Trump, Orban und wie sie alle heißen: Populisten, so konstatieren viele Politikwissenschaftler, seien auf dem Vormarsch. Immer öfter hört man dabei die These, Russland habe bei dieser Entwicklung eine Art „Vorreiterrolle“ gespielt. Denn Putin verführe die Massen, manipuliere die öffentliche Meinung und spiele sich als Stimme des Volkes auf.
Putin, der lupenreine Populist? Im Gegenteil, meint Soziologe Grigori Judin. Bei allen Parallelen, ein genauerer Blick lohne sich – seine Analyse auf Republic:
Derzeit stehen in Europa und Amerika alle großen Wahlen unter dem Zeichen des Populismus. Zu den populistischen Politikern wird oft auch Wladimir Putin gezählt. Manchmal scheint es sogar, als sei Putin der erste gewesen, der in den liberalen demokratischen Ordnungen eine Lücke gefunden hat: nämlich über breite Unterstützung in der Bevölkerung zu verfügen und gleichzeitig autoritär zu handeln, indem man leere Versprechen macht und den mangelnden politischen Weitblick und die Verantwortungslosigkeit der Massen nutzt.
Demzufolge versucht die neue Generation der Populisten einfach, Putins Rezept anzuwenden, um die Grundlagen der westlichen Demokratie zu untergraben. Aufgeschreckte Experten sprechen vom Populismus als einem Symbol für die Verwundbarkeit des Westens, von einer Schattenseite der Demokratie, die sie durch die eigenen, einfältigen Bürger zu Fall bringen könnte.
Populismus als Schimpfwort
Mittlerweile wird das Wort „Populismus“ unterschiedslos zur Beschreibung aller möglichen gefährlichen politischen Entwicklungen verwendet. Sein negativer Beiklang erzeugt ein trügerisches Gefühl von Klarheit, verhindert, die Gründe für das Geschehen zu verstehen, und lähmt das politische Handeln.
Soll Populismus aber nicht einfach nur ein Schimpfwort zur Brandmarkung unbequemer Opponenten sein, sondern ein spezieller Typus politischer Mobilisierung, dann braucht es zunächst eine klare Definition.
Populismus ist die Gegenüberstellung von „uns“ (dem Volk) und „denen“ (der Elite) – eine Rhetorik des Kampfes gegen das Establishment. Dabei werden „das Volk“ und „die Elite“ nicht in Gruppen unterteilt: Sie bilden homogene Gemeinschaften. Zwischentöne gibt es nicht.
Zwischen „dem Volk“ und „der Elite“ steht die populistische Partei oder eine Führungsfigur, der Leader, Sprachrohr für die Sehnsüchte des Volkes und Schrecken für die korrupten „fetten Tiere“ da oben.
Der Konflikt zwischen „Volk“ und „Elite“ ist unter Umständen absolut und grenzenlos, weshalb sich Populismus schlecht mit dem System der Checks and Balances verträgt, das die liberalen Demokratien charakterisiert.
Populismus ist dem Wesen nach ein demokratisches Phänomen, und nicht nur, weil populistische Politiker ein Produkt von Wahldemokratien sind und nicht das von autoritären Regimen. Populismus bringt „das Volk“ auf die Bühne, ohne das die moderne demokratische Politik inhaltlich ausgehöhlt wäre – denn sie basiert ja auf dem Konzept der Volkssouveränität.
POPULISMUS – SYMPTOM DER KRISE
Gleichzeitig ist der Populismus ein Symptom der Krise liberaler Demokratie, genauer gesagt: der Krise des Systems politischer Repräsentation. Populisten agieren über Grenzen hinweg, die durch traditionelle politische Identifikationsmuster entstanden sind. Ihr Erfolg ist nur deshalb möglich, weil diese Grenzen verwischen und die traditionellen politischen Kräfte die Unterstützung der Bevölkerung verlieren.
Kennzeichen des Populismus sind demnach ein Angriff auf die Elite, eine Mobilisierung der Massen, Demokratiehaftigkeit und Publicity.
Das Regime Putin ist genau das Gegenteil davon.
PUTIN – DAS GEGENTEIL EINES POPULISTEN
Erstens war Wladimir Putin offizieller Nachfolger von Boris Jelzin und Günstling von Jelzins Eliten. Als Outsider kann man ihn wohl kaum bezeichnen. Selbst zu Beginn seiner Regierungszeit, als Putin die Oligarchen kritisierte, stellte er ihnen nicht das Volk gegenüber, sondern den Staat, den die Oligarchen untergruben und von innen heraus zerstörten. Sobald Putin die Loyalität der Eliten erlangt und unzuverlässige durch eigene Leute ersetzt hatte, vergaß er das Problem der Oligarchen sofort – mal abgesehen davon, dass das Verschmelzen von Macht und Reichtum seither nur zugenommen hat.
Demobilisierung und Entpolitisierung
Zweitens, und das ist von grundsätzlicher Bedeutung, gründet der Putinismusim Unterschied zum Populismus auf Demobilisierung und Entpolitisierung. Was er braucht, ist nicht die aktive Unterstützung der Bevölkerung, sondern ihre Gleichgültigkeit und Nichteinmischung in die Angelegenheiten jener, die oben am Ruder sind.
Das Putinsche Regime hat nie versucht, Anhänger zu mobilisieren. Es war vielmehr bestrebt, sie zu demobilisieren und die Vorherrschaft des Privatlebens über gesellschaftspolitisches Handeln sicherzustellen. Unter Putin verwandelte sich Partizipation am politischen Leben in den Augen der Russen in eine Beschäftigung für Leute, die nicht ganz bei Trost sind: Wie kann denn jemand, der seinen Verstand beisammen hat, noch Wahlen ernstnehmen, wenn dort ganz offensichtliche Clowns nominiert werden? Wenn es jedes Mal auf den Stimmzetteln von Doppelgängern und Namensvettern wimmelt? Wenn die Wahlergebnisse letztendlich so ausfallen, wie es der Regierung passt?
Die Reaktion der Bevölkerung ist offensichtlich: Den Großteil der Wähler stellen seit langem die vom Staat abhängigen Bevölkerungsgruppen. Die Wahlbeteiligung bei regionalen und landesweiten Wahlen sinkt ein ums andere Mal drastisch. Der Anteil der Teilnehmer an Meinungsumfragen liegt bei weit unter 50 Prozent.
Angst vor dem Volk
Drittens ist die gesamte Elite in Russland nicht einfach nur antidemokratisch, sondern sie hat totale Angst vor dem Volk.
Viele Jahre schon ist eine Revolution, ein Volksaufstand, der schlimmste Albtraum der Eliten – er muss mit allen Mitteln verhindert werden. Die Eliten behandeln das Volk wie ein leicht beeinflussbares Kind, das nicht in der Lage ist, selbständig zu denken und das ständigen Schutz vor gewissen feindlichen Kräfte benötigt.
Viertens schließlich reicht ein Blick auf das Drehbuch der Inauguration Putins, um zu sehen wie Putins Stil und der Stil populistischer (ja überhaupt demokratischer) Politik auseinanderklaffen: Die Autokolonne mit dem Leader fährt durch die vollkommen leere Stadt zum Kreml, wo ihn inmitten des überbordend feierlichen Prunks des Großen Kremlsaales „des Herrschers Getreue“ empfangen.
POLITIKER OHNE VOLK
Kann ein Politiker ohne Volk Populist sein? Kann man einen Politiker, der noch nie in seinem Leben an öffentlichen Debatten teilgenommen hat, als Populisten bezeichnen? Das gilt nicht nur für Putin, sondern für das gesamte Establishment in Russland, das alles daran setzt, selbst mit der Presse nie anders als im Modus eingeübter und inszenierter Fragen zu sprechen. Vergleichen wir Putin einmal mit klassischen Populisten wie Chavez, Morales oder Correa: Jeder von ihnen fühlt sich bei der direkten, nicht inszenierten Interaktion mit dem Volk wie ein Fisch im Wasser.
Selbst 2012 und 2014, als das Regime auf Geschlossenheit gegen den äußeren Feind setzte und eine emotionsgeladene Propaganda startete, war im Instrumentarium des Regimes kein Populismus – keine anti-elitäre Mobilisierung oder Rhetorik – festzustellen.
Jahr um Jahr wird den Russen Angst eingejagt, dass der Feind nicht schläft, dass man zusammenstehen muss, dass man dabei aber um Gottes Willen keine irgendwie gearteten Aktionen starten darf. Aus Sicht des russischen Regimes hat sich der Bürger – um dem Feind erfolgreich die Stirn zu bieten – in seine eigene Welt zurückzuziehen, beim Fernsehen vor Angst zu zittern und der Armee sowie den Geheimdiensten völlig freie Hand zu lassen – die werden schon wissen, was zu tun ist.
Das alles hat mit der Logik des Populismus nichts zu tun, im Grunde widerspricht es ihm.
Putin den Populisten zuzurechnen hieße, einen strategischen Fehler zu begehen. Während Populisten die Masse des Volkes gegen die Eliten mobilisieren, stützt sich Putins Regime auf die Eliten, um die Massen zu demobilisieren.
Das Volk als Bedrohung, nicht als Stütze
Das Gespenst der „86 Prozent“, von dem in den letzten Jahren viele in Russland erfasst wurden, versperrt den Blick auf den Schwachpunkt des gegenwärtigen Regimes: Das Volk ist für das Regime nicht die größte Stütze, sondern die größte Bedrohung. Mit seiner gigantischen Kluft zwischen Herrschenden und Bevölkerung, der Dominanz der Technokraten in der Regierung und der völligen Enttäuschung der Menschen durch die Politik, ist Russland ein ideales Feld für das Bedürfnis nach Demokratie und das Aufkommen populistischer Bewegungen.
Das Bedürfnis nach Populismus ist in Russland heute objektive Realität. Und es kann auch gar nicht anders sein in einem Land, in dem die himmelschreiende Ungleichheit tagtäglich auf den Straßen zu beobachten ist, wo die Bürger von der Politik ausgeschlossen sind, und wo man der neuen Generation in den Schulen und Universitäten Angst vor den „Feinden“ einjagt und ihr beibringt, stillzusitzen.
Populismus ist nicht unbedingt ein Übel: Er kann in den Menschen Energie und Enthusiasmus wecken, ihre Bereitschaft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und die Geschicke des eigenen Landes mitzubestimmen. Das Gefühl, dass deine Stimme und dein Handeln einen Unterschied machen, ist viel wert. Es ist ein Gefühl, das die Russen seit langem entbehren.
Der Battle ist eröffnet: Seit dem heutigen Dienstag beschäftigt sich ein Moskauer Gericht mit der Verleumdungsklage von Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny. Usmanow hatte diese eingereicht, nachdem der Oppositionspolitiker ihn im VideoNennt ihn nicht Dimon der Bestechung beschuldigt hatte. Über ein undurchsichtiges Stiftungsnetzwerk soll Usmanow dem russischen Regierungschef Medwedew etwa ein Grundstück zugespielt haben.
Doch Usmanow beließ es nicht bei rechtlichen Schritten: In zwei unterschiedlichen Videos hatte Usmanow Mitte Mai auf Nawalnys Anschuldigungen reagiert. Oligarch und Medienmogul Usmanow – er ist Eigentümer des Verlagshauses Kommersant – richtete extra einen YouTube-Kanal ein, um Nawalny zu kontern.
