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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    In Deutschland hört man nur sehr wenig davon. Unter anderem im russischen Nordkaukasus erhitzt dagegen die Gewalt gegenüber den muslimischen Rohingya in Myanmar die Gemüter.

    Während die myanmarische Friedensnobelpreisträgerin und faktische Regierungschefin Aung San Suu Kyi die Kritik der internationalen Gemeinschaft scharf zurückweist, hatte Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow am Wochenende dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen: aus Protest gegen die gewaltsame Verfolgung der Rohingya. Nach offiziellen Angaben folgten dem Aufruf eine Million Menschen (eine Zahl, die unabhängige Beobachter allerdings anzweifeln). Auch in Moskau gab es eine nicht genehmigte Kundgebung vor der Botschaft Myanmars, weitere sind angekündigt.

    Mit seiner Kritik an Myanmar stellt sich Kadyrow gegen die bisherige außenpolitische Linie Moskaus, das gute Beziehungen zu dem südostasiatischen Land pflegt – unter anderem auch mit Blick auf China, das Myanmar zu seiner Interessensphäre zählt. Noch im März hatten Russland und China eine UN-Resolution zum Schutz der Rohingya blockiert.

    Was hat die Situation in dem südostasiatischen Land mit dem russischen Nordkaukasus zu tun? Was will Kadyrow erreichen? Und welche innenpolitische Lehre sollte Moskau aus den Protesten ziehen? Diese und weitere Fragen beantwortet Nordkaukasus-Experte Sergei Markedonov in seiner Analyse auf Carnegie.ru.

    Dem ersten Anschein nach lassen sich nur schwerlich zwei Themen finden, die weiter auseinanderliegen als Myanmar und der Nordkaukasus. Im Frühherbst 2017 allerdings haben sie sich auf wundersame Weise verwoben. Die Meldungen über die Verfolgung der muslimischen Rohingya in einem fernen Land in Südostasien haben die nordkaukasischen Republiken wachgerüttelt. In Moskau wie auch im Nordkaukasus, etwa in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, gab es nicht genehmigte Demonstrationen zur Unterstützung der Glaubensbrüder.

    Nicht nur im Kaukasus - auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant
    Nicht nur im Kaukasus – auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant

    Im Kontext Russlands wirft das eine ganze Reihe drängender Fragen auf: Wie unabhängig sind die regionalen Führer, wie stark ist der Partikularismus im Nordkaukasus und wie heftig prallen staatliche und religiöse Loyalität aufeinander? Wobei Letzteres im Übrigen nicht nur den Nordkaukasus betrifft, sondern auch viele andere Regionen Russlands.

    Aktionen zur Unterstützung der Muslime auch in Moskau

    Es ist kein Zufall, dass die Aktionen zur Unterstützung der Muslime in Myanmar am 3. September nicht nur in den Republiken des Nordkaukasus, sondern auch in der russischen Hauptstadt stattfanden. Die Einbindung Tschetscheniens, das haben die Ereignisse der letzten 15 Jahre gezeigt, besteht nicht nur darin, dass Moskau in Grosny, sondern auch darin, dass Grosny in Moskau Einzug hält.

    Können wir aber wirklich davon sprechen, dass die tragischen Ereignisse in Südostasien den russischen Teil der Kaukasusregion aufgerüttelt haben? Und in welchem Maße werden die regionalen Führer im Nordkaukasus künftig Einfluss auf die Außenpolitik Russlands haben?

    In gewissem Sinne kam die heftige Reaktion auf die Verfolgung der muslimischen Rohingya unerwartet. Seit 2014 war der Nordkaukasus in den Schatten der Krim, des Donbass und Syriens getreten.

    Bei genauerer Betrachtung ist der aktuelle Ausbruch gesellschaftlicher Aktivität (samt Protesten) jedoch keine Überraschung. Es geht hier nicht nur um Autonomie bei diesen oder jenen Entscheidungen oder um die Nichteinmischung Moskaus in viele menschliche Belange. Sondern es geht auch um die Freiheit, den ideologischen und auch (bis zu einem gewissen Grade) den außenpolitischen Weg selbst zu wählen.

    Tschetschenien – eine völlig abgeschlossene Region?

    In der westlichen Literatur wird üblicherweise von Tschetschenien als einer völlig abgeschlossenen Region gesprochen. Doch diese Abgeschlossenheit gegenüber westlichen Experten und Menschenrechtlern bedeutet keineswegs Abgeschlossenheit gegenüber einflussreichen Politikern und religiösen Akteuren aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. In den Jahren 2015 bis 2017 hat Ramsan Kadyrow Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrаin besucht; und zu seinen Gästen zählte der bekannte afghanische Politiker und General Abdul Raschid Dostum.

    Nachdem das Oberhaupt Tschetscheniens auf Instagram die Lage der Dinge in Myanmar äußerst scharf kritisiert hatte, sprachen Blogger und Publizisten davon, dass der Nordkaukasus nun den Anspruch erhebe, an der Gestaltung der russischen Außenpolitik mitzuwirken. 

    Ganz so stimmt das nicht: Denn der Nordkaukasus ist praktisch seit dem Zerfall der Sowjetunion daran beteiligt. Und während er anfangs eher als ein Objekt betrachtet wurde, als eine Art Indikator für die Stärke beziehungsweise Schwäche des postsowjetischen Russlands, so nimmt diese Region, die bei den Vereinten Nationen über keine eigene Vertretung verfügt, allmählich bestimmte Züge eines außenpolitischen Subjekts an.

    Das Volk zeigt gegenüber der ganzen Welt: Wir lassen nicht zu, dass mit dem Islam gescherzt wird

    „Indem sich das Volk im Zentrum von Grosny versammelt hat, zeigt es gegenüber der ganzen Welt, dass wir es nicht zulassen, dass mit dem Islam gescherzt wird, dass wir es nicht zulassen, dass die Gefühle der Muslime beleidigt werden.“ Diese Worte sind aus Ramsan Kadyrows Rede vom 19. Januar 2015 bei einer Aktion anlässlich der Geschichte um die französische Zeitschrift Charlie Hebdo. Seinerzeit war die Hauptstadt Tschetscheniens eine Art Plattform für die Haltung Wir sind nicht Charlie. Und man kann nicht behaupten, dass eine solche Position ausschließlich im Nordkaukasus auf Sympathie stieß.

    Kadyrow hat in seiner Zeit an der Macht Erfahrung als Politiker gewonnen, der in der Öffentlichkeit steht, schnell reagieren kann und in der Lage ist, nicht nur seine Interessen deutlich zu machen. Vielmehr artikuliert er auch die Positionen des Teils der russischen Gesellschaft, der eine konsequent antiwestliche Haltung vertritt. Also die Haltung jener, die nicht einfach nur in Opposition zum Kurs der USA und der EU stehen, sondern auch für eine umfassende Mobilisierung im Landesinneren und einen „besonderen zivilisatorischen Weg“ eintreten. Und das ist eine der Folgen des Sonderstatus, den diese Teilrepublik Russlands genießt.

    Kadyrow: Sowohl „Verteidiger der Muslime“ wie auch ein Feind des IS

    Dieses „Besondere“, dieses „Eigene“ Tschetscheniens könnte nützlich sein. Schließlich verfügt Russland als multiethnisches und polykonfessionelles Land über Möglichkeiten, seine Außenpolitik nicht nur über die Strukturen des Außenministeriums zu verwirklichen, sondern auch über andere Kanäle. Ramsan Kadyrow hat sowohl das Image eines „Verteidigers der Muslime“ wie auch das eines Feindes des IS – Kadyrow bezeichnet letzteren als „Iblīs-haften“, also satanischen Staat. Insofern genießt er – als Partner bei Gesprächen mit einem afghanischen General oder arabischen Scheich – größeres Vertrauen als ein Absolvent einer Moskauer Hochschule, der aufgrund bürokratischer Notwendigkeiten für den Nahen Osten zuständig ist.

    Wie wundervoll dieser Aspekt auch erscheinen mag – die Widersprüche zwischen allgemeinstaatlichen und konfessionell-regionalen Interessen sind nicht zu übersehen.

    Die Stärkung der Beziehungen zu Peking fordert ganz offensichtlich eine zurückhaltende Reaktion Moskaus gegenüber Myanmar. Russland kann dabei nicht so vorgehen, wie es in Tschetschenien oder Dagestan populär wäre; es bedarf großer Flexibilität und komplexer Handlungen. So kommt die äußerst wichtige Frage auf: Wie kann man das Vertrauen aufrechterhalten – nicht nur das der eigenen Bürger, sondern auch das der regionalen Führer, die auf die Politisierung der Religion setzen?

    Im Übrigen wäre es falsch, die Aufregung, die im Nordkaukasus wegen der tragischen Ereignisse in Südostasien herrscht, allein mit dem Phänomen Kadyrow und dem besonderen Status Tschetscheniens zu erklären. Unter den Bloggern und Aktivisten, die ein aktives Vorgehen Russlands gegen die Regierung in Myanmar fordern oder Moskau vorwerfen, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates blockiert und chinesischen Ansprüchen nachgegeben zu haben, waren nicht nur Leute aus Tschetschenien allein, sondern auch aus anderen Republiken des Nordkaukasus.

    Re-Islamisierung im Nordkaukasus Ende der 1990er Jahre

    Die religiöse Identität des Nordkaukasus beruht nicht auf Kadyrow. Anfang der 1990er Jahre hat es in dieser Region hinreichend Konflikte gegeben. Aber der Faktor „Religion“ hatte damals nirgendwo eine erhebliche Rolle gespielt. Ende der 1990er Jahre änderte sich die Situation. Im Nordkaukasus erfolgte seinerzeit eine „Re-Islamisierung“ (so die treffende Formulierung des Kaukasus-Experten Achmet Jarlykapow), die auch jene Teile der Region erfasste, in denen die Religion traditionell eine geringere Rolle gespielt hatte (Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Adygeja, Stawropolski Krai).

    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,
    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,

    Hinzu kommt, dass die Verwurzelung der religiösen Identität in den verschiedenen Variationen – von Loyalität gegenüber der Regierung bis hin zu extremistischen Formen – nicht von selbst geschah. Sie erfolgte vor dem Hintergrund eines Niedergangs der weltlichen Institutionen (Polizei, Justiz) und einer Krise der gesamtstaatlichen Ideologie.

    Die Re-Islamisierung hat eine Vielzahl widersprüchlicher Aspekte. Russland muss sich als ein Land, das im postsowjetischen Raum und im Nahen Osten eine aktive Rolle spielt, nicht nur als ein Staat der ethnisch russischen Welt positionieren, sondern auch als einer der, sagen wir mal, turksprachigen und der islamischen Welt. Aber Russland hat auch eine buddhistische Dimension, die nicht weniger wertvoll ist als alle eben genannten. Und so sind Versuche, die Politik der Regierung von Myanmar mit dem Buddhismus gleichzusetzen, äußerst gefährlich.

    Somit ist die Situation in Myanmar und deren Echo im Nordkaukasus nicht allein das Problem einer einzelnen, für sich stehenden Region Russlands. Die Republiken des Nordkaukasus sind kein Ghetto und kein ethnographisches Refugium, sondern ein Gebiet, in dem die Probleme, unter denen das ganze Land leidet, besonders deutlich zutage treten. 

    Im Nordkaukasus treten die gesamtrussischen Probleme deutlich zutage

    Dass die Muslime in Russland aufgerüttelt sind, ist ein ernstzunehmendes Signal an Moskau. Solange man kein effektiver Schlichter ist, kein Vermittler zwischen den diversen Völkern und Regionen, solange man keine klaren Spielregeln und Grenzen des Erlaubten festgelegt hat, wird es nicht gelingen, einen starken Staat aufzubauen.

    Bislang haben wir von den Amtsträgern in Russland keine schlüssige Erklärung dazu vernommen, welche Folgen der Konflikt in Südostasien haben wird, und auch nicht zu dem Umstand, dass unser Land oder Teile davon involviert sind. Es gibt auch keine Erklärungen, welche Interessen Russland verfolgt. Dieses Schweigen erzeugt ein Vakuum, das bald von anderen Ideologien gefüllt werden dürfte.

    Das Gespenst von Myanmar im russischen Kaukasus ist eine Mahnung, dass es für Moskau an der Zeit ist, sich ungeachtet der wechselseitigen Sticheleien mit Washington und Brüssel den innenpolitischen Problemen zuzuwenden. Und zwar substantiell – nicht nur im Vorfeld von Wahlen oder beim Direkten Draht.

