründete Tageszeitung, die sich zu den Reihen der Sozialdemokraten gezählt hatte, befürwortete die Umwälzungen im Land. Desnizki, Publizist und selbst Revolutionär, forderte in seinem Text, die Bolschewiki müssten – auch wenn das viele Opfer verlange – alles tun, damit das politische Programm und eine neue Regierung auch von anderen akzeptiert werde.

    [bilingbox]Also, zumindest für Petrograd ist die Sache entschieden: Die Übergangsregierung, die durch die Koalition der Demokraten mit den Vertretern der besitzenden Klassen zustande kam, besteht allem Anschein nach nicht mehr! Der Kongress hat nun die Aufgabe, die Regierung auf der Grundlage des von den Aufständischen verkündeten Programms zu organisieren.

    Dieses Programm, das die Ziele der neuen Regierung in ganz allgemeiner Weise formuliert, ist für die revolutionäre Demokratie sicherlich akzeptabel. Nun kommt es darauf an, ob es angesichts des unausweichlichen Bürgerkriegs von den demokratischen Kräften des gesamten Landes akzeptiert wird – ob das Land und die Armee die Regierung anerkennen, die gebildet wird, um es zu verwirklichen. […]

    Frieden, Brot und Freiheit kann man dem Land nicht mit einem Federstrich geben. Diese Ziele lassen sich nur durch die lange, harte Arbeit einer entschlossenen, demokratischen Regierung erreichen. Nachdem sie von Worten zur Tat geschritten ist, darf die Macht den Volksmassen nicht nur verlockende Perspektiven für die nahe Zukunft in Aussicht stellen. Sie wird auch Opfer verlangen müssen. Sie wird zu harten Zwangsmaßnahmen greifen müssen, wenn dies zum Wohl der Revolution erforderlich ist.~~~Итак, для Петрограда, по крайней мере, вопрос решен: Вр. Правительство, созданное на основе коалиции демократии с представителями имущих классов, по-видимому, более не существует! И перед Съездом стоит задача организации власти на основе программы, провозглашенной восставшими.

    Программа эта, формулируя задачи новой власти в самой общей форме, несомненно приемлема для революционной демократии. Вопрос в том, чтобы в условиях неизбежной гражданской борьбы она была принята демократией всей страны чтобы страна и армия признали ту власть, которая будет создана для ее проведения в жизнь. […]

    нельзя одним росчерком пера дать стране мир, хлеб и свободу. Эти задачи могут быть выполнены только в процессе длительной упорной работы, осуществляемой решительной демократической властью. Власть, перешедшая от слов к делу, должна будет показать народным массам не только заманчивые перспективы близкого будущего. Она должна будет потребовать и жертв, должна будет прибегать и к суровым мерам принуждения, раз это потребуется во имя блага революции.[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 163 (157)

    Wolnost: Todeskampf eines freien Russlands

    Die Tageszeitung Wolnost, die von dem Schriftsteller und Publizisten Alexander Amfiteatrow herausgegeben wurde, sah in dem Oktoberumsturz das Ende der Februarrevolution und wies auf deutsche Spuren dabei hin – [gnose-4315]Lenin war vor der Revolution aus dem Exil[/gnose] über Deutschland nach Petrograd gelangt.

    [bilingbox]Die bolschewistische Verschwörung gegen die Revolution, Freiheit und Verteidigung des Landes war ein glänzender Erfolg. Die aus der Februarrevolution hervorgegangene Regierung gibt es in Russland nicht mehr. Damit ist die Februarrevolution tot, vergewaltigt, frevelhaft geschunden und den Schikanen von Russlands Feinden zum Opfer gefallen.

    Die Februarrevolution ist tot. Und die neue Etappe können wir nur als den Todeskampf eines freien Russlands bezeichnen. Ein Wesen im Todeskampf kann sich noch bewegen, kann noch Leben simulieren und das eigene Dasein vortäuschen. Doch über seinem Kopf hat sich bereits der Tod erhoben, aus dessen knochiger, fest zupackender Hand es niemand mehr befreien wird. […]

    Wir haben nur noch sehr wenig Grund, zu hoffen, dass dieser Wahnsinn auf Widerstand stoßen wird. Die letzte Hoffnung richtet sich auf Moskau und das restliche Russland. Doch die neue Regierung, die voller Wucht und Druck operiert und beim Einsatz ihrer Mittel nicht wählerisch ist, wird wissen, wie sie das Land zunächst terrorisiert und fest in den Griff kriegt. In den Griff von Händen, auf denen sich noch glühend der Druck des deutschen Handschlags abzeichnet, von der Durchreise ihrer Vertreter durch Deutschland. Und überrascht werden wir nicht sein, wenn Russland angesichts der allgemeinen Raserei genötigt sein sollte, die Machtübernahme neuer Interimskräfte vorerst zu akzeptieren.~~~Большевистский заговор против революции, свободы и обороны страны удался блестяще. В России больше нет правительства, рожденного февральской революцией. И с этой минуты, февральская революция умерла, изнасилованная, кощунственно замученная, павшая жертвой издевательства врагов России.

    Февральская революция умерла. И новый ее этап мы не можем иначе назвать, как агонией свободной России. Агонирующий ещё может делать движения, еще способен имитировать жизнь и обманывать видимостью своего бытия. Но смерть встала уже над головой, и никто не устранит ее костлявой, сжимающей руки. […]

    Очень мало осталось у нас надежд на то, что это безумие встретит отпор. Последняя надежда на Москву и всю остальную Россию. Но, действуя нахрапом и напором, не разбираясь в средствах, новая власть, вероятно, сумеет на первых порах терроризировать страну и крепко держать ее в своих руках, на которых так ярко горят следы пожатий немецких рук при проезде ее представителей через Германию. И мы не удивимся, если, при всеобщем безумии Россия принуждена будет пока признать власть новых временщиков.[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 163 (157)

    Retsch: Stadium einer Vivisektion

    Die liberale Tageszeitung Retsch, die von der Partei der Volksfreiheit (Konstitutionelle Demokraten) herausgegeben wurde, sah in der Machtübernahme der Bolschewiki politischen Wahnsinn am Werk – der fatale Folgen haben würde.