Nawalny veröffentlichte beide Filme auch in seinem eigenen Kanal, dort wurden sie inzwischen fast drei beziehungsweise zwei Millionen Mal aufgerufen – auf Usmanows eigenem Kanal dagegen knapp 1 beziehungsweise 1,5 Millionen Mal. Daraufhin hat Nawalny wiederum per Video reagiert.
Es ist das erste Mal, dass ein Oligarch und Mitglied der Moskauer Elite öffentlich auf derartige Anschuldigungen antwortet und dazu Stellung nimmt – noch dazu über ein Medium, in dem Nawalny viel mehr zuhause ist als Usmanow selbst. Einzelne Politiker, wie etwa Wladimir Milow, sehen hinter Usmanows Video-Botschaften gar einen „Befehl von oben“ , auch um von den Anschuldigungen gegen Medwedew abzulenken.
Politologe Gleb Pawlowski erläutert im Interview mit fontanka.ru, inwiefern der Beef des Oligarchen und des Oppositionspolitikers auch Ausdruck eines neuen Politik-Verständnisses ist, warum ein Gerichtsurteil eh kaum jemanden interessieren werde – und weshalb Usmanow sicherlich nicht im Auftrag Putins gehandelt habe.
Irina Tumakowa: Gleb Olegowitsch, hat der Kreml Usmanow wirklich „darum gebeten“ oder hatte Alischer Burchanowitsch selbst das Bedürfnis, sich zu äußern?
Gleb Pawlowski: Welcher „Kreml“ genau? Auf welcher Ebene? Ich glaube nicht, dass man Alischer Usmanow in so einer Angelegenheit einfach „bitten“ kann. Das wäre unter seinem Niveau. Wenn er nicht hätte reagieren wollen, genauer – wenn er nicht vor Wut schäumen würde, hätte er, wie sonst übrigens auch, nicht einen einzigen Finger krumm gemacht. Aber das hier hat ihn offensichtlich getroffen. Das konnte man an seinem Verhalten sehen, an seiner ziemlich ungehaltenen Redeweise. Glauben Sie mir, der kann sich zusammenreißen, wenn er will. Ich habe gesehen, wie er mit anderen redet und sie siezt und nicht duzt, wie hier.
Das Entscheidende an diesem Auftritt ist aber, dass unser Leben sich gerade verändert. Etwas, das noch vor ein, zwei Jahren außergewöhnlich war, das wir vergessen hatten, wird wieder normal. Denn das ganze oberste kremlnahe Establishment hat ja geschwiegen. Hat nicht reagiert. Es hat einen ignoriert. Langsam, aber sicher werden sie jetzt alle redseliger. So auch Usmanow. Und ich glaube, das ist gut so.
Was ist gut daran?
Man muss kapieren: Die Politik ist wieder da. Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden und würde erst irgendwann dann zurückkommen, wenn Putin geht, und so weiter. Aber das heute – das ist bereits Politik. Alle fangen an, ihre Interessen zu verteidigen. Auch Usmanow tut das. So gut er kann.
Er hat Klage eingereicht und könnte, sagen wir, drei Milliarden Schadensersatz verlangen, aber er denkt sich Videofilmchen aus.
Vielleicht dachte Usmanow am Anfang, es würde reichen, diesen Flegel mit rechtlichen Mitteln in die Schranken zu weisen. Usmanow hat dank seines Geldes die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Legale und andere.
Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden. Aber das heute – das ist bereits Politik
Außerdem hat er die Möglichkeit, formal vor Gericht zu gewinnen, denn Nawalny wird vieles einfach nicht nachweisen können, rein formal ist die Sache wasserdicht. Dann hat Usmanow gesehen, dass seine Klage den Flegel kein bisschen beeindruckt. Dass im Gegenteil er, Usmanow, sich mit dieser Klage selbst ein Bein gestellt hat. Dass nämlich Nawalny sich über eine weitere Plattform für seinen Triumph nur freut. Die Entscheidung des Gerichts ist völlig nebensächlich, weil niemand sie ernstnehmen wird. Als ihm das klar wurde, hat Usmanow beschlossen nachzulegen.
Usmanow empfindet sich selbst nicht nur als starke und wichtige Persönlichkeit, sondern gewissermaßen als eine Stütze des Staates. Also ist er mit seiner Position an die Öffentlichkeit getreten. Er hat seine Werte dargelegt. Die Argumente genannt, die für ihn sprechen. Etwas, das in unseren Machtstrukturen seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich war. Es war verschwunden, wir hatten vergessen, wie man das macht. Jetzt wird das wieder zunehmen.
Usmanow hat seine Werte dargelegt, Argumente genannt, die für ihn sprechen. So etwas war seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich. Jetzt wird das wieder zunehmen
Mit der Zeit werden auch irgendwelche Gouverneure anfangen zu reden. Jedenfalls die, die sich ausreichend sicher sind, dass man sie nicht einbuchtet.
Es wird der Moment kommen, da auch Igor Iwanowitsch Setschin mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit tritt. Ich glaube, wir werden es sogar erleben, dass selbst Putin irgendwann nicht mehr nur durch den Mund Peskows spricht. Es wird bei uns lauter werden im staatlichen Bereich.
Dann hat Usmanow diese Tradition begründet?
Nein, nein. Ich erinnere mich noch gut, wer angefangen hat. Das war jemand, der jünger war als Usmanow, und in gewisser Weise schillernder. Es war Ramsan Kadyrow.
Als Wendepunkt kann man den Mord an Boris Nemzow sehen. Diejenigen, die das getan haben, wollten das Thema einfach für immer totschweigen, aber das führte nur dazu, dass der Eisberg Risse bekam. Und als man dann Kadyrow beschuldigte, fing er an zu reden.
Ich glaube also, dass wir uns längst im Zustand einer Politisierung befinden. Später haben sich andere Kadyrow angeschlossen. Die Staatsmacht begann zu sprechen.
Usmanow mit seinem Auftritt zählen Sie also zur „Staatsmacht“?
Zur „Staatsmacht“ im weitesten Sinn. Unsere „Staatsmacht“ – das ist quasi ein Rat von Führungskräften der Aktiengesellschaft Russische Föderation. Übrigens hat sich die Position von Präsident Putin in diesem Rat gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands.
Das heißt, Putins Rolle ist mittlerweile mehr eine formelle und weniger eine maßgebliche?
Ja, Ehrenvorsitzende von Gesellschaften treffen in der Regel keine Entscheidungen. Der Vorstandsvorsitzende ist jemand, der unterzeichnet, sanktioniert, die Einigkeit der Gesellschaft verkörpert. Das ist die Rolle, die Putin spielt.
Wer hat Putin als „geschäftsführenden Direktor“ abgelöst?
Da ist noch niemand, und ich glaube, genau das können wir tagtäglich beobachten. Genauer, die Funktion des geschäftsführenden Direktors hat sich aufgespalten und ist auf mehrere Gruppen verteilt worden.
Putins Rolle hat sich gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands
In solchen Fragen, wie der von Baschneft oder der Privatisierung von Rosneft, hätte Putin vor fünf Jahren zweifellos vom ersten bis zum letzten Punkt die bestimmende Rolle für sich beansprucht.
Jetzt aber konnten wir beobachten, wie er unter dem Druck von Setschin seine Position um 180 Grad geändert hat. Natürlich werden die Entscheidungen trotzdem im Namen Putins getroffen.
Und wer trifft sie gerade tatsächlich?
Verschiedene Menschen, und sie bilden Koalitionen, die unterschiedlich starken Einfluss besitzen. Es existiert kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Apolitische Bürokratien, die sich nicht beeinflussen lassen durch Minister- und Premierministerwechsel, sondern einfach ihre Arbeit machen, die gibt es bei uns nicht. Deshalb läuft heute alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen alle hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten.
Zu welcher dieser Einflussgruppen gehört Usmanow? Oder steht er für sich allein?
Nein, für sich allein steht er definitiv nicht. Zu welcher Koalition er gerade gehört, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass er manchen näher steht und anderen ferner. Und es ist ja auch nicht ungefährlich, sich eindeutig zu positionieren. Man wird automatisch zur potentiellen Zielscheibe für andere Gruppen. Deswegen halten sich alle schön zurück.
Sie sagen, Entscheidungen werden nicht mehr nur von einer Person für alle anderen getroffen; die Staatsmacht fängt an, sich zu erklären. Bewegen wir uns auf eine etwas normalere Gesellschaft zu?
Wir bewegen uns auf eine normale Gesellschaft zu insofern, als gerade die Politisierung ein normaler Trend ist. Nicht normal dagegen war der jahrelange Trend zur Entpolitisierung. Das Streben, einen Konflikt oder öffentliche Debatten einfach auszumerzen – das war nicht normal.
Es gibt kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Heute läuft alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten
Nach und nach haben wir angefangen zu glauben, dass das schon immer so war und auch in den nächsten zehn, zwanzig Jahren so bleiben könnte. Doch jetzt hat eine Politisierung eingesetzt. Und natürlich wird sie bis zu einem gewissen Grad zu einer Öffnung führen.
Es wird normal für uns werden, dass bestimmte Menschen bestimmte Ansichten vertreten, wir werden diese Ansichten kennen und diskutieren. Sie werden von anderen Menschen deswegen attackiert werden. Das alles ist normal.
Usmanow hat Nawalny ohne große Show, dafür mit Argumenten geantwortet. Ist das gut oder schlecht für den Kreml?
Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen. Was Putin angeht, so höre ich förmlich, wie er zu so einem Video sagt: „Was soll das nun schon wieder?“
Er war schon immer gegen solche Formen der öffentlichen Verteidigung. Das geht also nicht von Putin aus.
Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen
Wenn jemand Usmanow um eine öffentliche Stellungnahme gebeten hat, könnte dieser jemand nun nicht mehr sagen, das sei irgendwie daneben gewesen. Dieser jemand muss behaupten, dass Usmanow großartig war. Ich glaube nicht, dass sich irgendwer mit Usmanow wegen dieses Filmchens streiten wird, sondern sie werden sagen: „Dem hast du‘s aber richtig gegeben.“
Und die Hälfte von diesen Leuten wird das auch so meinen, da bin ich mir sicher. Weil sie sich selbst betrügen. Sie leben im Nebel der einstigen Überlegenheit des Kreml über allen anderen. Und jetzt löst sich diese Überlegenheit eben auf wie Nebel.
Heute ist der Kreml nicht mehr die Avantgarde, sondern gewissermaßen der rückständige Bodensatz. Diese Dinge spüren viele aber nicht.
Diese Leute, die im Nebel leben, die Usmanow vermutlich gebeten haben …
Warum interessieren die Sie überhaupt so brennend?
Mich interessiert, was sie in Zukunft unternehmen werden. Wohin sie ihr Erfindergeist im Kampf gegen Nawalny führen wird.
Sie müssen einfach verstehen, dass diese Leute inkompetent sind. Das kann man auch ohne diese ganzen Geschichten sagen. Diese Inkompetenten werden uns noch eine Weile an der Macht erhalten bleiben. Aber die Inkompetenz äußert sich in ernsteren Dingen als in diesem Kinderkram. Wir müssen einfach einsehen, dass wir vorübergehend unter der Verwaltung einer Gruppe von Inkompetenten stehen.
„Schau mich gefälligst an!“ Rüde und duzend fuhr der russische stellvertretende UN-Botschafter Wladimir Safronkow seinen britischen Kollegen Mitte April an, als es im UN-Sicherheitsrat um den Giftgasangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun ging.
