Im Donbass gibt es im Moment die schwersten Kämpfe seit Langem zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten. In Awdijiwka harren zehntausende Einwohner ohne Strom und Heizung aus, auf beiden Seiten der Frontlinie gibt es Tote. Neue Tote in einem Konflikt, der nach UN-Angaben bislang knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Waffen haben trotz des 2015 vereinbarten Minsker Friedensabkommens nie geschwiegen.
In einigen russischen Medien wird derzeit über die konkrete Gemengelage vor Ort spekuliert, während andere analysieren, wie sich die Haltung des neuen US-Präsidenten Trump künftig auswirken könnte. Auf dem unabhängigen Online-Portal Republicfragt Journalist Oleg Kaschin dagegen nur am Rande nach möglichen Interessen oder Stellungskämpfen, sondern fokussiert auf Gefühle und Befindlichkeiten innerhalb der russischen Gesellschaft.
Kaschin selbst polarisierte mitunter mit Aussprüchen wie dem, dass die Ukraine von Russland keinen Kniefall erwarten könne, gilt jedoch als scharfsinniger Kritiker des Kreml und der russischen Ukraine-Politik.
In seinem Kommentar nun fragt Kaschin: Ist das, was im Donbass geschieht, eigentlich jemals in den Köpfen angekommen?
Beschuss von Awdijiwka und Donezk – das klingt wie eine Nachricht aus dem vorletzten Winter, die wie durch ein Missverständnis in den Informationsstrom von 2017 geraten ist. Dimitri Peskows Wortschöpfung „eigenmächtige Kampfeinheiten“, denen die Schuld an der Eskalation zugeschrieben wird, ist dermaßen schwammig, dass man darunter fassen kann, wen man will – sowohl prorussische Separatisten als auch ukrainische Freiwilligenbataillone, die unabhängig handeln, oder aber auch die ukrainische Armee (in dem Sinne, dass die Ukraine ein eigenmächtiger Staat ist und seine Kampfeinheiten entsprechend auch eigenmächtig sind). Die unvorsichtige Äußerung eines ukrainischen Generals, die ukrainischen Streitkräfte würden „Schritt für Schritt“ vordringen, hatte Peskow ebenfalls aufgeschnappt: Seht, die Ukrainer haben selbst zugegeben, dass sie angreifen, also sind sie der Aggressor. Und ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem eine anonyme Quelle aus deutschen Regierungskreisen davon spricht, die ukrainische Seite sei an einer Zuspitzung interessiert, wird in der offiziellen russischen Presse schon den dritten Tag munter zitiert.
Interessant ist eine Beobachtung der russischen Life-Journalistin Anastasija Kaschewarowa. Sie schreibt, Drehteams staatlicher russischer Fernsehsender aus Moskau seien schon frühzeitig nach Donezk geschickt worden – und zieht den naiven Schluss, dass die russischen Geheimdienste offensichtlich wussten, die Ukrainer würden einen Angriff beginnen. Aber genauso gut kann man die Entsendung von Journalisten in den Donbass als Beweis dafür nehmen, dass man in Moskau schon frühzeitig über einen bevorstehenden Angriff der Separatisten im Bilde war – schließlich sind solche Informationen für Russland einfacher zugänglich als die Pläne der ukrainischen Armee.
Geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg
Noch vor kurzem wurde dem Donbass gern ein ähnliches Schicksal wie Transnistrien vorausgesagt. Vorerst jedoch erinnert er eher an Bergkarabach. Denn die beiden Seiten stehen dem derzeitigen politischen Schwebezustand und umstrittenen Status nicht gleichgültig gegenüber, wie es dagegen in Moldawien der Fall ist. Stattdessen kommt es bei jeder erstbesten Gelegenheit zu Gefechten, unter ständiger Gefahr eines großen Krieges. Aber auch der Vergleich mit Bergkarabach hinkt ein wenig: In dem südkaukasischen Konflikt sind beide Seiten zumindest in einem, wenn auch ausgedachten, Geist erzogen, nämlich im Geist einer fanatischen Verbundenheit mit der für beide Länder heiligen Erde.
Im Donbass dagegen klingt schon allein das Wort Koksochim (so heißt die beschossene Fabrik in Awdijiwka, von der die Wärmeversorgung der Stadt abhängt) dermaßen finster, dass bei seinem Klang nicht einmal das Herz des glühendsten Patrioten höher schlagen wird. Tote Erde, bevölkert von lebenden Menschen – so müsste man den Donbass im Moment wohl korrekterweise nennen.
Nach nicht einmal drei Jahren herrscht hier Krieg in seiner reinsten Form, jeglicher Verzierungen entledigt: ohne ergreifende Losungen, eingängige Parolen, weltweite Aufmerksamkeit und ohne klaren Schlusspunkt, auf den ein garantierter Frieden folgt.
Das alles ist in den Jahren 2014 und 2015 verlorengegangen und geblieben ist einfach nur ein Krieg. Ein endloser, sinnloser, keine Seele mehr berührender Krieg. Es ist schwer zu sagen, ob Donald Trump sich darüber im Klaren ist oder ob er überhaupt Zeit hat, sich darüber Gedanken zu machen – zwischen Migrantenbekämpfung und Mauerbau an der mexikanischen Grenze. Doch liegt es auf der Hand, dass es dabei gerade um ihn geht: Jede Salve bei Awdijiwka ist an den neuen amerikanischen Präsidenten adressiert, selbst wenn er das gar nicht im Blick hat.
Für den Kreml gehörten die vorherigen Phasen dieses Kriegs zu einem großen, in vielen Teilen imaginierten, internationalen Spiel, in dem gleichermaßen nonchalant mal Sewastopol, mal Aleppo auf den Tisch geworfen wurden. Donezk kam irgendwo dazwischen – auch wenn das niemand laut gesagt hat.
Der Kreml hat die Beziehungen zur Ukraine nach 2014 nie als bilateral angesehen. Das Propagandabild eines Barack Obama, der Kiew unmittelbar steuert, hat auf die eine oder andere Weise sicherlich die Vorstellung Moskaus und ganz persönlich die von Putin über das Geschehen widergespiegelt. Alles Weitere hängt vom Rahmen ab, den der Kreml sich ausdenkt: Wenn es nun keinen Obama gibt, dann gibt es auch keine Regeln, nach denen man mit ihm spielen muss. Aber was nun die neuen Regeln sind, das wird man via Trial and Error herausfinden müssen.
Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata
Diese Logik kann man übrigens gleichermaßen auch auf die ukrainische Seite anwenden: Schließlich wurde über Trumps Loyalität gegenüber Russland in den vergangenen Monaten derart viel geredet, dass wohl keine Menschenseele sie im tiefsten Herzen anzweifeln konnte. Was muss passieren, damit die Stimme des amerikanischen Präsidenten in diesem Konflikt erklingt? Keiner weiß es, aber alle glauben, dass sie erklingen wird; also muss man ausprobieren. Und egal wie unterschiedlich die Ziele und Weltanschauungen Moskaus und Kiews sein mögen, Instrumente haben beide nur wenige, und das erste dieser Instrumente ist leider die Artillerie.
Das ist der einzig mögliche Schluss aus der Verschärfung um Awdijiwka: Ja, wir haben es mit einem diplomatischen Feldexperiment zu tun. Beide Seiten tasten in einer verfahrenen Situation mit Grad-Raketenfeuer neue Grenzen des Möglichen ab. Die Neutralität der russischen Machthaber gleicht einer Parodie, wenn die einzige offizielle Positionierung ein verhaltenes Mitgefühl für die Separatisten ist, bei denen sowieso allen klar ist, wie unabhängig diese von Moskau sind (nämlich gar nicht).
Aus diplomatischer Sicht ist das wahrscheinlich wirklich die bequemste Positionierung. Aber so bequem sie auch für internationale Deals ist, so unmoralisch ist sie in Bezug auf die sterbenden und ohne Obdach dastehenden Bewohner des Donbass auf beiden Seiten der Front.
Dasselbe gilt in Bezug auf die russischen Soldaten, deren Intervention (natürlich in der für diesen Krieg traditionell anonymen Form des Nordwinds) nun sowohl in Donezk als auch in Kiew erwartet wird. Menschenleben und Zerstörungen sind belanglos, es gibt nur gewichtige internationale Interessen und die vom Kreml geliebte Geopolitik, in der ein Anruf von Trump tatsächlich wesentlich mehr wert ist als hunderte Awdijiwkas und ihre Bewohner.
Die Chronologie dieses Krieges in Donezk ist verwirrend – es ist nicht einmal klar, ob man ihn als andauernd begreifen soll, oder ob man sagen kann, dass es vor einer Woche keinen Krieg gab, und er jetzt, da in Awdijiwka geschossen wird, von Neuem begonnen hat. Streng genommen hat es diesen Krieg im Leben der russischen Gesellschaft nie gegeben – es gab das Jahr 2014 mit Fernsehgeschichten über Banderowzy und Jubel ob des Russischen Frühlings, es gab anschließend ein Umschalten der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit auf andere Themen. Und nun gibt es das Awdijiwka von heute, das nur noch als belangloser Hintergrund zu den Weltnachrichten läuft.
In der Zeit, als die Ukrainer sich ihrer Selbstwahrnehmung nach auf dem Höhepunkt eines Vaterländischen Krieges befanden, scherzte in Russland die patriotische Öffentlichkeit, dass die russische Armee auf dem Schlachtfeld sogar dann gewinne, wenn sie gar nicht anwesend ist. Zwei Jahre später kommt dieser patriotische Witz wie ein Bumerang zurück: Die Abwesenheit der russischen Gesellschaft in diesem Krieg schützt sie in keiner Weise vor großen Traumata, die sich auch noch Jahrzehnte später durch völlig unerwartete Probleme bemerkbar machen können.
In Russland verhält sich mittlerweile eine breite Masse gegenüber lebendigen Menschen so, als seien diese Statisten in TV-Geschichten. Es gibt eine allgemeine Bereitschaft, über den Krieg nur noch in der Sprache einer frei erfundenen Geopolitik zu sprechen, eine Gleichgültigkeit gegenüber Todesopfern und ein Desinteresse daran, ob die russische Armee sich an Konflikten beteiligt, und wenn ja, auf welcher Grundlage. All das hat die russische Gesellschaft auf jeden Fall verändert.
Bisher ist nicht klar, wer stärker traumatisiert ist – der, der bei der Beerdigung geweint hat, oder der, der den Tag der Beerdigung verbracht hat, ohne auch nur entfernt daran gedacht und sich nicht im geringsten dafür interessiert zu haben. Statt des Russischen Frühlings ist jetzt Russischer Winter. Aber wenn sein Schnee schmilzt, werden Schmutz und Blut, die unbemerkt unter ihm liegen, noch ihre Rolle spielen.
Spätestens seit Donald Trumps Einzug ins Weiße Haus im Januar 2017 schaut die Welt gespannt auf die wechselhaften Beziehungen zwischen Russland und den USA.
Aktuell sind die politischen Beziehungen anhaltend auf einem Tiefpunkt. Das war nicht immer so, im Gegenteil. Anfang der 1990er Jahre wünschte sich die große Mehrheit noch die USA als Kooperationspartner.
Wie kam dieser radikale Umschwung zustande? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit politischen Ereignissen im Verlauf der Zeit?
„Wie stehen Sie zu den USA?“ Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungs- und Ablehnungswerten, wie sie das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewadain regelmäßigen Abständen ermittelt. Wir haben diese Grafik mit einigen Ereignissen versehen, die das Auf und Ab der Linie erklären können. Um ein genaueres Bild zu bekommen, können Sie in bestimmte Zeiträume hineinzoomen.
Es fallen insgesamt vier steile Ausschläge auf, immer zum Zeitpunkt eines Krieges: im Kosovo, Irak, Georgien und in der Ukraine. Auch dazwischen gab es viel Bewegung, doch wenn man das gesamte Bild betrachtet, dann fällt auf, dass bis zur Angliederung der Halbinsel Krim auf jeden Anstieg ein nahezu symmetrischer Wiederabfall folgte.
Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.
Große Linien
Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg standen die Zeichen im Russland der frühen 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wurde – dann vor allem von den USA. Wenn nach einem Land gefragt wurde, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte – auch dann wurden die Vereinigten Staaten genannt. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sahen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 Bis heute hat sich dieses Bild allerdings umgekehrt, und zwar nahezu parallel zum Wandel der bilateralen Beziehung zwischen Russland und den USA.
Der erste Stimmungswandel kam in den Jahren 1998 und 1999. Damals fielen viele Ereignisse zusammen: die Nato-Intervention im Kosovokrieg, die Russland kritisierte, der Zweite Tschetschenienkrieg, der massive Kritik des Westens am russischen Vorgehen nach sich zog, die erste Nato-Osterweiterung vom 12. März 1999, die wiederum für Zerwürfnisse sorgte.
Der demonstrative Schulterschluss nach dem 11. September 2001 verpuffte schnell – Anfang 2002 kündigten die USA an, einseitig vom ABM-Vertrag zurückzutreten, der seit 1972 die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen regelte. Hintergrund waren Pläne der Bush-Regierung ein nationales Raketenabwehrsystem zu installieren, was in Russland auf Skepsis traf.
Zum ersten sichtbaren Bruch zwischen den USA und Russland kam es schließlich in den Jahren 2003 und 2004. Der Irakkrieg, die bunten Revolutionen in Georgien und der Ukraine sowie die zweite Nato-Osterweiterung führten zu einer massiven Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Seit Mitte der 2000er Jahre werden die USA in Meinungsumfragen zu einem der größten Feinde Russlands gezählt. Die Rede, die Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 hielt, wurde vor diesem Hintergrund als eine „Brandrede“ aufgefasst, für viele Beobachter markierte sie eine Wende in der russischen Außenpolitik.
Einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen markierte der Georgienkrieg 2008. Der Amtsantritt Barack Obamas, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirkten zwar eine neuerliche Annäherung, doch das war nur ein kurzes Intermezzo. Die Angliederung der ukrainischen Halbinsel Krim, der Krieg in der Ostukraine, die daraufhin als Antwort verhängten Sanktionen und der Krieg in Syrien entzweiten Russland und die USA nachhaltig.
Parallele Linien – was die Grafik nicht sagt
Doch wie hängen all diese Ereignisse mit dem öffentlichen Meinungsbild in Russland zusammen? Warum sind die ermittelten Zustimmungs- und Ablehnungswerte nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml?
Zum einen kann der Zusammenhang damit erklärt werden, dass die Befragten sich bei solchen Umfragen unter Anpassungsdruck wähnen und deshalb nicht ihre eigentliche Meinung äußern, sondern die sozial erwartbare. Soziale Erwünschtheit nennt man diesen Effekt. Zum anderen sind Amerikakritik und Antiamerikanismus global anzutreffende Haltungen, die sich bei solchen Ereignissen wie dem Irakkrieg in vielen Ländern verstärken, nicht nur in Russland.2
Außerdem spiegeln sich in Umfragen auch vielschichtige individualpsychologische Phänomene, wie zum Beispiel eine Neigung zu Stereotypen oder Verschwörungstheorien.
Jenseits solcher Erklärungen stellen viele unabhängige Beobachter – sowohl in Russland als auch im Westen – einen weiteren möglichen Zusammenhang fest: Seit über zehn Jahren werden mit jeder Verschlechterung der bilateralen Beziehungen auch mittels Propaganda die gewünschten Stimmungen in der Gesellschaft erzeugt.3 Staatliche und kremlnahe Medien konstruieren demnach Feindbilder und tragen so zum Selbstbild Russlands als „belagerter Festung“ bei. Dies lenke erstens von innenpolitischen Problemen ab und stelle zweitens „Gefahren“ her, die eine einende Kraft entfalten und das Volk hinter dem Präsidenten versammeln.