    [bilingbox]Die Würfel sind also gefallen. Einem von drei Kriegsjahren geplagten und ausgezehrten Land, das die Konvulsionen einer Revolution durchlebt hat, das verelendet ist und den äußersten Grad wirtschaftlicher und industrieller Zerrüttung erreicht hat – einem Land, das keine stabile und dauerhafte Regierung hat und zum Schauplatz von Anarchie und Pogromen geworden ist – diesem armen, zugrunde gehenden Land steht eine neue Etappe auf seinem Leidensweg bevor. Wir befinden uns bereits in einem neuen Stadium eines Vivisektions-Versuchs, was das Land betrifft. […] Es hat eine neue, tiefgreifende Erschütterung gegeben, und deren Folgen für die innere und internationale Situation sind unabsehbar.

    Bis zum letzten Augenblick wollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Kelch weiterer Prüfungen an unserem Land vorübergehen möge. Auch wenn die Hoffnung noch so gering war, schien uns doch, dass selbst blinder Parteifanatismus seine Grenze dort finden würde, wo der Untergang des ganzen Landes auf dem Spiel steht. […] Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. […]

    Ganz gleich was der morgige Tag uns bringt, welche Formen die Staatsmacht annimmt, in wessen Hände sie fällt, ES IST JETZT SCHON VOLLKOMMEN KLAR, dass diese Machthaber zwangsläufig vor genau denselben Aufgaben stehen werden. […] Sie sind unausweichlich, man kann sie sich nicht mit billigen Phrasendreschereien auf Versammlungen vom Hals schaffen, und man kann sie nicht durch trügerische und unerfüllbare Versprechungen ersetzen. Vor diesen Aufgaben werden auch die Herren Lenin und Trotzki stehen, wenn ihr umstürzlerisches Vorhaben gelingt. Dann wird das Land erneut Konvulsionen erleiden und die bitteren Früchte des politischen Irrsinns und Abenteurertums kosten müssen – und wer weiß, ob es sich von dieser neuen Dosis Gift je wieder erholen wird.~~~Итак, жребий брошен. Стране, измученной и истерзанной тремя годами войны, пережившей судороги революции, обнищавшей, дошедшей до последней степени экономического и промышленного расстройства, – стране, лишенной твердой и прочной власти, стране, ставшей ареной анархических и погромных движений, – этой несчастной гибнущей стране предстоит новый этап крестного пути. Мы уже вошли в полосу нового опыта вивисекции над нею. […]

    Произошло новое глубокое потрясение, и его последствия для внутреннего и для международного положения страны неисчислимы.

    До последнего времени мы не хотели терять надежду на то, что нашу родину минует чаша новых испытаний. Как ни мала была эта надежда, все же нам казалось, что и для ослепленного партийного фанатизма есть пределы, за которыми чувствуется гибель всей страны. […]

    Чтобы не принес нам завтрашний день, какие бы формы ни приняла власть, в какие бы руки она ни перешла, ВСЕ УЖЕ СОВЕРШЕННО ЯСНО, что перед этой властью, неизбежно должны встать одни и те же задачи. […] Они неотвратимы, от них нельзя отделаться дешевой риторикой митингового пустословия, их нельзя подменить обманными и неисполнимыми обещаниями. Они встанут и перед гг. Лениным и Троцким, если им удастся их мятежный замысел. И тогда стране придется выстрадать новые судороги, вкусить горькие плоды политического безумия и авантюризма, – и кто знает, оправится ли она от этой новой дозы яда.[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11) 1917, Nr. 252 (3994)

    Rabotschaja gaseta: Dies ist keine Revolution, das ist ein Militärkomplott

    Die Tageszeitung Rabotschaja gaseta, die das Zentralorgan der Partei der Menschewiki war, sprach sich dagegen aus, den Oktoberumsturz als Volksaufstand und Heldentat des Proletariats zu bezeichnen. Sie sah darin allein eine verschwörerische Machtergreifung.

    [bilingbox]Dies ist keine Revolution, ja, nicht einmal ein Aufstand. Dies ist ein Militärkomplott, wie man es von den Jungtürken oder aus der Geschichte Spaniens und der südamerikanischen Republiken kennt. Dass es sich nicht um einen Volksaufstand, sondern um ein Militärkomplott handelt, zeigt sich daran, dass der Umsturz bislang so leicht vonstatten geht. Aber eben deshalb ist das bolschewistische Abenteuer auch so ephemer und leichtfertig. Das Unterfangen der Bolschewiki ist keine Kommune, kein heroischer Zusammenschluss des Proletariats mit dem Kleinbürgertum gegen die reaktionäre Bourgeoisie und den äußeren Feind, sondern eine rein konspirative Machtergreifung.~~~Это не революция и даже не восстание. Это – военный заговор, в роде младотурецкого или тех, какие знает история Испании и южно-американских республик. Именно в том, что это не народное восстание, а военный заговор заключается причина той легкости, с какой пока совершается переворот. Но именно в том и заключается весь эфемерный, легкомысленный характер большевистской авантюры. Их попытка – не коммуна, не геройское выступление пролетариата в союзе с мелкой буржуазией против реакционной буржуазии и внешнего врага, а именно чисто заговорщицкий захват власти[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (07.11) 1917

    Delo naroda: Ratlosigkeit und Ohnmacht

    Die Tageszeitung der Sozialrevolutionäre Delo naroda berichtete über die Selbstisolation der Bolschewiki von anderen revolutionären Kräften und zweifelte daran, dass die neuen Machthaber in der Lage seien, das Land zu regieren und innen- wie außenpolitische Probleme zu lösen.

    [bilingbox]Der Aufstand der Bolschewiki in Petrograd ist erfolgt. […] ​Mit diesem Schritt haben sie sich von allen nicht-bolschewistischen Teilen der revolutionären Demokratie isoliert und übernehmen so die ganze schreckliche Verantwortung für all seine Folgen. […]

    Pompös feiern die Bolschewiki ihren Sieg: Endlich, die Feinde der Arbeiterdemokratie sind zu Fall gebracht, die Paladine des Bolschewismus werden an die Macht kommen.

    Eine Bank, Bahnstationen und Kraftwerke zu besetzen oder sogar die Provisorische Regierung zu erschießen, bedeutet allerdings noch nicht den Sieg. Das heißt bloß, dass man eine Reihe bekannter materieller Handlungen ausführt, die erst dann einen politischen Sinn erhalten, wenn die am Umsturz Beteiligten ein konkretes Programm und eine Vorstellung von dessen praktischer Umsetzung haben.