Andrej Archangelski nimmt diese jüngste Verbalattacke zum Anlass, um auf Colta.ru den Umgangston mit dem Westen genauer anzuschauen.
„Wage nicht, Russland weiter zu beleidigen! // Ihr tut alles dafür, dass ein Zusammenwirken (zwischen Russland und den USA) // untergraben wird. Grade deshalb … Schau mich gefälligst an! // Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen! // … Genau deswegen hast du heute nichts gesagt über den politischen // Prozess. Hast absichtlich beim Vortrag von Mistura nicht hingehört … “ (0:17 bis 0:52)
„Schau mich gefälligst an! Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen!“ Das ist also die besagte „neue Aufrichtigkeit“, die Russland der internationalen Gemeinschaft anbietet. Bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsche geht die Intonation verloren – übrig bleibt nur ein „Wir haben recht und ihr unrecht, weil ihr immer unrecht habt“.
Das Argumentationsschema ist auch schon lange bekannt: „Wenn ihr dürft – dann dürfen wir erst recht.“ Und deswegen war das externe Publikum (internationale Agenturen und Medien) nicht sonderlich erstaunt über diesen Auftritt, der eigentlich nur eine Wiederholung aller vorangegangenen ist.
Warum reden die so?
In Russland wird Safronkows Rede von der Mehrheit aufgefasst als „er hat’s ihnen gezeigt“, „hat ihnen eins reingedrückt“, sie „bestraft“. Russland putzt alle runter und macht sich über alle lustig, herrlich! Dass das der Intelligenzija aufstößt, umso besser: Dann kriegen die auch gleich eins rein. Nun denn, diese Ausdrucksweise zeigt in verschiedenen Milieus unterschiedliche Wirkung – und erzielt überall den gewünschten Effekt.
Die Antwort auf die Frage „Warum reden die so?“ ist: Weil es sich lohnt und leicht geht. Kulturelle Normen – was soll’s, man wird’s überleben, und der Kreml gibt mit seinem Lob für Safronkow zu verstehen, Normen seien jetzt nicht so wichtig, es gehe vor allem darum, „die Interessen Russlands zu behaupten“. Bleibt nur die Frage: Warum gefällt das ihnen, den Diplomaten? Wie rechtfertigen sie das vor sich selbst, außer dass es „fürs Vaterland“ ist? Was für eine „neue Denkart“ steht dahinter? Was für ein Weltbild?
Ein solches Gebaren ist heute die Norm, die sozialen Erfolg garantiert
Oleg Kaschin hat die Psychologie der neuen Eliten wohl am besten beschrieben – nämlich, dass weder eine Maria Sacharowa noch, sagen wir, der Abgeordnete Degtjarjow schon immer so waren. Sie haben nur begriffen, dass ein solches Gebaren heute die Norm ist, die sozialen Erfolg garantiert. Du fällst sofort auf und wirst als ranghoch vermerkt.
Diese neue Stilistik entspringt aber weder einem Gossenjargon noch einer „Verhörsprache“, wie viele annehmen. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass das eine relativ junge Sprache ist, entstanden an den sonnigen Stränden der 2000er Jahre – damals hatten Reisen von Russen in den Westen Hochkonjunktur. Und da entwickelte sich auch eine seltsame Tradition: Nach der Rückkehr wurde über alles geschimpft. Es ist dreckig, die Leute sind bösartig, zu viele Migranten, da fahren wir nicht mehr hin, und das soll euer hochgelobter Westen sein.
Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“
Leute, die zehn bis 15 Jahre davor von so einem Urlaub nicht mal hatten träumen können, taten so, als hätten sie ihre ganze Kindheit in Miami Beach verbracht – warum? Meine Hypothese: Die Leute nahmen viel Geld mit – der Ölpreis war gerade am Zenit – und dachten, wie es in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil hieß, „im Westen kann man für Geld alles kaufen“. Und waren auf einmal damit konfrontiert, dass man, um sich wohl zu fühlen, noch etwas anderes mitbringen muss als Geld. Diese oftmals verlachte westliche „Fähigkeit zu lächeln“ bedeutet in Wirklichkeit einfach, für Kommunikation und eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.
Damit diese Kommunikation gelingt, muss man andere Menschen und Verschiedenheit an sich wenigstens ein bisschen mögen. Das gehörte aber erstens nicht in die Psychologie der neuen Herren, und zweitens galt es als demütigend, sich „anzupassen“.
Aus diesem Schock heraus entstand ein Abwehrmechanismus: das aggressive Auslachen und eine Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“. Zur Selbstberuhigung braucht man diese Welt nur als scheinheilig und verlogen zu bezeichnen: Die sind deshalb höflich, weil sie Weicheier und Gauner sind. Diese Erklärung macht aus der eigenen Grobheit eine spezielle Art Anstand.
Wir haben recht, weil wir recht haben
Dann bekam diese Position einen existenziellen Stützpfeiler in Form von Stolz auf die Siege Russlands. Die patriotische Propaganda prägte uns schnell ein, wir seien die Besten, die ganze Welt sei uns verpflichtet. Dadurch erlangen wir das eigentümliche Recht, im Namen absoluter Legitimität zu sprechen.
Die Strandphilosophie hatte plötzlich eine moralische Grundlage, und jeder Kampf um eine freie Liege wurde zum Kampf um die Wahrheit auf Erden. Als psychologischen Schutz legte man sich diese verächtlich-spöttische Intonation zu, die sich dann endgültig im propagandistischen Diskurs etablierte.
Ein Sprechen im Namen absoluter Legitimität bedarf keiner Beweise: Wir haben recht, weil wir recht haben. Diese Idee wurde schon in den Filmen Brat und Brat-2 formuliert, mit der Formel „in der Wahrheit liegt die Macht“, bei der unklar bleibt, was zuerst da ist: Die Wahrheit oder die Macht? Und genau diese Unklarheit birgt die versteckte Drohung „Wir können das wiederholen“ in sich, die eben allen recht ist.
Wichtig ist, dass diese Sprache jegliche Komplexität leugnet und die Welt ignoriert. Das Gegenteil dieser gewaltsamen Sprache ist der Dialog.
Bei den Begriffen „Dialog“ und „Kommunikation“ denkt der gebildete Mensch sofort an das Zauberwort „Habermas“.
In den frühen 2000er Jahren war der deutsche Philosoph bei uns vorübergehend ein Star. Bezeichnend ist, dass im Endeffekt nur ein verdrehtes, unanständiges Sprichwort über sexuelle Orientierung im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist. Das Hauptwerk von Habermas, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist bis dato nicht ins Russische übersetzt.
Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann
Sehr vereinfacht besagt diese Theorie: Der Dialog ist nicht das Reden, nicht das Mund-Aufmachen, sondern vor allem die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, oder sich auf den anderen einzulassen, wie der Philosoph Paul Ricœur meinte.
Die Bereitschaft zum Dialog selbst ist wichtiger als das Sprechen; es geht darum, „die Welt anzunehmen“, sich auf die Welt einzustellen. Genau das ist Kommunikation: Der einzige Weg, den unvermeidbaren kulturellen Graben zwischen den Menschen wenigstens irgendwie zu überbrücken.
Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann; man soll nicht darauf fokussieren, den Streit zu gewinnen, sondern darauf, das Gespräch selbst zu erhalten, die Gesprächspartner.
Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis
Unser Dialog ist die Abkehr vom anderen, und dass man ihm diese Abkehr auf jede erdenkliche Art und Weise vorführt, vor allem im Unterton. „Ich hör dich nicht, ich huste dir was, du bist ein Niemand“, das ist die Kurzform unserer Antwort auf Habermas.
Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis. Wir werden uns wehren bis zum Letzten, aber geben dem anderen nicht die geringste Chance. Dieses „Schau mich gefälligst an!“ ist eine symbolische Ausformung dieser „Kultur der Dialogverweigerung“.
Im Gefolge ihres Obersten Befehlshabers verweigern sie (unsere Diplomaten) bewusst die Sprache des Dialogs. Das bedeutet zugleich eine Lossagung von menschlicher Selbstbeherrschung, von der gesamten modernen Kultur, ein Ausscheiden aus der Welt. Diese Lossagung wird sofort über die Kapillaren auf die ganze Gesellschaft übertragen – und von ihr als Norm verinnerlicht.
Wir beobachten das bereits am Beispiel skurriler Dialoge zwischen Lehrern und Schülern, die nach dem 26. März im Netz auftauchten – so etwas kann man schon als umfassenden „Disconnect“ bezeichnen. Abwärts geht immer leichter als aufwärts, und wundern muss einen dieser beschleunigte Fall nicht.
Der wunde Punkt: die Moral
Aber es gibt bei dieser Begebenheit am 12. April vor der UNO noch einen Aspekt. Was hatte Großbritanniens UN-Vertreter, Matthew Rycroft, denn eigentlich gesagt, was hat unserem Vertreter so zugesetzt? Er hatte das Gespräch auf eine universelle Ebene gebracht, es in die Sprache der Ethik übersetzt – die Handlungen Assads moralisch bewertet und den Gegenüber dazu aufgefordert, sich auf dieselbe Ebene zu begeben. Das ist unerträglich, hier hat Rycroft einen wunden Punkt getroffen.
Im aktuellen Russland wurde die Moral nicht erdacht, nicht durchdacht, nicht durchformt. Jedes Mal, wenn du unsere Vertreter hörst, willst du fragen: Welche universellen Werte vertreten Sie? Aus welcher menschlichen Position heraus? Wie auch immer man die sowjetische Diplomatie dreht und wendet, sie appellierte an universelle Werte – an Ideen des Internationalismus oder die Solidarität der Werktätigen. Doch der aktuellen Ideologie Russlands fehlt dafür der Begriffsapparat; für die Artikulation einer moralischen Position gibt es dort schlicht keine Wörter.
Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan
Und deswegen kommt die Phrase „vom moralischen Standpunkt aus sprechen“ als Beleidigung an, als Schlag in die Magengrube. Zwecks Abwehr greift man dann zu dem Postulat, Moral sei bloß Druckmittel, Spekulation, PR. „In der Welt betrügt jeder jeden, und Moral ist nur ein Wort.“ Diese negative Ethik ist uns auch wohlbekannt.
„Guck her! Schau mich gefälligst an!“, ist auch eine Sprache der Moral, aber auf einem anderen Niveau. Das ist die Position einer apriorischen Schuld des Gegenübers.
Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan – aber so weit wird es hoffentlich nicht kommen.
38 Prozent aller Russen, so ermittelte das renommierte Lewada-Zentrum, befürworteten das Handeln derer, die Nawalnys Protestaufruf vom 26. März gefolgt waren.
Vedomostihat bekannte Sozialwissenschaftler dazu befragt: eine Zahl und ihre unterschiedlichen Interpretationen.
38 Prozent der Russen befürworten das Handeln der Menschen, die am 26. März zu Massenprotesten gegen Korruption in der Regierung auf die Straße gegangen sind, so die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums.
Ebenfalls 38 Prozent denken, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Situation im Land die Bürger dazu gebracht hat zu protestieren. 36 Prozent erklären die Demonstrationen damit, dass die Menschen ihrer Empörung über Korruption Ausdruck geben wollten. Nur 24 Prozent glauben, die Demonstranten seien bezahlt worden.