Mit dem Amtsantritt Donald Trumps schien sich die Situation zunächst zu ändern. Der neue amerikanische Präsident gab sich bisweilen betont Putin-freundlich. Und in den unabhängigen russischen Medien häufte sich schon die Frage, wie das russische Herrschaftssystem ohne ein Feindbild auskommen könne.
Die großen Erwartungen an eine Annäherung zerschlugen sich aber bereits während Trumps ersten Monaten im Amt. Anfang August 2017 setzte er seine Unterschrift unter die neuen Sanktionen gegen Russland, die sich unter anderem für die Angliederung der Krim und die mutmaßliche Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen richten.
Vor allem Russlands Rohstoffgeschäft, das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht, kann durch diese Sanktionen betroffen werden. Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow kommentierte die erste Reaktion der politischen Elite Russlands als Panik.4
Panik kam auch auf, nachdem die USA im April 2018 neue Sanktionen beschlossen: Wegen mutmaßlicher Einmischung in den US-Präsidentschaftswahlkampf fielen 24 russische Oligarchen und mehr als ein Dutzend Unternehmen unter die neuen Sanktionen. Die Finanzmärkte in Moskau taumelten, der Rubel verlor rund zehn Prozent gegenüber dem Euro, manche Analysten sprachen vom Schwarzen Montag an der Moskauer Börse.
Einige Tage zuvor hatten die USA außerdem beschlossen, 60 russische Diplomaten auszuweisen. Damit demonstrierten sie einen Schulterschluss mit anderen westlichen Ländern, die wegen des Falls Skripal ebenfalls russische Diplomaten des Landes verwiesen.
Den vorläufigen Tiefpunkt in der Eskalationsspirale bildete der von den USA im April 2018 initiierte Luftangriff auf syrische Lager und Forschungseinrichtungen für Chemiewaffen. Die Angriffe waren eine Reaktion auf den mutmaßlichen Giftgaseinsatz durch das syrische Regime. Einige russische Politiker drohten im Vorfeld des Luftangriffs mit einem Gegenschlag, sodass manche Beobachter schon die zweite Kuba-Krise heraufziehen sahen. Da Russland nicht mit militärischen Mitteln auf den Angriff reagierte, trat das Szenario nicht ein. Trotz Aufatmens bedeutete der Angriff aber dennoch eine neue Verschärfung des Konflikts zwischen Russland und den USA.
Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.
Text: Anton Himmelspach aktualisiert am 19.04.2018
„Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“, so lautet ein bekanntes russisches Sprichwort. Verkürzt könnte man es so erklären: Passiert etwas Gutes, dann dank dem guten Zaren, passiert etwas Schlechtes, so sind die bösen Bojaren schuld. Gleiches scheint auch im Russland unter Putin zu gelten. Dies legen unter anderem auch Umfragen nahe, die das unabhängige Lewada-Zentrum regelmäßig erhebt.
Lew Gudkow, Direktor des Zentrums, erklärte dazu unlängst im Interview mit Radio Svoboda, dass für innere oder wirtschaftliche Probleme des Landes eher Minister und Gouverneure verantwortlich gemacht würden. Putin dagegen sei als „symbolische Führerfigur“ etabliert, die für das weltweite Ansehen Russlands als Großmacht Sorge trage. Gudkow schreibt der Medien-Propaganda dabei eine wesentliche Rolle zu.
Im Politsovetinteressiert sich Alexej Schaburow allerdings weniger für die Medienfigur, sondern vor allem für das Phänomen des „imaginären Putin“ in den Köpfen vieler Russen.
Die Medienfigur „Präsident Wladimir Putin“ hat kaum etwas mit dem wirklichen Menschen Wladimir Putin zu tun. Das ist längst kein Geheimnis mehr, beschreibt die Sache aber nicht erschöpfend. Putin ist schon so lange an der Macht, dass in den Köpfen der Russen ein „imaginärer Putin“ entstanden ist – eine höhere Instanz, die immer recht hat. Dieser „imaginäre Putin“ kann alles Mögliche sein. Vor allem ist er wohl fast unsterblich.
Neulich fiel mir zufällig die Zeitung Nazionalny kurs sa suverenitet!in die Hände. Sie wird von der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) herausgegeben – einer Organisation, deren Vorsitzender der Duma-Abgeordnete Jewgeni Fjodorow ist. Sie vertritt die Theorie, dass Russland von Amerika okkupiert sei, und sie ruft dazu auf, eine neue, „souveräne“ Verfassung zu verabschieden und dem Präsidenten Sondervollmachten zu geben.
Der Phantasie-Putin vertritt immer die Ideologie desjenigen, der ihn sich zurechtphantasiert
Diese Zeitung zu lesen, ist völlig sinnlos. Aber mir fiel das Putin-Bild auf der Titelseite auf. Daran ist zunächst nichts verwunderlich: Die NOD ist seit jeher für Putin; er ist ihrer Theorie zufolge der einzige Kämpfer gegen die Okkupation durch die Vereinigten Staaten. Unter dem Porträt des Präsidenten steht ein Zitat von ihm, das ich hier vollständig wiedergebe: „Der Westen soll ruhig weiter Kapriolen schlagen und Szenen machen. Russland schert sich nicht mehr darum. Wir haben unsere Wahl getroffen und werden sie jetzt konsequent umsetzen. Es gibt noch jede Menge zu tun. Rückwärts nimmer, vorwärts immer. Das bedeutet, dass wir uns von unseren nationalen und staatlichen Interessen leiten lassen. Und wenn wir dafür in den Kampf ziehen müssen, dann werden wir das tun. W. W. Putin, Präsident der Russischen Föderation“.
Das Zitat als solches passt gut zum patriotischen Geist der Post-Krim-Ära. Und doch irritiert da etwas: Die Ausdrücke „in den Kampf ziehen“ und „Kapriolen schlagen“ sind nicht ganz Putins Sprachstil, den wir in 17 Jahren so gut kennengelernt haben. Bleibt nur noch, das Zitat in die Suchmaschine einzugeben, um festzustellen, dass Putin diese Worte nie gesagt hat.
Auf der Website des Kreml sind sie nicht zu finden. Die Aussage ist auf zahlreichen patriotischen Seiten anzutreffen, allerdings meist in Texten ohne Autorenangabe. Die weitere Suche fördert die vermutliche Primärquelle zutage: Die Kolumne eines gewissen Juri Barantschik auf der Website Regnum, in der Putins Rede auf der Waldai-Konferenz von 2014 kommentiert wird. Die NOD hat also in ihrer Zeitung einen Kommentar zu Putins Rede veröffentlicht und ihn Putin selbst zugeschrieben.
Der imaginäre Putin war auch aktiv an den jüngsten Wahlen beteiligt
Man kann sich hier natürlich ausgiebig über die russische Propaganda mokieren, die sich so sehr in die Fake-Produktion verstrickt hat, dass sie jetzt schon gefälschte Putin-Reden veröffentlicht. In gewisser Hinsicht ist das ein propagandistischer Rekord, der schwer zu übertreffen ist.
Bei gründlicherem Nachdenken wird jedoch klar, dass wir es hier mit einem spezifischen politisch-psychologischen Phänomen zu tun haben – mit einem imaginären Putin. Ob die Herausgeber der NOD-Zeitung das Fake-Zitat absichtlich verwenden oder angesichts der immer gleichen patriotischen Texte einfach den Überblick verloren haben, tut nichts zur Sache. Entscheidend ist: Putin hat diese Sätze in ihrer Vorstellung nicht nur sagen können, er musste sie sagen. Putin sagt in ihrer Vorstellung immer das, was sie wollen und hat deswegen immer recht, genau wie sie.
Der imaginäre Putin existiert nicht nur in den Köpfen irgendwelcher Randfiguren, wie es die NOD-Leute sind. Er war auch aktiv an den jüngsten Wahlen zur Staatsduma beteiligt. Man braucht nur an die Kampagne der Partei Gerechtes Russland zu erinnern. Sie verwendete den Slogan Sagen wir Putin die Wahrheit und behauptete, dass die „schlechte“ Regierung der Russischen Föderation dem „guten“ Präsidenten zuwider handele. Die Parteiideologen selbst glaubten das natürlich nicht. Aber der imaginäre Putin war für sie äußerst nützlich. Dieser Putin war unzufrieden mit der Regierung – und natürlich kannte er nicht die ganze Wahrheit, weil die Beamten sie stets vor ihm verbergen. Und selbstverständlich war er für das Gerechte Russland. Der imaginäre Putin ist immer für all jene, in deren Kopf er existiert.
Putin ist schon seit langem bestrebt, die Wahrheit in letzter Instanz zu sein
Dazu muss man sagen, dass der wirkliche Präsident Wladimir Putin selbst sehr viel Mühe darauf verwandt hat, seinen imaginären Zwilling hervorzubringen. Er ist schon seit langem bestrebt, die Wahrheit in letzter Instanz zu sein, der letztgültige Schiedsrichter in allen Streitigkeiten und Konflikten. Putin (der wirkliche Putin) tritt an die Stelle des Gerichts. Dafür genügt es, sich zu erinnern, wie schnell die Justizbehörden kürzlich die Revision des Lipezker Gerichtsurteils beschlossen haben, nachdem der Präsident es öffentlich kritisiert hatte.
Unter diesen Bedingungen, da Putin zum höchsten Träger der Wahrheit geworden ist, liegt die Verlockung sehr nahe, ihn bei jedweder ideologischen Auseinandersetzung als Hauptargument anzuführen. Und an diesem Punkt schaltet sich die Phantasie ein. Sie konstruiert das Bild eines Putin, der die gleiche Ideologie vertritt wie derjenige, der ihn sich zurechtphantasiert.
Natürlich hasst er den Westen und Amerika und ist bereit, für Russland in den Kampf zu ziehen
Natürlich hasst er den Westen und Amerika und ist bereit, für Russland in den Kampf zu ziehen. Umso besser, wenn sich ein Zitat findet, das genau das bestätigt. Falls nicht, tut es auch jedes andere – wir wissen ja, dass Putin genau so denkt (nämlich so wie wir).
Auch wenn der wirkliche Putin etwas anderes sagt, können wir immer behaupten, dass er wieder einmal ein paar Züge im Voraus denkt, weil wir ja wissen, was er tatsächlich meint (nämlich das Gleiche wie wir).
Der imaginäre Putin ist übrigens nicht immer ein Hurra-Patriot. Manchmal ist er sogar ein bisschen ein Liberaler. Gut zu beobachten war das bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Jelzin-Zentrum. Als finales Argument diente hier der Umstand, dass das Jelzin-Zentrum von Putin eröffnet wurde und dass sein Präsidialamtsleiter dem Kuratorium vorsteht. Was gibt es da noch zu streiten?
Je länger der wirkliche Putin an der Macht ist, desto imaginärer wird er in den Köpfen der russischen Bürger. Man könnte sogar einen fantastischen Roman schreiben, in dem der wirkliche Putin schon nicht mehr existiert, sein Abbild aber weiterhin Russland regiert. Oder wäre ein solcher Roman etwa gar nicht so fantastisch?
Der Krieg in Syrien war bestimmend für die außenpolitische Agenda Russlands. Die Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen wurden nicht müde, unentwegt große Erfolge zu verkünden. Währenddessen rutschte das Land im Innern immer weiter in die Rezession. Die Dumawahl brachte zugleich eine erdrückende Mehrheit für die Regierungspartei Einiges Russland. Was bleibt vom vergangenen Jahr für 2017?
Die Politologin Ekaterina Schulmann sagt in ihrer Analyse für das liberale Webmagazin republic: Vor allem die Sorgen der Menschen bleiben. Wie aber sollen sie diese kanalisieren? Und was bedeutet das für den Kreml? Muss er sich fürchten?
2016 brachte für die russische Gesellschaft vor allem einen Wandel der gesellschaftlichen Forderungen, der mit einer Verlagerung des Interesses auf innere sozioökonomische Probleme einherging. Allerdings lassen sich solche langwierigen Prozesse nicht an Kalenderdaten festmachen – dieser Wandel hat weder 2016 begonnen, noch wird er 2017 oder 2018 enden. Die Stimmungswende ist zweifellos auf die Krise und auf ein für uns neues Phänomen zurückzuführen: auf das Sinken der real verfügbaren Einkommen. Das ist in der Tat etwas Neues.
Für gewöhnlich sagen wir, bei uns herrscht große Armut, oder dass soundsoviele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Aber für die Stimmung sind nicht die absoluten Zahlen entscheidend, wer wieviel bekommt, sondern die Änderungen bestehender Tendenzen. Denn erstens vergleichen die Menschen sich mit ihrem Nachbarn, mit ihrer jeweiligen Referenzgruppe und zweitens vergleichen sie ihre eigene Situation von gestern mit der von heute. Der Eindruck einer positiven Dynamik, an die man sich bereits gewöhnt hatte, wurde vom Eindruck einer negativen Dynamik abgelöst, wobei diese bereits seit zwei Jahren anhält, ohne dass eine Veränderung dieses Trends in Sicht wäre.
Das hat zwei konträre Folgen: Entweder die Menschen empören sich über die existierende politische Ordnung und entwickeln ein Protestverhalten, oder niemand entwickelt ein Protestverhalten und die Menschen passen sich an, grob gesagt. Beides ist der Fall: Die Menschen passen sich tatsächlich an – und das ist eine vernünftige Taktik in so einer Situation. Aber die Forderungen der Gesellschaft verändern sich: Die Menschen interessieren sich mehr und mehr dafür, was sie selbst ganz unmittelbar betrifft.
Sogar in den Umfragen zeigt sich: Es wächst die Zahl derer, die auf die recht schwammige Frage: „Denken Sie, dass im Land alles richtig läuft?“ (Das Lewada-Zentrum stellt die Frage regelmäßig in genau dieser Formulierung), antwortet: Nein, es läuft falsch, es läuft nicht so, wie es laufen sollte.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Artikel von Sergei Guriew und Daniel Treisman aus dem vergangenen Jahr zu werfen, in dem sie erklären, wie moderne autoritäre und semi-autoritäre politische Führer ihre Legitimität aufrechterhalten. Darin stellen sie eine Theorie der ausreichenden Kompetenz auf. Was versteht man darunter?
Es gibt revolutionäre Anführer wie Hugo Chávez oder Fidel Castro, deren Legitimation auf einer Revolution oder auf Charisma beruht. Für die Aufrechterhaltung ihrer Legitimität müssen sie ständig demonstrative Siege über Feinde erringen, über reale oder fiktive, oder auch Erfolge, reale oder fiktive. Um ihre charismatische und revolutionäre Legitimität zu bekräftigen, müssen sie von Sieg zu Sieg schreiten.
Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert
Bei neueren Formen eines Semi-Autoritarismus braucht es nach Guriew und Treisman für die Aufrechterhaltung der Legitimität keine demonstrativen Siege für die Bevölkerung. Es gilt lediglich, den Eindruck einer ausreichenden Kompetenz zu erwecken und zu erhalten. Die Bevölkerung muss glauben können, dass die Regierung mit ihren Aufgaben eher zurechtkommt, als dass sie das nicht tut. Daher werden Probleme nie verborgen, im Gegenteil: Sie werden akzentuiert. Deswegen heißt es: „Ja, wir haben eine Krise. Ja, es gibt Sanktionen. Wir sind umringt von Feinden. Die außenwirtschaftliche Konjunktur ist schlecht. Aber schaut nur, wir sind nicht verhungert, wir sind nicht zusammengebrochen, in Einzelteile zerfallen, wir kommen irgendwie zurecht.“
Genau das ist besagte ausreichende Kompetenz. Solange sie in den Köpfen der Menschen vorhanden ist, besitzt die Regierung Legitimität, selbst bei schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen. Aus diesem Grund gebe es keine Proteste, nehmen Guriew und Treisman an. (Und zwar nicht nur wegen der repressiven Gesetzgebung und des staatlichen Zwangsapparats, obwohl auch die wichtig sind: Denn den Preis für Protest zu erhöhen, ist ein effektives Mittel, um die Protestaktivität zu senken.) Proteste gebe es auch deshalb nicht, weil die Menschen denken: „Die Staatsführung funktioniert ja offenbar irgendwie. Und kommt sogar halbwegs gut zurecht.“
Erst wenn ein spürbarer Teil der Bevölkerung der Meinung ist, die Staatslenker seien nicht die Lösung, sondern das Problem, beginne die Grundlage für diese Legitimität zu bröckeln – nicht allein aufgrund einer Verschlechterung der Lebensumstände. Wenn also das Gefühl überhand nimmt, dass sie nicht dabei helfen, die Krise zu bewältigen, sondern sie noch verschärfen.
Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und apathisch-depressive Stimmung haben sich besonders deutlich während der Parlamentswahlen gezeigt. Für die Politmanager war davon anscheinend nichts zu erahnen, waren sie doch vornehmlich damit beschäftigt, die Wahlbeteiligung der Unzufriedenen zu senken, aus Angst, sie könnte zu hoch ausfallen. Wie sich herausstellte, hatten sie sich nicht davor zu fürchten: In den Städten und den zentralrussischen Gebieten sind die Menschen einfach nicht zur Wahl erschienen. Tatsächlich aber sind diese Stimmungen, die sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen niederschlugen, weniger harmlos, als man glauben könnte: Sie sind es, die allmählich das Fundament der Legitimität unterminieren – ganz besonders vor dem Hintergrund, dass man unbedingt einen Post-Krim-Konsens und die absolute Einigkeit von Volk und Regierung demonstrieren will. Erschwert wird diese Demonstration zunehmend durch den Umstand, dass die Bürger die gewünschte Zustimmung nur noch bei Meinungsumfragen ausdrücken, indem sie die von ihnen erwarteten Antworten geben. Letztendlich wurde das Wahlergebnis von Regionen bestimmt, die die nötigen Zahlen mit Methoden erzielten, für die sie die Wähler gar nicht brauchten.
Das ist eine ziemlich gefährliche Situation, denn sie bringt Moskau, das föderale Zentrum, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Regionen und verändert die Zusammensetzung der Staatsduma, in der diese Regionen wesentlich mehr Mandate bekommen haben. Das wird 2018 der Knackpunkt sein, denn natürlich kann man unter diesen Umständen Präsidentschaftswahlen abhalten, aber es ist gefährlich. Ich vermute, sie werden sie trotzdem durchführen, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Und das wird ein Problem sein.
Das zweite wichtige Thema bei dem Stimmungsumschwung ist das wachsende Interesse an sozioökonomischen Fragen. Die außenpolitische Agenda hingegen interessiert offensichtlich die Menschen nicht einfach nur kaum, sie sind offenbar sogar darüber verärgert. Nicht, weil sie sich nicht über Größe und Macht Russlands freuen würden, das tun sie durchaus, sondern weil andere Probleme für sie prioritär und wesentlich sind – nicht bloß wichtig, sondern aktuell drängend. Und gleichzeitig beobachten sie, wie die finanziellen Mittel konträr zu ihren Prioritäten eingesetzt werden.
Das, was in letzter Zeit als Forderung nach Gerechtigkeit bezeichnet wird, umfasst auch eine gerechte Verteilung finanzieller Ressourcen. Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung über offensichtlich unangemessenes Handeln seitens der Staatsführung hervor: Wir sorgen uns um das eine, und die schert etwas ganz anderes.
Das erinnert stark an die Stimmungslage in den USA und Europa, die im vergangenen Jahr zu den, wie es hieß, unerwarteten Wahlergebnissen führte. Eliten und Bevölkerung reden aneinander vorbei. Es gibt keinen Punkt, an dem sie sich treffen und miteinander ins Gespräch kommen könnten, weil sie einander überhaupt nicht hören. Ist so etwas in Demokratien überhaupt möglich, so ist es umso charakteristischer für geschlossene politische Systeme, in denen sich der Regierungsapparat vorsätzlich von der Gesellschaft isoliert, sie als Bedrohung empfindet und keinerlei Kommunikation mit ihr anstrebt.
Das Tragische ist, dass diese Stimmungen in offenen Systemen, wo die Feedback-Kanäle funktionieren, in friedliche, legale politische Aktivität münden können. In Form von Wahlen. Dort kann man sich dann zwar über die Ergebnisse entrüsten, aber es ist und bleibt ein friedlicher, politischer Prozess, der nach der Machtübernahme durch eine neue Partei oder eine neue Führungsfigur zu einer Kurskorrektur führt. Es ist eine friedliche und nicht einmal besonders kostenträchtige Form des Wandels. In Russland ist es komplizierter. Doch auch hier versucht die Regierungsmaschine zu hören, was in den Köpfen der Menschen vorgeht.
Das geschieht auf unterschiedliche Art und Weise – durch geheime Umfragen, über den einen oder anderen Direkten Draht. Besonders bezeichnend war diesbezüglich die Aussage Peskows: „Der Direkte Draht zum Präsidenten ist die beste Meinungsumfrage.“ Darin offenbart sich zum einen der Wunsch nach zumindest irgendeiner Meinungsumfrage und zum anderen das Unwissen darüber, dass beim Direkten Draht nur ausgewählte Personen teilnehmen. Die Auswahl ist nicht repräsentativ und es ist keine Meinungsumfrage, sondern einfach nur eine Parade des Klagens. Aber sie hätten gern Meinungsumfragen, denen man glauben kann.
Wie stimmen sich in Russland Staatsführung und Gesellschaft miteinander ab? In Demokratien geschieht das nach den Wahlen: Die Menschen haben Wünsche, dementsprechend wählen sie etwas aus dem bestehenden Angebot. Diejenigen, die in der Folge Mandate erhalten, beginnen mit der Umsetzung der bestellten Politik.
Die Vorstellung, dass bei uns Krankenhäuser geschlossen werden, während wir wer weiß wo wer weiß wen bombardieren, ruft stille Verärgerung hervor
Bei uns ist es andersherum. Schon vor den Wahlen, deren Ergebnisse wie bestellt ausfallen müssen, versucht die Regierung, zu jenem neuen Kandidaten zu werden – und darauf zu reagieren, was die Menschen brauchen. Deswegen wird der politische Kurs vor den Wahlen korrigiert. Alle Fingerübungen der neuen Leitung in der Präsidialadministration, die gesamten Vorhaben der Staatsführung, die Ausarbeitung neuer Reformprogramme – all dies sind Versuche einer Kurskorrektur vor den Wahlen, die dann bitte die geforderten Ergebnisse bringen mögen. Das ist besser als nichts.
So wird die Agenda 2017 (auch wenn man es nicht so formulieren wird) im Wesentlichen ein Versuch sein, sich selbst zu korrigieren und dabei im Kern zu bleiben, wie man ist. Es wird ein Versuch sein, auf die gesellschaftlichen Forderungen zu reagieren und zu verhindern, dass irgendeine politische Konkurrenz reagiert.
Doch hier beginnen die Schwierigkeiten. Wenn wir beispielsweise darüber sprechen, dass es gut wäre, unsere außenpolitische Aktivität zu drosseln, weil wir kein Geld haben und die Menschen darüber verärgert sind, müssen wir bedenken, dass Wille allein nicht genügt, um die Aktivität einzuschränken – man sollte die persönliche politische Macht Einzelner nicht überschätzen. Es gibt Interessengruppen, die auf den entsprechenden Budgets sitzen und daran interessiert sind, eine Politik des Krieges fortzuführen. Das sind einflussreiche Mitglieder unserer herrschenden Elite – Rüstungsindustrie, Verteidigungsministerium, Mitglieder des Sicherheitsrates. Es wird wohl kaum genügen zu sagen: „Das war’s, Jungs. Sorry. Wir packen ein.“ Die müssten das irgendwie kompensieren. Sich einen Ausweg aus dieser Situation ausdenken – das wird das Jahr 2017 ausfüllen.
Ein weiteres wichtiges Thema der kommenden zwei Jahre wird das Bildungs- und Gesundheitswesen sein mit allem, was dazu gehört. Hier zeichnet sich eine sehr gefährliche, radikale Kluft zwischen der Agenda der Regierung und der Gesellschaft ab. Denn für die Menschen wird dieser Bereich immer wichtiger. Zum einen, weil die Bevölkerung älter wird. Zum anderen, weil sich in den letzten Jahren ein Kinderkult entwickelt hat und die Menschen ihre Elternrolle als eine soziale und zum Teil sogar politische Rolle begreifen. Gleichzeitig entledigt sich der Staat im Bildungs- und Gesundheitswesen massenhaft seiner Verpflichtungen. Eine unglücklichere Kombination ist kaum denkbar. Mit der Diskrepanz dieser zwei Agenden wird man etwas machen müssen, denn sie verärgert die Menschen sehr. Sie können nicht nachvollziehen, warum der Staat sich so verhält. Der Staat hingegen erklärt nichts, er macht noch nicht einmal irgendwelche Versprechungen.
Einerseits scheint es, als würde sich die Situation der 1990er Jahre auf einem anderen Level wiederholen. Andererseits verfügte der Staat in den 1990ern nicht über diese Bereiche, er hatte sie nicht unter Kontrolle. Damals sagte er: „Ich gebe euch kein Geld, verdient es euch, wie ihr wollt.“ Heute heißt es: „Ich gebe euch kein Geld, aber ich sperre euch ein.“ Die Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen unterstehen einer strengen Kontrolle durch Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft, die bei jeder Gelegenheit auftauchen. Gleichzeitig bekommen die Einrichtungen kein Geld. Das ist eine unmögliche Lage.
Für das System ist es sehr schwer, sich selbst zu reformieren, doch es wird gezwungen sein, dies zu tun, weil die Mittel knapper werden. Auf die Forderungen der Gesellschaft muss es wohl oder übel reagieren. Das System könnte autonom sein, wenn es eigene Einnahmequellen hätte wie noch in den Nullerjahren. Aber die hat es nicht mehr. Wenn man sein Geld von den Bürgern und nicht durch Erdölförderung bekommt, kommt man nicht umhin, sich mit den Bürgern gut arrangieren zu müssen. Das System hat das noch nicht so recht begriffen, um nicht zu sagen gar nicht. Es ist nicht gewohnt, in diesem Modus zu agieren und weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Die nächsten zwei Jahre wird es versuchen, das zu lernen.
Die Nachricht, dass Alexej Nawalny für das Präsidentenamt kandidieren will, war vor allem in den unabhängigen Medien des Landes ein großes Thema; staatsnahe Medien meiden ihn gewöhnlich als aktiven Politiker. Den Mann, der sich vor allem mit investigativen Recherchen zu Korruption unter den Mächtigen einen Namen gemacht hat. Vor drei Jahren hat er außerdem bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen als Polit-Newcomer gezeigt, dass er Stimmen mobilisieren kann, wenn man ihn machen lässt. Damals erhielt er 27 Prozent. Um sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten zu registrieren – die Wahl ist voraussichtlich im März 2018 – benötigt er jetzt 300.000 Unterstützerunterschriften aus mindestens 40 Regionen Russlands.
Er positioniert sich zu einem Zeitpunkt, den Beobachter als ganz bewusst gewählt sehen: Nawalny ist in den vergangenen Jahren in zwei umstrittenen Gerichtsverfahren zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Aktuell wird eines der beiden Strafverfahren gegen ihn – der Fall Kirowles – wieder aufgerollt. Vor drei Jahren war es genau dieser Prozess, der wie ein Damoklesschwert schon über der Kandidatur um das Bürgermeisteramt in Moskau schwebte.
Wie nun seine Ambitionen auf das Präsidentenamt bewertet werden, will die unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta wissen. Drei gefragte Kommentatoren des politischen Geschehens in Russland antworten.
Alexej Nawalny hat seine Absicht erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Obwohl die Wahlkampagnen der Kandidaten für gewöhnlich ein Jahr vor den Wahlen beginnen, haben Nawalnys Leute bereits ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Das hat schon die Webseite Nawalny 2018 eingerichtet sowie mit Spendensammlungen und der Suche nach freiwilligen Helfern begonnen.
So ist Nawalny in diesem Augenblick ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, er steht aber auch im Mittelpunkt eines neuen Strafverfahrens. Ziel der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Kirowles vor dem zuständigen Gericht in Kirow, so hatte Nawalny zuvor geäußert, sei es, seine mögliche Kandidatur zu verhindern.
Im November dieses Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow aufgehoben. Die Akten werden nun erneut geprüft. Glaubt man ihren Anwälten, wird dieser Prozess haargenau wie der letzte ablaufen, sprich: mit einem Schuldspruch enden. Das sind aber bislang nur Prognosen.
Der Kreml reagierte auf Nawalnys Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, ausgesprochen nüchtern. Auf die Frage eines Journalisten, welche Haltung man dazu habe, meinte Dimitri Peskow, Sprecher des Präsidenten, nur: „Gar keine.“
Was wird nun aus dem Prozess im Fall Kirowles?
Dimitri Oreschkin: Nawalny ist ein sehr vernünftiger Mensch. Deswegen hat er die Ankündigung genau abgewogen. Ich denke, dieser Zug wird seine Position nicht schwächen, sondern eher stärken. Wenn man einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten fertigmacht, reagieren sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Menschen im Land anders. Und zwar auch in Bezug auf sein Gerichtsverfahren. Denn nun wird das bedeuten, dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat vor Gericht gestellt wird.
Ekaterina Schulmann: Nawalnys Ankündigung stellt das Gericht und diejenigen, die auf das Gericht Einfluss nehmen könnten, vor die Wahl: Entweder sie lassen seine Teilnahme bei den Präsidentschaftswahlen zu oder verbieten sie. Genau das ist proaktives Handeln: Wenn du weniger Ressourcen als deine Gegner hast, aber auf eine Art vorgehst, dass sie auf deine Schritte reagieren müssen und nicht andersherum. Eine Verurteilung würde sofort die Agenda des bevorstehenden Wahlkampfes vorgeben. Und zwar in einer Richtung, die Nawalny in die Karten spielt, und eben nicht den Plänen, die man im neuen innenpolitischen Block der Präsidialverwaltung hat.
Gleb Pawlowski: Diese Ankündigung ist ein selbständiger politischer Schritt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass es gar nicht zu einer tatsächlichen Kandidatur kommt. Wichtig ist vielmehr, dass Nawalny sich damit die Führungsrolle in einer politischen Phase gesichert hat, die im kommenden Jahr beginnt und bis zur Präsidentschaftswahl andauern wird. Er ist führender Kopf in dieser Übergangsphase und Herr über die Agenda. Er hat seine Absicht verkündet, Präsident zu werden. Damit steht er als Erster da, denn Putin hat sich noch nicht erklärt und andere auch nicht. Nawalny gibt sozusagen das Tempo vor und bestimmt die Richtung. Und das bedeutet eine führende Position in der Politik.
Vor Gericht ist er jetzt eine wesentlich gewichtigere Figur als früher. Ich denke, das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es bei seinem Prozess zu einer zufälligen Entscheidung kommt. Nawalny steht jetzt zweifellos auf Putins persönlicher Liste. Ich nehme zwar an, dass er da auch schon vorher zu finden war, aber jetzt ist Putin de facto der einzige, der eine Entscheidung darüber treffen kann, wie man mit Nawalny umzugehen hat. Nawalnys Position wird dadurch gefestigt. Wir leben schließlich in Russland und mit Hilfe der Staatsmacht kann Nawalny durch tausenderlei Mittel aufgehalten werden, attackiert, überfallen, eingesperrt … Aber darum geht es nicht. Jeder Schlag gegen ihn würde alle Präsidentschaftskandidaturen treffen – das ist das Neue der politischen Situation.