    Wir wissen nicht, als was für Staatsführer die Bolschewiki sich erweisen werden, wie sie dieses große Land regieren wollen, das äußerlich wie innerlich unter unvorstellbar schrecklichen Bedingungen lebt. Doch ihr erster Probeauftritt, wenn man das so nennen mag, als Herrscher erweckte bei nahezu allen Beobachtern einen bedrückenden Eindruck von Ratlosigkeit und Ohnmacht.~~~Восстание большевиков в Петрограде состоялось. […] Своим шагом они изолировали себя от всей не-большевистской части революционной демократии и тем самым взяли на себя всю страшную ответственность за все его последствия. […]

    Большевики громко торжествуют свою победу: наконец-то, враги трудовой демократии ниспровергнуты, и у власти становятся паладины большевизма.

    Однако, занять банк, железнодорожные и электрические станции, даже расстрелять Временное Правительство еще не значит победить. Это лишь значит совершить ряд известных материальных действий, которые получают политический смысл лишь тогда, когда у людей, совершающих переворот есть определенная программа и практическое понимание способов ее осуществления.

    Не знаем, какими государственными деятелями окажутся большевики, как они примутся управлять великой страной, переживающей невероятные внешние и внутренние условия. Но первое, если можно так выразиться, пробное выступление их в качестве людей власти произвело почти на всех свидетелей этого выступления самое тягостное впечатление растерянности и беспомощности.[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 189

    Sowremennoje slowo: Sprung in den bodenlosen Abgrund

    Die Tageszeitung Sowremennoje slowo, die sich selbst als eine unparteiisch-demokratische Zeitung bezeichnete und der liberalen Partei der Volksfreiheit nahestand, ordnete den Oktoberumsturz in die Reihe der Ereignisse des Jahres 1917 ein. Sie sah darin keine neue, sondern das Ende der Revolution und befürchtete für „das große Russland“ den Untergang.

    [bilingbox]Die russische Revolution hat ihr Werk vollendet. Sie begann als landesweite Erhebung gegen die zarische Autokratie. Sie war Volksprotest gegen Sklaverei, Niederlage und Schande. […] Aber sehr bald schon wurden diese Ziele durch die Übergriffe einzelner Gruppen und Parteien blockiert. Auf dem Banner der Revolution wurden Parteilosungen zur Schau gestellt, und die vom alten Regime in Unwissenheit aufgezogenen Massen erlagen nur allzu leicht allen möglichen unrealistischen Versprechungen im Geiste der Internationale und des extremen Sozialismus.

    Die Revolution wurde immer mehr zur Parteisache. […] Der entscheidende Sieg, den der Bolschewismus jetzt feiert, trägt alle Züge […] der letzten Phase einer Revolution, hinter der sich ein finsterer Abgrund auftut. […]

    Nur Einzelne können darin das Wirken einer neuen Revolution sehen. Nur wer die Augen vor dem verschließt, was der kommende Tag für Russland bereithält, kann ignorieren, welche Folgen dieser Umsturz für den Staat, für das äußere Ansehen des Landes, für seine Wirtschaft und seine Verteidigung haben wird. Dieser Umsturz – er ist keine Etappe auf dem Weg in ein Reich der Freiheit und des Sozialismus, sondern ein Sprung in den bodenlosen und finsteren Abgrund. Er ist kein erneuter Sieg, keine „Weiterentwicklung“ der Revolution, sondern etwas anderes, was das Land zum alten, verfluchten Regime zurückführen kann.

    Und in dieser furchtbaren Stunde der russischen Geschichte haben wir nur einen Wunsch: dass der Preis, den Russland für diesen „Sieg“ zahlt, nicht zu hoch sein möge; dass die Prüfungen, die dem Land bevorstehen, möglichst wenige Opfer fordern und Russland, das große Russland, vor dem endgültigen Untergang errettet werden möge.~~~Русская революция завершила свое движение. Она началась общенациональным подъемом, направленным против царского самодержавия. Она была народным протекстом против рабства, поражения и позора. […] Но очень скоро эти цели оказались парализованными домогательствами отдельных групп и партий. Партийные лозунги были выставлены за знамени революции, и массы, воспитанные старым режимом в невежестве, легко поддались на всякого рода невыполнимые обещания, в духе интернационала и крайнего социализма.

    Революция становилась все более партийной. […] Решительная победа, которую ныне празднует большевизм, носит все черты […] конечного этапа революции за которым открывается темная бездна… […]

    Только единицы могут видеть в этом действии новую революцию. Только деятели, которые закрывают глаза на то, что день грядущий готовит России, могут не учесть тех последствий, которые несет этот переворот для государства, для его внешнего престижа, для экономики и для обороны страны. Переворот – не этап в царство свободы и социализма, а прыжок в бездну, неизмеримую и темную. Это – не новая победа революции, не “углубление” ее, а нечто другое, что может возвратить страну к старому проклятому режиму.

    И в этот страшный час русской истории мы желаем только одного, – чтобы эта “победа” не обошлась слишком дорого России, чтобы испытания, ей уготованные, не потребовали бы как можно меньше жертв и чтобы Россия, великая Россия, была спасена от окончательной гибели[/bilingbox]

    erschienen am 26.10. (08.11.) 1917, Nr. 347 1

    Zusammengestellt von Leonid A. Klimov. Übersetzungen: dekoder-Redaktion und Anselm Bühling

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    Likes – das täglich Brot der Extremistenjäger

    Noch vor fünf Jahren galt das russische Internet als sehr freizügig. Etwas mehr als 40 Prozent der Menschen im Land hatten es da für sich entdeckt. Das russische facebook-Pendant VKontakte war nicht nur ein Freundesnetzwerk, sondern auch Musiktauschbörse, vorbei an jedem Copyright. Es gründeten sich neue junge Internetmedien, und das Livejournal – die damals mit Abstand am meisten genutzte Blogplattform in Russland – war ein Tummelplatz.

    Mit dem 1. November 2012 trat ein tiefgreifendes Gesetz zu konkreten Internetsperren in Kraft. Das erste einer Reihe weiterer Gesetze, mit denen das Internet offiziell vom Kinderschutz bis zum Urheberrecht seitdem umfassend reguliert wird, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten. Daraus ist in der Praxis auch ein mächtiges politisches Kontrollinstrumentarium erwachsen – teils ohne dass Gerichtsbeschlüsse erforderlich sind. Der Jurist Damir Gainutdinow von der Menschenrechtsorganisation Agora berät Menschen, die in dieses Räderwerk geraten und erklärt im Gespräch mit der Novaya Gazeta, wovor Nutzer inzwischen auf der Hut sein müssen und was von der Anwendung des jüngsten Überwachungsgesetzes, dem Jarowaja-Paket, zu halten ist.

    Welche Tendenzen beobachten Sie beim Umgang des Staates mit dem Internet?