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  • Jenseits von links und rechts

    Jenseits von links und rechts

    Sozialdemokratisch, liberal und konservativ oder schlicht links und rechts – das sind vertraute Zuschreibungen für politische Akteure in (west)europäischen Staaten. Auf das aktuelle politische System in Russland lassen sie sich nicht einfach übertragen, schon gar nicht eins zu eins. Wie aber werden Parteien oder politische Persönlichkeiten stattdessen verortet, insbesondere die außerparlamentarische Opposition? In ihrer Kritik an Präsident Putin erscheint gerade sie auf den ersten Blick wie ein zusammenhängender Block. Was vielen nicht klar ist: Oft genug sind die verschiedenen Gruppen untereinander jedoch völlig zerstritten.

    Woran genau scheiden sich die politischen Geister in Russland? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Politologe Wladimir Pastuchow auf republic. Dabei geht er von einer umstrittenen Diskussion aus, die kürzlich der bekannteste russische Oppositionspolitiker öffentlichkeitswirksam geführt hat: Alexej Nawalny. Weil der sich ausgerechnet den Ex-Separatistenführer Igor Strelkow an den Youtube-TV-Tisch holte, musste er massive Kritik einstecken. Aus den großen Streitfragen, die dabei aufkommen, strickt Pastuchow eine handliche Typologie russischer Sichtweisen auf die Politik.

    Die Diskussion zwischen Nawalny und Strelkow ist ein außergewöhnliches Ereignis, was auch immer darüber geschrieben wurde. Mit Blick auf die vergangenen Jahre war es das eindrucksvollste öffentliche Aufeinanderprallen aller bedeutenden russischen Ideenwelten aus der neueren Geschichte des Landes – bislang hatten sich die Seiten lieber auf Ideenkarate ohne Körperkontakt verlegt.

    Es sei jedoch angemerkt, dass ideologisch gesehen, nicht zwei, sondern drei Seiten an der Diskussion beteiligt waren: Im Studio war auch der Geist der russischen liberalen Opposition anwesend. Und damit ist nicht mal vordergründig der Moderator Michail Sygar gemeint, der mit am Tisch saß, sondern vielmehr der allgemeine mediale und politische Kontext, in den die Diskussion von Beginn an versunken war.

    Die zentrale Frage nach der Staatsmacht

    Die einzige zentrale, in Russland sowohl politisch als auch ökonomisch relevante, Frage war die nach der Staatsmacht. Darauf gaben die Teilnehmer eine ausführliche, wenn auch unbefriedigende Antwort. Zwar wird Nawalny oft vorgeworfen, ihm fehle ein Programm. Doch in Wirklichkeit hat er alles gesagt, was man über seine Ansichten als russischer Politiker wissen muss: Er hat sein Verhältnis zur Staatsmacht deutlich zum Ausdruck gebracht.

    Eine politische Ideologie gibt es in Russland nicht und es kann auch keine geben, weil Russland nach wie vor eine vorpolitische Gesellschaft ist. Sie ist noch nicht an den Punkt gelangt, wo sich die Staatsgewalt vom Eigentum löst und ein „politisches Feld“ erschafft. Deswegen ist es völlig sinnlos, russische Politiker danach zu befragen, ob sie rechts oder links stehen. Die Matrix von rechts und links ist auf Russland überhaupt nicht anwendbar. Denn sie leitet sich aus dem Verhältnis zum Privateigentum ab, das es in Russland nach wie vor nicht gibt.

    Die Grundlage des russischen Lebens bildete über viele Jahrhunderte das Herrschereigentum, das Erbe des [gnose-5269]Wotschina-Systems[/gnose]. Es stellt den Ursprung von Recht und Reichtum in Russland dar. In der gesamten russischen Politik dreht sich alles genau darum. Erklärt ein Politiker seine Haltung zur staatlichen Macht, hat er die Frage nach seinem Programm umfassend beantwortet – mehr brauchen wir nicht zu wissen, weder über ihn noch über das Programm.

    Drei Sichtweisen zum Thema Staatsmacht: patriotisch, liberal, progressiv

    Bei der Diskussion waren mehr oder weniger offenkundig alle drei traditionellen russischen Sichtweisen zu diesem heiklen Thema vertreten:

    Die patriotische Haltung (auch die slawophile genannt), war repräsentiert durch Strelkow: Die Staatsgewalt ist a priori das Gute („Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet.“). Sie ist die unmittelbare und irrationale Verkörperung des gemeinschaftlichen Geistes und bedarf keiner weiteren Legitimation. Sie braucht weder Schutz noch Beschränkung durch äußere Kräfte, sondern muss immer und ausschließlich in ihrem eigenen Interesse handeln, das per se mit den Interessen der russischen Gesellschaft übereinstimmt. Wodurch die Demokratie in Russland nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich ist, denn sie könnte die natürliche Einheit zwischen Volk und Staatsmacht zerstören und zu einem Instrument in den Händen von Plutokraten sowie inneren und äußeren Feinden Russlands werden.

    Die liberale Haltung (auch die westliche genannt), war repräsentiert durch das liberale Publikum, an das sich sowohl Nawalny als auch Strelkow wandte: Die Staatsgewalt ist a priori das Böse. Sie steht im Widerstreit mit der Gesellschaft. Ihre Interessen sind den Interessen der Gesellschaft entgegengesetzt, deswegen muss sie permanent kontrolliert und beschränkt werden. Sie muss dazu angehalten werden, im Interesse der Gesellschaft zu handeln, also entgegen ihren eigenen, egoistischen, „blutrünstigen“ Interessen. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung von demokratischen Institutionen überlebensnotwendig für Russland. Denn nur durch Demokratie lässt sich die Bestie im Zaum halten. 

    Die progressive Haltung (auch die revolutionär-demokratische genannt), repräsentiert durch Nawalny: Die Staatsgewalt ist an sich neutral. Alles hängt davon ab, in wessen Händen sie liegt. Liegt die Macht in „schlechten“ Händen, ist sie „reaktionär“ und muss bekämpft werden. Liegt sie in „guten“ Händen, ist sie „progressiv“ und verdient Unterstützung. Die Interessen einer reaktionären Staatsmacht widersprechen den Interessen der Gesellschaft, die Interessen einer guten Staatsmacht entsprechen denen der Gesellschaft. Deswegen ist die Demokratie in Russland in dem Ausmaß nützlich, in dem sie der Staatsmacht hilft, in guten Händen zu bleiben. Tut sie dies nicht, kann und sollte sie beschränkt werden (Zweckmäßigkeit vor formeller Rechtmäßigkeit).

    Der vertikal organisierte Staat erscheint alternativlos

    Sowohl aus historisch als auch aus streng inhaltlichen Gründen bilden die progressiven, revolutionär-demokratischen Ideen eine ganz eigene Symbiose aus Westlertum und Slawophilie. Die Progressiven erkennen die rationale Notwendigkeit an, die Staatsgewalt der Gesellschaft unterzuordnen, ihre Vorstellung von Staatsgewalt bleibt jedoch irrational.

    In äußerst verkürzter Form lassen sich die drei herrschenden ideologischen Trends in Russland folgendermaßen zusammenfassen: Man muss der Staatsmacht dienen (Patrioten), man muss die Staatsgewalt bekämpfen (Liberale) und man muss die Staatsgewalt nutzen (Progressive).
    Auch wenn die Distanz zwischen diesen drei Positionen auf den ersten Blick enorm  erscheint, liegen sie in Wirklichkeit gar nicht so weit auseinander. Denn sie gehen von derselben Grundlage aus: Die russischen Patrioten, die russischen Liberalen und die russischen Revolutionär-Demokraten (die Progressiven) erkennen allesamt die objektive Alternativlosigkeit, ja sogar Notwendigkeit eines streng zentralisierten, von oben nach unten organisierten, vertikal integrierten Staates für Russland an.

    Der Leviathan als „guter Onkel“, die Gesellschaft als infantiler Teenager

    Aus verschiedenen, sich nicht selten gegenseitig ausschließenden Gründen beten restlos alle – Patrioten, Liberale und revolutionäre Demokraten –  den  russischen Leviathan an. Ihre Einschätzungen, was den russischen Staat betrifft, gehen zwar auseinander, doch betrachten sie ihn alle als einen „sozialen Demiurgen“ und den einzig möglichen Ursprung aller Politik. Die Staatsmacht erscheint ihnen als eine Kraft, die sich von der Gesellschaft losgelöst hat und ein Eigenleben führt. So ein Blick auf die Staatsmacht geht meist mit dem Blick auf die Gesellschaft als einem infantilen Teenager einher. 

    Für die Patrioten mangelt es der russischen Gesellschaft zu sehr an Standhaftigkeit gegenüber dem schlechten Einfluss des Westens, als dass man ihr vertrauen könnte. Für die Liberalen hingegen ist die russische Gesellschaft zu archaisch und reaktionär, als dass man das Schicksal in ihre Hände legen könnte. Für die revolutionären Demokraten ist die Gesellschaft traditionsgemäß kein Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Insgesamt sind sich alle einig: Von der russischen Gesellschaft ist außer Wirren nichts zu erwarten. Die einen vertreten offen, die anderen unterschwellig die Annahme, sie brauche bis heute einen „guten Onkel“. 

    Liberale hoffen insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht 

    Formal stehen die Liberalen im Kampf gegen den Leviathan in der ersten Reihe. Sie der Liebe zu ihm zu bezichtigen, ist also ziemlich schwierig. Doch es gibt einen Lackmustest, der etwas erkennen lässt, worüber man unter Liberalen nicht laut spricht, zumindest nicht öffentlich. Der Indikator ist das Zustimmungs-Level für liberale Ideen in der russischen Gesellschaft – diese Zustimmung überstieg bisher noch nie die derzeitigen „14 Prozent“, die schon zum Mem geworden sind. 

    Die bittere Wahrheit für die Liberalen ist: Auf dem sogenannten demokratischen Weg können sie nicht an die Macht kommen. Bei wirklich demokratischen Wahlen in Russland wird ein Strelkow immer bessere Chancen haben als jeder liberale Kandidat. Wenn die Liberalen also von Demokratie und der freien Wahl des russischen Volkes sprechen, hoffen sie insgeheim auf die Autonomie der Staatsmacht und ihre Fähigkeit, ein Programm umzusetzen, das dem Großteil dieses Volkes fremd ist. Das ist kein Vorwurf, lediglich die Feststellung unangenehmer Fakten, die einen gewichtigen historischen und kulturellen Hintergrund haben.

    Progressive haben eine Chance, an die Macht zu kommen

    Gemessen an der liberalen Utopie erscheinen die bolschewistischen Ansprüche der Progressiven um Nawalny ehrlicher, oder zumindest praktikabler. Die erklärten Ziele der Liberalen sind genauso unerreichbar wie die der Progressiven, aber die Progressiven haben zumindest eine Chance, an die Macht zu kommen. Darüber, was sie dann mit dieser Macht tun wollen, sprechen sie vorsorglich nur in äußerst allgemeinen Formulierungen. Das ist zumindest ehrlich.

    Es gibt verschiedene Arten von Autokratien – orthodoxe, kommunistische, antikommunistische, korrupte und sogar antikorrupte. Bei der Diskussion lieferte keine der Parteien eine Antwort auf die Frage, welche institutionellen (konstitutionellen) Reformen durchgeführt werden müssten, um Russland aus dieser festgefahrenen Spur zu reißen und die Möglichkeit einer weiteren „oligarchischen“ Regierung zu verhindern. Die Ironie des Schicksals liegt darin, dass es Chodorkowski ist, der versucht, eine Antwort zu liefern und so als Beispiel dafür dient, dass Revolutionen in der Regel von Verrätern ihrer Klasse gemacht werden.

    Allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt seit Katharina der Großen unangetastet
     

    Die Idee besteht darin, sich grundsätzlich vom streng zentralisierten Modell einer vertikal integrierten Staatsgewalt zu verabschieden sowie eine Reihe von formalen Beschränkungen einzuführen, die eine weitere Reproduktion dieses Modells in Russland unmöglich machen. 