Wie stehen denn überhaupt Nawalnys Chancen bei den Präsidentschaftswahlen?
Dimitri Oreschkin: Er ist aktiv und bestimmt gern selbst die Spielregeln. Er stellt die Präsidialverwaltung vor die Wahl, die nun entscheiden muss: ihn zuzulassen oder nicht (und wenn nicht, in welcher Phase) und ihn hinter Gitter zu bringen oder nicht. Voraussagen sind da zwecklos. Alles hängt, grob gesagt, davon ab, was für Gedanken in den Schädeln von ein paar Leuten kreisen. Vielleicht werden sie dasselbe versuchen wie bei den Wahlen 2013 in Moskau, als sie Nawalny bei der Kandidatur sogar geholfen haben. Er hatte einen guten Auftritt damals – trotzdem hat der gewonnen, der gewinnen sollte.
Auf föderaler Ebene wird Nawalny es viel schwieriger haben, und alle wissen das. Dort ist sein Bekanntheitsgrad sehr viel geringer: Er ist nicht im Fernsehen präsent und damit auch nicht in den Köpfen der Bevölkerung. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Internet gehen, interessieren sich nicht besonders für Politik oder Nawalny.
Ich denke – selbst wenn man ihn nicht allzu sehr behindert – wird es für ihn schwer, auch nur auf zehn Prozent zu kommen.
Andererseits ist er ein ausgesprochen begabter Politiker, wenn es um das Gespräch mit den Wählern geht. Er schafft Dinge, die kein anderer an seiner Stelle hinkriegen würde. Die Kreml-Strategen müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Aber es wird keine drastischen Entscheidungen geben, denke ich. Äußerlich wird sich das kaum abzeichnen, aber im Innern denken sie schon jetzt darüber nach, wie sie vorgehen sollten.
Nawalny braucht vier Arten von Ressourcen: Die erste, die administrative, wird in seiner Lage kaum eine Rolle spielen. Bei der zweiten, dem Geld, ist es ebenfalls schwierig, weil er sich nicht verdeckt finanzieren kann und ihm kaum jemand offen Gelder geben wird, aus Angst. Bei der dritten, dem Organisatorischen, sieht es auch eher schlecht aus, weil er in den Regionen bisher kaum über ein ernstzunehmendes Netzwerk verfügt. Und bei den letzten, den medialen Ressourcen, bezweifle ich, dass man ihn ins Fernsehen lassen wird. Es wird ihm also wohl oder übel nur das Internet bleiben.
In Moskau konnte er mehrere Kundgebungen pro Tag abhalten und die Administrative Ressource hat ihn nicht daran gehindert. In den Regionen aber wird man das zweifellos tun: hier verhindern, dass er es zu einem Treffen mit den Wählern schafft, dort den Strom abschalten, Sachen dieser Art. Außerdem kann er gar nicht alles schaffen – bei 85 Föderationssubjekten.
Er ist also in einer schwierigen Situation. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, wie der Kreml reagieren wird. Sie könnten dort denken: Soll sich der Kerl doch abstrampeln, damit er seine paar Prozent bekommt; anschließend sind alle Fragen erledigt.
Ekaterina Schulmann: Nawalny war bei den letzten Parlamentswahlen nicht dabei. Dadurch blieb er unberührt vom Schatten der Niederlage und des allgemeinen Versagens, der von Beginn an und bis zum Schluss über dem Wahlkampf [der außerparlamentarischen Opposition – dek.] lag. Aus polit-taktischer Sicht war das ein sehr kluger Schritt. Bekanntlich werden in der Präsidialverwaltung viele Varianten diskutiert, wie man die Menschen zum Wählen animieren und den Wahlen damit Legitimität verleihen kann. Eine dieser Varianten lautet: reale Konkurrenz mit starken Kandidaten, und nicht mit jenen, die schon seit zwanzig Jahren kandidieren. Ab jetzt gibt es nur noch zwei Szenarien – mit Nawalny oder ohne ihn.
Gleb Pawlowski: Aktuell ist Nawalny die stärkste politische Figur im Land. Wir müssen heute von einer neuen politischen Bühne sprechen, die bisher ein einziger betreten hat. Er hat einen Schlussstrich gezogen und verkündet: „Das vorige Zeitalter ist vorbei, wir beginnen ein neues. Das Zeitalter, in dem Putin abtritt.“ Nawalny hat dort seinen Platz eingenommen, andere werden ihm folgen müssen. Auf das Feld der realen Probleme des Landes, denn Putin wird so oder so tatsächlich abtreten. Und deswegen braucht es Klarheit darüber, was nach seinem Abgang passieren soll.
Nawalny hat gewissermaßen eine vorübergehende Gleichwertigkeit mit Putin erreicht. Als jemand, der ein Programm, eine Strategie für die Zukunft anbietet. Aber er wird sie nicht halten können, weil er sich verzetteln und wieder auf das Niveau eines Jawlinski herabrutschen wird, der ja auch einmal eine wichtige Figur gewesen ist.
Jede Ankündigung, Putin 2018 herausfordern zu wollen, ist oppositionell, selbst wenn es Medwedew wäre, der sie vorbringt. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass einer den Zug verpasst hat. Nawalny hat an den letzten Wahlen nicht teilgenommen, deswegen bleibt ihm das Los der anderen oppositionellen Kräfte erspart, den Misserfolg verantworten zu müssen. Das wird jetzt zu einer Ressource für ihn.
Könnte Nawalny zum alleinigen Kandidaten der Opposition werden?
Dimitri Oreschkin: Grigori Jawlinski hat hier ein Problem, nämlich dass Nawalny zwei bis drei Mal mehr Stimmen holt als er. Einfach, weil er neu ist und Jawlinski alt; ich meine natürlich nicht sein biologisches Alter, sondern dass er im Bewusstsein der Wähler mit den Neunzigern assoziiert wird. Ob er damals Gutes oder Schlechtes getan hat, ob er sich richtig oder falsch verhalten hat, das ist mittlerweile egal. Es ist einfach Schnee von gestern. Und selbst wenn Nawalny dasselbe sagt – obwohl er es härter oder vielleicht konkreter formuliert –, dann steht es für ihn drei zu eins gegen Jawlinski, wie man es auch dreht und wendet. Sowohl Jawlinski als auch Kassjanow sind schon zu lange da und das Verhältnis der Wähler zu ihnen sieht in etwa so aus: „Euch Jungs haben wir schon seit 25 Jahren vor der Nase.“ Nawalny ist neu. Wie er aber diese Karte ausspielen kann, ist eine andere Frage.
Ekaterina Schulmann: Wichtig ist die Unterstützung derjenigen, die über Ressourcen verfügen. Die Opposition ist derzeit nicht in der Lage dazu. Parnas ist von der Bildfläche verschwunden, die Ressourcen von Jabloko liegen in den regionalen Parteiorganisationen, und die konnten bei der letzten Wahl nicht beweisen, dass sie irgendwie Wähler mobilisieren könnten.
Gleb Pawlowski: Natürlich könnte die Opposition ihn unterstützen, nur wird das 2018 niemanden interessieren. Tut es ja auch jetzt schon nicht. Es wäre ein Kampf im Bereich von einem Prozent. Auf die wird es möglicherweise ankommen, wenn die Regierung Nawalny von den Wahlen ausschließt. Doch auch in dem Fall wird die Regierung ihm seine Führungsrolle nicht nehmen können, solange er selbst keine Fehler macht.
Fünf Jahre sind vergangen, seit zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße strömten, Unzufriedene, die vehement Wahlfälschung anprangerten. Massenproteste – einen ganzen Winter lang. Heute wirkt das wie aus einer anderen Welt. Viele Analysten sehen den Willen, sich politisch zu betätigen, in Russland inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. Einen etwas anderen Blick auf den Zustand des Landes hat Gleb Pawlowski.
Pawlowski galt einst als eine der grauen Eminenzen des Kreml und ist mit seiner früheren Nähe zur Macht eine gewichtige Stimme für die russische Medienlandschaft. Sowohl Jelzin als auch Putin half er als Polittechnologe jahrelang, hohe Zustimmungswerte zu bekommen, fiel später jedoch in Ungnade und wandelte sich zu einem zynisch-kritischen Kommentator seiner Zeit. Einer, der nie aufgehört hat, die Putinsche Politik als inszenierte Welt, als Theater zu sehen und in kühlen strategischen Kategorien zu denken.
Im Interview mit dem Webmagazin Colta.ru erklärt er nun, warum er ausgerechnet dem Jahr 2017 eine neue Politisierung der Gesellschaft prophezeit, was er darunter versteht und was das für ihn mit Putins jüngster Rede zur Lage der Nation zu tun hat.
Beginnen wir mit den jüngsten Ereignissen. Die Rede des Präsidenten vor der Föderalversammlung wird allgemein als „versöhnlich“ eingeschätzt. Worauf ist Ihrer Meinung nach diese demonstrative Neutralität seiner Ansprache zurückzuführen?
Die Programmrede enthielt nichts von dem, was man angstvoll erwartet hatte; sie wurde als versöhnlich und beruhigend empfunden. Es war aber auch keine Rede zur Lage der Nation. Wenn der Präsident die Situation nicht eskalieren lassen will, wendet er sich nicht an sein Land, sonst würde seine Rede extrem ausfallen. Putin möchte vorerst dem populistischen Expansionstrend, den er selbst vorgegeben hat, nicht mehr folgen. Also hören wir am Rednerpult eine „Botschaft seines Redenschreibers“.
Da erinnert er plötzlich an das Exportpotential der Landwirtschaft, obwohl dieses Thema schon zehn Jahre alt ist. Ich hatte früher schon, 2010 war das wohl, geraten, in der Propaganda auf Russland als neuen Agrarexporteur zu setzen, doch hatte der Kreml sich das damals nicht getraut. Oder er spricht ausführlich von der High-Tech-Branche. Das ist gut, wenn man nicht vergisst, dass die digitale Wirtschaft und Kommunikation schon seit fünf Jahren staatlicherseits bombardiert wird. Die hätte man einfach nur nicht stören dürfen. Jetzt braucht man wirklich viel Haushaltsmittel, um dem Verwundeten wieder auf die Beine zu helfen.
Putin sucht Themen, die niemandem wehtun, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss. Denn in der Politik gibt es keine wichtigen Themen, die konfliktfrei wären, und das ist auch ganz normal: Das Land politisiert sich. Aber dann fragt man sich: „Worüber schweigen wir heute eigentlich?“
Mussten die Eliten beruhigt werden, angesichts der „Korruptions-Show“?
Ja, die Rede sollte den Grad ihrer Politisierung reduzieren. Es politisieren sich ja gerade die Eliten – über repressive Injektionen und das Gezeter bezahlter Aktivisten. Wem aber gibt Putin die Anweisung, sich zu beruhigen? Jenen, die provozieren, oder jenen, die schon provoziert wurden? Auf jeden Fall hat der Präsident keine einzige direkte politische Direktive ausgegeben, die einen Kurswechsel verlangen würde. Über die Rede verteilt gab es eine Menge Andeutungen, ohne dazugehörigen Adressaten. Im derzeit bestehenden Block-System des Regimes sind alle steuernden Zwischenelemente zerstört worden; für alles ist Putin zuständig. Wie soll er sich da verhalten? Also versucht er, die Politik Russlands diskursiv zu korrigieren, wobei er lediglich das Repertoire der Termini und Timbres seiner Phrasen ändert. Das ist eine sehr schwache Einflussnahme. Dafür wird die Zuständigkeit der höchsten Instanz auch dort gewahrt, wo es an der Zeit wäre, andere entscheiden zu lassen.
Der hellen Aufregung nach zu urteilen ist der Fall Uljukajew das wichtigste Ereignis der politischen Saison. Wie interpretieren Sie die Verhaftung?
Wir erörtern endlos nicht-politische Ereignisse als politische Zeichen. Noch trauriger ist, dass wir ausgerechnet jene Bilder diskutieren, die man uns auf dem monopolisierten Markt des Verkäufers aufschwatzen möchte. Wir trauen uns nicht, sie nicht zu kaufen, wir schlucken oder kauen sie, jeder was er kann. Worum geht es denn im Fall Uljukajew? Schauen Sie: Der Fall wurde von Anfang an wie eine Premiere im Theater vorbereitet, was der Präsident auch völlig unzweideutig über seinen Pressesprecher erklärt hat. Die Vorbereitung lief ganz nach den Regeln des Theaters: Bühnenbild, Inszenierung und Reaktionen der Kritiker wurden im Vorfeld genau durchdacht. Wenn wir über solche Sachen reden, reden wir in Wirklichkeit von nichts Politischem. Das sind sklavische Diskussionen. Inhaltsleerer Tratsch über das Leben der Herrschaften.
Putin sucht Themen, die nicht ins Fleisch schneiden, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss
Wir hoffen wie immer, dass uns das etwas über den inneren Aufbau und Zustand des Kreml sagt.
Die erklären uns nur, was sie erklären wollen. Wenn Sie im Theater sitzen, erfahren Sie auch nichts über das Leben hinter den Kulissen. Die Dramaturgen des Kreml betreten nicht die Bühne. Es gibt hier auch kein gesellschaftliches Interesse, da es ja keine öffentliche Politik gibt. Die Sache ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, wie die Politsendungen im Fernsehen: Da hat man ein Fenster, in das man zwar reinschauen, in dem man aber nichts ändern kann.
Andererseits lässt sich die Technik diskutieren, mit der das bewerkstelligt wurde. Wie der Präsident und Oberste Befehlshaber des Landes über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg aus irgendeinem Grund die Abhörprotokolle der Telefongespräche seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen hat. Das allein vernichtet das Vertrauen in die Angelegenheit, ganz gleich, wieviel Schmiergelder Uljukajew genommen hat. Diese Falle, die nach allen Regeln des Theaters gebaut wurde, macht die ganze Geschichte rechtlich gesehen irrelevant. Wir diskutieren, was Uljukajew bei Rosneft gemacht hat, obwohl die Bedeutung dieses Konzerns bis ins Absurde hochgespielt wird. Rosneft heute, das ist einfach ein staatliches Super-YUKOS.
Auf welche Weise ändert die weltweite Wende zum Rechtspopulismus die Lage Putins auf der außenpolitischen Bühne? Schließlich hat er als einer der ersten diesen Trend aufgegriffen, als er nach den Ereignissen um die Krim begann, „im Namen des Volkes“ zu regieren.
Der Erste ist nicht unbedingt auch Herr der Entwicklung. Putin war gut, solange das liberale Establishment den Mainstream in der Welt bildete. Wenn Trump zum Mainstream wird, dann ist Putin überflüssig.
Es ist ja schön und gut, ein krasser Macher zu sein, wenn rundum nur Warmduscher zu finden sind. Aber was soll man tun, wenn auch alle anderen Machos sind – und du nicht mehr alle mit deinem Geld beeindrucken kannst. Das ist wie mit unserer Ukraine-Politik, wo nur raffgierige Gruppen geblieben sind, die alle dringend Geld haben wollen. Bezeichnend ist auch der Präsident der Philippinen, der sich mit Liebesgestöhn an uns schmiegt, wo doch klar ist, dass er einfach nur Kredite braucht.