    In den vergangenen zwei Jahren waren die folgenden Trends zu beobachten: Zum einen wurde der Druck auf konkrete Nutzer erhöht, zum anderen wurden diverse Überwachungstechniken entwickelt. Im Prinzip ist der Staat vor etwa fünf Jahren auf das Internet aufmerksam geworden. Das hatte mit steigenden Nutzerzahlen zu tun, deren Anteil an der Bevölkerung im Land  mittlerweile jenseits der 50-Prozent-Marke liegt. Das Internet wurde für die Bürger eine Quelle unabhängiger alternativer Informationen. Der Staat hat dann begonnen, Maßnahmen zur Kontrolle dieser Informationen zu ergreifen.

    Seit dem Jahr 2012 wurden sehr viele Gesetze zum Internet verabschiedet, größtenteils Gesetze mit Verbotscharakter. Angefangen hat alles mit der gesetzlichen Sperrung von Seiten über schwarze Listen. Ein paar Jahre lang wurde diese Richtung verfolgt, doch mit der Zeit wurde klar, dass Internetfilter nicht funktionieren. Die Nutzer lernten, die Sperren zu umgehen. Jeder geblockten Internetquelle von Bedeutung wird dadurch außerdem erhöhte Aufmerksamkeit zuteil.

    Vor Kurzem gab es einen Skandal um die Sperrung von Pornhub, zuvor wurde die Webseite der Gruppe Krovostok geblockt. Und das, wo doch die Gesetzgebung zu schwarzen Listen und zu Extremismus nur einzelne zu sperrende Content-Arten vorsieht: darunter die Propagierung von Drogen und Selbstmord … Heißt das, man kann mit gerichtlichem Beschluss sperren, was man will?

    Es gibt momentan fünf Gründe für Sperren ohne Gerichtsbeschluss: Kinderpornographie, das Propagieren von Drogen und Selbstmord, das Veröffentlichen von Informationen über minderjährige Gewaltopfer und Aufrufe zu extremistischen Handlungen und nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltungen.

    Zugleich gibt es im Paragraphen 15.1 des Informationsgesetzes eine Ergänzung, die besagt, dass auch jedwede Information blockiert werden kann, die durch Gerichtsbeschluss als verboten erklärt wird. Dies ist eine scheinbar harmlose Klausel, doch auf ihrer Grundlage erfüllen die Staatsanwälte sehr effektiv ihre Statistiken, indem sie sich mit Klagen jeglicher Art an die Gerichte wenden. Vor ein paar Jahren zum Beispiel wurde ein Beitrag von Gazeta.ru gesperrt, in dem erklärt wurde, wie man Schmiergelder zahlt. Solche Fälle gibt es ziemlich häufig. Es wurden Seiten gesperrt, auf denen Parmesan angeboten wurde – wegen des Embargos und der Gegensanktionen. In Petersburg gab es die Forderung, Seiten zu sperren, auf denen über das Ende der Welt diskutiert wird.

    Die Gerichte werfen hier alles Mögliche zusammen. Auch die Seite von Krovostok versuchten sie über diesen Kamm zu scheren und zu verbieten, weil sie asoziales Verhalten propagiert – ohne jegliche Gesetzesgrundlage. Mit Pornhub ist es dasselbe. Für Kinderpornos gibt es ein absolutes Verbot, für gewöhnliche Pornos aber besteht keinerlei Verbot. So hat man sich auf einen Strafrechtsparagraphen gegen die Verbreitung und Herstellung von Pornographie berufen, in dem es allerdings um illegale Pornographie geht. Das heißt, es existiert auch legale Pornographie, die nicht verboten werden kann. Solche Gerichtsbeschlüsse sind daher gesetzwidrig und gehören aufgehoben.

    Das Problem ist, dass Staatsanwälte und Richter hier Hand in Hand arbeiten. Die erdrückende Mehrheit solcher Fälle wird verhandelt, ohne die beteiligten Parteien hinzuzuziehen – also die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte. Richter und Staatsanwalt sitzen sich einfach gegenüber und machen die Sache unter sich aus. Als ich mir die Akten zu Krovostok genau ansah, fand ich darin auch das Gerichtsprotokoll zur Sperrung. Zehn Minuten hat die Sitzung gedauert, bei der es um das Verbot der Seite ging. Dabei ist das Gericht formal verpflichtet, alle Materialien zu prüfen, die verboten werden sollen. Auf der Webseite gab es mindestens vier Alben mit einer Spielzeit von jeweils etwa einer Stunde. Sie innerhalb von zehn Minuten zu prüfen, ist schlicht unmöglich.

    In diesem Fall gelang es, hinter die verschlossenen Türen zu schauen und zu sehen, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Ich bin mir sicher, dass die anderen Fälle in der Mehrheit genauso ablaufen.

    In Ihrem Bericht für 2015 haben Sie geschrieben, die Behörden seien dazu übergegangen, die entwickelten Instrumente zur Druckausübung auf das Internet nun umsetzen. Was heißt das?

    Parallel zum Ausweiten der Gründe für das Blocken von Webseiten wurde das Strafmaß für Rechtsbrüche im Internet verschärft. Für bestimmte Netzaktivitäten wurden Paragraphen eingeführt, zum Beispiel wenn es darum geht, die Verletzung der territorialen Integrität des Landes zu propagieren. In einem dieser Prozesse hat das Gericht angeführt, dass es einen Straftatbestand darstellt, die Wörter „Annexion“ und „Okkupation“ in Bezug auf die Halbinsel Krim zu verwenden. Anders ausgedrückt: Diese Wörter wurden für gesetzeswidrig erklärt.

    Auch bereits bestehende Paragraphen wurden verschärft, zum Beispiel Paragraph 282 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, zum Schüren von Hass und Feindseligkeit. Außerdem fallen die Urteile schärfer aus. Im Jahr 2015 haben wir 21 Fälle genau verfolgt, in denen Nutzer zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, plus mindestens zwei Fälle von Zwangseinweisungen auf medizinischer Grundlage. Auch dies ist Freiheitsentzug, der allerdings in einer psychiatrischen Anstalt verbüßt wird und zudem von unbestimmter Dauer ist. Es ist schwer zu sagen, was grausamer ist.

    Im Jahr 2015 wurde auch damit begonnen, gewöhnliche Nutzer aktiv zu verfolgen. Zuvor waren das hauptsächlich Fälle, in denen es um die Veröffentlichung rassistischer und nazistischer Videos ging, das täglich Brot der Extremismuszentren. Jetzt aber ist der gewöhnliche Nutzer in Gefahr, wenn er irgendetwas geliked hat oder irgendeiner falschen Gruppe beigetreten ist. Der Fall von Jekaterina Wologshenninowa aus Jekaterinburg (schuldig gesprochen für den Repost proukrainischer Gedichte – М. А.) zeigt dies sehr deutlich.