    Es geht also um eine tiefgreifende politische Reform für Russland, die jene allgemeine Konfiguration von Staatsgewalt zerstören soll, die praktisch seit den Zeiten von Katharina der Großen unangetastet geblieben ist. Diese Reform müsste mindestens drei Hauptkomponenten einschließen:

    Ein unbedingter Machtwechsel. Mit Blick auf die historische Erfahrung und Russlands „übles politisches Erbe“ gilt es Maßnahmen zu ergreifen, damit niemand, und zwar unter keinen Umständen, langfristig oder gar auf unbegrenzte Zeit, Schlüsselpositionen in der Regierung bekleiden kann, einschließlich des Postens des Staatsoberhaupts. Dazu muss es in der russischen Verfassung und in den Verfassungsgesetzen eindeutige Formulierungen geben. 

    Eine tiefgreifende Dezentralisierung von Macht. Das ist der wichtigste und inhaltlich weitreichendste Punkt der politischen Reform. Er beinhaltet zwei Kernpunkte: den Übergang zu einer tatsächlichen Föderalisierung und den Ausbau der Selbstverwaltung, auch in den Metropolen. 

    Dabei wird vorausgesetzt, dass eine echte Föderalisierung kein mechanischer Prozess ist, bei dem „so viel Souveränität, wie ihr tragen könnt“ an die bereits bestehenden, halbfiktiven territorialen Gebilde übergeben wird. Es geht um eine tiefgreifende Umstrukturierung des gesamten Beziehungssystems zwischen der Staatsführung in Moskau und den Regionen, die auch die Bildung neuer Föderationssubjekte vorsieht.

    Und schließlich einen Übergang zur parlamentarischen (oder auch parlamentarisch-präsidialen) Republik. Der Erhalt der bestehenden Regierungsform ist nicht zweckdienlich, sowohl wegen ihrer tiefen Verwurzelung in einer autokratischen Tradition als auch wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der angestrebten Organisationsstruktur der Beziehungen zwischen Moskau und den Regionen. Diese Struktur erfordert eine andere politische Repräsentationsform. In der neuen Konfiguration der Staatsmacht steht die Regierung in der Verantwortung vor dem Parlament, sie muss das zentrale Element beim Aufbau der Staatsmacht bilden.

    Situation in Russland erinnert stark an ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren

    Einerseits erinnert die Situation in Russland stark an die ideologische und politische Sackgasse vor hundert Jahren und könnte durchaus genauso traurig enden. Andererseits gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Anfang des 20. Jahrhunderts: Heute haben die Widersprüche zwischen den Liberalen und den revolutionären Demokraten keinen antagonistischen Charakter (auch wenn die Leidenschaften hochkochen). Und das bedeutet, dass ein Kompromiss und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. 

    Nawalny, der von allen Seiten der Kritik ausgesetzt ist – von rechts und links, von oben und unten – hat in Wirklichkeit noch nichts getan, das die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit den Liberalen ausschließen würde. Das vom Kreml aufgedrängte und von einem Teil der liberalen Intellektuellen aus Konjunkturgründen aufgegriffene Klischee von Nawalny als einem „Faschisten“ entbehrt jeglicher politischer und ideologischer Grundlage. 

    Nawalny ist ein typischer Vertreter der russischen revolutionär-demokratischen Tradition. Er ist natürlich kein Bolschewist im herkömmlichen Sinne, aber ein enger Verwandter der Bolschewisten. Die Wurzeln seiner politischen Philosophie (und die gibt es, glauben Sie mir) gehen auf die Narodniki zurück. Das ist, wie die russische und die Weltgeschichte gezeigt haben, politisch zwar auch „kein Zucker“, hat aber nichts mit Faschismus zu tun. 

    Russische Politik ist wie ein Videospiel mit vielen Levels

    Zudem wissen wir aus der historischen Erfahrung, dass die Weigerung der Liberalen, mit den revolutionären Demokraten zusammenzuarbeiten, den Faschisten den Weg zur Macht bereitet hat. Genau das geschah nämlich im Deutschland der 1930er Jahre, wo der Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Thälmann objektiv betrachtet Hitler in die Hände spielte. 

    Die aktuelle russische Politik erinnert an ein Videospiel: Es gibt viele Levels, aber das nächste Level erreicht man nur, wenn man die Aufgaben des vorherigen erfüllt hat. Für die Opposition gibt es nichts gefährlicheres als den Versuch, ein oder sogar zwei Level zu überspringen, indem sie beginnt, die Probleme der nächsten Stufe zu lösen, bevor die aktuellen gelöst sind. 

    Um das erste Level abzuschließen, müssen die liberalen und die revolutions-demokratischen Kräfte einen konstitutionellen Konsens bilden. Das ist die Conditio sine qua non für einen Sieg der Opposition und das Hauptmerkmal ihrer politischen Reife. 

    Im Gegensatz zu dem, was Lenin forderte, muss sich die heutige Opposition zunächst vereinen und später voneinander abgrenzen.

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  • Debattenschau № 55: Neue US-Sanktionen

    Debattenschau № 55: Neue US-Sanktionen

    Gestern hat das US-Repräsentantenhaus neue Sanktionen gegen Russland sowie gegen den Iran und Nordkorea beschlossen. Die Zustimmung des Senats gilt als sicher, auch Trump wird voraussichtlich seine Unterschrift darunter setzen. Obwohl die Tragweite der Sanktionen noch kaum beziffert werden kann, stellen Politikwissenschaftler, Rohstoffanalysten und Lobbyisten schon Szenarien auf. Und trotz aller Divergenzen sind sich die meisten von ihnen in einem Punkt einig: Die Sanktionen gegen Russland könnten den gesamten globalen Energiemarkt durcheinanderwirbeln. 

    Offiziell sollen die neuen Sanktionen in erster Linie aber Russland bestrafen: unter anderem für die Angliederung der Krim, die mutmaßliche Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen und die Unterstützung Baschar al-Assads im syrischen Bürgerkrieg.

    Vor allem Russlands Rohstoffgeschäft, das einen großen Teil des Staatshaushalts ausmacht, könnte durch die Sanktionen betroffen werden. Russlands Regierung bewertet das neue Sanktionenpaket offiziell als „äußerst negativ“, einzelne Politiker fordern Gegensanktionen

    Auch russische Medien diskutieren: Gehört Russland jetzt zur neuen Achse des Bösen? Wie wird der Kreml die Sanktionen beantworten? Und welche Folgen könnten Sanktionen und Gegensanktionen für Russland haben?

    dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in staatlichen wie unabhängigen Medien.

    Rosbalt: Ein neuer Eiserner Vorhang

    Mit den neuen Sanktionen werde nicht nur das Regime, sondern das ganze Land bestraft, kommentiert Iwan Preobrashenski auf dem unabhängigen Nachrichtenportal Rosbalt – und warnt vor den Folgen:

    [bilingbox]Von dem Moment an, als Russland die Krim angliedert und sich in innerukrainische Politik eingemischt hatte, begann im Westen die Diskussion darüber, wie man sich nun weiterhin gegenüber den Russen verhalten sollte. 
    Die erste Variante war, gemäßigte Sanktionen einzuführen und abzuwarten, solange Moskau nicht von den Plänen ablässt, die Weltpolitik umzubauen. […]
    Es gab […] eine weitere, die man unter Vorbehalt als die „Wir-wollen-Russland-Vergessen“-Variante bezeichnen könnte. Sie sieht einen neuen Eisernen Vorhang vor und nimmt Kurs auf ein politisches und wirtschaftliches Erdrosseln nicht nur der derzeitigen regierenden Klasse Russlands, sondern des ganzen Landes – sodass es zumindest nicht mehr die Weltpolitik beeinflussen kann.

    Jetzt kann man sagen, dass die Amerikaner anfangen, zur letzten Variante zu neigen. Wie die jüngste Erfahrung in den bilateralen Beziehungen zeigt, führen dabei selbst politische Änderungen in Russland – wenn sie denn plötzlich stattfinden sollten – nicht unbedingt dazu, dass sich die amerikanische Gesetzgebung ändert.~~~С того момента как Россия присоединила Крым и вмешалась во внутриукраинскую политику, на Западе началась дискуссия о том, как вести себя с «русскими» дальше. Первый вариант был — вести умеренные санкции и ждать, пока Москва не откажется от планов по переустройству мировой политики. […] Был […] и вариант, который можно условно назвать «хотим забыть о России». Он подразумевал возведение нового «железного занавеса» и курс на экономическое и политическое удушение не только нынешнего российского правящего класса, но и страны в целом, чтобы как минимум лишить ее возможности влиять на мировую политику.

    […] Теперь […] можно будет сказать, что американцы начинают склоняться к последнему варианту. Причем, как показывает прошлый опыт двусторонних взаимоотношений, даже политические перемены в России, если они вдруг случатся, совершенно не обязательно приведут к изменению американского законодательства.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.07.2017

    Valdai Club: Im Club der Schurkenstaaten

    Auf der Website des Valdai-Clubs schlägt Programmdirektor Iwan Timofejew einen alarmistischen Ton an:

    [bilingbox]Das Gesetzesvorhaben stellt Russland in eine Reihe mit „Schurkenstaaten“, auf eine Stufe mit Problemen wie dem Terrorismus. Das raubt denjenigen den Boden, die daran interessiert waren, den Schaden durch die Sanktionen möglichst gering zu halten und die russisch-amerikanische Zusammenarbeit im Rahmen der 5+1-Gruppe hinsichtlich des Irans beziehungsweise der Sechs-Parteien-Gespräche hinsichtlich Nordkoreas zu erhalten.
    In Moskau fragt man nun zu recht, welchen Sinn es habe, mit Washington bei diesen Problemen zu kooperieren, wenn man uns auf einer Stufe mit ebenjenen sieht.~~~Законопроект помещает Россию в линейку «государств-изгоев», а также в разряд проблем, сопоставимых с терроризмом. Это выбивает почву из-под ног у тех, кто рассчитывал минимизировать ущерб от санкций и сохранить российско-американское взаимодействие в рамках «пятёрки» по Ирану и «шестёрки» по Корее. В Москве теперь вполне закономерно зададут вопрос: какой смысл нам сотрудничать с Вашингтоном по этим проблемам, если нас уравнивают с самими этими проблемами?[/bilingbox]

     

    erschienen am 25.07.2017

    Facebook/Alexander Morosow: Handlungsoptionen prüfen!

    Den alarmistischen Duktus des Artikels bewertet Politikexperte und Journalist Alexander Morosow in einem Facebook-Post:

    [bilingbox]Auf der Seite des Valdai-Clubs, des berühmten Kreml-Think-Tanks, gibt’s einen Kommentar zur Kongress-Abstimmung über die neuen Sanktionen. Sein Tenor ist ganz knapp und düster: Wir haben uns verzockt. Nicht eine einzige Bemerkung über irgendwelche Handlungsszenarien oder Möglichkeiten.~~~на сайте известного кремлевского мозгового треста „Валдайский клуб“ комментарий к голосованию в Конгрессе по новым санкциям. Он совершенно четкий и мрачный: „Мы – доигрались“. Там нет даже намека на какую-то „сценарность“ или „варианты“.[/bilingbox]

     

    erschienen am 25.07.2017

    Facebook/Konstantin Kossatschjow: Schmerzhafte Antwort geben

    Der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten beim Föderationsrat, Konstantin Kossatschjow, dagegen stellt auf Facebook die Frage nach Handlungsoptionen:

    [bilingbox]Was tun? 
    Erstmal nichts überstürzen. Unsere offizielle Antwort sollte erst erfolgen, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist (was, o weh, zweifellos geschieht, aber dennoch). 

    Zweitens sollte eine ebensolche Antwort vorbereitet werden, weil es sie unbedingt geben muss. Keine symmetrische, aber eine schmerzhafte für die Amerikaner. Eine Antwort sowohl auf das Gesetz, als auch auf die vorherigen Aktionen mit den Immobilien, den Diplomaten und so weiter.