Mehr als 60 Prozent der Befragten geben an, über die russlandweiten Proteste vom 26. März „gut Bescheid zu wissen“ oder zumindest „davon gehört“ zu haben. Die Umfrage belegt außerdem einen radikalen Einbruch der Zustimmungswerte des PremiersDimitri Medwedew, der hauptsächlichen Zielscheibe der Proteste: Innerhalb eines Monats sind seine Zustimmungswerte um zehn Prozentpunkte gesunken, die Regierung verlor sechs Prozentpunkte.
Das Interesse an den Demonstrationen sei wesentlich geringer als 2011/2012, obwohl die Motive der Teilnehmer in etwa dieselben seien, so der stellvertretende Leiter des Lewada-Zentrums Alexej Grashdankin. Damals hätte es außerdem mehr als doppelt so viele Befürworter gegeben, als Menschen, die sie ablehnten. Heute hielten sich Befürwortung und Ablehnung in etwa die Waage, sagt er und fügt hinzu: „In den Jahren 2014 und 2015 hingegen war die Ablehnung im Zweifel doppelt so hoch wie die Befürwortung.“
Die Mobilisierung der Gesellschaft werde wieder abnehmen, aber das Vertrauen in die Regierung sei sowieso höher als 2013, so der Soziologe. „Ein Abwärtstrend bei den Zustimmungswerten der Regierung und der Machtorgane besteht seit 2015. Aktueller Auslöser für den Stimmungsumschwung ist das Video des Fonds für Korruptionsbekämpfung über Medwedew gewesen. Das Verhältnis zu Putin ist unverändert, aber Medwedews Zustimmungswerte sind just wegen des Videos um zehn Prozentpunkte gefallen.“
Grashdankin berichtet, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad Höchstwerte erreicht habe. Gleiches gilt für die potenzielle Bereitschaft, bei der Präsidentschaftswahl für ihn zu stimmen: Kannten ihn im April 2011 nur sechs Prozent der Befragten und waren nur zwei Prozent bereit, ihn zu unterstützen, so kennen ihn jetzt 55 Prozent. Davon können sich rund zehn Prozent vorstellen, für ihn zu stimmen, zwei Prozent sind sich dessen sicher.
„Momentan können wir von einem Gleichgewicht zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Proteste sprechen. Wenn die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift, könnte die Zahl der Befürworter (der Protestaktionen – Vedomosti) wieder steigen. Um die Protestwelle zu brechen, hat man seinerzeit die (TV-Dokumentationsreihe – Vedomosti) Anatomie des Protestes und Gerichtsprozesse auf Sendung gebracht; bisher ist die Propaganda-Artillerie noch nicht in Stellung gebracht, aber nichts würde dem entgegenstehen, es wieder zu tun“, so Grashdankin.
Keine offizielle Stellungnahme der Regierung
Die Regierung hat bislang auf offizielle Stellungnahmen zu den gesunkenen Zustimmungswerten des Premiers verzichtet. „Die Zustimmungswerte der Regierung und des Premiers fallen immer niedriger aus als die des Präsidenten, denn die Regierung fällt die unliebsamen wirtschaftlichen Entscheidungen. Deswegen sieht man schwankende Umfragewerte im Weißen Haus gelassen“, erklärte ein Mitarbeiter des Regierungsapparats gegenüber Vedomosti.
Die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter vom 26. März bedürfe einer Überprüfung, man könne noch nicht eindeutig sagen, ob sich eine neue Protestwelle entwickle, meint der Politologe Konstantin Kostin. „Betrachtet man die Dynamik von 2011/2012, stellt man fest: Je weniger Proteste es gab, desto mehr Menschen fanden es in Ordnung, dass jemand auf die Straße geht, um seine Rechte einzufordern. Noch nicht einmal der Maidan hat daran etwas geändert, nur während der Krim-Mobilisierung sank die Bereitschaft, an Protestaktionen teilzunehmen.“
Aus den Ergebnissen des Lewada-Zentrums Schlüsse über die Präsidentschaftswahl zu ziehen, das sei erst recht schwierig, erklärt Kostin und fährt fort: „Bei den jetzigen Aktionen ist der Kern der Protestbewegung auf die Straße gegangen, dazu kamen Menschen, die Lösungen für bestimmte lokale Probleme forderten, außerdem gab es noch eine situative Reaktion der Jugend.“ Kostin bezweifelt, dass Nawalnys Bekanntheitsgrad 55 Prozent erreicht hat.
Der Politologe Alexander Kynew findet die Zahl der 38 Prozent Protest-Befürworter überwältigend, mahnt jedoch zur Skepsis: In den Medien, aus denen der Großteil der Bevölkerung seine Informationen bezieht, sei die Darstellung der Proteste ausschließlich negativ.
Der Protest werde vielen zugutekommen, nimmt der Politologe Abbas Galljamow an: „Vor allem ist er gut für die Systemopposition, denn im Gegensatz zu Nawalny wird sie auf den Stimmzetteln stehen. Sie muss jetzt nur noch ihre Protest-Rhetorik hochfahren und kann den Zustimmungsraten beim Wachsen zusehen.“
Aber auch Nawalny habe Grund zum Optimismus: Wenn so viele Menschen in Erwägung ziehen, für ihn zu stimmen, dann bedeute es auch, dass die Zahl derer, die seinem Aufruf, auf die Straße zu gehen, folgen würden, in die Millionen gehen könnte, so Galljamow. „Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht – indem beispielsweise der Premier am Tag der Proteste schreibt, er sei schön Skifahren gewesen, oder die Regierung die Rechtswidrigkeit der Proteste vom 26. März in den Vordergrund stellt, während sie selbst demonstrativ gegen das Gesetz verstößt, wenn sie Veranstaltungen organisiert – dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern.“
Wenn die Regierung weiterhin solche Fehler macht, dann wird sich die Anzahl der protestbereiten Menschen noch vergrößern
Für Putin seien eine apolitische Einstellung und ein zügiger Verlauf der Präsidentschaftskampagne von Vorteil, davon ist Galljamow überzeugt: „Eine Politisierung schadet der Regierung. Jetzt, wo der Protest wieder in Mode kommt, gilt für die Regierenden: Je weniger Politik, desto besser.“ Bei den Regionalwahlen im September werde sich die Agenda des Protests nur verstärken, lautet seine Einschätzung.
Bis zur [Präsidentschafts-] Wahl sei es noch lange hin. Dass die Proteste so lange anhalten, sei natürlich möglich, aber unwahrscheinlich, meint der Politologe Michail Winogradow: „Die 38 Prozent beweisen, dass das Thema Korruption sowohl bei den Regimekritikern als auch bei den Regierungsanhängern Anklang findet. Das eröffnet der Opposition die Möglichkeit, um die Sympathie der Regierungsanhänger zu kämpfen. Offen bleibt nur die Frage, ob die Protestierenden es schaffen, das öffentliche Interesse aufrechtzuerhalten, und die Spaltung in der Gesellschaft.“
Wenn sie das schaffen, würde es zu einer höheren Wahlbeteiligung und einer geringeren Machtdemonstration der bestehenden Regierung führen, fährt er fort. Wir würden dann wahrscheinlich dieselbe Taktik wie 2011 beobachten: Man stimmt für jede x-beliebige, nur nicht für die Regierungspartei.
Davon könnten Politiker wie Jewgeni Roisman in Jekaterinburg profitieren. „Aber die Leute beachten nicht, was in anderen Regionen geschieht. Auch wenn ich die Wahlen in der Oblast Swerdlowsk allzu gern als ein Beispiel für Offenheit heranziehen würde, heißt das noch lange nicht, dass die Moskauer oder die Petersburger sich dafür überhaupt interessieren.“
Auffallend viele junge Leute waren am 26. März landesweit auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Zuvor hatte der Handymitschnitt einer Diskussion zwischen Lehrern und Schülern im Runet Furore gemacht, bei der die Schüler ganz andere politische Ansichten äußerten als die Lehrkräfte, und diese auch selbstbewusst vertraten.
Politologin Ekaterina Schulmann warnt jedoch davor, den Protest als Protest von Jugendlichen darzustellen – zumal es keine zuverlässigen Zahlen dazu gibt. Sicher dagegen sei: Es war ein Protest von Erwachsenen – mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Und was die heute bewegt, das hat Schulmann sich für Takie Delagenauer angesehen:
Plötzlich treten viele junge (und sehr junge) Menschen bei den Protesten am 26. März in Erscheinung – und es kommt zu einem neuen Interesse an Youth Studies in unterschiedlichster Form: Vom allseits bekannten Genre „ein Bekannter hat mir erzählt“ bis hin zu historischen Parallelen (besonders beliebt ist gerade das Jahr 1968, aber auch die Roten Garden werden sukzessive herangezogen).
Der Protest war kein Kinderkreuzzug
Zunächst möchte ich davor warnen, den Protest vom 26. März als eine Art Kinderkreuzzug zu betrachten. Sicherlich war das kein Schüleraufstand und auch keine Studentenrevolte wie 1968 in Europa. Leider haben wir keine zuverlässigen Daten, wie viele Menschen an den Protesten beteiligt waren, geschweige denn Angaben über ihr Alter oder ihre soziale Zugehörigkeit.
Doch nach dem uns vorliegenden Material zu urteilen (Fotos, Videos, Festnahmen), handelte es sich insgesamt um einen Protest Erwachsener mit einem hohen Anteil an Jugendlichen. Dieser sorgt für großes Aufsehen, weil junge Menschen früher nicht an Protesten beteiligt waren – oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Für gewöhnlich gehen sie selten zu Demonstrationen, und zu Wahlen schon gar nicht. Die Jugend ist eine Bevölkerungsschicht, die in unserem politischen Geschehen fehlt.
Was wissen wir denn über unsere Mitbürger unter 25? Vor allem, dass es wenige sind. Sehen Sie sich die demographische Pyramide von Russland für 2016 an. Nach den 25- bis 29-Jährigen folgt ein Einbruch: Die Generation, die in der ersten Hälfte der 1990er geboren wurde, ist relativ klein.
Die nächstfolgende Sparte, die heute 15- bis 19-Jährigen, fällt noch kleiner aus. Ab 2002 steigt die Geburtenrate allmählich, und wir sehen an der Basis unserer Pyramide zwei solide Blöcke – die heute Zehnjährigen und Jüngere. Aber es bleibt abzuwarten, ob und wie sie sich am politischen Prozess beteiligen werden.
In unserem politischen Geschehen fehlt die Jugend
Die meisten Studien zur Generation Z dienen Marketing-Zwecken: Man will herausfinden, wie man diesen Menschen Waren und Dienstleistungen am besten verkauft. Dennoch lassen sich aus diesen Studien auch politische Erkenntnisse gewinnen.
Eine jüngere Untersuchung der Firma VALIDATA im Auftrag der Sberbankhatte zum Ziel, allgemeine Merkmale der Russen zwischen 8 und 25 Jahren zu bestimmen. Methodisch griff man dabei auf Fokusgruppen, die Analyse von Sozialen Netzwerken und Experteninterviews zurück.
Eine vergleichbare Studie wurde kürzlich von der US-amerikanischen Firma Sparks & Honey publiziert. Die RANEPA-Forschungsgruppe Monitoring zeitgenössischer Folklore untersucht das Netzverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und führt Interviews bei Protestaktionen durch.