    Der Staat baut darauf, die Nutzer einzuschüchtern. Außerstande alles zu blockieren, versucht er, die Veröffentlichung von Inhalten zu verhindern.

    Im Zusammenhang mit den letzten Gesetzesnovellen wie dem Jarowaja-Paket zeigt sich, dass der Staat versucht, dem Nutzer nachzuspüren, Schriftverkehr zu lesen, Gespräche abzuhören. Noch läuft der Konflikt hauptsächlich zwischen Staat und Service-Anbietern ab, die ganz offensichtlich kein Interesse daran haben, dem Staat die Daten ihrer Nutzer zur Verfügung zu stellen, denn hier steht ihr Ruf auf dem Spiel. Es ist unklar, wie sie aus dieser Situation herauskommen. Unterdessen ergreifen die Nutzer diverse Schutzmaßnahmen. So wie sie zuvor gelernt hatten, Sperren zu umgehen, machen sie sich nun mit Verschlüsselungstechniken wie PGP vertraut  und geheimen Chats bei Telegram. Es ist so eine Art Wettrüsten.

    Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen

    Ein paar Monate sind seit der Verabschiedung des Jarowaja-Pakets vergangen, besondere Proteste sind jedoch nicht zu sehen. Könnte das Paket unter öffentlichem Druck aufgehoben werden?

    Ich bin mehr als sicher, dass der Protest existiert. Eine solch grobe Einmischung in ihr Privatleben werden die Menschen nicht akzeptieren. Ja, es stimmt, die Leute sind nicht bereit, zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen. Und die Nutzer selbst leiden noch nicht besonders darunter.

    Doch bald werden die Preise fürs Internet steigen, weil Rostech den Zuschlag für den Bau von Datenzentren erhalten hat und nun von den Betreibern Geld für die Umsetzung des Jarowaja-Pakets einfordern kann. Oder die Betreiber werden gezwungen sein, zusätzliche Ausrüstung einzukaufen, um die Überwachung der Nutzer zu gewährleisten; diese Ausgaben werden selbstverständlich in die Tarife einfließen. Die Nutzer werden es zu spüren bekommen. Dass der Staat dieses Gesetz zurücknimmt, nur weil die Gesellschaft dagegen ist, damit braucht keiner zu rechnen.

    Eher sollte man darauf setzen, dass sie nicht genug Ressourcen haben, um alles umzusetzen. Die ständig ausgeweiteten Kontrollmechanismen werden immer kostspieliger. Man kann nicht gleichzeitig alle Unterhaltungen aller Nutzer mitschneiden, sie ein halbes Jahr lang speichern und auch noch die Krim-Brücke bauen. Darum hoffe ich, dass diese Gesetze zum größten Teil Papiertiger bleiben.

    Wenn schon finanziell nicht machbar, wie sieht es denn technisch aus: Wie realistisch ist es, den gesamten Internet-Verkehr zu entschlüsseln? Davon träumt ja unser Staat.

    Mathematisch scheint mir das nicht machbar. Zumindest stehen die technischen Ressourcen, die man dafür aufzuwenden plant, in keinem Verhältnis zum Wert der Informationen, die man abschöpfen kann. Man geht beispielsweise davon aus, dass der Verschlüsselungsalgorithmus, den der Dienst PGP verwendet, nicht gehackt werden kann. Wie soll dann ein Signal abgefangen werden? Höchstens, indem man jedem Nutzer ein Spionageprogramm unterjubelt, das das Signal abfängt, bevor es verschlüsselt wird, indem jeder Tastendruck gespeichert wird. Doch das kann man unmöglich bei allen Nutzern machen.

    Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker gefährdet durch Staatsanwälte als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden

    Steht denn das Jarowaja-Paket im Einklang mit den internationalen Konventionen, die Russland ratifiziert hat?

    In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es den Artikel 8, der jedem Menschen das Recht auf Achtung der Privatsphäre garantiert. Die Konvention verbietet die massenhafte, flächendeckende Kontrolle der Kommunikation von Bürgern. Zuweilen muss dieses Recht bei einzelnen Bürgern für die Aufdeckung von Verbrechen eingeschränkt werden, doch bedarf es in jedem Fall einer genauen Begründung.  Es gibt die Entscheidung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte im Prozess Roman Sacharow gegen Russland, für den das Gericht Rahmenbedingen und Praxis der Überwachung von Mobilfunknutzern  in Russland analysiert hat und zu dem Schluss kam, dass es in der russischen Gesetzgebung keine Garantien gegen Missbrauch gibt und dass die gerichtliche Kontrolle nicht effektiv ist.

    Wir haben die Statistik des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation eingesehen und so die Anzahl der genehmigten Anträge zum Abhören durch Exekutivbehörden festgestellt. Angefangen im Jahr 2007 haben die russischen Gerichte 4,5 Millionen solcher Genehmigungen erteilt. 97 bis 98 Prozent dieser Anträge der Exekutivbehörden wurden bewilligt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn es gibt in der Gesellschaft keinerlei Kontrollmechanismen für die Nutzung von SORM. Auch das Gericht hat keine Kontrolle darüber, wie seine Genehmigung für das Abhören umgesetzt wurde und ob das Abhören nach Ablauf der Genehmigungsdauer eingestellt wurde. Das System, das in Russland üblich ist, entspricht nicht den Anforderungen der Konvention, auch dies wurde vom Europäischen Gerichtshof festgestellt.

    Andererseits haben die Vereinten Nationen im Mai 2015 ein Papier zu Regeln der Informationsfreiheit verabschiedet, aus dem hervorgeht, dass das Recht auf Anonymität im Internet sowie die Verschlüsselung von Daten ein unabdingbares Menschenrecht darstellt. In dieser Hinsicht widerspricht das Jarowaja-Paket natürlich den für Russland verbindlichen internationalen Prinzipien.

    Sollte es denn überhaupt eine Kontrolle des Internets geben und wie müsste eine entsprechende Gesetzgebung aussehen?