    Drittens sollten wir davon ausgehen, dass es bei dem gegenwärtigen antirussischen Konsens im Kongress (gestern gab es 419 Pro- und nur drei Gegenstimmen!) keinen Dialog geben kann, und das auf lange Zeit.~~~Что делать?
    Первое – не суетиться. Наша официальная реакция должна последовать уже на вступивший в силу закон (в чем, увы, нет сомнений, но все же). Второе – готовить такую реакцию, потому что она обязательно должна быть. Не симметричная, но болезненная для американцев. И на закон, и на все предшествовавшие этому действия по недвижимости, дипломатам и проч. Третье – исходить из того, что с нынешним антироссийским консенсусом в Конгрессе (вчерашнее голосование 419 против 3!) диалог не получится, это надолго.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.07.2017

    Kommersant: Probleme liegen bei uns

    Von weiteren Gegensanktionen rät Igor Jurgens, Präsident des Think Tanks INSOR, auf Kommersant dringend ab. Er sieht die Probleme woanders:

    [bilingbox]Die Gegensanktionen […] haben uns einen großen Verlust gebracht: Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse sind gerade gestiegen, auch wenn unsere Agrarversicherer behaupten, dass wir uns mit einer Subvention mehr schaden würden als mit dieser Gegensanktion. 
    All unsere wirtschaftlichen Probleme liegen im Inneren, nicht außen, und die müssen wir lösen.~~~Контрсанкции […] нанесли нам больший урон: цены на сельхозпродукцию только повысились, а наши агростраховщики говорят, что мы наносим себе единой субсидией больше урона, чем этой контрсанкцией. Все экономические проблемы у нас внутри, а не снаружи, и вот их надо решать.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.07.2017
    dekoder-Redaktion

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  • Nawalnys misslungener Spagat

    Nawalnys misslungener Spagat

    Ob mit den landesweiten Protestaktionen im März und im Juni oder durch die jüngsten Razzien in seinen Wahlkampfbüros – der erklärte Präsidentschaftsanwärter Alexej Nawalny schafft es derzeit immer wieder in die Schlagzeilen. Für weitere Furore sorgte nun eine öffentliche Diskussion mit Igor Strelkow, bei der die beiden über Korruption, Russlands Verhältnis zum Westen und über die Ukraine sprachen.

    Viele waren bereits irritiert, dass es überhaupt zu einer solchen Debatte kam: Schließlich ist der bekennende Nationalist Igor Girkin alias Strelkow nicht irgendwer – durch seine Rolle während der Krim-Angliederung und als Separatistenführer im Donbass wird er von Kritikern nicht selten als Kriegsverbrecher bezeichnet.

    Warum wollte Nawalny diese Diskussion? Kirill Martynow kommentiert in der Novaya Gazeta, welche Spekulationen es im Vorfeld gab und was sich davon letztlich bewahrheitet hat.

    Als Nawalny einwilligte, mit Girkin zu debattieren, wurde das vom Publikum unterschiedlich erklärt. Die erste Erklärung besagte, Nawalny versuche, seine Wählerschaft und seine Bekanntheit landesweit zu vergrößern – nach Daten der Soziologen wachse letztere aktuell nicht mehr so stark, trotz der Protestaktionen im Juni. Die zweite Erklärung ging davon aus, dass Nawalny einfach alle dazu bewegen wolle, über ihn zu sprechen, und er in der politisch toten Feriensaison um Aufmerksamkeit werbe. Die dritte Erklärung schließlich besagte, Nawalny wolle aus dem Gespräch mit dem einstigen „Chef der Volksmilizen von Noworossija“ eine Art Verhör machen und ihn in einer Live-Sendung als Verbrecher entlarven.

    Erreicht hat Nawalny wohl letztlich das zweite Ziel: Das nach Politik und unzensiertem Aufeinanderprallen politischer Programme dürstende Publikum warf sich gierig auf die Debatte. Auf dem Kanal von Nawalnys Anhängern schauten die Sendung fast 100.000 Menschen, weitere 50.000 folgten dem Spektakel auf dem YouTube-Kanal von Doshd. Das Interesse war definitiv hoch, trotz fehlenden Werbebudgets. 

    Zugeschaut haben hauptsächlich die eigenen Anhänger

    Dennoch konnte Nawalny seine Bekanntheit wohl kaum ernsthaft vergrößern. Es scheint, als habe man Girkin bereits etwas vergessen, und wegen Nawalny haben hauptsächlich seine eigenen Anhänger eingeschaltet. Ähnlich viele Leute – 100.000 bis 200.000 – beteiligten sich in diesem Jahr aktiv an Nawalnys politischer Kampagne. Über die Zusammensetzung der Zuschauer geben auch Umfragen in den Sozialen Medien indirekt Aufschluss: Für Nawalny stimmten dort über 80 Prozent (übrigens eine vertraute Zahl).

    Beim Versuch, die ,imperial-nationalistische‘ Wählerschaft auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt

    Bei dem Versuch, die „imperial-nationalistische“ Wählerschaft, den typischen Sawtra-Leser oder Zargrad-Zuschauer, mit dieser Debatte auf seine Seite zu bringen, hat Nawalny versagt.

    Er gab keine wesentlich bessere Figur als sein Gegner ab, war lange in der Defensive, rechtfertigte sich ein paar Mal und rollte die Augen. Girkin ist gewiss kein glänzender Rhetoriker, aber er blieb ruhig, warf Nawalny vor, dass dieser „kein echter Nationalist“ sei. Nawalny konnte dem weder zustimmen, noch konnte er widersprechen – die Frage, welche Art von Nationalist er sei, umging er behutsam. Girkin versteckte sich in kritischen Momenten nicht besonders überzeugend hinter dem „Militärgeheimnis“ und seiner „Ehre als Offizier“ – zwei Dinge, die in Russland durchaus geschätzt werden, und auf die Nawalny sich nicht beziehen kann.

    Girkin wird nach der Debatte neue Anhänger finden – was man von Nawalny nicht unbedingt behaupten kann. In diesem Sinne hat Letzterer die Debatte verloren.

    Kein „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“

    Bitter enttäuscht wurde die Hoffnung auf einen „Schauprozess gegen den Kriegsverbrecher“, von dem viele liberale Aktivisten vor der Diskussion träumten. Im Studio erklärte Nawalny, dass ausschließlich Gerichte klären sollten, ob Girkin ein Verbrecher sei oder nicht, und er folglich als Politiker keine Meinung dazu habe.

    Im Verlauf der Debatte machte Nawalny zwei Fehler, die wiederum durch eine Schlüsselentscheidung bereits vorbestimmt waren: nämlich der Einwilligung zu der Debatte selbst, die viele aus ethischen Erwägungen bereits kategorisch abgelehnt hatten (dabei geht es nicht um Girkins Überzeugungen, sondern um seine Handlungen als Kriegführender – nach dem Motto: Erst der Prozess um mögliche Kriegsverbrechen, dann die Debatte).

    Ein gravierenderer Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte

    Der erste Fehler hängt damit zusammen, dass Nawalny offenbar eine falsche Vorstellung davon hatte, mit wem er diskutiert. Er betrachtete Girkin als Botschafter der nicht anerkannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken. Doch Girkin antwortete ihm, dass sich die gegenwärtigen Machthaber dort in keinster Weise unterschieden von den Kompradoren-Eliten Russlands und oligarchischen Statthaltern des Westens, die das russische Volk durch das Minsker Abkommen an ukrainische Nationalisten ausgeliefert hätten. Eins ist ziemlich sinnlos: Girkin, dem fanatischen Geheimdienstler und Freiwilligen in allen postsowjetischen Kriegen, vorzuwerfen, er habe sich angedient oder sich gar mit russischen Korruptionären am Diebstahl beteiligt. Er ist natürlich ein Mensch der Ideen, auch wenn diese – zum Beispiel die von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit dem Westen – ziemlich monströs sind.

    Der zweite und gravierendere Fehler bestand darin, dass Nawalny von vorneherein auf zwei Stühlen sitzen wollte. Er ist für das russische Volk, aber gegen Irredentismus. Ein Nationalist, der aber nicht bereit ist, die Nation um jeden Preis zu retten. Ein Liberaler, der aber meint, dass man die Krim nicht einfach so zurückgeben kann. Die Klammer, die all das im Programm Nawalnys zusammenhalten soll, ist natürlich der Kampf gegen Korruption – gegen ebenjene Kompradoren-Eliten und für ein Aufblühen der Nation.

    Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt

    Und da beginnt Girkin plötzlich ganz ruhig von „politischer Philosophie“ und Marx, von Basis und Überbau zu sprechen. Der Kampf gegen Korruption ist nicht möglich, urteilt der einstige Geheimdienstler, ohne eine Änderung der gegenwärtigen Weltordnung im Ganzen – ohne eine Absage an Russlands Rolle in der globalisierten Welt, an die vom Westen diktierte wirtschaftliche Zusammenarbeit, was wiederum auf friedlichem Wege nicht zu erreichen sei und so weiter. Girkins Rede wirkt zeitweise zusammenhängend, widerspruchsfrei und überzeugend – so wie es zum Beispiel bei Verrückten vorkommt. Der Kampf gegen Korruption führe zu nichts, solange wir in dieser wirtschaftlichen Ordnung leben, schließt Girkin seine Rede ab – das Thema bleibt offen. Darauf hatte sich Nawalny, der von seinem Wahlprogramm erzählen und Girkin mit Fragen zu Putin und dem abgeschossenen MH17-Flugzeug attackieren wollte, nicht vorbereitet.

    Nawalny hat versucht, zwischen einer nationalistischen Agenda und liberalen Werten zu balancieren – in etwa der Cocktail, der in postsozialistischen Ländern von Polen bis Georgien als Treibstoff für den demokratischen Wandel diente. Doch dagegen wirkt eine gigantische Maschinerie des imperialen Ressentiments: Die Kränkungen seitens der ganzen Welt, welche Millionen von Menschen nach dem Zerfall der UdSSR real erlebt haben. Schließlich erlangten die Russen, im Unterschied zu den Bürgern anderer postsowjetischer Staaten, 1991 keine Unabhängigkeit von einem fremden und feindlichen Imperium, sondern sie verloren ihr eigenes. Und die Rezepte für den Übergang zu einer Demokratie sollten in dieser Situation andere sein.

    Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei

    Für die gegenwärtige Position Girkins ist die Analogie verständlich. Versetzen wir uns ins 20. Jahrhundert, in einen gewissen Staat, der eine Niederlage erlitten hat und in Teile zerfallen ist. Die Bühne bekommt ein Veteran, der an allen Kriegen teilgenommen hat und wieder bereit ist, die Feinde seiner großen Nation zu töten. Dieser ideologische Soldat redet von Feinden im Westen, die seine Heimat zergliedert haben, von der Notwendigkeit, die Großmacht wiederherzustellen, selbst auf kriegerischem Wege. Schließlich leiden die Vertreter unseres Volkes unter der Besatzung benachbarter, verfeindeter Staaten et cetera. Wer im Streit mit so jemandem auf den Kampf gegen Korruption pocht, schießt offenkundig am Ziel vorbei.

    Eine politische Niederlage für Nawalny

    Man kann nicht mit dem Anhänger einer faschistischen Ideologie streiten und gleichzeitig betonen, dass man selbst Nationalist sei. Auch wenn man dabei erklärt, dass derzeit nicht die richtige Zeit für einen Krieg um die Einheit des russischen Volkes sei, weil das Land wegen der Korruption so verarmt sei.

    Das ganze Format der Debatte, Nawalnys Büro als Drehort, das loyale Publikum während der Live-Übertragung, der bestens vertraute Michail Sygar als Moderator – all das war ein Vorteil für den demokratischen Politiker. Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen zu nutzen. Zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, Nawalny diskutiere aus reiner Gewohnheit. Dass er die imaginierten Wahlen gewonnen hat und das Land bereits mehrere Jahre regiert. Und dass er äußerst müde ist, ein und dieselben Schablonen-Sätze zu wiederholen, wo anstelle der Mai-Dekrete der Kampf gegen Korruption steht.

    Die Debatte mit Girkin wurde zu einer politischen Niederlage für Alexej Nawalny.

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  • Nawalny vor dem Aus?

    Nawalny vor dem Aus?

    Vor allem mit seiner Unermüdlichkeit hat er viel Respekt gewonnen – auch bei seinen Kritikern: der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Allen Versuchen zum Trotz, seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken, eröffnete er ein Wahlkampfbüro nach dem anderen, brachte bei den Anti-Korruptionsprotesten – die auf Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung beruhten – im März und im Juni landesweit Hunderttausende auf die Straßen.