Mit Trump öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, unsere Politik, die im Sumpf feststeckt, zügig wieder auf Kurs zu bringen. Populismus als Trend eröffnet die Gelegenheit, eine Sache schnell durch eine andere zu ersetzen. Aus der Ukraine-Geschichte sollten wir möglichst herauskommen, doch wird uns das nicht leicht gemacht. Es gibt nichts, womit wir ein Spiel zwischen den USA und der EU beginnen könnten, weil wir uns auch mit Europa zerstritten haben und Asien uns nur ausnutzt. Wenn wir mit Maria Sacharowa weiterhin das Universum verlachen und den Nationen ins Gesicht spucken, wird man wohl kaum mit uns verhandeln wollen. Das europäische Establishment wird nicht verschwinden – es wird von einer alten Kultur und einem System gut regulierter Volkswirtschaften getragen und sich weder Putin noch Trump beugen.
Der Präsident hat über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg die Abhörprotokolle seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen. Das vernichtet Vertrauen in den Fall Uljukajew
Also ist der Sieg von Trump gar nicht so sehr ein Triumph für Putin?
Im Kreml war man lange nicht mehr so glücklich wie nach dem Sieg von Trump. Diesen armen Würstchen kommt der Sieg wie der ihre vor, doch beweist das nur, wie inadäquat sie sind. Denn wer Trump auch immer sein mag, er bleibt der Anführer der stärksten Volkswirtschaft und der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt. Er wird uns nicht folgen, nicht hinter uns hergehen, sondern über uns hinweg. Leute wie Trump wenden sich schnell ab, sobald jemand nicht mehr von Nutzen ist.
Trump hat Russland als Symbol gebraucht, um die Präsidentenwahlen zu gewinnen. Er hat sein Spiel gegen das gesamte Establishment in D.C. gespielt. Da brauchte es ein Symbol, das ihn als Feind Washingtons kenntlich machen würde und dabei den Wählern gleichgültig wäre, sie nicht spalten würde. Russland ist dem amerikanischen Wähler völlig egal. Trump wusste aber sehr wohl dass er die Demokraten in Washington mit Russland reizen würde wie eine klappernde Konservendose am Schwanz einer Katze – so hat er hat die Demokraten aufgeregt, zur Freude seiner Wähler.
Wenn der Kreml aber unvorsichtig wird und anfängt, andauernd die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wird er wieder zu einer bequemen Zielscheibe der Weltöffentlichkeit. Dann würde Russland wieder die gleiche Rolle zuteil, die es im amerikanischen Wahlkampf hatte, nur eben für alle – inklusive der Populisten. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Es würde uns selbst von jenen wenigen Freunden und Verbündeten isolieren, die noch geblieben sind.
Wenden wir uns wieder der Innenpolitik zu. Selbst wenn die Verhaftung Uljukajews ein vereinzeltes, gut inszeniertes Schauspiel ist, so haben wir doch in letzter Zeit eine ganze Reihe von Strafverfahren gegen Gouverneure, hochgestellte Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und so weiter erlebt. Werden gerade die Spielregeln verschärft?
Beginnen wir damit, dass ein Vergleich mit der Zeit vor 2012 sinnlos ist. Die dritte Amtszeit Putins stellt eine Verletzung seiner eigenen, selbst auferlegten Regeln dar. Er hat jene Erwartungen enttäuscht, die er selbst formuliert hat. Das erfolgte ab Sommer 2012. Der Prozess gegen Pussy Riot begann, das Dima-Jakowlew-Gesetz wurde verabschiedet; so etwas wäre zuvor unmöglich gewesen. In der gleichen Zeit gab es auch den ersten Versuch, ein Antikorruptions-Theater aufzuführen, den Fall Serdjukow. Es wurde allerdings schnell klar, dass man nicht jeden X-beliebigen als Zielscheibe nehmen kann. Das Motiv der Gaunerei hätte die gesamte Führungsschicht mit hineingezogen; dazu war Putin aber noch nicht bereit.
Dann ging es weiter bergab. Eine grundlegende Veränderung gegenüber der Situation von 2012 bestand – insbesondere nach der Geschichte mit der abgeschossenen Boeing – in dem Aufkommen einer komplexen, nun schon auf ein weltweites Publikum ausgerichteten Medienmaschinerie. Plötzlich gab es das Ziel, mit den inneren Angelegenheiten auf eine internationale Bühne zu treten. Im Kreml begann man, weltweit um Publikum zu kämpfen. Sie spielten dafür auf sämtlichen verfügbaren Klaviaturen: Russia Today, Soziale Netzwerke, eine affilierte Klientel in westlichen Parteien von unterschiedlich starkem Gesindel. Das ist der Testlauf einer strategischen Maschine, die bereits nicht mehr „intern“ bleiben konnte. Die Wirtschaft wurde dem Aufbau eines globalen Mega-Einflusses geopfert.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft. Schnitt und Montage werden fortgeführt, mit dem Content wird es allerdings, soweit ich das absehen kann, Probleme geben.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft
Die politische Aufgabe besteht heute darin, eine Bevölkerungsgruppe zu erfassen und sie danach zur entscheidenden zu erklären. Bei uns redet man gern von „Mehrheit“, dabei haben doch die Wahlen im September gezeigt, dass die Krim-Mehrheit nicht einmal wirklich zu den Wahlen geht und umso weniger zu weiteren Schritten bereit ist. Die sind nicht willens, Krieg zu führen, ja nicht mal als Statisten wollen sie agieren. Die Mehrheit wird heute von Schauspielergruppen dargestellt, Bikern, Kosaken und Experten im Fernsehen. Das sind alles eindeutig Minderheiten. Es gibt überhaupt keine Mehrheit. Und je kleiner die Mehrheit, umso wichtiger sind diese Aktivisten, die vorgaukeln, dass es sie gebe.
Aktuelles politisches Moment ist, dass die Regierung versucht, den Grad der Aggression im Land zu reduzieren, weil es schwieriger geworden ist, es zu steuern. Und dann erscheint es dem Regime aber wichtiger, Uljukajew hinter Gitter zu bringen, als das Land mit Signalen zu beruhigen, dass man in Sicherheit sei. Dabei ist nicht einmal die Regierung in Sicherheit, und sie regiert auch nicht, sondern wartet einfach ab, wie das alles enden wird.
Und inzwischen wird das Land kollektiv von Rosneft, dem FSB und dem Sicherheitsrat regiert?
Nicht im Kollektiv. Jeder für sich, und nicht das ganze Land. Je nach Zuständigkeiten der Apparate hat jeder seinen Kontrollbereich. Insgesamt ist es ein kunterbuntes, fragmentiertes System. Sogar der Duma fällt etwas zu: Sie ist kein Parlament, kein Repräsentationsorgan, überhaupt keine Macht, und doch beschließt sie die Gesetze. Von denen einige mit der Konstruktion einer Maschinerie zu tun haben werden, die der Bevölkerung Geldstrafen abpressen soll, um dem Staatshaushalt die Erdöleinnahmen zu ersetzen.
Das besagte neue Wirtschaftsmodell.
Eher ein neues Fiskalmodell. Die Speisung dieses Modells funktioniert auf dieselbe Weise wie früher. Einen unfertigen Staat, in dem den Bürgern unternehmerisches Engagement und Sicherheit genommen und das Privateigentum in den Untergrund abgedrängt wurde, können Sie nicht auf Steuereinnahmen umstellen. Die Bürger können Ihnen keine Haushaltsgrundlage über Steuern verschaffen, das sind einfach Mittel um Haushaltslöcher zu stopfen. In reichen Regionen wie Moskau ist das Prinzip einfach: Sie haben eine gewisse Summe vor uns verheimlicht? Macht nichts – dann nehmen wir halt 200 Rubel [etwa 3 Euro – dek] fürs Parken. Das geht, solange es massenhaft verborgene Einkünfte gibt, die die Bürger nicht deklarieren.
Was kann das System tun, um den Druck zu verringern und die Steuerbarkeit zu erhöhen?
Der Druck im System steigt, es wird zunehmend schwächer. Man kann sich verschiedene Entwicklungsszenarien vorstellen. Eine erste Variante wäre, den Druck mit Mitteln des Systems selbst zu senken, und zwar über die formal verfassungskonformen halbautoritären Strukturen.
Zum Beispiel bei den Wahlen – könnte man nicht wenigstens auf Gemeindeebene die Ventile öffnen? Nein, nicht mal das, dem kommt die irrationale Angst vor Wahlen in die Quere. Eine Regierung, die aus einer Fügung bestimmter Umstände hervorgeht, behält diese für immer in Erinnerung und fürchtet sich vor deren Wiederholung. Die Sowjetmacht hat nie das bekämpft, woran sie zugrunde ging, sondern die ohnehin zahlenmäßig irrelevanten antisowjetischen Untergrundorganisationen – weil sie selbst aus dem Untergrund kam. Die heutige Regierung ist aus Wahlen hervorgegangen – zwar aus populistisch moderierten, aber öffentlichen. Also hat sie Angst vor Wahlen und agiert mit Verboten, Filtern und Sperren ohne Ende. Aber es gibt Wahlen – und Möglichkeiten, die Interessen bestimmter Gruppen in Szene zu setzen, gibt es ebenfalls.
Eine zweite Variante wäre, eine fieberhafte Wirtschaftsaktivität in Gang zu bringen. In irgendwelchen Branchen einen Aufschwung mittelgroßer Betriebe zu erzeugen, mit Steuerbefreiungen und bereitgestellten Kreditsystemen. Hier stellt sich dann sofort die Frage: Und wer kontrolliert das? Und wenn etwas schiefgeht?
Als Versicherung scheint unserer Staatsmacht der durchschaubare Mensch zu dienen. Wenn kein durchschaubarer Mensch im Plan vorkommt, dann hält man den Plan für gefährlich. Wobei der durchschaubare Mensch selbst absolut nichts durchschauen muss.
Das jüngste Beispiel dafür ist die Ernennung von Jewgeni Sinitschew vom FSB zum Gouverneur von Kaliningrad. Dieser Mann erklärte aufrichtig, er habe von Amtsführung keine Ahnung, das sei ihm zuwider. Er plagte sich lange damit, scharenweise rannten sie ihm die Tür mit irgendwelchen Handelsprojekten ein, mit Schmiergeldern, und er bekam es mit der Angst zu tun, hielt alles für Provokation. Man erbarmte sich, er wurde abgelöst.
Dasselbe bei Nawalny: Einmal zum durchschaubaren Menschen erklärt, und der Kreml hält an ihm fest. Sollte das System ihn verlieren, befürchtet es, überhaupt nicht mehr zu durchschauen was passiert. Wobei ich überzeugt bin, dass Nawalny keine geheimen Abmachungen mit dem Kreml hat.
Wir befinden uns in so einer Übergangszeit, wo eine Möglichkeit zu politischem Handeln entsteht. Wer als erstes auf diese öffentliche Fläche hinaustritt, riskiert zwar viel, kann dafür aber einen Platz darauf einnehmen. Der Kreml beeilt sich, der erste zu sein. Stellt sich die Frage: Wessen Interessen kann er vertreten? Nach 20 Jahren gibt es nach wie vor keine Antwort darauf. Über Fürst Wladimir den Heiligen kann man endlos philosophieren, aber wessen Interessen sind das bitte? Wenn das System auf diese Frage keine Antwort findet, wird es nach Putins Abgang einfach fortgeblasen. Bis zu einem gewissen Grad ist ihnen das klar.
Es braucht eine Koalition von Interessen, keine erschlagende Fernseh-Mehrheit. Das wird ein schwieriger und gefährlicher Übergang, und er hat schon begonnen.
Für die Beantwortung dieser Frage muss man verstehen, welche Interessen man im Spezialoperations-Modus überhaupt vertreten kann, wie im Fall von Rosneft.
Ja, die Technik der Spezialoperationen sind ein Störfaktor. Eine Spezialoperation darf von den anderen nicht durchschaut werden – sobald jemand dahinterkommt, ist es vorbei. Unverständliches kann keine breite Koalition um sich versammeln. Uljukajew wurde verhaftet, und die Beliebtheitswerte stiegen um drei Prozent, hurra. Und weiter? Wo wollt ihr euch diese drei Prozent hinstecken? Wächst dadurch das BIP um drei Prozent oder gehen drei Prozent als Freiwillige nach Syrien? Nein, das ist einfach eine Selbstbeweihräucherung der Staatsspitze. Ich sah, frohlockte und wies mit dem Zeigefinger durch den Bildschirm: „Pass bloß auf, Alter – ich hab 90 %!“ Dieses alte Schema des Mythos hat bis auf einen kurzfristigen Kitzel keine Wirkung mehr.
Das russische Regime ähnelt in gewisser Weise der Antike: Es ist eine Welt der Mythen. Wie konnten erwachsene Menschen, die Griechen, die mathematische Überlegungen anstellten, an Zeus glauben? Genauso wie wir jetzt an Putins Beliebtheitswerte glauben. Es gibt ein mythisches Band: Umfragen und Wahlen. Auf keines von beiden kann man verzichten.
Die Wahlen demonstrieren, dass es keine Alternative gibt, und zwischen den Wahlen gibt es Umfragen, das sind ja mythische Wahlen, und die zeigen, dass es auch keine Alternative geben wird. Vom Volk ist das völlig losgelöst, so ist die Struktur des Mythos. In die kann man reingezogen werden, aber irgendwann funktioniert sie nicht mehr.
Es würde reichen, Fragen zu stellen, die den Mythos durchkreuzen. Nur ein Geisteskranker kann behaupten, es gäbe keine Kandidaten auf die Präsidentschaft. Gibt es etwa keine Minister im Land, keine Gouverneure, keine Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene? Sogar Setschin, Belych oder Kirijenko könnten genauso gut wie Putin regieren. Selbst auf der kürzesten Liste ließen sich auf Anhieb fünfzig Kandidaten finden. Dass es keine Alternative zu Putin gibt, ist ein Märchen aus der entpolitisierten Welt.
Angeblich gibt es das Bedürfnis nach einer starken Hand, deren Rolle Putin übernommen hat.
Das ist kein Mythos mehr, sondern Propaganda. Was ist das für eine starke Hand, und was kratzt sie? Hat sie etwas importsubstituiert? Hat sie das gespaltene Volk der Ukraine irgendwohin geführt? Sehen Sie sich den unglückseligen Donbass an – da sehen Sie die Taten der starken Hand. Schluss mit den Luftschlössern. Putin ist tatsächlich kein untalentierter Leader, aber er hat ein Problem: Er hat sein Programm, den ihm möglichen Teil erfüllt, komplett. Er hat gemacht, was er konnte, und jetzt denkt er sich aus, was er noch tun könnte. Und wenn er noch 20 Jahre an der Macht bleibt, denkt er sich weiter irgendwas aus, solange es noch materielle Ressourcen gibt.
Worin bestand denn das Programm, mit dessen Umsetzung er die ganze Zeit beschäftigt war?
Ein Minimum an fiskaler und polizeilicher Ordnung im Land. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat, freilich auf sehr niedrigem Niveau. Der Kaukasus. Seine Macht fußt auf einer Entpolitisierung bei gleichzeitigem „bonapartistischen“ Manövrieren zwischen Eliten und Volk. Die Entpolitisierung war die Basis von allem, ein Konsens zwischen der Bevölkerung und allen Kräften, die im Jahr 2000 zur Mannschaft gehörten.