    Ich denke, lieber keine Kontrolle über das Internet als die, die wir jetzt haben. Die Sicherheit der Gesellschaft ist weitaus stärker durch die derzeitigen Netzaktivitäten der Staatsanwälte gefährdet als durch die Inhalte, die über Likes und Reposts verbreitet werden. Zweifelsohne muss die Gesetzgebung zur freien Meinungsäußerung reformiert werden. Da muss sehr vieles geändert werden. Zunächst ist festzuschreiben, dass Einschränkungen des Informationszugangs ausschließlich über den Gerichtsweg erfolgen können. Wird über die Sperrung von Sites verhandelt, müssen die Inhaber der Seiten und die Autoren der Inhalte unbedingt hinzugezogen werden. Die Antiextremismus-Gesetzgebung muss ganz offensichtlich geändert werden, um das Prinzip aufzuheben, dass sich ein Staatsanwalt in irgendeinem Kaff ans Bezirksgericht wenden und etwas verbieten kann, während die Betroffenen zweitausend Kilometer entfernt leben.

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  • Presseschau № 43: Russland und die USA

    Presseschau № 43: Russland und die USA

    Das Verhältnis zwischen Russland und westlichen Regierungen kühlt sich weiter sichtlich ab. Während sich Russland die an den Luftangriffen auf Aleppo geäußerte Kritik verbittet, erheben einzelne Politiker in Europa und Vertreter im UN-Sicherheitsrat schwere Vorwürfe und sprechen von „Kriegsverbrechen“. Scharfe Töne kommen zudem aus den USA, Deutschland und Frankreich.

    Kommende Woche wollte Präsident François Hollande bei einem (lange im Voraus) anberaumten Treffen in Paris die Gespräche mit dem Kremlchef nun auf die Lage in Syrien beschränken und anderen gemeinsam angedachten Terminen fernbleiben. Putin ließ den Staatsbesuch platzen.

    Nun soll es am Sonnabend neue Friedensverhandlungen für Syrien in der Schweiz geben. Unterdessen bestätigte Russland die Verlegung von atomwaffenfähigen Kurzstrecken-Raketen in die Exklave Kaliningrad, will zudem Militärstützpunkte in Syrien auf eine dauerhafte Nutzung ausrichten.

    Seit Beginn der massiven diplomatischen Verwerfungen vergangene Woche sind in der russischen Presse weitere Kommentare und Analysen erschienen. Immer wieder tritt dabei vor allem das konfrontative Verhältnis zu den USA in den Vordergrund: Gibt es einen neuen Kalten Krieg? Hat sich die Lage tatsächlich zugespitzt oder ist alles nur Getöse? Oder droht ein direkter Konflikt mit den USA? Unsere aktuelle Presseschau zeigt Ausschnitte mit verschiedenen Blickwinkeln.

    Spektr: Virtuelle Realität

    Der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin markiert Handeln und Rhetorik russischer Außenpolitik in einem Kommentar für das Online-Portal spektr als verlängerten Arm der Innenpolitik – als eine selbst geschaffene Realität, die lange schon auf Konfrontation mit dem Westen setze.

    [bilingbox]Das Kompositum „Kriegsverbrechen“ klingt mehr als ernst, und es handelt sich nicht um einen Krimi, in dem auf der vorletzten Seite der Name des Bösewichts genannt wird. Der Bösewicht ist längst bekannt – das sind wir. Man darf nur keine Angst haben, in den Spiegel zu sehen.

    Wäre es ein Film, käme darin ein durchgedrehter Diktator vor, der bereit ist, die ganze Welt im atomaren Bombenkrieg hochgehen zu lassen. Aber war der Zauberer der Smaragdenstadt ein durchgedrehter Diktator? Nein, er war ein fröhlicher Gauner, dessen ganze Größe darin bestand, den Menschen in der Stadt vorzuschreiben, sie müssten grüne Brillen tragen.

    Die Menschen, denen derzeit Russland gehört, sind nicht angetreten, um die Welt zu erobern – ihnen genügten schon immer die ungeteilte Macht und die damit verbundenen Reichtümer in ihrem eigenen Land. Und auch die Außenpolitik war für sie seit jeher nur die Fortsetzung der Innenpolitik – als Natoflugzeuge auf ihrem Weg nach und aus Afghanistan in Uljanowsk landeten, berichtete das Fernsehen davon, wie Russland sich der Allianz der NATO entgegenstemmt, und niemand sah darin einen Widerspruch.~~~Словосочетание «военные преступления» звучит более чем всерьез, и это не детектив, в котором имя злодея прозвучит на предпоследней странице. Злодей уже известен — это мы, надо только не побояться посмотреть в зеркало.

    Если бы это было кино, в нем показали бы обезумевшего диктатора, готового спалить весь мир в огне ядерной войны. Но был ли обезумевшим диктатором Волшебник Изумрудного города? Нет, это был веселый плут, величие которого основывалось на обязательных для ношения в городе зеленых очках. Люди, которым принадлежит сейчас Россия, пришли не завоевывать мир — им всегда хватало безраздельной власти и привязанных к ней богатств в своей стране. Да и внешняя политика всегда была для них только продолжением внутренней — когда в Ульяновске приземлялись натовские самолеты по дороге в Афганистан и из Афганистана, телевизор рассказывал о противостоянии России Североатлантическому альянсу, и никто не видел в этом противоречия.[/bilingbox]

     
    erschienen am 12.10.2016

    EJ: Vorbereitungen aufs Extreme

    Alexander Golz ist Militärexperte und schreibt scharfe Analysen für das oppositionelle Portal ej.ru, das wegen seiner Kritik an der Ukraine-Politik des Kreml seit Jahren im russischen Web gesperrt ist – als Kontrastfolie zu Putins Syrien-Politik und die außenpolitischen Schritte hebt Golz die innenpolitischen Töne und Maßnahmen in Russland hervor.

    [bilingbox]Vom Katastrophenschutzministerium wurden bislang nie dagewesene Übungen zur Zivilverteidigung abgehalten, an denen, so die offiziellen Zahlen, mehr als 40 Millionen Menschen beteiligt waren. Als Bilanz vermeldete der Vize-Chef des Moskauer Katastrophenschutzes Andrej Mischtschenko eine fabelhafte Nachricht für die Hauptstadtbewohner: Alle zwölf Millionen könnten im Notfall in wohnlich ausgestatteten Bunkern unterkommen.