    Aus der Haftstrafe, die er deswegen absitzen musste, wurde er vergangenen Freitag entlassen. Es folgten Durchsuchungen zahlreicher Wahlkampfbüros von Nawalny durch die Polizei, seine Anhänger wurden verhaftet, laut offiziellen Angaben gab es allein in Moskau rund 70 Festnahmen. In Krasnodar war es keine Polizei, sondern es waren etwa 20 Personen – offenbar Aktivisten von Otrjady Putina (dt. Putin-Trupp) – die das Wahlkampfbüro verwüsteten und dabei Slogans wie Nasch Putin (dt. Unser Putin) skandierten [s. Video]. Am gleichen Wochenende wurde Putin auf dem G20-Gipfel danach gefragt, was er von Nawalny halte. Putin vermied es in seiner Antwort, den Namen des Oppositionspolitikers überhaupt zu nennen.

    Oleg Kaschin fragt sich auf Republic unter anderem: Bedeuten die Polizei-Aktionen, dass der Kreml die Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits getroffen hat?

    Rote Punkte kennzeichnen Städte, in denen polizeiliche Durchsuchungen und Festnahmen von Aktivisten stattfanden. Die Briefumschläge markieren Orte, an denen Wahlkampf-Materialien beschlagnahmt wurden. An den mit blauen Punkten gekennzeichneten Orten kam es zu Angriffen durch kremlnahe Aktivisten. Quelle: Meduza

    Der gesamtrussische Pogrom gegen die Wahlkampfbüros von Alexej Nawalny lässt Erinnerungen an die Zeiten der Repressionen gegen [Eduard] Limonows [National-Bolschewistische] Partei wach werden: Dutzende verhaftete Aktivisten, durchsuchte Büros, beschlagnahmtes Agitationsmaterial. Gleichermaßen beeindruckend ist, wie flächendeckend und hart der Staat dabei vorging. Sowas wie Überspitzungen auf örtlicher Ebene oder Täterexzesse kann man ausschließen – weil es zu viele Orte, zu viele Täter sind.

    Befehl aus den obersten Etagen

    Attacken von derartigem Ausmaß sind nur möglich, wenn der Befehl aus den obersten Etagen kommt, und zwar nicht von der Polizei, sondern von der Politik. Wenn man sich vorstellt, dass irgendwo im Kreml regelmäßig Besprechungen zum „Problem Nawalny“ stattfinden, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Stimmung bei diesen Besprechungen in den vergangenen Monaten dreimal umgeschlagen ist.

    Zunächst setzte man auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“, auf staatsloyale Aktivisten, die zwar von der Polizei gedeckt wurden, aber formal eigenständig operieren. Seljonka, Pikets, Schlägereien und Provokationen bei öffentlichen Veranstaltungen – das Standardprogramm der anti-oppositionellen Aktivitäten, das offensichtlich nicht nur dazu gedacht ist, den letzten Nerv zu rauben und die Arbeit zu behindern, sondern auch eine Grundstimmung erzeugen soll, die vermittelt: Wo Nawalny ist, da sind Skandale, Pöbeleien und andere unangenehme Dinge, von denen man sich besser fernhält. 

    „Wo Nawalny ist, da sind Skandale“

    Zum Bruch kam es nach der Seljonka-Attacke, die für Nawalny mit einer Augenverletzung endete – zwischen psychischem und physischem Terror existiert sogar in Russland eine klare Grenze, und die Verantwortung für diese versuchte Verstümmelung trägt mindestens deswegen stillschweigend der Staat, weil die Polizei untätig zuschaute. 

    Nach der unerwarteten Entscheidung, Nawalny zur Behandlung nach Spanien ausreisen zu lassen, sickerten zahlreiche Informationen durch, der Kreml sei verärgert über die enthemmten [staatsloyalen – dek] Provokateure; das Feuer ihrer Aktivitäten würde nun jedenfalls eingedämmt.

    Startschuss für die Polizeioffensive

    Es wurde tatsächlich für einige Wochen ziemlich still um die sogenannte „Zivilgesellschaft“, bis zu ihrem triumphalen Auftritt in Krasnodar Anfang Juli, der quasi den landesweiten Startschuss für eine weitere Attacke gab – diesmal sogar der Polizei: ohne Seljonka, dafür mit Gefangenentransportern und überbordender Gewalt. 

    Zu deren Symbol wurde das Drama um den Aktivisten Alexander Turowski: Als er beim Polizeiangriff auf das Wahlkampfbüro in Moskau verletzt wurde, bugsierte man ihn, inklusive hämischer Kommentare vom Chefarzt, aus dem Sklifosowski-Krankenhaus geradewegs vors Gericht. Dort verdonnerte man das Opfer von polizeilichem Sadismus auch noch zu einer Strafe von 500 Rubel (von einer Strafe für die Polizisten, die mit Kampf-Sambo gegen Turowski vorgegangen waren, ist natürlich keine Rede).

    Ein Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt

    Offensichtlich hat sich in diesen Monaten etwas radikal geändert. Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny an seiner Expansion in die Regionen nicht gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt. Die Episode mit den regionalen Büros und freiwilligen Wahlkampfhelfern war ohnehin nur ein Nebeneffekt der Unentschlossenheit, ob Nawalny zur Wahl zugelassen wird oder nicht – diese Unentschlossenheit wurde selbst von der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa offen benannt. Dann kam der Juli, und die Staatsmacht begann, mit den Wahlkampfbüros aufzuräumen, ohne sich weiterhin hinter den Kosaken, der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) oder dem South East Radical Block (SERB) zu verstecken. Bedeutet das, dass die endgültige Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits gefallen ist?

    Ist Nawalnys Nicht-Zulassung zur Wahl bereits entschieden?

    Ohne zu optimistisch klingen zu wollen: Bisher gibt es keinen Anlass, in der Polizeiattacke gegen Nawalnys Kampagne Anzeichen für eine endgültige Entscheidung zu sehen. Höchst deutlich definiert ist der Gegenstand des staatlichen Unmuts: die Wahlkampfzentralen und die Nawalny-Anhänger. 

    Innerhalb weniger Monaten ist im Land eine gewaltige neue überregionale Oppositionsbewegung entstanden – tausende neuer Anhänger konnten rekrutiert werden, die bislang jenseits der in den Regionen vermuteten zwei, drei Hanseln existiert haben. 

    Seit März sprechen Nawalnys Kritiker von der sogenannten Schkolota [und meinen damit die „dummen Schüler“dek], doch unter dieses abfällige Label fallen nicht die, die man vermeintlich vernachlässigen könnte (zum Beispiel der typische Leiter eines regionalen Wahlkampfbüros, der „Gewinner der regionalen Schüler-Olympiade für Geschäftsleute“, der Harvard-Student in spe, der künftige Programmierer). 

    Die Jugend wird Opposition

    Dass diese Jugendlichen einmal zu Oppositionellen mutieren würden, damit hat die Staatsmacht wohl nicht gerechnet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diese Leute erbarmungslos aus der Politik jagen, genauso wie einst die Limonow-Anhänger. Die Unterbindung jeglichen größeren Aktivismus mithilfe von Polizeigewalt ist ja nicht einmal neu – es ist eine Konstante des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland. Ein paar Monate lang hat man aus irgendeinem Grund zugelassen, dass die Menschen diese Konstante vergessen, und jetzt erinnert man sie wieder daran. 

    Der Staat attackiert jetzt die Jugend

    Die aktuelle Säuberung macht sowieso den Anschein, als hielte die Staatsmacht ihr bisheriges Verhalten für einen Fehler: Indem sie die Eröffnung von Wahlkampfbüros in diversen Städten des Landes nicht verhinderte, senkte sie den Grad an Leidenschaftlichkeit, den die jungen Menschen mitbringen mussten, um in die Opposition zu gehen. Ein legales Stabsquartier in einem echten Büroraum, angemietet irgendwo im Stadtzentrum – an einen solchen Ort zu kommen ist psychologisch deutlich leichter, als in irgendeine Wohnung, die dem Untergrund als Treffpunkt dient. Die jungen Leute, die gestern noch schlicht keine Möglichkeit gesehen hatten, sich der Opposition anzuschließen, strömten plötzlich in diese Wahlkampfbüros. Damit zerstörten sie die gestrigen Vorstellungen von den unpolitischen Massen und den begrenzten menschlichen Ressourcen der Opposition. 

    Die Staatsmacht attackiert jetzt genau diese Jugend, versucht, sie von der Politik abzuschneiden. Sie versucht sie in den vorherigen Zustand zurückzuführen, als oppositionell zu sein noch bedeutete, in unnützen Pikets suspekter Organisationen herumzustehen und danach lange, unangenehme Gespräche in Extremismus-Zentren des FSB zu führen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität.

    Nawalny: Alternativlos in Anti-Putin-Kreisen

    Die Ränkespiele um Nawalnys politische Perspektiven bleiben dabei genauso offen wie im Frühjahr. Nawalnys Gelassenheit in Bezug auf Turowski und andere betroffene Aktivisten verunsichert viele, erscheint aber verständlich, wenn man die Attacken auf die Wahlkampfbüros und die gegen Nawalnys Kampagne selbst als zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene, Dinge begreift. 

    Während die Polizei auf Freiwillige einprügelt und Flugblätter und T-Shirts beschlagnahmt, wettern die Sprecher bei Echo Moskwy gegen Intellektuelle, die sich weigern, in Nawalny zu investieren, dessen Alternativlosigkeit längst zum Mainstream und allgemeinen Konsens in Anti-Putin-Kreisen geworden ist. Selbst wenn man alle Wahlkampfhelfer hintereinanderweg einbuchten und die Zentralen niederbrennen würde – an Nawalnys Führungsposition würde das nichts ändern. 

    Damit Wladimir Putin sich vor Journalisten rechtfertigen muss, warum er denn nicht mit Nawalny debattiere, braucht es weder Wahlkampfbüros noch Wahlkampfhelfer. Die Kreml-Besprechung, bei der entschieden wird, was man mit Nawalny im Kontext der Präsidentschaftswahlen tun soll, die steht noch bevor.

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  • Debattenschau № 53: Putin und Trump auf G20

    Debattenschau № 53: Putin und Trump auf G20

    Kurz vor dem Treffen von Putin und Trump auf dem G20-Gipfel war das Verhältnis zwischen Russland und den USA in Meinungsumfragen erneut auf einem Tiefpunkt angelangt. Kurz vorher hatte Trump in Warschau außerdem noch über das „destabilisierende Verhalten“ Russlands gewettert. Das Gespräch zwischen den beiden Staatschefs am vergangenen Freitag dauerte schließlich aber mit über zwei Stunden deutlich länger als die geplante halbe Stunde. Außer den Übersetzern waren nur die beiden Außenminister dabei, Sergej Lawrow und Rex Tillerson.

    Viel drang nicht nach außen, noch während des Gesprächs wurde bekannt, dass beide Länder eine Waffenruhe in Syrien vereinbarten. Außerdem soll ein neuer Kommunikationskanal geschaffen werden, um Gespräche über die Situation in der Ukraine zu führen. Seine Idee, mit Russland eventuell im Kampf gegen Cyberkrimininalität zu kooperieren, zog Trump nach heftiger Kritik aus Washington kurz nach dem Gespräch wieder zurück.

    Trump, wie er Putin die Hand hinstreckt, das war ein Bild, das vor allem das Staatsfernsehen immer wieder zeigte. Einen Bericht der New York Times, wonach das Gespräch zwischen beiden „hitzig“ geworden sei, wies Kreml-Sprecher Dimitri Peskow als „absurd“ zurück.

    Doch welche konkreten Ergebnisse bringt das Gespräch? Braucht es die überhaupt, oder ist das Zusammentreffen an sich schon ein Erfolg?

    dekoder zeigt Debatten-Ausschnitte aus staatsnahen wie unabhängigen Medien.