Familie geht über die Karriere
Von dem, was man bisher über die russische Jugend herausfinden konnte, hat einiges politische Relevanz: Gute sozialen Fähigkeiten (sie werden als sehr wichtig eingestuft), das Streben nach gemeinsamem Handeln und nach Anerkennung, der hohe Stellenwert moralischer Werte („Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“), das Streben nach Selbstausdruck und Selbstverwirklichung („man selbst sein“, „die richtige Wahl treffen“), das Fehlen eines Generationenkonfliktes – stattdessen warmherzige, vertrauensvolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Gleichzeitig stufen Eltern wie Kinder die gegenwärtigen Verhältnisse als chaotisch und unberechenbar ein. Sie glauben nicht an langfristige Planung.
Bei den Kindern drückt sich das darin aus, dass sie keinen festen Job „auf Lebenszeit“ anstreben. Bei den Eltern im fehlenden Wunsch, sich aktiv an den Entscheidungen der Kinder zu beteiligen, denn „sie wissen ja selbst nicht, was der richtige Weg ist“.
Sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder ist die Familie das höchste Gut. Die Gründung einer Familie gilt als Erfolg im Leben, der über der Karriere oder dem Geldverdienen steht.
Was können wir daraus schließen? Die fehlenden Spannungen zwischen den Generationen sind eine Besonderheit der neuen Zeit. Menschen, die heute um die 35 oder älter sind, haben weitaus häufiger ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern. Die meisten von ihnen sind derzeit oder schon länger mit ihren Eltern zerstritten.
Die heutige Jugend geht für die Alten auf die Straße
Wenn die heutige Jugend auf die Straße geht, dann tut sie das nicht gegen die Alten, sondern für sie. Eltern und Kinder teilen dieselben Wertvorstellungen, die sich grob unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zusammenfassen lassen (diese russische Grundtugend bedeutet mal „Ehrlichkeit, mal „Gleichheit“ und mal „Bestrafung“).
Jung und Alt stören sich an derselben Ungerechtigkeit, aber ihre Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Die Kinder werden eher aktiv, die Eltern bleiben eher passiv.
Vom politischen Standpunkt betrachtet ist offensichtlich, was die jungen Menschen brauchen: eine Zukunftsvision, klare Perspektiven, Spielregeln, die sie als fair empfinden, und Aufstiegschancen.
Nicht nur, dass sie diese im Augenblick nicht sehen. Es spricht nicht einmal jemand mit ihnen über diese Probleme. Sie hören ständig nur Debatten über Themen von gestern – die Sowjetzeit, die Vorsowjetzeit, die frühen 1990er, die frühe Putinära. Und über die vergleichsweisen Vorzüge von verschiedenen Toten – Stalin, Breshnew, Iwan der Schreckliche, Nikolaus II. Verständlicherweise steht das einem jungen Menschen bis zum Halse.
Ziel der Fernsehpropaganda ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn
Menschen unter 25 sind mit dem Internet aufgewachsen, sie leben im Internet. Es ist nicht so, dass sie überhaupt nicht fernsehen, aber sie sehen anders fern. Sie schauen sich einzelne Sendungen an, die sie auf Youtube finden. Zur Unterhaltung benutzen sie Youtube, zur Information und Kommunikation die Sozialen Netzwerke. Entsprechend geht die TV-Propaganda an ihnen vorbei. Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will.
Denn unsere ganze Propaganda ist auf den Sowjetmenschen zugeschnitten. Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei.
Eine weitere unterschätzte Tugend, die die Kinder- und Elterngeneration verbindet, ist, was man in einem „gesunden“ politischen Regime Gesetzestreue nennen würde. Im politischen Regime des Rauchersdagegen ist genau das ein Protestinstrument: das Bemühen, Regeln einzuhalten, und der Wunsch, dass auch andere das tun.
Die Vorgänge bei uns sind ein ‚legalistischer Protest‘ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption
Denken Sie an die Proteste von 2011/2012. Weder damals noch bei den Ereignissen vom 26. März gingen die Menschen spontan auf die Straße. Es waren organisierte Kundgebungen mit bestimmten Anliegen. Mal waren sie genehmigt, mal nicht, aber immer gewaltfrei. Es waren keine Revolten – noch nicht einmal Proteste gegen die bestehende Ordnung als Ganzes, bei denen Parolen wie „Nieder mit …“ oder „Aristokraten an die Laterne“ skandiert worden wären. Sowas gibt es bei uns nicht (zumindest bisher nicht).
Die Vorgänge bei uns sind ein „legalistischer Protest“ – ein Protest im gesetzlichen Rahmen mit gesetzlichen Mitteln gegen Gesetzesverstöße wie Wahlfälschung oder Korruption. Menschen fordern die Einhaltung der Gesetze und fühlen sich damit offensichtlich ausreichend im Recht, um das hohe Risiko, das ein Protest mit sich bringt, auf sich zu nehmen.
Ein Gefühl der Verbundenheit
Für Menschen unter 25 sind soziale Interaktion und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen ausgesprochen wichtig. Ihre Generation hat jene für die Sowjetzeit typische Atomisierung überwunden. Dementsprechend hängt ihr weiteres politisches Handeln davon ab, ob sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlen und deren Unterstützung spüren (erinnern wir uns an die gewünschte „Anerkennung“) oder ob sie sich einsam und allein gelassen fühlen.
Jeder Mensch hat Angst vor Ausgrenzung. Jungen Menschen ist es allerdings besonders wichtig, nicht zum Außenseiter zu werden. Wenn sie sich nicht als Minderheit und Outcasts empfinden, sondern als Teil eines Netzwerks, besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie ihre sozialpolitische Aktivität fortsetzen. Erst recht, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der jüngeren Generation Erfahrung in Freiwilligendiensten und ehrenamtlicher Tätigkeit mitbringt.
In diesem Punkt besteht eine Ähnlichkeit zwischen der US-amerikanischen Gen Z und den jungen Russen. Außerdem ist eine moralisch relevante Gemeinschaftsaktivität das beste Mittel gegen Angst.
Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.
Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt.
Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.
Null Rubel für Hilfsaktionen
Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.
Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.
Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.
Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche
Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.
Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.
Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.
Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.
Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert
Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.
Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.
749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden
Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret. Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.
Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden.
Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.
Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.
Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen … und war verschwunden
Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.
An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.
Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka
Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.
Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ … und legte auf.
Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.
Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.
Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort
Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.
Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.
Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.
Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben
Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.
Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“
Maxim Lossew ist ein Schüler aus der Oblast Brjansk, rund 380 Kilometer südwestlich von Moskau. Kurz nachdem Oppositionspolitiker Nawalny einen Korruptionsbericht über PremierMedwedewvorgelegt hatte, rief Maxim über Vkontakte dazu auf, an einer Unterstützer-Demo für Nawalny teilzunehmen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Lossew wurde daraufhin von der Polizei zur Unterredung abgeholt – aus dem Klassenzimmer heraus. Die Schuldirektorin Kira Petrowna Gribanowskaja und eine Lehrerin, die ganz zu Beginn als „Raissa Alexandrowna“ angesprochen wird, diskutierten mit den Schülern darüber – und kommen dabei auch auf Themen wie den Krieg in der Ukraine, Patriotismus und die politische Opposition. Dabei zeigen die Schüler großes Selbstbewusstsein gegenüber den regierungsloyalen Lehrkräften.
Ein Handy-Mitschnitt der Diskussion landete im Internet, Nawalnys Wahlkampfteam verbreitete das Video über Vkontakte. Es wurde bislang bereits über eine Millionen Mal angesehen, die Schüler wurden zu „neuen Helden des russischen Internets“. dekoder bringt die Mitschrift in deutscher Übersetzung. Da die Aufnahme oftmals kein Bild, sondern nur Ton liefert, ist nicht immer einfach zuzuordnen, wer gerade spricht.
Direktorin [Kira Petrowna]: Raissa Alexandrowna, darf ich? Für die, die sich für Nawalnys Aktivitäten interessieren: Gut, er fordert die Absetzung unserer aktuellen Regierung, ein „Nein zu Korruption“ und so weiter. Welche konkreten Maßnahmen schlägt er denn vor? An Kundgebungen teilzunehmen? Zu sagen, was der für ein Fiesling ist? Ein Schüler: Er will einfach Antworten hören. Er hat ein Video zu Medwedew gemacht, und jetzt will er Antworten von der Staatsmacht. Direktorin: Und? Ein Schüler: Die schweigt. Direktorin: Moment mal. Nehmen wir an, ihr macht ein Video über Kira Petrowna, schreibt, die ist so und so, kümmert sich nicht um was weiß ich, bei der in der Schule ist der Teufel los; ihr versammelt euch und fordert eine Antwort. Was glaubt ihr, geh ich da hin und rede mit euch? Ein Schüler: Nein. Direktorin [aufgeregt]: Eben, er auch nicht! Das ist doch lächerlich! Ein politisches Programm – das wären konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft, die Ausarbeitung von Plänen. Das, was der macht, ist reinste Provokation. Versteht ihr? Ihr versteht das noch nicht. Die Wirtschaftslage ist bei uns derzeit sehr instabil, das sage ich geradeheraus. Ein ökonomisches Loch. [Ihre Stimme beruhigt sich wieder etwas] Und was ist die Ursache? Ihr hattet das doch in Sozialkunde und so weiter. Ihr wisst ja, dass es im Grunde im Land eine Wirtschaftsblockade gibt. Na, dann möchte ich mal hören, was ihr wisst: Was erleben wir derzeit? Ein Schüler: Eine Krise. Direktorin: Und was hat die Krise ausgelöst?
[Unverständlich]
Ein Schüler: Die Sanktionen, die Europäische Union, diese ganze Blockade. Direktorin: Nochmal bitte, wer? Die Europäische Union, richtig? Das heißt, wir haben jetzt eine sehr konsequente und sehr stramme Politik unseres Leaders. Er hat international ein sehr hohes Ansehen. Warum? Wegen seiner Außenpolitik. Die Innenpolitik, klar, die schwächelt. Warum? Ja, weil kein Geld da ist. Und das spüren wir jetzt, vor allem … Ein Schüler: Aber was für eine Außenpolitik wird denn bei uns bitteschön gemacht? Amerika ist gegen uns, Europa ist gegen uns. Direktorin: Und woran liegt das, hm? Weswegen? Ein Schüler: Wegen der Krim, weil wir die einkassiert haben quasi. Direktorin: Und das findest du schlecht? Lehrerin: Haben wir sie denn einkassiert? Ein Schüler: Na, wir sind quasi in eine Krise eingetreten. Lehrerin: Es gab ein Referendum …
[Unverständlich]
Direktorin: Gut, erzähl mir mal, was da aus deiner Sicht passiert ist! Da bin ich jetzt gespannt! Erzähl mir das, vielleicht kenne ich ja irgendeine Sichtweise noch nicht. Ein Schüler: Na, warum haben sie denn gegen uns Sanktionen verhängt?! Direktorin: Das hattest du gerade schon selbst beantwortet. Lehrerin: Wegen der Demonstration von Stärke. Weil wir Stärke gezeigt haben. Ein Schüler: Wegen der Krim. Direktorin: Weißt du, warum … Ja, warum hat denn der Krieg in der Ukraine überhaupt angefangen? Ein Schüler: Na, wegen der Revolution … Direktorin: Weswegen? Ein Schüler: Wegen dem Machtwechsel. Direktorin: Ach, mein Junge, du liest nichts und weißt nichts. Dein Wissen ist sehr oberflächlich. Wie ist dieser ganze Konflikt überhaupt entstanden? Warum hat sich da Amerika eingemischt? Ein Schüler: Hat es sich ja gar nicht offiziell.