Entpolitisierung des Landes bedeutete die Entfernung von Konflikten aus der Öffentlichkeit. Sie haben einen Konflikt mit jemandem? Kommen Sie bitte in unseren Empfangsraum, zur Besprechung. Putin war Moderator unzähliger solcher Geschäfte, bis er genug davon hatte. Dieser Ansatz war für etliche Dinge bequem, stieß aber gegen eine Wand zunehmender Komplexität. Das Land war zu komplex geworden und die Konflikte zu kompliziert. Sollen wir denn bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt sein, zu entscheiden, welche Interessen die richtigen sind und welche nicht? Die Antwort ist durch die Abschaffung unabhängiger Parteien und politischer Kräfte von der öffentlichen Bühne bereits gegeben. Dann zog sich alles in die Länge. Zerstört hat diesen Konsens Putin selbst – durch die Rochade und dann durch die Krim, indem er im Land eine Atmosphäre des Kampfes für eine mobilisierte Mehrheit und der Suche nach virtuellen Feinden schuf.
Dieses Jahr wird, glaube ich, die Frage nach den Aufgaben des politischen Moments aufwerfen. Das bisherige Spiel Staat jenseits der Politik haben wir eindeutig hinter uns gelassen. Insofern befinden wir uns wieder in einer politischen Zeit. Es läuft ein Prozess des Auftauens, der Politisierung einer Welt nicht anerkannter Interessen. Dazu gehören neue Subjekte, die wir einfach nicht kennen. Als politisches Subjekt kennen wir nicht mal Setschin: Bisher ist er ein latenter Player, ein Gesicht, das auf einen Sack Dollar gemalt ist. Aber sie alle werden unweigerlich an die Oberfläche gelangen.
Und die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wo ist das Programm der nächsten Präsidentschaft? Damit sollten wir uns das ganze nächste Jahr auseinandersetzen, nicht mit Putin. Es sind keine Debatten in Sicht, obwohl sie nicht verboten sind. Die Frage geht also an die Gesellschaft. Die Politiker können sich nicht durchringen, auf die Bühne einer Übergangszeit zu treten. Die denken: Wenn Putin geht – dann beginnt die Übergangszeit. Aber das ist eindeutig ein Fehler. Der Zug ist schon losgefahren, wir müssen herausbekommen, wohin die Reise geht.
Ich hatte erwartet, dass wir das früher herausbekommen würden, rund um die Wahlen im September. Hätten wir auch, wenn in der Duma ein oder zwei neue Fraktionen entstanden wären, aber das war nicht der Fall. Also schlägt der Prozess einen anderen Weg ein. Wer tatsächlich als erster die Bühne des Übergangs betreten und sich, ohne vernichtet zu werden, ihrer bemächtigen wird – ich weiß es nicht. Aber wir treten in eine Periode ein, in der wir nicht nur nicht umhinkommen, politisch rechts und links zu definieren, was bisher kaum etwas bedeutet, sondern auch die Sprache zu verfeinern, auf der wir sprechen.
Das politische Feld wurde all die Jahre niedergebrannt, und jetzt …
Jetzt rollt eine Menge mit Verbrennungen davongekommener politischer Krüppel heran, die wir inzwischen geworden sind. So, wie die Debatten geführt werden, ist es nicht möglich, eine Seite zu finden, der man sich anvertrauen kann.
Es gibt Bürgergemeinschaften – die konnten nicht völlig zerstört werden, weil sie nicht allzu eifrig in die Politik drängten, mal abgesehen von Menschenrechtsorganisationen. Aber ob die Zivilgesellschaft als Repräsentant der Nation auftreten kann, weiß ich nicht. Auf dem vergangenen Allrussischen Bürgerforum wurde erstmals anerkannt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine Liste von NGOs ist und kein Ghetto für eine Handvoll Wohltäter und Umweltschützer. Jetzt ist klar, dass die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit der politischen Nation ist. Sie besteht aus lauter Gemeinschaften. Russland besteht aus lauter Minderheiten, die sich zu Interessensbündnissen zusammenschließen werden. Daher wird es Konflikte unterschiedlicher Intensität geben, nicht nur mit der Regierung.
Wird die Post-Putin Ära noch unter dem jetzigen Präsidenten beginnen?
Ja, sie läuft schon. Deswegen ist es ja so schwierig, derzeit politisch und historisch den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Die Post-Putin-Ära zeichnet sich durch einen Zuwachs an Unbestimmtheit aus. Sogar Putin versucht, in ihr seinen Platz zu finden.
Mit Donald Trump als designiertem neuen US-Präsidenten betritt im Januar ein Mann die internationale Bühne, der schon vor der ersten Amtshandlung das Credo „Make America Great Again“ ausgab. Wie er die USA in den alltäglichen Regierungsgeschäften führen wird, ist bisher allerdings unklar. Ebenso, welche Rolle das Land innerhalb der Nato und im Verhältnis zu Europa einnehmen wird – und damit in Syrien-Krieg und Ukraine-Konflikt.
Von Russland aus betrachtet sehe diese neue Situation schon klarer aus, glaubt Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau. Zumindest ein bisschen. Denn neuerdings befinde sich Russland gewissermaßen unter Gleichgesinnten, schreibt er in dem oppositionellen Wochenblatt The New Times. Aber was hieße das für ein Land, das sich bisher eher als geächteter Außenseiter positionierte? Und was wird dann aus alten Feindbildern? Skizze eines komplizierten Ausblicks.
Brexit, Sieg von Donald Trump, Erfolg des Putin-Freunds Francois Fillon bei den Vorwahlen (und höchstwahrscheinlich auch bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017) – nach all diesen Ereignissen fühlen sich Putin und seine Eliten beinahe wie Trendsetter der neuesten Innen- und Außenpolitik: „Wir haben’s euch ja gesagt! Und ihr wolltet nicht auf uns hören! Also, bitte sehr, da habt ihrs!“
Festung plötzlich ohne Feinde
Einerseits hat sich das äußere Umfeld für Russland tatsächlich verändert. Andererseits lassen all diese Veränderungen völlig unerwartet eine grundlegende, ungeschriebene Doktrin erodieren. Eine, auf der die Post-Krim-Konsolidierung der Putinschen Eliten beruht: die Doktrin der belagerten Festung. Der Westen übt Druck auf Russland aus, führt einen Informationskrieg, die NATO nähert sich Russlands Grenzen, und wir verteidigen uns, sichern die belagerte Festung, erweitern ihre Grenzen, führen gerechte Kriege, ergreifen innerhalb der Festung Nationalverräter und rücken um den Kommandanten dieser Festung eng zusammen, sprich um den Anführer der Nation.
Ein solches Modell, das noch zusätzlich mit geistigen Klammern und Mythen wie den 28 Panfilow-Helden umrankt ist, hat nicht nur für die Konsolidierung der Eliten, sondern auch für die Bereitschaft von 70 Prozent der Bevölkerung gesorgt, eine selbstzerfleischende Politik von Gegensanktionen zu unterstützen (laut Angaben des Lewada-Zentrums eine der stabilsten Zahlen in soziologischen Erhebungen).
Doch wenn wir unterdessen selbst die Trends in der Weltpolitik setzen – vor wem soll man sich dann noch schützen? Die belagerte Festung wird von Moos bewachsen und der Festungsgraben wird zum Sumpf mit Seerosen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte sich Putin, in einer Reihe mit George Bush junior und Tony Blair zu stehen und nach ihren Regeln zu spielen. Aber weltpolitischer Anführer nach westlicher Art zu werden, klappte nicht. Mittlerweile ist er weltpolitischer Anführer auf seine Art. Und diese Art hat der Westen gekauft. Dort, im Westen, verkauft Putin erfolgreich Ängste – und im Inland Drohungen. Jetzt ist ausgerechnet er der Hügelkönig.
Das für alle hässliche (aber für uns hübsche) Entlein Donald (Trump) passt perfekt zu den Bestrebungen von Russlands oberstem Politiker: #DonaldTrumpNasch, #FillonNasch, alle rechten (na, und die linken) Populisten gehören uns. Putin ist weltpolitischer Anführer. Was will man mehr? Mit wem soll man noch kämpfen?
Trump kann Erwartungen auch verfehlen
Nun ja, erstens hat sich die Post-Krim-Mehrheit nicht nur durch äußere Kriege konsolidiert. Innere Kriege mit der Fünften Kolonne, mit der Opposition, mit korrupten Liberalen (und Generälen ebenso – der Silowiki-Teil des Systems reinigt sich selbst) können genauso effektiv das eigene Ansehen heben. Zumindest bis zur Wahl 2018.
Zweitens ist noch nicht völlig ersichtlich, ob sich die breit verkündete Trumpisierung der demokratischen Welt als stabiler Trend erweist, der das Putinsche Russland vom Geächteten zum Trendsetter macht.
Sollte Trump dann mit einem Mal doch nicht die Erwartungen der russischen Führung erfüllen und Europa in seiner politischen Ausrichtung und in der Frage der Sanktionen solidarisch bleiben, sollte die Haltung der NATO für die westliche Welt weiterhin Konsens bleiben, dann wird die Frustration im Putinschen Russland äußerst heftig ausfallen. Es gibt nichts Schlimmeres als zu hohe Erwartungen. Trumps Amerika gegen Putins Russland – das wäre eine abenteuerliche Unternehmung mit offenem Ergebnis.
Wenn wir nun über wirklich langfristige Trends sprechen, darf man außerdem nicht vergessen, dass alle Schlüsselländer der westlichen Welt Demokratien sind. Der Rechtspopulismus muss nicht von Dauer sein. Immerhin gehen Wahlen im Westen bisher noch nicht nach russischem Schema vor sich: Das Pendel des Wählervotums kann komplett in die andere Richtung ausschlagen. Wer weiß schon, wie lange sich dieser neue Politikertyp erfolgreich und stabil an der Macht hält.
Muss Putin sich neu erfinden?
Begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir die aktuelle Tendenz der Trumpisierung auf die Zukunft hochrechnen? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Faktoren, die diese Tendenz bedingt haben (das Verlangen nach Politikern neuen Typs, Migrationsströme, Terrorbedrohung), keineswegs verschwunden sind. Es ist ohne Zweifel ein Test für die Demokratie westlichen Typs, wobei ihre institutionellen Grundlagen stark genug sind, daher ist anzunehmen: Sie wird diese Regierenden al là Trump mittel- und langfristig verdauen.
Kurzum, die Konturen der Außenwelt, in der sich die Putinsche Regierung fortan bewegt, beginnen gerade erst, sich abzuzeichnen. Bisher gibt es keine Klarheit darüber, worauf die Akzente des bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampfes für 2018 gesetzt werden und wie es mit der Suche nach neuen und alten Feinden aussieht, mit denen gekämpft werden muss, damit sich die Massen stabil um ihren Anführer scharen. Klar ist nur, dass Putin den Eliten mögliche Antworten auf die neuen außenpolitischen Herausforderungen aufzeigen muss, um sie davon zu überzeugen, dass er die Situation unter Kontrolle hat. Sonst könnte man ihn aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach 2018 als „lahme Ente“ wahrnehmen. Und dann jemanden suchen, der eine klare und deutliche Antwort auf die neuen Herausforderungen formulieren kann.
Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hält im Dezember traditionell eine Jahresrede vor den wichtigsten Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien des Landes, sehr feierlich im prunkvollen Georgssaal des Kreml. Viel hat er in diesem Jahr über die wirtschaftliche Lage des Landes gesagt, aber auch über den Kampf gegen Korruption und Terrorismus. Auf ein Thema, das in den vergangenen Jahren dominierte – die Außenpolitik – setzte er wenige Akzente, kam vor allem auf Syrien zu sprechen, am Rande noch auf die USA, sprach von Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem neuen Präsidenten Trump.
Viel Wert wird gewöhnlich auf das in dieser Rede skizzierte Programm gelegt, es gilt oft als eine zumindest rhetorische Richtschnur für das bevorstehende Jahr. Wie hat die russische Presse diesmal Putins Worte interpretiert? Und müssen es immer die Worte selbst sein, die bei diesem Auftritt wichtig sind? Was wurde nicht gesagt und warum? Sowohl unabhängige als auch staatsnahe Medien haben da ihre Lesarten. Eine Presseschau.
Vedomosti: Putin 1981
Die unabhängige Tageszeitung Vedomosti betont zunächst, dass der Sinn derartiger Botschaften darin bestehe, einen jeweils für notwendig erachteten Ton anzugeben. Nachdem die Kommentatoren eine Reihe von Unstimmigkeiten in der Rede Wladimir Putins aufgezeigt haben – etwa die, dass zwar das Wachsen des Bausektors erwähnt wurde, nicht aber die Tatsache, dass gleichzeitig die Kaufkraft der Wohnungssuchenden sinkt – ziehen sie eine Parallele zum Jahr 1981:
[bilingbox]Solche Reden sind aber – neben allem anderen – auch immer Texte, in denen zwischen all den überzogenen Rechenschaftsberichten, patriotischen Losungen und den schwer realisierbaren Handlungsanweisungen auch ein Moment der Wahrheit steckt. […]
,Eine Stabilisierung, das bedeutet nicht automatisch einen Übergang zu einer dauerhaften Aufwärtsentwicklung. Wenn wir nicht grundlegende Probleme der russischen Wirtschaft lösen, nicht mit voller Kraft neue Wachstumsfaktoren schaffen, dann können wir für Jahre in einem Nullwachstum steckenbleiben. Und das hieße, wir müssten uns ständig einschränken, immer sparen und alle Entwicklung auf ein Später verschieben‘, nahm der Präsident das zur Kenntnis, was vor sich ging. Und korrigierte sich pflichtgemäß: ,So etwas können wir uns nicht erlauben.‘
Die Stagnation wird noch 20 Jahre andauern, das prophezeite vor etwa einem Monat das Wirtschaftsministerium, das bald darauf auf dramatische Weise seiner Führung verlustig ging. An so etwas müssen wir uns nicht neu gewöhnen, denn wir erinnern uns ja: ‚Die Bilanz der Entwicklung der Volkswirtschaft bestätigt auf überzeugende Art und Weise die Richtigkeit der ökonomischen Strategie der Partei. […] Die Intensivierung der Landwirtschaft ermöglichte es, unentwegt den Umfang der Produktion zu steigern. […] Jetzt geht es darum, an der gewonnenen Erfahrung anknüpfend, Hindernisse beiseite zu schaffen, die das Wirtschaftswachstum bremsen.‘ Leonid Breshnew, XXVI. Parteitag der KPdSU, 1981.~~~Послания, ко всему прочему, это текст, в котором среди подтянутых отчетов, патриотических лозунгов и трудноисполнимых поручений всегда есть момент истины. ‚Стабилизация не означает автоматического перехода к устойчивому подъему. Если мы не решим базовые проблемы российской экономики, не запустим в полную силу новые факторы роста, то на годы можем зависнуть возле нулевой отметки и, значит, нам придется постоянно ужиматься, экономить, откладывать на потом свое развитие‘, – признал то, что уже происходит, президент. Но тут же дежурно поправился: ‘Такого мы себе позволить не можем‘.
Стагнация продлится еще 20 лет, предсказывало месяц назад Минэкономразвития, вскоре драматично лишившееся руководителя. Нам не привыкать, мы помним: ‚Итоги развития народного хозяйства убедительно подтверждают правильность экономической стратегии партии […] Интенсификация сельского хозяйства позволила неуклонно увеличивать объем продукции. […] Теперь дело за тем, чтобы, опираясь на накопленный опыт, устранять препятствия, мешающие росту экономики‘. Леонид Брежнев, XXVI съезд КПСС, 1981 г.”[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Wahlkampfauftakt
Die Novaya Gazeta sieht in der Rede von Wladimir Putin bereits eine Art frühen Wahlkampfauftakt – im März 2018 soll in Russland ein neuer Präsident gewählt werden. Das sei der Grund für den inhaltlichen Schwenk zur Innenpolitik.
[bilingbox]Zum Glück ist es [in der Rede – dek] dieses Jahr ganz ohne Anspielungen auf die ,schwierige geopolitische Lage‘ abgegangen und ohne Kritik ,an unseren westlichen Partnern‘.