    Izvestia: Nicht ohne unseren Leader

    In der kremlnahen Izvestia bewertet Politologe Jewgeni Mintschenko das Treffen sowie den Gipfel insgesamt als Erfolg für Putin:

    [bilingbox]Festzuhalten ist: Der Gipfel in Hamburg war für die russische Delegation und Präsident Wladimir Putin gehaltvoll und produktiv. Keine einzige der wichtigen und in Hamburg gelösten Fragen ist ohne den russischen Leader entschieden worden. Demnach ist das dumme Gerede in den westlichen Medien über eine Isolation Moskaus nicht einfach nur übertrieben, sondern ganz offensichtlich eine Lüge. […] Das nahezu wichtigste ukrainische Exportgut, die Russophobie, wird man im Westen nicht länger abkaufen. Zumindest nicht in den Mengen wie früher.~~~Важно отметить, что для российской делегации и президента Владимира Путина гамбургский саммит стал очень насыщенным и продуктивным. Ни один из важных и решенных вопросов в Гамбурге не обошелся без участия российского лидера. В связи с этим глупые разговоры в западных СМИ об изоляции Москвы не просто преувеличены, а выглядят откровенной ложью. […] Чуть ли не главный экспортный украинский «товар» — русофобию — больше не станут покупать на Западе. По крайней мере в таких количествах, как раньше.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.07.2017

    Facebook: Nur „body language“ und Melania

    Für den liberalen Oppositionspolitiker und Wirtschaftswissenschaftler Grigori Jawlinski dagegen ist Russland weit abgeschlagen. Auch die Nachricht, dass selbst Melania das Gespräch der beiden Staatschefs nicht rechtzeitig beenden konnte, kommentiert er ironisch:

    [bilingbox]Trump ist höchst unangenehm und sogar gefährlich für uns. Vor allem, weil er schlicht auf uns pfeift und ein völliger US-Provinzler ist. Wenn wir ihm keine Probleme bereiten oder wenn Russland nicht gerade gebraucht wird, um politische Gegner zu „trollen“ (wie während des Präsidentschaftswahlkampfs), sind wir für ihn einfach Luft […] Auf dem G20-Gipfel hat Trump wiederum gezeigt, dass Russland in der amerikanischen Außenpolitik weit abgeschlagen nicht den ersten Platz einnimmt. 

    Deswegen hat auch das Treffen Putin – Trump nichts mit dem zwischen Gorbatschow und Reagan zu tun. Und nicht mal mit dem zwischen Putin und Bush. Denn mit Bush hat sich Putin getroffen, als bei allen Problemen noch die Hoffnung lebte, dass Russland und die USA ernsthafte Partner werden, beispielsweise im Kampf gegen den internationalen Terrorismus … 
    Vom Treffen Putin – Trump waren nun einzig interessante Bilder und Interpretationen der „body language“ zu erwarten. Wenigstens ein kleines Vergnügen und Nahrung für den Grips. Melania schaute kurz bei dem Treffen vorbei – was ‘ne Nachricht.~~~Трамп крайне неприятен и даже опасен для нас. Прежде всего тем, что ему на нас наплевать и он глубокий американский провинциал. Когда мы не создаем ему проблем или когда тему России нельзя использовать для того, чтобы «троллить» оппонентов (как во время президентской кампании), мы для него вообще исчезаем. […] На саммите G-20 Трамп еще раз показал, что в американской внешней политике Россия занимает далеко не первое место. Поэтому и встреча Путин-Трамп — это совсем не Горбачев-Рейган. И даже не Путин-Буш. Потому что с Бушем Путин встречался, когда при всех проблемах еще была жива надежда на то, что Россия и США станут серьезными партнерами, например, в борьбе с международным терроризмом… А вот от встречи Путина с Трампом только и можно было ожидать, что интересных картинок и расшифровок «body language». Хоть какое-то развлечение и пища для размышлений. Мелания зашла на встречу — вот и новость.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.07.2017

    Moskowski Komsomolez: Die Angst ist weg

    Im staatsnahen Moskowski Komsomolez vergleicht Michail Rostowski die Euphorie einiger seiner Kollegen mit dem Hochgefühl unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps. Er selbst sieht in dem Treffen jedoch keinen wirklichen Durchbruch, auch wenn es Anlässe für leise Hoffnungen gebe:

    [bilingbox]Der „neue Impuls“, den das Treffen von Putin und Trump unseren Beziehungen bringen sollte, besteht ganz einfach in Folgendem: Die kleinen Staatsbeamten beider Länder – insbesondere die US-amerikanischen – sollen einen Anreiz bekommen, innerhalb der von den Präsidenten skizzierten Agenda konkret zusammenzuarbeiten.

    Vor dem Rendezvous von Putin und Trump hatten amerikanische Staatsbeamte keinen solchen Anreiz. Stattdessen herrschte Angst: Wenn ich auch nur den kleinsten Schritt auf die Russen zugehe, wird man mich gleich zum „Agenten Moskaus“ erklären. Nach Hamburg ist diese Angst natürlich nicht vollständig verschwunden. Aber immerhin haben die Beamten und Diplomaten nun ein „Schutzmittel“, eine Ausrede: Ich führe nur die Anweisung meines unmittelbaren Chefs aus. Falls Ihnen etwas nicht gefällt, wenden Sie sich an ihn. 

    […] Was in Hamburg geschah, das ist gut. Und möge dieses „gut“ eine Fortsetzung finden.~~~

    «Новый импульс», который встреча Путин-Трамп должна придать нашим отношениям, заключается в очень простой вещи. У нижестоящих чиновников двух стран — особенно у нижестоящих американских чиновников — должен появиться стимул к конкретной работе друг с другом в рамках очерченной президентами повестки.

    До рандеву Путина и Трампа такого стимула у американских чиновников не было. Зато был страх: если я сделаю хоть крошечный шажок навстречу русским, меня тут-же объявят « агентом Москвы». После Гамбурга такой страх, естественно, полностью никуда не исчез. Но у чиновников и дипломатов появилось хоть какое-то «средство защиты», отмазка и отговорка: я выполняю прямое указание своего непосредственного начальника. Если вам что-то не нравится, то обращайтесь к нему.

    […] то, что произошло в Гамбурге — это хорошо. И дай бог, чтобы это «хорошо» получило свое продолжение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.07.2017

    Republic: Wenn du gar nicht weiter weißt …

    Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sieht wenig konkrete Ergebnisse, wie er auf dem unabhängigen Portal Republic schreibt:

    [bilingbox]Klar, dass keine Einigungen erreicht werden, die Seiten interpretieren die Aufgaben der Gruppe sehr unterschiedlich. […] Doch hier findet sich ein bekannter Lösungsansatz: Willst du ein Problem begraben, gründe einen Arbeitskreis. Und das wäre ein wichtiges positives Ergebnis des Treffens: die Isolierung des Destruktiven und die Bereitschaft voranzugehen. […]
    Es war ein Treffen zweier geopolitischer Konkurrenten, die ein einziges Thema fanden, bei dem die Interessen eine Zusammenarbeit erlauben – Syrien. Das gesamte restliche Gebiet ist voller Konfliktstoff, dessen Überwindung von beiden Leadern gehörige Abstriche und Begrenzung ihrer Ambitionen verlangt. Die Zeit dafür ist noch nicht gekommen. ~~~Понятно, что ни о чем договориться не получится, стороны по-разному интерпретируют задачи такой группы (Москва традиционно хочет обсуждать национальный суверенитет над интернетом от американского информационного влияния, США – хакерские атаки на объекты критической инфраструктуры, включая теперь уже и избирательные системы в американских штатах). Но тут действует известный подход: хочешь похоронить проблему – создай комиссию. И это было бы важным позитивным итогом встречи – изоляция деструктива, готовность двигаться дальше, – весьма выгодным для России. […] 
    Это была встреча двух геополитических соперников, нашедших одну тему, где интересы позволяют работать вместе, – Сирия. Все остальное пространство занято конфликтной повесткой, преодоление которой потребует от обоих лидеров содержательных уступок и ограничения амбиций. Время для этого пока не пришло.[/bilingbox]

     

    erschienen am 08.07.2017

    RBC: Moskau steuert auf großen Konflikt zu

    Auch Politologe Alexander Morosow sieht auf RBC kein Ende der Konfrontation – ein Hauptproblem sei dabei Putins Außenpolitik, die an die der Breshnew-Jahre anknüpfe

    [bilingbox]Putin ist dabei, eine russische „Souveränität“ aufzubauen – das ist sein deklariertes Hauptziel. Er denkt sich die Souveränität praktisch im sowjetischen Sinn, nach Art der 1960er und 1970er Jahre, also als eine militärische und politische Parität. Obwohl die UdSSR real gesehen weder militärisch noch politisch gleichauf waren mit den USA, hat die Geschichte gezeigt, dass der erfolgreiche Bluff und eine aktive Außenpolitik ein Gleichgewicht geschaffen haben, welches zum Ende der 1970er Jahre in einer Reihe von Verträgen und Abmachungen verankert wurde.

    In den Jahren 2014 bis 2017 hat Putin derart krasse Schritte unternommen, dass kein Zweifel besteht, wohin die Reise geht: Krim, Donbass, Aufrüstung der Armee, Militäreinsatz in Syrien, Schaffung globaler Propaganda-Instrumente – all das zeigt, dass Moskau über verschiedene kleine Zusammenstöße mit den USA konsequent auf einen großen Konflikt vom Maßstab einer Kubakrise zusteuert. Nur bei einer solchen Entwicklung der Ereignisse hat der russische Präsident eine Chance, seine eigene Politik als Politik des Erfolgs zu festigen.~~~Путин находится в процессе постройки российского «суверенитета» — это его главная декларируемая цель. Он мыслит себе суверенитет практически по-советски, на манер 1960–1970-х годов, то есть как военный и политический паритет. История показала, что хотя в те годы у СССР не было реального военного паритета с США, но успешный блеф и активная внешняя политика привели к установлению равновесия, которое к концу 1970-х было закреплено целым рядом договоров и соглашений.

    В 2014–2017 годах Путин сделал целую серию шагов настолько резких, что нет никаких сомнений в том, куда он ведет дело: Крым, Донбасс, перевооружение армии, военная операция в Сирии, создание инструментов глобальной пропаганды — все это показывает, что Москва настойчиво движется через различные мелкие точки столкновений с США к масштабному конфликту типа Карибского кризиса. Только при таком развитии событий у российского президента есть шанс закрепить всю свою политику в качестве политики успеха.[/bilingbox]

     
    erschienen am 09.07.2017

    Carnegie.ru: Geschenk an das eigene Land und die Menschheit

    Auf Carnegie.ru meint Alexander Baunow, dass es konkrete Vereinbarungen und Zugeständnisse zwischen den beiden Staatschefs derzeit gar nicht brauche, um dennoch eine Entspannung zu erreichen:

    [bilingbox]Wenn Russland so stark und gefährlich ist, wie es in den letzten Monaten gezeichnet wird, ist keinerlei konkreter Tauschhandel nötig. Ein Erfolg ist schon die Aufhebung der Spannungen in den Beziehungen zu dem schrecklichen Feind, der fähig ist, gleichzeitig in der Welt und in den USA zerstörerisch zu handeln. Mit einem Nicht-Freund in Feindschaft leben will niemand – weder die Wirtschaftswelt noch der einfache Wähler, dem die Politiker Rechenschaft schuldig sind. Die Ausmerzung von Gefahr ohne konkreten Tauschhandel – das ist in einem solchen Fall schon ein Geschenk an das eigene Land und die Menschheit.~~~Если Россия так сильна и опасна, как ее изображают в последние месяцы, никакого конкретного размена и не нужно. Успехом будет уже снятие напряженности в отношениях со страшным противником, способным разрушительно действовать одновременно в мире и в самой Америке. Жить во вражде с недругом не хочется никому – ни бизнесу, ни простому избирателю, перед которым отчитываются политики. Устранение угрозы без конкретного размена по пунктам в таком случае – уже подарок собственной стране и человечеству.[/bilingbox]

     

    erschienen am 07.07.2017

    Rossijskaja Gaseta: So sehen Demokratie und Pluralismus aus

    Die staatsnahe Rossijskaja Gaseta beschäftigt sich auch mit den Ausschreitungen in Hamburg während des Gipfels:

    [bilingbox]Ungeachtet der Erfolge der G20 werden den vielen in die Stadt gereisten ausländischen Delegationen auch andere Bilder im Gedächtnis bleiben: brennende Barrikaden und bewaffnete Spezialeinheiten, Wasserwerfer auf Demonstranten, das ständige Dröhnen der über der Stadt kreisenden Hubschrauber, das Knallen von Böllern, die Schreie der unter Polizeiknüppel geratenen Protestler und die verschreckten Bewohner friedlicher Bezirke …

    All das war auch der Gipfel in Hamburg, der, so hatte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel versprochen, den Triumph der deutschen Demokratie und den in der Bevölkerung existierenden Meinungspluralismus demonstrieren sollte.

    Genau wie die in den Tagen des Summit auf der Straße ertönte 9. Symphonie von Beethoven. Ein absurdes Zusammentreffen: Während der Chor eifrig die Worte „Alle Menschen werden Brüder“ hervorbrachte, bewarfen Teilnehmer der Protestaktionen auf Hamburgs Straßen die Polizisten mit Flaschen, Steinen und schossen mit Steinschleudern … Und die in Rage gekommenen Hüter der Ordnung antworteten mit dem gesamten Arsenal.