[Unverständlich]
Direktorin: Und wofür hat sich die Krim dann entschieden? Und wie hat Amerika das bewertet? Ein Schüler: Haben Sie dort amerikanische Truppen gesehen, in der Ukraine? Direktorin: Hast du denn russische Truppen gesehen in der Ukraine? Ein Schüler: Ja. [Lachen] Da gibt’s Videos, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Direktorin: Videos – die sind meistens gestellt. Lehrerin: Man darf denen nicht glauben …
[Unverständlich]
Ein Schüler: Ich habe etliche Informationen gehört, dass die Freunde von irgendwelchen Leuten … Direktorin: Leute! Ich seh schon, ihr betrachtet dieses Problem einseitig. Und euch fehlt der politische Überblick. Das Problem ist ganz klar umrissen: Ihr habt Nawalny gesehen, habt seine Videos angeguckt, das war’s. Und schon denkt ihr so. Eine eigene Meinung dazu habt ihr nicht, nur das, was man euch aufdrückt. Und dann benutzt ihr auch noch manchmal ungeprüfte Quellen oder sogar, wenn man so will, Quellen, die zur Provokation dienen. Lehrerin: Wie Marionetten …
Ein Schüler: Und wenn wir einfach der gleichen Meinung sind wie er? Direktorin: Habt ihr denn eine Meinung? Lest erst mal ein bisschen. Ich sag euch das, schaut euch nicht nur diese … Wenn jemand behauptet, dass es hier so schlecht ist, dann seht euch mal andere Quellen an. Warum glaubt ihr nur einer Quelle? Lehrerin: Jeder Fakt gehört dem Zweifel unterzogen! Ein Schüler: Wir betrachten ja nicht nur eine Quelle. Direktorin: Na, ihr schaut offenbar nur in eine Richtung. Ein Schüler: Unser Fernsehen zeigt ja nur, was dem Staat zuträglich ist … Direktorin: Hört ihr nicht Voice of America?
[Unverständlich]
Direktorin: Ich sehe schon, die staatsbürgerliche Haltung haben wir euch nicht richtig beigebracht. Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, zeigt ihr große Defizite. Patrioten gibt es bei euch in der Klasse also keine? (Einwurf Schüler: Was ist denn ein Patriot? Einer, der die Regierung unterstützt?) Direktorin: Ich habe mit Nikita gesprochen … Nikita, willst du ein Patriot sein? Lehrerin [unterbricht]: Entschuldigung. Bitte, organisiere doch einfach eine Gruppe und mach einen Subbotnik in deiner Straße. Direktorin: Leute, hebt mal die Hand, wer von euch engagiert sich in einer Freiwilligen-Bewegung?
[Stille]
Direktorin: Wozu wurde denn die Freiwilligenarbeit eingeführt? Da haben wir eure staatsbürgerliche Haltung! Ihr braucht euch gar nicht mit Putin und Medwedew da oben zu beschäftigen. Seht euch unseren Bezirk an! Ein Schüler: Aber die Freiwilligenarbeit wird doch von Einiges Russlandorganisiert, oder? Und unterstützt? Direktorin: Ja. Ein Schüler: Eben, und wir sind gegen Einiges Russland.
[Gelächter]
Ein Schüler: Verstehen Sie? Lehrerin: Warum sprichst du in der Mehrzahl und redest von „wir“? Ein Schüler: Hebt doch bitte mal die Hand, wer gegen Einiges Russland ist. Weiterer Schüler: Ich!
[Gelächter, unverständlich]
Ein Schüler: Wir sind gegen Einiges Russland. Direktorin: Und wofür seid ihr? Ein Schüler: Für Gerechtigkeit. Weibliche Stimme: Und was ist Gerechtigkeit? Weibliche Stimme: Das, was es bei uns nicht gibt.
[Unverständlich]
Ein Schüler: Gerechtigkeit ist, wenn sich die Regierung um die Menschen kümmert, nicht nur um sich selbst, … um die einfachen Bürger, nicht um ihre Millionen. Viele Menschen wollen ja in einem freien Staat leben, in einem freien Land … Direktorin: Ihr glaubt also, dass sich mit Putin und Medwedew das Leben im Land verschlechtert hat? Weiterer Schüler: Ja. Ein Schüler: Nein, sie kleben aber an ihren Sesseln. Sie sitzen da schon zu lange. Direktorin: Hast du mal in einer anderen Zeit gelebt, anscheinend hab ich da was verpasst? Unter welcher Regierung hast du gut gelebt? Ein Schüler: Ich? Direktorin: Unter Putin und Medwedew ist es für dich also schlechter geworden? Ein Schüler: Wir kennen unsere Geschichte. Direktorin: Allerdings. Schüler: Eben … Direktorin: Was – eben? Ich frage dich: Konkret du, unter welchem Regierenden hast du gut gelebt? Schüler: Wir hatten ja im Grunde nur einen. Direktorin [aufgeregt]: Du hast gesagt, es ist schlechter geworden. Dabei habt ihr die wilden 1990er Jahre gar nicht erlebt! Damals hatte jeder, Verzeihung, eine Handwaffe oder Feuerwaffe! Chaos und Willkür im ganzen Land! Ich war damals Studentin! Dass man sich abends nach acht nicht mehr raus auf die Straße traute. Das habt ihr nie erlebt! Schüler: Wollen Sie, dass es wieder so wird? Lehrerin: Ihr wollt das! Schüler: Gerade jetzt wurde ein Mensch wegen nichts eingesperrt. Einfach von der Polizei mitgenommen. Direktorin: Das ist Bürgerkrieg. Schüler: Das ist Willkür. Direktorin: Richtig, Willkür, denn wohin führt jede Demonstration und jede Spaltung der Macht? Lehrerin: Zu einer politischen Krise und weiter zum Bürgerkrieg. Direktorin: Und weiter zum Bürgerkrieg. Brudermord. Lehrerin: Wollt ihr es wie in der Ukraine, so wie es bei uns 1918 war? Schüler: Wir wollen diese Regierung nicht. Weiterer Schüler: Nein, wir wollen … unsere eigene Sicht der Dinge. Eine der Lehrkräfte: Ihr werdet Euer eigenes 1918 erleben … Lehrerin: Sagt mal: Könnt ihr das wirklich jetzt erreichen? Und wie? Ein Schüler: Na, sich einfach zusammentun. Lehrerin: Und dann? Schüler: Dann werden wir eine Masse.
[Stimmengewirr]
Weiterer Schüler: Eine ordentliche Masse! Lehrerin: Eine Masse. Und dann, was dann? Ein Schüler: Dann sehen es die Leute wenigstens. Dann sehen sie, dass es Bürger gibt.
[Unverständlich]
Lehrerin: Bürger – das ist eine Handvoll Leute, die angeführt werden von Erwachsenen, die sozusagen nichts zu verlieren haben. Direktorin: Leute, wir haben zumindest versucht, euch ein wenig zu ermahnen und zu warnen. Was jetzt beginnt, das ist Polemik, und die ist sinnlos. Ihr müsst jetzt ohnehin – ich rate euch, ich bestehe nicht darauf, aber ich rate euch – zu Herzen nehmen, was wir gesagt haben, und entsprechende Schlüsse ziehen. Und ich denke dabei vor allem an eure Zukunft. Lehrerin: Vergesst nicht, das ist entscheidend. Direktorin: Ich habe mich bei diesen Regierungsvertretern beschwert. Ich habe versucht, Maxim zu verteidigen. Habe gesagt, dass das nur so eine völlig unnötige jugendliche Dummheit gewesen ist. Glaubt mir, der hat es gerade nicht gut. Gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass auch nur einer von euch in so eine Lage gerät. Aber jetzt ist es an euch. Alles, was ihr hier sagt, im Klassenzimmer, sind leere Worte. [Unverständlich] Ich sag’s nochmal, werdet anständige Leute und erreicht etwas. Das ist das Richtige. Lehrerin [leise]: Aber das hier, das ist kindisch. Leute, ich bitte euch nochmal. Denkt nach, denkt mit … So, Leute, womit fangen wir jetzt an? Mit den Zensuren oder mit den Hausaufgaben …
Arkady Ostrovsky wurde in der Sowjetunion geboren. Heute lebt er mit seiner Familie in London, schreibt für den Economist und die Financial Times über Russland und Osteuropa. Für sein Buch The Invention of Russia erhielt er 2016 den renommierten Orwell Prize. Nun erscheint das Werk, das sich mit dem postsowjetischen Russland im Allgemeinen und mit Medienmanipulation im Besonderen auseinandersetzt, auf Russisch. Anlass für Colta.ru den Autor zum Interview zu bitten.
Ostrovsky spricht über Fake-News, Trump und eine neue Weltordnung – und warum das alles vor allem mit Russland zu tun hat.
Arnold Chatschaturow: Vorbei ist er, der Honeymoon von Donald Trump und dem Kreml – der Name des US-Präsidenten taucht in den russischen Medien inzwischen deutlich seltener auf, der Ton ist abgekühlt. Kann die Rückkehr zu einer feindseligen Rhetorik gegenüber den USA für die russischen Machthaber von Vorteil sein?
Arkady Ostrovsky: Zunächst muss man sagen, dass der Antiamerikanismus für Russland nichts Althergebrachtes ist. In der russischen Kultur ist Amerika eher Traum und Zukunftsbild gewesen, Jenseits und Neue Welt.
Meines Wissens taucht Amerika als Ballung des Bösen erstmals bei Gorki in der Stadt des gelben Teufels aus dem Jahr 1906 auf. Wobei aber Gorkis Briefe über Amerika äußerst wohlwollend sind. Das Bild von Amerika als Zukunft zieht sich durch die Dichtung der 1910er und 1920er Jahre. Und Stalin schrieb in seiner Arbeit Über die Grundlagen des Leninismus, der Leninismus sei die Vereinigung von revolutionärem Geist und amerikanischer Geschäftstüchtigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren gab es in der UdSSR dann eine Karikatur des Antiamerikanismus – allen war vollkommen klar, wie sehr der Westen tatsächlich „am Verfaulen“ war.
Das ‚böse Amerika‘ ist für den Kreml Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht
Doch heute ist der Antiamerikanismus für den Kreml eine der tragenden Säulen und der wesentlichen ordnenden Konstruktionen geworden; das „böse Amerika“ ist Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht. Der Gedanke, diese Konstruktion einzureißen, macht natürlich Angst. Erstens ist unklar, was an ihre Stelle treten sollte. Zweitens könnte bei der Bevölkerung eine erhebliche kognitive Dissonanz auftreten – bisher leuchtete nämlich allen ein, weshalb man fest zusammenhalten und sinkende Löhne akzeptieren muss. Insofern ist es für die Ideologie des Kreml weitaus günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner.
Die anfängliche Euphorie des Kreml nach der Wahl Trumps hatte nicht nur mit Schadenfreude zu tun (seht mal, bei denen bröckelt alles, die haben sich ihren eigenen Maidan organisiert), sondern auch mit der Freude, sich selbst im anderen wiederzuerkennen.
Für den Kreml ist es günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner
Zwar sind sich Putin und Trump vom Persönlichkeitstyp her nicht besonders ähnlich, es ist jedoch absolut bemerkenswert, dass Trump tatsächlich genau dieselben Techniken verwendet – zum Beispiel wenn er die Presse von Briefings ausschließt und sie als Fake-News bezeichnet. Alle im Fernsehen lügen – das war ja einer der Schlüsselsätze Putins im Jahr 2001, als er mit den Angehörigen der Kursk-Opfer sprach. Und Trumps Hauptlosung Make America great again? ist natürlich ein Abklatsch von Russland von den Knien erheben.