Zum einen reagiert der Präsident darauf, dass die Gesellschaft offensichtlich der außenpolitischen Diskussionen müde ist – gerade wurde eine Umfrage des Lewada-Zentrums veröffentlicht, in der sich 75 Prozent der Russen für eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen aussprechen. Es deutet sich aber auch die Suche nach einem neuen Bild Putins an, für den Start der Kampagne im Präsidentschaftswahlkampf, die allem Anschein nach recht bald beginnen dürfte – und um die zu gewinnen, reicht die Krim allein schon nicht mehr aus.~~~К счастью, в этом году совсем обошлось без отсылок к ‚сложной геополитической ситуации‘ и без критики ‚наших западных партнеров‘.
Президент, с одной стороны, реагирует на очевидную усталость общества от внешнеполитических дискуссий — накануне был опубликован опрос Левады, согласно которому 75 % россиян выступают за нормализацию отношений с Западом. Но также здесь намечен поиск нового образа Путина для старта президентской кампании, которая, судя по всему, начнется по историческим меркам совсем скоро — и выиграть ее одним Крымом уже не получится.[/bilingbox]
Rossijskaja Gazeta: Innere Probleme größer als durch die Sanktionen
Im Amtsblatt der russischen Regierung, der Rossijskaja Gazeta, wird dieser innenpolitische Fokus der Rede besonders betont – auch im Kontext der gegen und von Russland selbst verhängten Sanktionen. Die Zeitung hebt zudem hervor, dass der Präsident eine Steuerreform angekündigt hat.
[bilingbox]Mehrere Male sprach das Staatsoberhaupt über die Sanktionen, ‚mit denen man uns dazu bringen wollte, nach einer fremden Pfeife zu tanzen‘. Aber die Hauptursachen für die Verlangsamung der Wirtschaft liegen Putins Ansicht nach vor allem in unseren innenpolitischen Problemen. Es gibt daneben jedoch auch viele positive Momente, in einer Reihe von Branchen ist ein Wachstum spürbar.
In der Wirtschaft braucht es keine abstrakten Szenarien, sondern professionelle Prognosen für die Entwicklung, schloss das Staatsoberhaupt und wies das Kabinett an, gemeinsam mit den Unternehmerverbänden bis Mai einen Plan auszuarbeiten mit einem Zeithorizont bis 2025, dessen Umsetzung es erlaubt, zum Anbruch des neuen Jahrzehnts 2019 bis 2020 ein schnelleres Wachstum als der Weltmarkt zu erreichen.
Außerdem schlug der Präsident vor, im Laufe des kommenden Jahres Vorschläge zum Umbau des Steuersystems zu prüfen, bis 2018 die Korrekturen vorzunehmen, und sie ab 2019 umzusetzen.~~~Несколько раз глава государства говорил о санкциях, ‚которыми нас пытались заставить плясать под чужую дудку‘. Но главные причины торможения экономики кроются прежде всего в наших внутренних проблемах, считает он. Впрочем, много и положительных моментов, в ряде отраслей заметен рост.
В экономике нужны не абстрактные сценарии, а профессиональный прогноз развития, заключил глава государства и поручил кабмину с участием деловых объединений до мая разработать план до 2025 года, реализация которого позволит на рубеже 2019-2020 годов выйти на темпы экономического роста выше мировых.
Также он предложил в течение следующего года рассмотреть предложения по настройке налоговой системы, в 2018 году принять поправки, а с 2019 года ввести их в действие.[/bilingbox]
Tatjana Stanowaja bei Carnegie: Eine Rede aus dem Schwebezustand heraus
Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung des Zentrums für Politische Technologien,ist überzeugt, Wladimir Putin habe gerade einfach nichts zu sagen, wolle Konkretes bewusst offen lassen. In einem Kommentar für das Portal des Thinktanks Carnegie Moskaumeint sie, er brauche von der Gesellschaft ohnehin nur Vertrauensbekundungen, für programmatische Entscheidungen sei jetzt nicht die richtige Zeit.
[bilingbox]Die konzeptionelle Gehaltlosigkeit der Agenda rührt von zwei Ursachen her. Erstens bleibt der Rahmen von Dialog und Austausch zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft darauf beschränkt, dass der Macht das Vertrauen ausgesprochen wird. Danach wird die inhaltliche Diskussion geschlossen, und der Dialog verengt sich auf die Themen Patriotismus und nationale Würde.
Die zweite Ursache ist die Ruhe der Zwischenzeit. Es steht die Ausformulierung der Wahlkampagne Putins bevor, der sich auf massive Umstrukturierungen innerhalb des Regimes (die werden 2017 bis 2018 unumgänglich sein) und auf eine neue geopolitische Wirklichkeit vorbereitet. Programmatische Entscheidungen zur Entwicklung des Landes sind stets zweitrangig im Vergleich zur Arbeit an Institutionen und Kadern, die noch lange nicht abgeschlossen ist.
Die Programmrede kam zu einer Zeit, als Putin sich eine strategische Pause für die Ausformulierung der weiteren Entwicklungsrichtung des Landes nahm, wobei diese Richtung in vielerlei Hinsicht nicht von ihm abhängen wird.~~~
Концептуальная пустота повестки стала следствием двух причин. Во-первых, узким оставлен предмет диалога между властью и обществом. Взаимодействие между властью и обществом по-прежнему сводится к получению первой мандата доверия, после чего содержательная дискуссия закрывается, а диалог сужается до тем патриотизма и национального достоинства.
Вторая причина – затишье промежуточного периода. Предстоит сформулировать предвыборную программу Путина, готовящегося к крупным перенастройкам внутри режима (а они будут неизбежны на рубеже 2017–2018 годов) и к новой геополитической реальности. Концептуальные решения по развитию страны всегда вторичны по отношению к институциональной и кадровой настройке, которая пока далека от завершения.
Послание пришлось на период, когда Путин взял стратегическую паузу в формулировании дальнейшего вектора движения страны, направление которого во многом будет зависеть не от него.[/bilingbox]
Rosbalt: Zivilgesellschaft an den Tropf holen
Der Kolumnist Sergej Schelin analysiert auf dem Portal der unabhängigen Nachrichtenagentur Rosbalt das Nichtgesagte. Zwischen den Zeilen liest er von einer Verstaatlichung der Zivilgesellschaft und einer Rückkehr zum sowjetischen Staatsmodell.
[bilingbox]Wer dem breiten Publikum berufsmäßig die Präsidentenreden erklären muss, der hat es derzeit nicht leicht. Im 68-minütigen Auftritt Wladimir Putins vor den wichtigsten Menschen des Landes ist so wenig Konkretes, dass den Deutern nichts anderes übrig bleibt, als sich auf die Analyse des Tonfalls zu konzentrieren und sich über den versöhnlichen, beizeiten gar liberalen Ton zu freuen. […]
Wenn man [hinsichtlich eines politischen Tauwetters] alles Gesagte und Nichtgesagte in knappe Worte zusammenfasst, dann lauten diese: Es gibt kein Tauwetter und keinen politischen Aktivismus, nirgends.
Die weitschweifigen Ausführungen über die Förderung von Ehrenamt und Nichtregierungsorganisationen [NGOs] laufen auf eine einzige konkrete Empfehlung hinaus: Die Bürokraten sollen den NGOs für die Durchführungen ihrer Maßnahmen ruhig großzügiger Staatsgelder zuteilen, für die sie (die Bürokraten) sich dann vor ihren Vorgesetzten zu verantworten haben. Mit anderen Worten: Sollen sich die NGOs doch von den Staatsbediensteten aushalten lassen. Über den Kampf mit den ausländischen Agenten wurde dabei nichts gesagt. Also: In dieser Hinsicht bleibt alles beim Alten. […]
In Putins Augen gibt es keine selbständige politische Kraft im Land, und es kann auch keine geben. Es gibt nur den Apparat der Staatsbediensteten, und dem wurde angeraten, sich delikater mit den Untertanen zu gebärden. Diese Ratschläge haben die Generalsekretäre der KPdSU ihrer Nomenklatur Tausende Male erteilt.~~~Тем, кто по роду занятий обязан разъяснять для широкой публики президентские речи, сейчас несладко. В 68-минутном выступлении Владимира Путина перед главными людьми страны настолько мало конкретики, что толкователям приходится концентрироваться на анализе интонаций и радоваться миролюбивому, а местами и либеральному тону. […]
Если резюмировать все сказанное и несказанное на этот [политические послабления] счет в нескольких словах, то они будут такими: никаких послаблений и никакого политического активизма ни на одном участке.
Пространные рассуждения о поощрении волонтерства и НКО подводят к одной единственной конкретной рекомендации: пусть бюрократы щедрее дают НКО казенные деньги на выполнение мероприятий, за которые они (бюрократы) отчитываются перед своим начальством. То есть пусть НКО будут у чиновников на жаловании. О борьбе с иноагентами не упомянуто. Следовательно, на этом участке все будет как было. […]
В глазах Путина какого-либо самостоятельного политического актива в стране нет и быть не может. Есть только чиновничество, которому рекомендовано тактичнее вести себя с подданными. Генеральные секретари КПСС давали своей номенклатуре точно такие же советы тысячи раз.[/bilingbox]
Kommersant: Das Persönliche zählt
Andrej I. Kolesnikow geht in der Tageszeitung Kommersant auf die Form der Erarbeitung dieser Programmrede Putins ein und meint: Hier war klar, es spricht der Präsident – und sein Wort solle allen ein Befehl sein.
[bilingbox]Unseren Informationen zufolge war diese Rede des Präsidenten im Großen und Ganzen etwa vor einem Monat fertig. Danach ging sie direkt an mehrere Adressaten für interne Abstimmungen und Korrekturen. Die Besonderheit dieser Rede besteht darin, dass sie sich nach allen Korrekturen – darunter auch den letzten des Präsidenten selbst – fast nicht verändert hat. Darin besteht, kann man sagen, auch ihre Einzigartigkeit: Normalerweise beginnt jeder, der sich dazu berufen fühlt (und das tun alle), fieberhaft an dem Text zu arbeiten, Änderungen, Korrekturen und Ergänzungen vorzuschlagen, und am Ende bleibt vom Text, der eigentlich allen schon von Anfang an gefallen hatte, fast nichts mehr übrig.
Diesmal erwies sich die Rede frei von diesem ganzen Ballast, nur Wladimir Putin hat im letzten Moment noch einige Korrekturen eingefügt: Er hat, nach unseren Informationen, vor allem noch etwas ergänzt, nicht gekürzt. […]
Dann nahm dieser ganze, recht widersprüchliche Haufen, diese wimmelnde, brummende Masse [im Saal – dek] Platz in ihren Sesseln, und er trat vor ihnen auf, pünktlich, um 12 Uhr, und begann seinen Vortrag. Übrigens: Warum hätte man den Text nicht einfach [ausgedruckt – dek] verteilen können, anstatt eine Stunde auf sein Verlesen zu verwenden? Nein, das wäre unter keinen Umständen möglich gewesen. Allen musste eines klar werden: Das alles sagt er. Das sind seine Worte, und fortan kann man ihm, der sie ausgesprochen hat, keine anderen mehr unterschieben, selbst wenn man das sehr wünscht. Für diese Worte muss Verantwortung übernommen werden, und das muss nicht Putin tun, sondern die, die im Saal sitzen – aber vor ihm, Putin, selbst. […]~~~
Послание президента было в общих чертах готово, по данным “Ъ”, примерно месяц назад. После этого его проект поступил сразу по нескольким адресам для внутреннего обсуждения и корректировок. Особенность этого послания состоит в том, что оно после всех правок, в том числе и окончательных президентских, почти не изменилось. В этом, можно сказать, даже его уникальность: обычно все, кто способен (а способными оказываются все), начинают лихорадочно работать над текстом, предлагать изменения, поправки, дополнения, и в конце концов от окончательного текста, который на самом деле нравился всем с самого начала, почти ничего не остается.
Это послание оказалось избавлено от всех этих хлопот, и только Владимир Путин внес в последний момент еще несколько правок: в основном, по данным “Ъ”, дописывал, а не сокращал. […]
Вся эта противоречивая, кипучая, бурчащая масса устроилась в конце концов в своих креслах в ожидании президента, и он появился перед ними вовремя, в полдень, и зачитал. Почему нельзя было просто раздать, кстати, текст и не тратить на зачитывание час? Нет, ни в коем случае. Надо, чтоб всем было ясно: это сказал именно он. Это его слова, и отныне его, произносящего их, ни с кем не спутаешь, даже если очень захочешь. За эти слова придется отвечать, и не ему, а им, сидящим в зале, причем перед ним же. […][/bilingbox]
Komsomolskaja Prawda: Vor allem Zählen zählt
Beim regierungsfreundlichen Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda wurde während der Rede vor allem eines getan: gezählt. Und zwar wie häufig es Applaus für Wladimir Putin gab – zudem dokumentiert, nach welchen Wörtern das Applaudieren einsetzte.
[bilingbox]Die Komsomolka [Komsomolskaja Prawda – dek] zählte während der 69-minütigen Rede des Präsidenten, dass im Saal zwölf Mal applaudiert wurde. Das hier sind die Themen, auf die im Georgssaal mit Applaus reagiert wurde:
Einigkeit des Volkes
Hilfe für junge Spezialisten
Gründung eines Notfall-Sanitärdienstes
Zentrum zur Unterstützung begabter Kinder
Der Erfolg Russlands – das ist die Entdeckung von Talenten
Arbeit von Nichtregierungsorganisationen
Im Bau sind 85 Millionen Quadratmeter Wohnraum
Erfolg in der Landwirtschaft
Internationale Konkurrenz der russischen Unternehmen
Mächtiger Schlag gegen die Terroristen in Syrien
Dankbarkeit für die Diensttuenden in der Armee, die Russland damit ihre Ehre erweisen
Wir erreichen alle von uns gesteckten Ziele
Den lautesten Beifall gab es, nachdem die Dankbarkeit gegenüber den Soldaten in Syrien ausgedrückt worden war. […]~~~‚Комсомолка‘ подсчитала, что за 69 минут, пока длилось Послание президента, зал аплодировал 12 раз. Вот на какие темы собравшиеся в Георгиевском зале Кремля реагировали апплодисментами:
Единство народа.
Помощь молодым специалистам.
Создание службы санитарной авиации.
Центры поддержки одарённых детей.
Успех России – в раскрытии талантов.
Работа некоммерческих организаций.
В строй введено 85 миллионов квадратных метров жилья.
Успехи в сельском хозяйстве.
Международная конкуренция российских компаний.
Мощный удар по террористам в Сирии.
Благодарность военнослужащим, дорожащим честью России.
Достигнем и решим все стоящие перед нами цели.
Причем, самые громкие апплодисменты звучали после слов благодарности нашим военным в Сирии. […][/bilingbox]
Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.
In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?
Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.
Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.
Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.
Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.
Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.
Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.
Was war denn die größte Enttäuschung?
Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.
Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.
Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).
Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?
Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.
„Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“
Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?
Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.
So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.
Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?
Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.
Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.
Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?
Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.
Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?
Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.
Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.
Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?
Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …
Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.
„Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“
So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.
Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?
Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.
Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?
Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?
Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.
Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.
Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.
Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.
Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?
Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?
Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.
Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?
Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.
Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?
Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?
Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.
Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.
„In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“
In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?
In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.
Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.
Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?
Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.
Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.
Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.
Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?
Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.
Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.
Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.
Dreieinhalb Jahre Haft lautete das Urteil. Alexej Gaskarow ist einer von mehr als 30 Menschen, die nach einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai 2012 in umstrittenen Prozessen vor Gericht gestellt wurden. Der Protestzug war durchs Moskauer Stadtzentrum zum Bolotnaja-Platz gezogen, dann kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten, gefolgt von einer Verhaftungswelle.