    Die Hamburger sahen wilde Szenen: brennende Barrikaden, aufgerissene Bürgersteige, geplünderte Geschäfte.

    An den Tagen des Gipfels verwandelte sich die Stadt in eine Hölle. Das also sind die Folgen des demokratischen Spektakels, das sich die Frau Kanzlerin ausgedacht hat.~~~Несмотря на успехи “двадцатки“, у приехавших в город многочисленных иностранных делегаций в памяти останутся картины горящих баррикад и вооруженных спецназовцев, падающих под струями водометов демонстрантов, гул постоянно кружащих над городом вертолетов, хлопки петард, крики попавших под полицейские дубинки протестующих, и испуганные жители мирных кварталов… Все это – тоже саммит в Гамбурге, который, как обещала канцлер Германии Ангела Меркель, должен был продемонстрировать торжество немецкой демократии и царящий в обществе плюрализм мнений. Так же, как и сыгранная в дни саммита на улице девятая симфония Бетховена. Абсурдное совпадение: в то время как хор старательно выводил слова “Все люди станут братьями“, участники акций протеста на улицах Гамбурга кидали в полицейских бутылки, камни, стреляли из рогаток. А вошедшие в раж стражи порядка отвечали им всем арсеналом спецсредств. Жители Гамбурга наблюдали жуткие картины: горящие баррикады, развороченные тротуары, разграбленные магазины. На дни саммита город превратился в ад. Такими оказались последствия того демократического спектакля, который задумала фрау канцлер.[/bilingbox]

     

    erschienen am 09.07.2017

    dekoder-Redaktion

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  • Stone: The Putin Interviews

    Stone: The Putin Interviews

    Zwölf Mal haben sie sich getroffen, zwischen Juli 2015 und Februar 2017: Der russische Präsident Wladimir Putin und der US-amerikanische Kinoregisseur Oliver Stone. Nun wurden The Putin Interviews Mitte des Monats im russischen Staatsfernsehen gezeigt. Auch international war das Stone-Interview zu sehen, so im US-Fernsehen und für das deutschsprachige Publikum auch auf einzelnen Sparten des Bezahlsenders Sky

    Anschließend sorgte im russischen Web eine kurze Filmszene für Häme, in der Kreml-Pressesprecher Dimitri Peskow in unbequemer Haltung mit Mikrofon-Angel über der Schulter zu sehen war. Außerdem entfachte das Bildmaterial einiger Blogger Diskussionen: Ein Video, das Putin dem Regisseur auf dem Smartphone zeigte, dokumentiere nicht, wie behauptet, den russischen Kampf gegen Terroristen in Syrien, sondern US-Soldaten im Einsatz gegen Taliban in Afghanistan.

    Alexej Kowaljow, der den Medienblog Lapschesnimalotschnaja betreibt, hat sich die vier Stunden Putin-Interview für The New Times angesehen. 

    „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – Oliver Stone und Wladimir Putin / Foto © Screenshot aus dem Film „The Putin Interviews“
    „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – Oliver Stone und Wladimir Putin / Foto © Screenshot aus dem Film „The Putin Interviews“

    Putin und der Kreml haben ein ziemlich gravierendes Imageproblem. So absurd es auch klingen mag: Trotz eines nahezu unerschöpflichen Budgets und der vollen Kontrolle über alle Medien im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben.

    Selbstverständlich gibt es eine ganze Armee von Leuten, die nichts anderes tun. Aber wenn Putin wieder einmal von einem Experten oder Moderator gelobt wird, der sein Gehalt von Putin bezieht, noch dazu auf einem Sender, der ebenfalls Putin gehört, wirkt das sogar für den leidenschaftlichsten Anhänger wenig überzeugend.

    Deswegen ist der neue Film von Oliver Stone The Putin Interviews ein ungeheures Glück für hunderte von Menschen in den Büros der Agitprop-Kommandozentralen: Vier Stunden liebedienerische Propaganda, die auch noch vollkommen aufrichtig gemeint ist und das Budget gerade mal mit ein paar läppischen Millionen für die Verleihrechte belastet. Ein besseres Geschenk kann es für die Wahlkampagne gar nicht geben.

    So absurd es auch klingen mag: Im Land fehlt es an Leuten, die Wladimir Putin loben

    Kein Zweifel: Oliver Stones Film und nicht der alljährliche Direkte Draht mit Wladimir Putin hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet. Es genügt ein Blick darauf, wie viel Aufmerksamkeit und Sendezeit diesem Film schon jetzt durch die russischen Staatsmedien zukommt. Wochenlang waren Hunderte von Mitarbeitern in Dutzenden von Redaktionen damit beschäftigt, aus buchstäblich jeder Sekunde des vierstündigen Films (vier Folgen à 60 Minuten) eine Schlagzeile zu machen. 

    Diese Propagandakampagne führt zu bemerkenswerten Szenen der Selbstentblößung. Die Schlagzeile „Putin erklärte, dass der Staat in Russland die Medien nicht kontrolliere“ erschien beispielsweise auf der Seite des staatlichen Medienunternehmens Rossija Sewodnja (dt. Russland heute), der ehemaligen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, die durch einen Erlass Putins aufgelöst worden war.

    Oliver Stones Film hat den offiziell noch nicht eröffneten Wahlkampf eingeläutet

    Doch eine noch krassere Diagnose verdient der Macher von The Putin Interviews Oliver Stone. Der dreifache Oscarpreisträger und Regisseur steht politisch jenen Linken nahe, die man für gewöhnlich als „tankies“ beschimpft. Ein historischer Begriff, mit dem ursprünglich Mitglieder der britischen Kommunistischen Partei verspottet wurden, die 1956 den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn unterstützt hatten. Seitdem bezeichnet er Menschen, die autoritären Regimes anhängen, seien sie noch so blutig, solange sie nur antiwestlich oder antiimperial und so weiter sind.

    Ein Tankie kann also jeder Linke sein, der die Freiheiten und Privilegien im Westen genießt, wo er auch lebt, gleichzeitig aber als leidenschaftlicher Anhänger und Verteidiger irgendeines Saddam Hussein auftritt. Ganz nach dem Prinzip: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Diese Ideologie geht meist einher mit Verschwörungstheorien, Antisemitismus (Tankies vertreten fast immer radikal antiisraelische Positionen) und einem moralischen Relativismus im Sinne von: Egal was diese Regime tun, Amerika/der Westen ist schlimmer.

    Stone ist einer von ihnen. Hinter ihm liegt ein langer und konsequenter Weg zu The Putin Interviews. Kennedy wurde nicht von Lee Harvey Oswald ermordet, sondern fiel einer Verschwörung des CIA mit dem militärisch-industriellen Komplex der USA zum Opfer. Davon handelt JFK, einer der bekanntesten von Stones Filmen. Die jüdische Verschwörung in den Medien – darum ging es kürzlich bei einem Fernsehauftritt von Stone. Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre (Mein Freund Hugo, Ukraine on Fire) ist eine leidenschaftliche, aufrichtige und unkritische Apologie höchst zweifelhafter Regime.

    Stones gesamte Filmkarriere der letzten zehn Jahre ist eine Apologie höchst zweifelhafter Regime

    Deswegen ist The Putin Interviews auch keine Auftragsarbeit des Kreml, sondern ein folgerichtiger Ausdruck der politischen und künstlerischen Haltung eines Regisseurs, der zweifellos als einer der begabtesten und bekanntesten unter seinen amerikanischen Kollegen gelten kann. Und diese Haltung lässt den Hauptprotagonisten des Films, Wladimir Putin, sogar moderater und vernünftiger wirken als seinen Interviewer. Interviewer ist in der Tat zu viel gesagt. Als journalistische Gattung setzt das Interview gewisse Standards voraus, an die sich zu halten Stone erst gar nicht versucht.

    Tatsache ist, dass Oliver Stone den gesamten Film über nicht mit Putin spricht, sondern mit sich selbst. Stone hält ausschweifende Monologe wie: „Sie klingen so, als sei die Wall Street ihr Freund, dabei frage ich mich, ob die Wall Street Russland nicht vernichten möchte?“ Oder: „Viele gebildete Menschen sind der Meinung, das Ziel der USA sei, die russische Wirtschaft zu zerstören.“ Oder: „Gab es in der amerikanischen Geschichte denn je eine Zeit, in der Russland den USA nicht als Feind präsentiert wurde?“

    Wladimir Putin wirkt moderater und vernünftiger als sein Interviewer

    Willst du Putin dazu bringen, deine antiwestlichen Kampfreden zu korrigieren, braucht es dafür wirklich ein oscarwürdiges Talent. Putin war beispielsweise gezwungen zu erklären, dass es keinerlei formale Verpflichtung gebe, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Selbst wenn Stone Putin nicht mit seinem selbst für Putin allzu radikalen Antiamerikanismus irritierte, warf er ihm bestenfalls sogenannte Softbälle zu – unverfängliche und bequeme Fragen, die den Interviewpartner keinesfalls in eine Sackgasse führen. Wenn Sie wissen möchten, was eine Softball-Frage ist, sehen Sie sich ein beliebiges Interview mit Putin im Staatsfernsehen an. Sogar die angesehensten Moderatoren der staatlichen Sender werden nicht gebraucht, um Fragen zu stellen, sondern dienen zur Dekoration für Putins Monologe.

    Aber natürlich ist Stone viel talentierter als die meisten russischen Fernsehmacher. Außerdem würde niemand einem Kameramann von Vesti je erlauben, Putin aus einem Winkel zu filmen, bei dem seine Glatze oder sein Bäuchlein zu sehen sind, geschweige denn seine Finger, die nervös die Armlehne kneten. Deswegen wirkt Putin hier auch viel lebendiger, als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen. Genau dafür wurde Stone in englischsprachigen Kritiken übrigens gelobt – die Authentizität des Streifens.

    Putin wirkt hier viel lebendiger als der Cyborg aus dem russischen Fernsehen

    Und natürlich würden dem Ersten Kanal bei der Montage niemals solche Fauxpas unterlaufen, die passiert sind, weil Stone tatsächlich rein gar nichts über Russland weiß, nicht mal auf Wikipedia-Niveau: Als sie auf das Thema internationaler Terrorismus kommen, liefert Stone Putin abermals eine enthusiastische Vorlage, woraufhin Putin erzählt, die CIA habe tschetschenische Kämpfer finanziert. Gleichzeitig laufen im Hintergrund Bilder vom Nord-Ost und aus Beslan ab. Offenbar hat niemand Oliver Stone erklärt, dass bei mindestens einem dieser tragischen Ereignisse der russischen Geschichte am Tod der meisten Geiseln nicht die Terroristen schuld sind. Völlig unabhängig davon, wer sie finanziert.

    Tatsache ist, Putin und Russland nehmen im Weltbild eines Oliver Stone und anderer anti-westlicher Linker eine untergeordnete Position ein, sie sind quasi Dekoration für ihren Hass gegen das Establishment der USA. Deswegen braucht Stone Putins Antworten auch gar nicht unbedingt, meistens ist die Antwort schon in der Frage enthalten.

    Letzten Endes ist aus einem epischen vierstündigen Streifen über den widersprüchlichsten, mächtigsten, weisesten und erfahrensten Politiker, der völlig zu Unrecht vom Westen verleumdet wird – so hatte sich der Macher das gedacht – eine selbstentblößende Autobiografie zweier in die Jahre gekommener verwirrter Menschen geworden. Beide haben sich hoffnungslos in einem Netz aus längst veralteten und widersprüchlichen ideologischen Dogmen verheddert.

    Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die ‚Hegemonie Amerikas‘, dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen

    Oliver Stone wettert mit so viel Feuer gegen die „Hegemonie Amerikas“ (die auf jeden Fall alles andere als frei von Sünde ist), dass Putin sich genötigt sieht, ihn zu bremsen. Putin gibt solche Interviews schon seit 18 Jahren, sein Panzer ist kugelsicher.

    Alle Versuche von Reportern, seien sie noch so forsch und frech, ihn mit irgendeiner Frage zu kriegen, scheitern und enden mit Anfall von Untertänigkeit in den russischen Medien, nach dem Motto: „Da hat Putin es dem West-Journalisten aber gezeigt.“ Er vermag es, auf die direkteste Frage mit einer offenkundigen Lüge zu antworten, sodass seinem Gegner nichts anderes übrigbleibt, als mit offenem Mund dazusitzen.