Kann man sagen, dass das Konstruieren von gefakter Wirklichkeit für politische Zwecke gewissermaßen eine russische Technik ist?
In Russland hat dieses Phänomen tatsächlich immer eine wichtige Rolle gespielt. Die russischen Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert anstatt sie zu beschreiben. Das gilt sowohl für die sowjetischen als auch für die postsowjetischen Medien. In diesem Sinne ist die Rede davon, dass „wir jetzt hier mal ordentlich was aufbauen“ eine ausgesprochen russische Sache, das fing schon bei den Bolschewikian, wenn nicht noch früher.
Und in den 1990er Jahren ging dieses Konstruieren munter weiter. Selbst das profilierteste und fähigste Presseorgan jener Zeit, die Tageszeitung Kommersant, beteiligte sich an der Konstruktion der Wirklichkeit: geschrieben wurde nicht über das Land, das existierte, sondern über das Land, das man sich wünschte.
Später, in den 2000er Jahren, übernahm dies die Hochglanzsparte – [das trendige Moskauer Stadtmagazin – dek] Afischa etwa beschrieb eine europäische Stadt, die es noch gar nicht gab. Solche futuristischen Entwürfe sind immer gefährlich.
Sowjetische und postsowjetische Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert, anstatt sie zu beschreiben
In der Politik hat man nach den Wahlen von 1996 begonnen, mit Fakes zu arbeiten, bis später die Politik endgültig durch Polittechnologie ersetzt wurde. Man kann über die Wahlen von 1996 sagen, was man will, aber immerhin war Jelzin eine reale historische Figur, er war nicht dem Fernsehen entsprungen. All das, was danach losging – die idiotischen Spiele der Oligarchen, die 1997 die Regierung demontierten, dort ihre Silowiki unterbrachten und so weiter – diese Entwicklung gipfelte in der Olympiade 2014, als herauskam, dass die Medaillen-Erfolge der russischen Sportler gar nicht echt, sondern gedopt waren. Und dann stellt sich heraus, dass die Krim genau so ein Dopingmittel ist.
Meinen Sie, dass die Ereignisse in den USA vielleicht in einem komplexeren Sinne mit Russland zu tun haben? Also jenseits der mutmaßlichen Versuche des Kreml, Einfluss auf die US-Wahlen zu nehmen?
Richtig, ich meine nicht die Hackerangriffe, wenngleich es die bestimmt gab, davon bin ich überzeugt. Das hat es immer gegeben: Die Sowjetunion hat sich auch 1984 in die US-amerikanischen Wahlen eingemischt.
Ich glaube, die Verbindung ist in der dringenden Notwendigkeit einer neuen Agenda zu sehen, eines einfach gestrickten Narrativs, das mit der Geschichte zu tun hat.
Warum ist in beiden Ländern von Fake-News die Rede? Wenn man sich mit der Gegenwart befasst, braucht man Fakten, wenn man aber nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur.
Wenn man nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur
Trump ist ein Symptom der weltweiten Verschiebungen, die bis zu einem gewissen Grad mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenhängen. Die Konfrontation mit der UdSSR hielt alle in Spannung. Danach setzte die große Entspannung ein, ja eine gewisse Faulheit.
Lange Zeit herrschte überall der Eindruck, das postsowjetische Russland sei eine Geschichte für sich: Das Land war mit sich selbst beschäftigt, irgendwelche Prozesse waren dort im Gange, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem hatten, was man im Westen kannte. Und mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert. Nur haben sich diese Probleme in Russland früher und heftiger offenbart.
Russland ist zum „Pilotprojekt“ einer neuen Weltordnung geworden?
Ja, und dieses Projekt hängt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR zusammen.
Eine Weile ging man davon aus, Russland werde sich, nachdem es sich von der kommunistischen Herrschaft befreit hatte, zu einem normalen westlichen Land entwickeln. Doch die sogenannte russische Elite setzte ihre Macht nicht für den Aufbau von Institutionen und die Schaffung einer politischen Basis ein, sondern für die Vermehrung von Macht und Geld. Und bald wurde klar: eine Idee muss her. Russland ist so gesehen ein ideenzentriertes Land, mit einer besonderen Mission und einem Ziel, wie auch die USA.
Mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war Jelzin besessen davon, eine russische Idee zu finden, herauszufinden, wie wir uns selbst definieren können, wenn nicht über das Imperium oder die Konfrontation mit dem Westen. Er rief sogar spezielle Kommissionen zu dieser Frage ins Leben, wofür man ihn damals allerdings belächelte.
Als er zum dritten Mal die Amtsgeschäfte übernahm, stand es schlecht um die Wirtschaft, dazu kamen die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz. Es wurde offensichtlich, dass nun die ideologische Agenda oberste Priorität hatte.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren. Wir leben im Zeitalter der Postmoderne: Es reicht, den Anschein einer Mobilmachung zu erzeugen, was ihnen auch bestens gelingt. Putin mit den Olympischen Spielen und der Krim, Trump mit seiner mexikanischen Mauer und dem Kampf gegen den Islam. Ein solcher Medienkrieg erfordert keine so großen Mittel. Eine andere Sache ist es, dass in diesem Krieg reale Menschen sterben.
Wie wir sehen, versucht Trump, sich von der messianischen Rolle der USA als Verfechterin liberal-demokratischer Werte loszusagen, stattdessen setzt er auf Pragmatismus und nationale Interessen. Was geschieht in dieser Hinsicht heute in Russland?
In Russland haben noch die Bolschewiki Anspruch auf das vierte Rom erhoben. Die UdSSR war in gewissem Sinne wirklich das Zentrum der Komintern, die Wiege einer zukünftigen weltweiten proletarischen Revolution. Heute wird Russland zum Symbol für die geistige Klammer, die traditionellen Werte und den Nationalismus.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren
An symbolischer Aufladung mangelt es dem Regime nicht: Selbst der letzte Diktator beeilt sich heute Putin zu preisen, und die amerikanischen Ultrarechten sagen, Russland sei das Zentrum traditioneller Zivilisation. Russland ist dabei, für viele europäische Politiker so etwas wie ein ideologisches Leuchtfeuer zu werden.
Die USA haben sich tatsächlich von dieser Rolle verabschiedet, haben ihren Status einer besonderen Nation, der für das Land lange Zeit sehr wichtig war, abgegeben.
Äußerst bezeichnend war Trumps Antwort auf eine Frage des Senders Fox News, wie er es mit Putin halte, der sei doch ein Mörder? – „Ach, wissen Sie, wir haben auch viele Mörder.“ Im Westen war man davon allenthalben schockiert, schließlich bedeutet das, wir sind alle gleich, von einer moralischen Überlegenheit der USA kann nicht mehr die Rede sein.
Bislang galten sie als Brüder im Geiste, nun bekämpfen sie sich öffentlich: Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja, und der erzkonservative Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow. Kisseljow wird von Kritikern gerne als „Chefpropagandist des Kreml“ bezeichnet, Fjodorow sitzt der Nationalen Befreiungsbewegung vor. Ausgerechnet die wirft Kisseljow nun „Trumpophilie“ vor.
Was der Konflikt vor allem mit Putin, der Krim und dem Donbass zu tun hat – und nur am Rande mit Trump – das analysieren Andrej Perzew und Gleb Tscherkassow im Kommersant-Vlast.
Bis vor Kurzem schienen Dimitri Kisseljow und Jewgeni Fjodorow noch auf der gleichen Seite der Barrikaden zu stehen. Kisseljow ist Fernsehmoderator und Generaldirektor von Rossija Sewodnja, Fjodorow sitzt für die Regierungspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ist außerdem Vorsitzender der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD). Sei es die bedingungslose Unterstützung des Präsidenten Wladimir Putin und all seiner Vorhaben, sei es die harte Kritik an den USA und der Außenpolitik des Weißen Hauses, die klare Ablehnung der derzeitigen ukrainischen Führung – in vielerlei Hinsicht wirkten die beiden wie Brüder im Geiste.
In seiner Sendung Westi Nedeli [dt. Nachrichten der Woche – dek] behauptete Dimitri Kisseljow unter anderem, dass Russland die USA in „radioaktive Asche verwandeln“ könne, er prangerte nicht-systemische Oppositionelle und auch den durch und durch verdorbenen Westen an. „Schwule für Homosexuellen-Propaganda unter Minderjährigen zu bestrafen, ist nicht genug. Ihnen muss es verboten werden, Blut oder Sperma zu spenden und im Falle eines Autounfalls müssen ihre Herzen tief in der Erde vergraben oder verbrannt werden.“ Das ist eines der bekanntesten Zitate des Fernsehmoderators.
Jewgeni Fjodorows Äußerungen wirkten wie eine logische Fortsetzung dieser Position, und seine Sympathisanten von der Nationalen Befreiungsbewegung setzten diese Ideen in die Praxis um, indem sie Kundgebungen Oppositioneller überfielen und Protestaktionen vor Medienbüros und Botschaften der „feindlichen westlichen Staaten“ abhielten. Auf der Homepage der Gruppe für das Swerdlowsker Gebiet, einer der aktivsten der NOD, wurden sogar regelmäßig Videoaufzeichnungen von Westi Nedeli verlinkt.
Wie gewohnt haben nun Vertreter der Bewegung mit Plakaten vor einem Medienhaus protestiert. Doch diesmal war es nicht etwa das Medienunternehmen RBC – sondern die internationale Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja. Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigen die Agentur und ihren Direktor der „Trumpophilie“.
Die Anhänger von Jewgeni Fjodorow beschuldigten Kisseljow der „Trumpophilie“. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und Kisseljow holte zum harten Gegenschlag aus
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In der Sendung vom 19. Februar holte Dimitri Kisseljow zum harten Gegenschlag aus – gegen Jewgeni Fjodorow, gegen die Nationale Befreiungsbewegung, gegen Witali Milonow, den ultrakonservativen Dumaabgeordneten der Partei Einiges Russland, und gegen die Organisation Offiziere Russlands, die nach ihrem Angriff auf die Fotoausstellung von Jock Sturges Ruhm erlangt hatten – gegen alle radikal konservativen Kräfte also.
Kisseljow sprach vor einer Fotocollage verschiedener Politiker mit der Bildaufschrift Die Spinnerten. Neben Milonow und Fjodorow waren darunter auch die in die Ukraine emigrierte ehemalige Dumaabgeordnete für Einiges Russland Maria Maksakowa und der St. Petersburger Jabloko-Politiker Boris Wischnewski.
„Eigentlich gehen wir in Russland milde und nachsichtig mit spinnerten Politikern um, die uns in Erstaunen versetzen, zu irgendetwas aufrufen, oder irgendwohin abkommandieren wollen. Überraschenderweise schleichen sich diese Spinnerten in die Strukturen ein und erlangen, wenn auch nur kurzzeitig, Geltung. Mit schlauer Miene zwingen sie uns ihre dummen Diskussionen auf. Derzeit wird derart viel Blödsinn in den Äther geblasen, dass man in diesem Informationslärm untergehen könnte“, empörte sich Kisseljow. Die Nationale Befreiungsbewegung bezeichnete er dabei als einen „Wanderzirkus“, der „in Moskau umherzieht“.