    Doch vor feindlichen Bomben und Raketen Zuflucht zu suchen, reicht nicht aus. Man muss unter dem Schutzdach der Betondecke auch etwas essen. Und da folgt eine erfreuliche Nachricht aus Sankt Petersburg. Der dortige Gouverneur Poltawtschenko bestätigte die Versorgungsnormen der nördlichen Hauptstadt mit Brot. Er verpflichtete seine Untergebenen, so viel Roggen und Weizen einzulagern, dass jeder der fünf Millionen Petersburger über 20 Tage mit je 300 Gramm Brot versorgt werden kann.~~~Министерство по чрезвычайным ситуациям проводит невиданные доселе учения по гражданской обороне, которые, как утверждают, охватили свыше 40 миллионов человек. И по их результатам заместитель начальника столичного управления МЧС Андрей Мищенко сообщил москвичам замечательную новость: все 12 с лишним миллионов будут укрыты в случае необходимости в гостеприимных бомбоубежищах.

    Но мало укрыться от вражеских бомб и ракет. Под сенью бетонных потолков надо еще чего-то есть. И вот радостная весть из Санкт-Петербурга. Тамошний губернатор Полтавченко утвердил нормы снабжения хлебом жителей северной столицы. Он обязал своих подчиненных держать столько ржи и пшеницы, чтобы обеспечить каждого из пяти миллионов петербуржцев 300 граммами хлеба в течение двадцати дней.[/bilingbox]

     
    erschienen am 11.10.2016

    Izvestia: USA verweigern gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus

    Die USA, so der Politologe Andrej Manoilo in der regierungsnahen Tageszeitung Izvestia, hätten sich mit ihrer Politik im Nahen Osten selbst diskreditiert.

    [bilingbox]Die Politik des Weißen Hauses seit Beginn der 2000erJahre verwandelte die USA und das große amerikanische Volk von absoluten Gegnern des internationalen Terrorismus zu de facto Gehilfen. […]

    In den Beziehungen zwischen Russland und den USA befinden wir uns aktuell an einem Wendepunkt, von dem aus unsere Beziehungen jede Sekunde entweder in Richtung Frieden oder in Richtung Konflikt rutschen können. Wir und die Vereinigten Staaten befinden uns an einem Scheideweg: Es gibt einen Weg der Rettung, das ist der gemeinsame Kampf gegen den Terrorismus.

    Der jedoch wird von Washington aus irgendeinem Grund wütend abgelehnt. Unter solchen Bedingungen kann jede unbedachte Bewegung tödliche Folgen haben, nicht nur für zwei Weltmächte, sondern auch für den gesamten Rest der Welt.

    Ein Krieg bleibt nach wie vor nicht unausweichlich, doch aufgrund der Bedrohung seitens der USA steigt das Risiko unterdessen über alle Maßen.~~~политика, проводимая Белым домом с начала 2000-х годов, превратила США и великий американский народ из непримиримых противников международного терроризма в его фактических пособников. […]

    Нынешняя фаза развития отношений России и США является, по сути, поворотной точкой, из которой наши отношения в любую секунду могут скатиться как в сторону мира, так и в сторону конфликта. Мы с Соединенными Штатами — на распутье: спасительный путь есть, это путь совместной борьбы с терроризмом.

    Однако он почему-то яростно отвергается Вашингтоном. В этих условиях любое неосторожное движение может стать гибельным не только для двух мировых держав, но и для всего остального мира в целом.

    Война по-прежнему не является неизбежной, но ее риски сегодня благодаря угрозам со стороны США явно зашкаливают.[/bilingbox]

     
    erschienen am 11.10.2016

    Slon: Neu belebter Antiamerikanismus

    Der Politologe Wladimir Pastuchow spricht in seinem Kommentar für das liberale Webmagazin slon.ru von „hysterischem Antiamerikanismus“, der noch aus Sowjetzeiten bestehe und, wie sich in diesen Tagen zeige, leicht zu entfesseln sei.

    [bilingbox]Er ist noch nicht verschwunden, der gute alte Antiamerikanismus aus sowjetischen Tagen, der auch bis heute noch mehrere politisch aktive Generationen vereinnahmt hat. Er glomm tief im Unterbewussten und man brauchte nur ein Streichholz nehmen, um diesen Leitstern der sowjetischen Propaganda wieder zum Leuchten zu bringen. […]

    Millionen Menschen atmeten erleichtert auf, als sie für alles eine einfache und verständliche Erklärung fanden. Es irritiert sie nicht, dass es in ihren Ansichten unversöhnliche Widersprüche gibt: Amerika liegt im Sterben und unterjocht gleichzeitig die ganze Welt. Mal ist es die einzige Supermacht, mal ist es geopolitisch eine „lahme Ente“.

    Verschwörungstheorien sprießen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen: Es gibt kein Verbrechen in der Welt, keinen Konflikt, keine Dummheit und keine Gemeinheit, die nicht vorher von den Amerikanern geplant worden wäre. ~~~[…] не выветрился еще старый добрый советский антиамериканизм, который впитывали в себя несколько политически активных и по сей день поколений. Он тлел глубоко в подсознании, и достаточно было поднести спичку, чтобы эта путеводная звезда советской пропаганды снова загорелась. […]

    Миллионы людей вздохнули с облегчением, найдя всему простое и понятное объяснение. Их не смущает, что в их воззрениях есть непримиримое противоречие: Америка одновременно умирает и порабощает мир. Она то единственная сверхдержава, то геополитическая «хромая утка». Теории заговоров растут как грибы после дождя – нет такого преступления в мире, нет такого конфликта, такой глупости или подлости, которая не была бы заранее спланирована американцами.[/bilingbox]

     
    erschienen am 13.10.2016

    Snob: Kreml treibt künftige US-Regierung vor sich her

    Mit dem Aussetzen des Plutonium-Abkommens und anderen konfrontativen Akten versuche sich Russland kurz vor der US-Präsidentschaftswahl einen strategischen Vorteil zu erspielen, meint Alexander Baunow. Auf Snob schreibt der Chefanalyst des Moskauer Carnegie Zentrums, der Kreml habe diesen neuen Tiefpunkt bewusst gesetzt, um selbst die Initiative zu haben:

    [bilingbox]Durch die scharfen Worte und Handlungen Russlands soll der zukünftigen Administration der USA Raum für Initiativen genommen werden wenn es darum geht, die bilateralen Beziehungen herunterzufahren auf ein Niveau, das der unheilvollen Rolle entspricht, die man Russland im amerikanischen Wahlkampf zugeschrieben hat.

    Es ist ein Versuch, für den Moment der Machtübergabe im Weißen Haus eine Situation zu schaffen, in der die Initiative zur Verschlechterung der Beziehungen nicht von den USA ausgehen kann, weil es für eine solche Initiative schlicht keinen Raum mehr gibt.