Nur einen Tag danach trat Präsident Putin seine neue Amtszeit an. Seitdem hat sich in Russland viel verändert. Gaskarow, linker Aktivist, jetzt 31 Jahre alt, saß die meiste Zeit davon hinter Gittern. Nun wurde er entlassen – und zum gefragten Gesprächspartner. Wie hier im Interview der Journalistin Olessja Gerassimenko für snob. In dem Gespräch, das sie per Du führt, fragt sie nach seiner persönlichen Geschichte dahinter: Wie blickt er auf die Ereignisse von damals? Wie war der Lageralltag? Und wie nimmt er die Veränderungen im Land wahr?
War der Prozess gegen dich fair?
Insgesamt bereue ich, dass wir der Teilnahme am Prozess zugestimmt haben. Wir hätten, wie die politischen Gefangenen der Sowjetunion, mit dem Rücken zu ihnen stehen und schweigen sollen. Und es nicht als Versuch betrachten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Zeit in Chimki war ich noch voller Illusionen, und auf mehreren Videos war klar zu sehen: Die Sequenzen, in denen ich vorkam, lagen vor dem Zeitpunkt, als den Ermittlern zufolge die [Bolotnaja- dek.] Unruhen begannen. Ich dachte, das ist ganz einfach, ich zeige ihnen die Videos, und alles ist in Ordnung.
Im Endeffekt zählte ich Beweise auf, die Richterin nickte, aber es folgte keinerlei Reaktion. Überhaupt sah das ganze Verfahren so aus: Die Entscheidung ist schon gefallen, das Urteil geschrieben, lasst uns das hier alles möglichst schnell hinter uns bringen.
Du hast einen Polizisten geschubst und einen Soldaten aus der Absperrung gezerrt?
Das habe ich ja nie geleugnet. Übrigens ist nach der Kundgebung am Bolotnaja-Platz erstmal ein Jahr vergangen, ich arbeitete gerade an einem wichtigen Projekt, hatte nur noch eine Woche Zeit, und es war uncool, verknackt zu werden. Auch an diesem Sonntag, an dem die Bullen mich abholen kamen, musste ich zur Arbeit. Ich bin zum Laden rausgegangen, um Katzenfutter zu kaufen, und da steht diese ganze Clownsmannschaft vor dem Haus – zwei Jeeps, ein Kleinbus. Da stiegen dann so junge Typen aus, gestylt wie rechte Skinheads, ich dachte, das ist die [gnose-3259]BORN[/gnose] und überlegte, was ich jetzt mache, da zückten sie schon ihre Dienstmarken.
Warst du in diesem Moment erleichtert?
Nein, im Gegenteil. Vor der BORN hätte man davonrennen oder sonst was machen können. Jedenfalls haben die mich festgenommen und mir lange nicht gesagt, weshalb. Mit dem Gesicht nach unten im Bus und so, dieser Stil. Ich konnte mir schon ein paar Gründe ausmalen, weshalb – wir haben damals die Wohnheime der Firma Mosschelk und den Zagowski-Wald verteidigt, kurz vor der Festnahme haben Leute, die jetzt im [gnose-2183]Bataillon Asow[/gnose] kämpfen, versucht, meine Frau und mich zu überfallen. Mit denen hab ich mich angelegt – und das wurde gefilmt.
Also, es gab so einiges. An die Bolotnaja-Sache hatte ich überhaupt nicht gedacht. Und als sie mir dann sagten, dass ich angeklagt würde, sah ich mir das an – das war der reinste Stuss – und sagte, ok, ich werde alles gestehen: Wir liefen in der Menschenmenge, ein [gnose-2717]OMON-Mann[/gnose] griff dann einen Kerl an, es entstand ein Gerangel, man versuchte, sie auseinanderzubringen, und da hieß es, ich hätte einen Polizisten am Bein gezogen.
Als Beweise dienten ein Video schlechter Qualität und ein Gutachten mit dem Ergebnis, dass ich das nicht war. Aber ich wusste ja, dass ich das war, und sagte gleich: Leute, jetzt mal ein bisschen vernünftig. Aber ihnen war egal, ob ich da was gestehe oder nicht. Hätte ich einen [gnose-3265]212-er[/gnose] gestanden oder gegen jemanden ausgesagt, das wäre wohl was anderes gewesen …
“Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten.”
Wollten sie das von dir?
Nix da. Wieso hätten sie mich auch nach der Organisation von Unruhen fragen sollen, wenn sie doch selber wissen, unter anderem aus eigenen Abhöraktivitäten, dass da niemand irgendwas geplant hat. Sie haben sich strikt auf die Sache mit dem Bein beschränkt. Später fanden sie noch etwas, was ich schon ganz vergessen hatte. Vor der Absperrung war ein Gedränge entstanden, manche fielen hin, und ich habe einen an der Schulter gezerrt, um Platz zu schaffen. In der Anklageschrift stand, ich hätte auf diese Weise die Absperrkette durchtrennt, damit alle durchkommen und die Massenunruhen losgehen können. Dabei war diese Absperrung auf der anderen Seite.
Erzähl von der Haft. Das wollen alle hören. Sowas wie Aufstehen um 6, Nachtruhe um 10.
Mhm. Natürlich leben die Drogensüchtigen, die da auf Entzug sind, vor allem nachts. Wenn Schlafenszeit ist, fangen die einen an zu rauchen, die anderen kochen Tschifir. Das blendet man einfach aus, man hat einen geregelten Tagesablauf, und das ist im Prinzip gesund. Am Sport hindert dich niemand: Es gibt ein Reck, einen Barren, ein paar Gewichte. Hier in Freiheit hat man immer Arbeit oder irgendwas zu tun, aber dort war ich so durchtrainiert wie nie. Hauptsache, man sucht sich immer eine Beschäftigung, damit man bloß keine Freizeit hat.
Mit wem hast du gesessen?
Die Hälfte der Zeit war ich in Untersuchungshaft, mit ganz verschiedenen Leuten. Typen mit [gnose-3217]Paragraph 228[/gnose] mit krassen Geschichten, etwa wie Teenagern Haschisch aus Holland mit der Post geschickt wurde, und die kriegen 15 Jahre dafür. Von meinem eigenen Fall zu erzählen, war mir sogar peinlich – allen um mich herum blühten mehr als 10 Jahre. Als die Verhandlung begann, saßen wir in der [gnose-3269]Butyrka[/gnose], dort waren Diebe, irgendwelche Psychos, Jugendliche, Straßenkinder, Dagestaner. Leute von Rosoboronexport, vom Asien-Pazifik-Forum und von der Olympiade, gegen die ermittelt wurde, hab ich auch kennengelernt, mit Jemeljanenko hab ich trainiert.
Im Straflager lebten im allgemeinen Vollzug 300 Männer, davon waren 80 Prozent Einheimische aus Tula, die im Suff irgendwen angefallen, Datschen ausgeraubt und kleinere Überfälle begangen haben. Aber was ist das Geile am Lager? An ein und demselben Ort sitzt sowohl der Obdachlose, der in einer fremden Datscha überwintert, deswegen eingesperrt wird und hier sogar besser lebt als in Freiheit, als auch der Unternehmer, der einen Milliardenschaden angerichtet hat und gerade noch draußen auf seiner Yacht umhergeschippert ist.
Als du rauskamst, hast du gesagt, das Wichtigste war, mit der Realität in Verbindung und gesund zu bleiben. Wie bleibt man dort gesund? Ist das Essen ok?
Da ich von draußen gut unterstützt wurde, war ich fast nie in der Kantine. Ich hatte dort eine Mikrowelle. Die Strafvollzugsbehörde hat jetzt so einen Ansatz, dass sie einen nicht daran hindern, sich das Leben angenehmer zu machen. Die müssen da irgendeine Strategie zur Verbesserung der Haftbedingungen erfüllen, das Budget wird aber immer gekürzt. Wenn man ankommt, ist alles übelst, es tropft von der Decke, überall Schimmel. Aber sie haben nichts dagegen, wenn du das selber angehst. Du erklärst das zur humanitären Hilfe, und bekommst Teekocher und Mikrowelle, sogar ein Beamer hing bei uns, mit dem wir Filme guckten.
Soweit ich weiß, wolltest du dort eine Weiterbildung machen.
Leider musste ich feststellen, dass an der Universität, die mit dem Straflager kooperiert, unter dem Deckmantel der Bildung einfach ein Verkauf von Diplomen stattfindet. Ich hab dort etwas anderes gemacht: Bei meiner Arbeit habe ich oft alle möglichen Grundlagen von Unternehmertum und Planung gelehrt, und mit mir saßen Leute im Knast, mit denen man interessante Gespräche führen konnte – Bankchefs, Leute aus Ministerien.
Es gab da eine Abendschule, die nötigen Räumlichkeiten. Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten. Jeder soll sich ein Projekt ausdenken, und wir planen es innerhalb von 8 Monaten (da sollte ich entlassen werden) konkret durch, am Ende kommt ein Business-Plan heraus. Zuerst haben sie das kategorisch abgelehnt, von wegen, du sitzt doch wegen der Bolotnaja-Sache und willst da bestimmt nur politische Diskussionen führen. Doch dann kam ein neuer Chef, und der ist uns entgegengekommen. Das war wie ein Stück Freiheit.
Als ihr nacheinander verhaftet wurdet, sagten alle, das wird der Prozess des Jahrhunderts, alle werden sich wegen euch, für euch zusammenschließen, und im Endeffekt – du bist schon draußen, und der Bolotnaja-Prozess, obwohl er noch gar nicht ganz zu Ende ist, interessiert keinen mehr. Hast du nicht umsonst gesessen?
Na ja, was heißt umsonst. Ich hatte ja keine Wahl. Was Bolotnaja betrifft … Die Entscheidung, bei dieser ganzen Bewegung mitzumachen, war bereits mit Risiken verbunden. Wenn man das mit der Ukraine vergleicht, obwohl das bei vielen nicht gern gesehen ist: Wären die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz weitergegangen, glaube ich nicht, dass die Leute vor Erschießungen Halt gemacht hätten.
In Kiew sind ein Haufen Leute umgekommen, und wir hier sollen uns von irgendwelchen Haftstrafen abschrecken lassen. Die haben willkürlich ein paar Personen herausgegriffen und eingesperrt, die Logik ist klar: Wer auch immer du bist, wenn du dich gegen den Zaren stellst, wirst du leiden. Was kann die Antwort darauf sein? Wir müssen den Mythos der Wirksamkeit solcher Repressionen entlarven.
Aber das stimmte ja. Es sind wirklich alle vor einem Hieb mit dem Schlagstock zurückgeschreckt, vom Gefängnis ganz zu schweigen. Viele Oppositionelle sagen, der Kampf gegen diese Regierung sei keinen Zentimeter persönlichen Wohlbefindens wert. Du bist praktisch der einzige, der nicht so denkt. Fühlst du dich einsam?
Die meisten Leute waren noch nie im Gefängnis, und sie glauben wirklich, das sei das Ende: Ich komme ins Lager – und das war’s. Ich hab das alles einfach relativ normal erlebt. Aber ich überlege mir das so: Wenn die Staatsmacht Andersdenkende mit Repressionen unterdrückt, schrauben die Menschen ihre Aktivität zurück, und ihr Bedürfnis, sich für irgendetwas einzusetzen, schwindet, und so gerät das System eher aus den Fugen, als dass es stabiler würde, wie sich die Regierung das vorstellt. Das Land wird weniger konkurrenzfähig.
Aber die Leute müssen wenigstens minimale Aktivität beibehalten. Es ist schlimm, dass so viele den passiven Weg einschlagen. Bei den Ressourcen, die da sind, könnten wir es besser haben, aber viele sind auch so zufrieden. Dadurch kann sich das System lange halten. Man muss nicht die direkte Konfrontation suchen. Das dachte ich auch schon auf dem Bolotnaja-Platz, wir wollten eigentlich schon weggehen, weil wir begriffen hatten, dass diese ganzen Sitzstreiks und dergleichen ja genau das sind, was die Regierung braucht. Es gibt auch andere Wege, man muss sich ja nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen beschränken.
“Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist.”
Meinst du jetzt die Philosophie der kleinen Dinge?
Unter anderem. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass viele, die am Bolotnaja-Platz aktiv waren, jetzt ehrenamtlich tätig sind. Und das ist ja wirklich nicht so schlecht. Hauptsache, die Energie bleibt erhalten. Oder was anderes: Der Kampf gegen Korruption, all diese Publikationen wirken sich auf das System aus, da kann man sagen was man will. Es gibt auch Leute in der linken Szene, die finden, es muss eine progressive Besteuerung geben, die können ja ihre Argumente vorbringen. Oder man gründet angesichts all dieser Konflikte irgendeine Friedensbewegung.
Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist. Dort kommen Leute zusammen, die keinen großen Hang zum Reden haben. Richtige Bauern. Alle nur erdenklichen Mythen haben sie im Kopf. Aber wenn du mit ihnen beisammen bist, brauchst du nicht mal groß zu streiten – einfach durch Gespräche und durch den Kontakt haben sich sogar die ärgsten Sturköpfe verändert. Insofern ist jede Arbeit, die die Verbreitung von Informationen und eine wenigstens minimale Aufklärung zum Ziel hat, wichtig.
Und wovon hast du sie überzeugt?
Von allem möglichen. Unter anderem was generell ihre Einstellung zur Opposition betrifft. Am Anfang war es sogar ganz angenehm für mich, von wegen, ach, auf dem Bolotnaja-Platz, das waren sowieso alles nur Junkies, die für Heroin auf die Straße gegangen sind – da haben sie mich in Ruhe gelassen. Aber mit der Zeit sehen die Leute ja, was du liest, welche Filme du auf dem Kultursender guckst, dass du beim Verfassen eines Berufungsantrags helfen kannst, … und sie merken, dass du kein Idiot bist, der für eine Dosis Heroin demonstrieren gehen würde. Es gab viele Konflikte über die Vorgänge in der Ukraine, vor allem weil viele einsaßen, die schon im [gnose-3273]Donezbecken[/gnose] gekämpft hatten, zurückkamen und verhaftet wurden.
Weswegen?
Rowdytum, Diebstahl, Plünderung, so typische Soldiers of Fortune. Und sogar über diese äußerst komplexe Frage ist es uns gelungen zu reden, die Wogen zu glätten.
Du bist in einem Land ins Gefängnis gekommen und in einem anderen wieder raus. Wie war es, über Nachrichten zu erfahren, dass draußen historische Ereignisse passieren? Tat es dir leid, dass du sie nur aus der Distanz sahst? Oder war das eher beruhigend?
Ehrlich gesagt, zweiteres. Ich hatte oft Schwierigkeiten, mich zu positionieren. Als zum Beispiel massenweise Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns kamen, kamen auch welche und arbeiteten hier im Lager. Man beginnt mit ihnen zu reden und versteht, da gibt es eine Ideologie, aber es gibt auch die Geschichten der Menschen, und sich festzulegen war schwierig. Ich hab mir echt gedacht, wie gut, dass das für mich nur im Hintergrund läuft.
Wie sieht es mit deiner Arbeit aus? Was willst du machen?
An oberster Stelle stehen jetzt materielle Probleme. Viele fragen mich, ob ich in die Politik gehen werde, die haben alle so hohe Erwartungen, aber was ist das schon für eine Politik heute. Ohne eigene Mittel ist es unmöglich, politisch aktiv zu sein. Natürlich sage ich, dass man sich vor dem Knast nicht zu fürchten braucht, aber trotzdem ist das ein ernstzunehmender Verlust – dreieinhalb Jahre. Eine Menge nicht realisierter Möglichkeiten und angehäufter Probleme.