„Besonders traurig ist, dass der Abgeordnete Fjodorow diese armen Menschen zusammengeschart hat und sie mit überdimensional großen, geradezu grotesken Georgsbändern als Fahnen ausgerüstet hat. Das stolze Symbol der russischen Wehr und der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht. Was für ein Frevel! Überhaupt ist diese Manier der Spinnerten, edle Symbole für inszenierte Skandale und leere Parolen zu vereinnahmen, wenig sympathisch“, rügte der Fernsehjournalist den NOD.
Das stolze Symbol der Schlacht gegen den Faschismus – das Symbol des Sieges – hat Fjodorow mit dem Namen seiner Pseudobewegung besetzt und aus dem Ganzen ein Tingeltangel unter Mitwirkung irgendwelcher Trachtenträger oder Wandersänger gemacht
Dimitri Kisseljow erinnerte auch an die Organisation Offiziere Russlands, wie sie im Herbst versucht hatte, eine Fotoausstellung von Jock Sturges, dem sie Pädophilie vorwarf, zu verwüsten. Und er brandmarkte sie dafür, sich vom Staat finanzieren zu lassen.
Auch der größte Hüter der traditionellen Werte, Witali Milonow aus der Partei Einiges Russland, bekam sein Fett weg: „Im Sticharion – dem geistlichen Gewand für den Kirchendienst – verteidigte er die Übergabe der Isaakskathedrale, und da schickt er sich an, antisemitische Äußerungen von sich zu geben.“
Allerdings klang auch ein Seitenhieb auf die liberalen Verteidiger der Isaakskathedrale an. Dabei sah der Moderator jedoch von persönlichen Angriffen ab und beklagte lediglich, dass die damit verbundene Diskussion den „gesunden Menschenverstand abtöten“ würde.
Die Antwort Jewgeni Fjodorows folgte schnell: Er drohte Dimitri Kisseljow mit einem Gerichtsverfahren und Anzeigen tausender gekränkter NOD-Anhänger, unterstellte ihm eine „Verschwörung gegen den Präsidenten“ und dass er auf Staatskosten eine Kampagne führe für den Präsidenten eines anderen Staates: Donald Trump.
Die Haltung zum US-Präsidenten war der formale Auslöser des Konflikts: Der Pressesprecher des Weißen Hauses Sean Spicer hatte erklärt, dass Trump von Russland erwarte, in der Ukraine für Deeskalation zu sorgen und die Krim „zurückzugeben“. Bis dahin hatte das russische Fernsehen mit Donald Trump sympathisiert, nun aber fast komplett aufgehört, über ihn zu berichten. Doch auch die Kritik, die zuvor unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer.
Die Kritik, die unter anderem von Kisseljow gegen Barack Obama vorgebracht worden war, blieb gegenüber dem neuen Staatsoberhaupt der USA aus. Das nahmen die NOD-Aktivisten zum Anlass für ihre Empörung. Die wahren Gründe aber liegen viel tiefer
Der Krim-Konsens von 2014 hatte nicht nur dazu geführt, dass 86 Prozent der Bevölkerung den politischen Kurs des Präsidenten unterstützen, sondern es hat sich auch eine recht bunte gesellschaftliche Koalition herausgebildet: von solchen, die dienstlich zum Patriotismus verpflichtet sind, bis hin zu radikalen Fürsprechern eines Konflikts mit dem Westen und Russlands „Erhebung von den Knien“. Die Frage, inwiefern die Mitglieder dieser Koalition solche Überzeugungen aufrichtig vertreten, bleibt nach wie vor offen: Der Fall von Denis Woronenkow und Maria Maksakowa hat gezeigt, dass bereits bei den ersten Anzeichen von Ärger glühende Verfechter eines gesamtnationalen Konsens bereit sind, sich als eingefleischte Dissidenten erkennen zu geben.
Die Heterogenität dieser Koalition war auch in ihrer besten Zeit zu spüren: Die radikalen Kräfte forderten die sofortige Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk, eine härtere Linie gegenüber den USA sowie grundlegende Umwälzungen im Land. Gemäßigte und radikale Positionen unterschieden sich beispielsweise beim Verhältnis zum finanzwirtschaftlichen Block der Regierung. Die Radikalen sahen in ihm geradezu eine fünfte Kolonne, die das Land daran hindern würde, „sich von den Knien zu erheben“.
Ein klarer Sieg dieser „Krim-Koalition“ war das Resultat der Dumawahl 2016. Kein einziger oppositionell eingestellter Abgeordneter schaffte es ins Unterhaus und gleichzeitig ging ein Teil der Mandate an Bewerber, die noch vor wenigen Jahren als absolute Randfiguren in der Politik galten. Diese Glanzleistung ist zum entscheidenden Wendepunkt geworden: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und fingen an, nach mehr zu streben. Die Machthaber wiederum wollten sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2018 und vor dem Revolutionsjubiläum 2017 von radikalen Gesinnungen distanzieren.
Dabei war die Regierung bereits vor den Parlamentswahlen dem radikalen Aktionismus etwas überdrüssig geworden. Fragen nach den Übergriffen auf Ausstellungen wurden auch schon bei Wladimir Putins letztjähriger Pressekonferenz gestellt. Der Präsident verurteilte sie, merkte jedoch an, dass es unter den Kulturschaffenden trotzdem Selbstbeschränkungen geben müsse.
Die Dumawahlen waren der Wendepunkt: Radikale sahen, dass ihre Kräfte gefragt waren und strebten nach mehr
Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Dimitri Kisseljow den versöhnlichen Ton herausgehört. „In den Westi Nedeli vom vergangenen Sonntag haben wir das Thema [die Proteste gegen die Ausstellung von Jock Sturges und die Schließung der Fotoschau – dek] gleich zu Beginn gebracht, sogar noch vor den Wahlergebnissen (der Dumawahl im September 2016, Anm. d. Red. Vlast). Darin haben wir erklärt, dass wir gegen Vandalismus sind und gegen gesellschaftliche Organisationen, die Ausstellungen schließen oder eröffnen können“, erläuterte er im Radio Westi FM.
Der Regierung vorzuwerfen, dass sie von den formulierten Werten abweiche, das geht den radikalen Kräften zu weit, zumindest fürs Erste. Sie haben sich unter Putins Fahne versammelt und es ist klar, dass es unmöglich ist, direkte Kritik am Präsidenten zu üben. Deshalb ist die Strategie, ehemaligen Bündnispartnern vorzuwerfen, sie würden den Präsidenten dabei hindern, die richtige Politik umzusetzen, sowohl aus systemischer als auch aus ideologischer Sicht durchaus verständlich.
Das ist im Grunde klassisch für jede Revolution. Früher oder später machen sich unter den Siegern diejenigen bemerkbar, die nicht gänzlich einverstanden damit sind, dass dies schon der ganze und endgültige Erfolg ist. Die Radikalen – sie hatten viele Namen – bestehen darauf, dass es weiter gehen muss. Die entscheidende Frage ist, ob sie dafür die nötigen Mittel haben.
Der Leiter des Lewada-ZentrumsLew Gudkow ist sicher, dass der Großteil der Gesellschaft sich nicht weiter radikalisieren wird und die Regierung vorhat, Druck aus dem Kessel zu lassen. „Die Norm ist in diesem Fall nicht Jewgeni Fjodorow, sondern Dimitri Kisseljow. Fjodorow ist ein Provokateur, er lotet die Grenzen des Zulässigen aus. Kisseljow hingegen wird oft als Kreml-Stimme wahrgenommen, obwohl er zu Formulierungen greifen darf, die härter sind als die offiziellen. Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml und die Präsidialverwaltung den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchten“, meint der Soziologe.
Dieser Konflikt deutet darauf hin, dass der Kreml den radikalen Kräften vor den Wahlen und dem Revolutionsjubiläum Einhalt gebieten möchte
Laut des führenden wissenschaftlichen Mitarbeiters des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften Leonti Bysow spüren die radikalen Kräfte diese Tendenz und werden nervös: „Ihnen ist klar, dass sie nicht mehr gebraucht werden, dass die Machthaber nicht viel auf sie halten und über sie hinweggehen können.“
Zudem besteht das Problem auch darin, dass die ideologische und politische Wende von 2014 die Lage nicht nur in der Gesellschaft sondern auch auf der Straße verändert hat.
„Vor 2014 (vor der Angliederung der Krim und dem Beginn des Konfliktes im Donbass – Anm. d. Red. Vlast) haben ein bis zwei Prozent der Bevölkerung radikale rechte Ansichten geteilt, vergleichbar mit denen von Fjodorow. Bewegungen wie NOD hätten nie genügend Menschen für eine Großkundgebung sammeln können. Die Regierung machte sich diese radikalen rechten Ideen jedoch zu eigen und bekam Zuspruch von einem Großteil der konformistisch eingestellten Wähler, die diese Überzeugungen ansonsten nicht geteilt hätten. Auch Dimitri Kisseljow hat seinen Teil dazu beigetragen“, erklärt Leonti Bysow.
Wenn es um den Zuspruch für die Ideen der Russischen Welt und um eine „antiwestliche Einstellung“ geht, bemerkt er folgende Besonderheit: Der harte Kern der Befürworter sei gleich geblieben und nach wie vor übersichtlich, aber um ihn herum habe sich eine „riesige Peripherie“ gebildet.
„Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren. Früher haben die radikalen Kräfte die Opposition angegriffen, heute greifen sie Gruppen und ihre öffentlichen Vertreter an, die der Regierung gegenüber loyal eingestellt sind“, so Bysow.
Wenn die Gesellschaft einer derart aggressiven und suggestiven Propaganda ausgesetzt ist, fängt ein Teil davon an, sich zu radikalisieren
Gudkow ist im Übrigen der Meinung, dass das Fernsehen durchaus in der Lage wäre, die öffentliche Meinung von radikalem Gedankengut zu befreien: „Fjodorow ist kaum bekannt, in den Umfrage-Ranglisten der Politiker taucht sein Name nicht auf. Kisseljow ist ein Prominenter, der beliebteste Fernsehmoderator nach Wladimir Solowjow. Jewgeni Fjodorow wurde als spinnert bezeichnet, als solchen wird man ihn jetzt auch wahrnehmen“, resümiert der Soziologe.
Allerdings ist eine derartige Abspaltung der radikalen Kräfte von den gemäßigten ein viel zu langwieriger Prozess, um schon jetzt mit absoluter Sicherheit sagen zu können, wer letzten Endes gewinnt und wessen Beitrag zum gemeinsamen Erfolg mehr wert sein wird. Dies wird sich bestenfalls zum Ende des Präsidentschaftswahlkampfs herauskristallisieren.
Da die Innenpolitik derzeit so abhängig ist von äußeren Faktoren, könnte eine negative Konjunkturentwicklung jedoch bewirken, dass die „Krim-Koalition“ erneut zusammenrückt. Nicht zufällig war ja der Auslöser des Streits ausgerechnet der US-Präsident mit seinen Tweets.
Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.
Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.
Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.
Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.
Irina Worobjowa:Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?
Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.
Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.
Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?
Wie soll ich sagen … also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.
Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt
Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.
Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.
In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.
Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.
Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?
Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden
Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.
Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?
Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?
In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.
Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür
Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.
Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.
Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.
Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.
Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.
Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.
Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch
Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.
Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.
Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt.
Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.
Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.
Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht
Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.
Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.
Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?
Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.
Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“
Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.
Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.
Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne
Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.
Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.
Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.
Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?
Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.
Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen
Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.
Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.
Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.
Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?
Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.
Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.
Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken
Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.
Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.
Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.