    Der Wunsch, Russland zu bestrafen wird künftig dadurch erschwert, dass das zu einem äußerst gefährlichen Level in den Beziehungen führen würde. Und falls der russische Favorit die US-Wahlen gewinnen sollte, kann man die gegenwärtige Verschlechterung leicht zurückspielen, ohne seine Reputation groß zu schädigen. Denn das wäre dann nicht etwas Neues, Prorussisches, sondern einfach eine Rückkehr zur kürzlichen Normalität. […]

    Das ist eine effektive politische Entscheidung, die Putin außerdem großen Handlungsspielraum gibt bei konkreten Angelegenheiten wie Aleppo oder dem Donbass. Allerdings birgt sie eine offensichtliche Gefahr: Am äußersten Tiefpunkt angekommen, kann es sein, dass man feststellt: Es geht noch weiter nach unten.~~~Резкие слова и действия России – способ лишить будущую администрацию США инициативы в деле редукции двусторонних отношений к уровню, соответствующему зловещей роли, которую приписали России на американских выборах.

    Это попытка создать к моменту передачи Белого дома новому обитателю такую ситуацию, при которой инициатива ухудшения отношений не могла бы исходить от США просто потому, что пространства для такой инициативы уже просто не найдется. Желание наказать Россию будет затруднено тем, что оно уведет на запредельно опасный уровень отношений. Ну а в случае победы российского фаворита нынешнее одномоментное ухудшение можно будет легко отыграть назад без большого ущерба для его репутации, ведь это будет не что-то новое, пророссийское, а просто возвращение к недавней норме. […]

    Это эффектное политическое решение, которое к тому же дает большую свободу действий для Путина в частных вопросах вроде Алеппа и Донбасса, содержит в себе очевидную опасность: под найденным дном может оказаться другое, более глубокое.[/bilingbox]

     
    erschienen am 6.10.2016

    Gazeta.ru: Schlechte Zeiten haben Kontinuität

    Fjodor Ljukanow ist auf Fragen der russischen Außenpolitik spezialisiert. Für die Internetzeitung Gazeta.ru zieht der Chefredakteur des Magazins Russia in Global Affairs angesichts der aktuellen Spannungen historische Parallelen zur Jelzin-Ära und meint, es sei geradezu eine Gesetzmäßigkeit, dass sich das Verhältnis zwischen Russland und den USA – aufbauend auf einem Grundkonflikt – in Wahlkampfzeiten kontinuierlich verschlechtere.

    [bilingbox][Der Verlauf der russisch-amerikanischen Beziehungen – dek] ist den Wahlkampfzyklen unterworfen. In ihnen kann es Schwankungen in die eine oder andere Richtung geben, aber am Ende einer jeden Kadenz erfahren sie ganz sicher eine weitere Verschärfung.

    „Bill Clinton hat sich erlaubt, Druck auf Russland auszuüben. Er hat offensichtlich – für eine Sekunde, eine Minute, eine halbe Minute lang – vergessen, wer Russland ist. Dass Russland ein ganzes Arsenal an Atomwaffen besitzt. Clinton entschied sich für Muskelspiele.

    Ich will Clinton an dieser Stelle etwas sagen: Er möge nicht vergessen, in welcher Welt er lebt. Es war nie so und es wird nie so sein, dass er allein der Welt diktiert, wie sie zu leben hat. Eine multipolare Welt – das ist die Grundlage von allem. Es ist so, wie ich mich auch mit dem Staatsoberhaupt der Volksrepublik China, Jiang Zemin, verständigt habe: Wir werden der Welt Vorgaben machen, nicht er allein.“

    Jelzin sprach diese Worte bei seiner letzten Auslandsreise als Staatschef – in Peking im Dezember 1999. Bis zu seinem aufsehenerregenden Rücktritt blieben zu diesem Zeitpunkt noch etwas mehr als drei Wochen.

    Diese Aussagen waren im Wesentlichen ein Schlusspunkt unter den ereignisreichen Beziehungen der beiden Länder und zwischen beiden Präsidenten in den 1990er Jahren (die sich offiziell gegenseitig Freunde nannten). Jelzins scharfe Reaktion war eine Antwort auf die Bemerkung Clintons, dass Russland für sein Vorgehen in Tschetschenien „teuer bezahlen werde“ – der Westen bereitete damals gerade Sanktionen vor. […]

    Letztlich geht es im Grunde auch nicht danach, ob die Chemie zwischen den Präsidenten stimmt (zwischen Putin und Bush gab es sie ja), sondern genau darum, worüber Jelzin damals in Peking 1999 gesprochen hat. Russland war nie bereit, sich in eine von den Amerikanern geführte Weltordnung einzupassen, und hatte zugleich nicht die Kraft, diese ernsthaft herauszufordern. Auch den USA fehlte immer die Kraft, die Welt wirklich zu ordnen, aber sie sind zugleich nicht bereit, von dieser Idee abzulassen.~~~Она привязана к избирательным циклам, внутри которых могут быть колебания в ту и другую сторону, но к завершению очередной каденции обязательно случается обострение.

    «Билл Клинтон позволил себе надавить на Россию. Он, видимо, на секунду, на минуту, на полминуты забыл, что такое Россия, что Россия владеет полным арсеналом ядерного оружия. Клинтон решил поиграть мускулами. Хочу сказать через вас Клинтону: пусть он не забывает, в каком мире живет. Не было и не будет, чтобы он один диктовал всему миру, как жить. Многополюсный мир — вот основа всему. То есть так, как мы договорились с председателем КНР Цзян Цзэминем: мы будем диктовать миру, а не он один».

    Слова Бориса Ельцина прозвучали во время его последнего зарубежного визита в ранге главы государства — в Пекин в начале декабря 1999 года. До сенсационной отставки оставалось чуть больше трех недель, и это высказывание по существу подвело черту под насыщенными отношениями двух стран и двух президентов (которые официально именовали друг друга друзьями) в девяностые годы.

    Резкая реакция Ельцина последовала в ответ на замечание Клинтона, что Россия «дорого заплатит» за свои действия в Чечне, — Запад готовил санкции. […]

    Однако в основе, конечно, не наличие или отсутствие «химии» между лидерами (у Путина и Буша она как раз была), а то, о чем в декабре 1999 года говорил в Пекине Борис Ельцин. Структурно Россия никогда не была готова вписаться в мир, которым руководит Америка, но и не имела сил бросить серьезный вызов. А у Америки никогда не хватало сил этот мир по-настоящему выстроить, но она не готова и отказаться от этой идеи.[/bilingbox]

     
    erschienen am 7.10.2016

    dekoder-Redaktion

     

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