    Denn Putin hat nichts zu befürchten. Es gibt niemanden, der „es ihm zeigen“ könnte. Seine Chancen bei der Wahl hängen nicht davon ab, ob er die Wahrheit sagt oder lügt. Wahrscheinlich weiß er sogar intuitiv um das ulkige Brandolini-Gesetz: Das Widerlegen von Unsinn erfordert erheblich mehr Energie als die Erfindung. Als Putin dann ganz unumwunden behauptet: „In Russland mischt sich der Staat nicht in die Arbeit der Medien ein“, sieht man, dass er wohl schon selbst daran glaubt. Und das ist der mit Abstand unheimlichste Moment des gesamten Films.

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    Kalte Freundschaft

    „Wir sehen die USA nicht als Feind”, sagte Putin während des Direkten Drahts; zahlreiche westliche Medien berichteten darüber. Umgekehrt beschreiben russische Staatsmedien die außenpolitische Situation ihres Landes gerne als die „einer belagerten Festung“: Umgeben von Feinden trotze Russland aber erfolgreich den ständigen Versuchen des Westens, es zu vereinnahmen, so der Tenor.

    Auch Wladimir Putin betont wiederholt Russlands Großmacht-Stellung, die ständig vom Ausland unterminiert werde: Diesmal auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Dieses von der russischen Regierung organisierte Jahrestreffen internationaler Politiker, Wirtschaftsführer und -experten will neben der Wirtschaft auch die Antworten auf drängende globale Fragen fördern.

    In einer öffentlichkeitswirksamen Ansprache empfiehlt Putin dem Westen, Russlands „volle Souveränität“ anzuerkennen und seine „rechtmäßigen Interessen“ zu akzeptieren – nur so könne ein globales Machtgleichgewicht wiederhergestellt werden.

    Dem Außenpolitik-Experten Wladimir Frolow deucht dies wie ein „Zurück in die 1970er“. Auf republic.ru kommentiert der einstige Diplomat Putins geopolitisches Weltbild und zeigt auch anhand jüngster Hacker-Attacken Parallelen zur Breshnew-Zeit auf.
    Diese gilt in der russischen Geschichtsschreibung als eine Zeit, in der die Sowjetunion dem Westen Paroli bieten konnte. Ansonsten wird sie aber vor allem mit dem Sastoi assoziiert – der Epoche des Stillstands. 

    Die außenpolitische Botschaft Wladimir Putins an den sogenannten Westen ist klar: „Da könnt ihr lange warten!“ Signifikante Veränderungen in der russischen Außenpolitik sind nicht geplant, geschweige denn eine Revision des zugrundeliegenden Konzepts: „Der Westen wirkt der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen und will so die eigene Vormachtstellung in einer unipolaren Weltordnung erhalten, und Russland reagiert entsprechend auf diese Beschneidung seiner rechtmäßigen Interessen.“

    Der Konflikt mit dem Westen bleibt ein ideologischer Grundpfeiler der russischen Außenpolitik und bestimmt Moskaus Handeln auf der internationalen Bühne. Die russischen Interessen zu vertreten heißt nun fast ausschließlich, die geopolitischen und wirtschaftlichen Positionen des Westens in einem Nullsummenspiel zu untergraben.

    Das Ausmaß des Konflikts und die konkreten territorialen und diplomatischen Fronten werden variieren. Beeinflusst werden sie durch die aktuelle politische Weltlage, die Maßnahmen und die Entschiedenheit des Westens, russische Bestrebungen abzublocken, sowie die innenpolitische Situation und die außenwirtschaftliche Konjunktur. Von Letzterer hängen Russlands Ressourcen für die Durchführung einer entschlossenen Außenpolitik ab.

    Gemäßigte Phase der Konfrontation

    Putin bekundete Moskaus Interesse an einer gemäßigten Phase der Konfrontation (nicht ihrer Beendigung), das heißt an einer „Entspannung der internationalen Lage“ im Stil der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.

    Dem Westen wird angetragen, sich mit Russlands neuem geopolitischen Status abzufinden, Russlands regionale und globale Ambitionen als legitimes Interesse zu akzeptieren und seine uneingeschränkte Souveränität anzuerkennen, sprich: sich nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen.

    Außerdem wird dem Westen nahegelegt, auf jegliche Kritik der russischen Innenpolitik zu verzichten, die Sanktionen aufzuheben und zu einer umfassenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückzukehren.

    Zudem sollte man zu einer engen politischen Zusammenarbeit mit Moskau in allen wichtigen globalen Fragen übergehen, wobei Russlands Gleichstellung mit dem Westen anerkannt und Moskaus Propagandanarrativ Berücksichtung finden muss.

    Helsinki 2.0 – nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt

    Das alles sieht aus wie der Vorschlag eines Helsinki 2.0 – allerdings nicht mehr nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Und mit ein paar grundlegenden Neuerungen, insbesondere im „humanitären Korb“.

    Dabei geht es um die endgültige Festlegung der Einflussgrenzen (nicht nur der geografischen, sondern auch der ideologischen – man hat nunmal unterschiedliche Auffassungen von Menschen- und Persönlichkeitsrechten), um die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (die Art und Weise eines Machtwechsels darf nicht Gegenstand internationaler Beziehungen sein). 
    Es geht um für Russland vorteilhafte Regeln für die Anwendung von Waffengewalt (die gewaltsame äußere Einmischung als „humanitäre Intervention“ oder „Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung“ ist unzulässig, legitim sind hingegen militärische Interventionen nach Aufforderung, zur „Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung“). 
    Außerdem geht es um die Souveränität des Informationsraumes (Kontrolle über das Internet und die Medien auf dem eigenen Interessengebiet) sowie die Handelsfreiheit und staatlich kontrollierte Investitionen, unabhängig vom innen- oder außenpolitischen Tagesgeschehen.

    Völlige Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung

    Damit sind zwei potentiell destabilisierende außenpolitische Konzepte zur vorbehaltlosen Annahme auf dem Tisch. Sie stammen ebenfalls aus den guten alten 1970ern, sind aber in ihrer Form leicht abgewandelt: Die „rechtmäßigen Interessen“ und die „uneingeschränkte Souveränität“.

    Das erste Konzept schreibt Moskaus Recht auf militärisches Eingreifen im Ausland fest – sowohl im Umkreis der eigenen Landesgrenzen als auch in anderen Regionen der Welt, wo sich eine Möglichkeit bietet, bei verhältnismäßig geringem Kostenaufwand auf den Westen Druck auszuüben. Die Grenzen der „Rechtmäßigkeit“ dieser Interessen sind absichtlich nicht klar definiert und können bei Bedarf kurzerhand uminterpretiert werden. Aber das Recht zur Neuinterpretation und zur Anpassung der gesamten Außenpolitik an diese neue Fassung hat nur eine Person.

    Bei der völligen Intransparenz außenpolitischer Entscheidungsfindung wirkt die Unberechenbarkeit der russischen Außenpolitik destabilisierend auf die Weltgemeinschaft und provoziert eine Politik der Zurückhaltung.

    „Rechtmäßige Interessen“ sind heute die Krim, morgen der Donbass und der Südosten der Ukraine, in einem Jahr Syrien, in zwei Jahren Libyen, in drei Jahren die Balkanstaaten und Afghanistan. Nicht auszuschließen, dass irgendwann auch Venezuela oder Nicaragua auf dieser Liste landen.

    Enger Kreis von wahren Souveränen

    Das Konzept der „uneingeschränkten Souveränität“ für die einen birgt die Gefahr, dass sie automatisch eine begrenzte Souveränität aller anderen bedeutet. Damit wird eine Zwei-Klassen-Struktur in den internationalen Beziehungen geschaffen, in denen dann einige Länder gleicher sind als andere.

    In Wladimir Putins Weltauffassung gibt es nur wenige Staaten, die über uneingeschränkte Souveränität verfügen, sprich über die Fähigkeit, eine gänzlich unabhängige Außenpolitik zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Meinung anderer Großmächte. Neben Russland und den USA sind das Indien, China, Brasilien und der Iran. Aber auch diese Liste ist nicht endgültig und unterliegt gelegentlicher Revision.

    Die restlichen Staaten verfügen über begrenzte Souveränität. Sie können keine eigenständigen außenpolitischen Entscheidungen treffen und müssen ihr Handeln mit ihrem Lehensherren abstimmen. Zu dieser Gruppe zählt Putin alle NATO-Länder, einschließlich Deutschland und Frankreich, weil er annimmt, dass in diesem Bündnis alles von den USA entschieden wird.

    Dieses vereinfachte Bild dient Moskau als eine perfekte Matrix der internationalen Beziehungen: Alle Schlüsselfragen und Regeln der Weltordnung werden in einem engen Kreis von wahren Souveränen ausgehandelt. Sie kontrollieren jeweils ihren Bereich und können die Meinung der anderen Staaten getrost außer Acht lassen.

    Breshnew Doktrin wiederbelebt

    Dieses Konzert der Großmächte bedeutet auch, dass Russland seinen Vasallen-Bereich hat – eine Reihe von Staaten, deren Souveränität dadurch beschränkt ist, dass sie bestimmte Aspekte der Außen-, Verteidigungs- und Handelspolitik mit Moskau abstimmen müssen. Vor allem gilt das für den Aufbau jeglicher Beziehungen zum Westen.

    Offenbar wurde Breshnews Doktrin wiederbelebt: Die Souveränität der Länder des russischen Lagers wird demzufolge nicht durch das marxistische Dogma vom Aufbau des Sozialismus begrenzt. Vielmehr geht es um den Verzicht auf eigenständige Beziehungen zum Westen und auf ein demokratisches Regierungssystem. Denn die Regierungschefs müssen in erster Linie Moskau gefallen.

    Verschärfter Ideologie-Kampf gegen den Westen

    Es gibt außerdem noch Anzeichen, dass auch an ein weiteres außenpolitisches Konzept der 1970er Jahre angeknüpft wird: Die Politik der Entspannung geht nämlich einher mit einer Verschärfung des ideologischen Kampfes der „Völker“, gegen den Westen.

    Das zeigt sich anhand von Putins wohlwollenden Aussagen über die „patriotischen Hacker, die frei sind wie Künstler“ und bereit, für das Land einzustehen. Oder dann, wenn Putin eine für den Westen schmerzliche Kontinuität suggeriert, indem er die Kritik an Russland als ein Zeichen ethnischer Russophobie darstellt.

    Der Partisanenkrieg der „patriotischen Hacker“ gegen die „russophoben Politiker“ in den westlichen Ländern wird befürwortet, quasi in alter sowjetischer Tradition einer Außenpolitik, die „befehlshörige Komsomol-Freiwillige“ unterstützt. Dank moderner Technologien ist es relativ einfach und günstig, sich direkt an das westliche Publikum zu richten und dabei eine glaubhafte Abstreitbarkeit (plausible deniability) zu wahren. So entgeht man westlichen Sanktionen („auf staatlicher Ebene machen wir das nicht“) und kann unverfroren verkünden, Russland mische sich nicht in fremde Wahlen ein, während man bei Facebook zielgerichtet Werbung für den richtigen Kandidaten postet.

    Die „freien Hacker“ und die Kriege der Bots in Sozialen Netzwerken – das ist die neue Dimension des ideologischen Kampfes, gegen die man sich im Westen im Rahmen der Meinungsfreiheit bislang nicht zur Wehr setzen kann. Im Gegensatz zu Russland können westliche Politiker unliebsame Seiten oder Postings nicht einfach blockieren. Und die Versuche des Westens, Gleiches mit Gleichem zu vergelten würden am Roskomnadsor scheitern.

    Russland wirft dem Westen „Hysterie“ vor

    Moskau behauptet, dass im Westen wegen der russischen Hacker und deren Einmischung in Wahlen geradezu „Hysterie“ und „politische Schizophrenie“ herrsche. Das sei ein Zeichen der Schwäche der westlichen Demokratien und des fehlenden Vertrauens in die eigenen Institutionen.

    Diese in zentralistischer Manier verbreitete Argumentation lässt vermuten, dass man die schöne Arbeit der Cyberfreiwilligen auch weiter billigend in Kauf nehmen wird, ohne sie als Einmischung in innere Angelegenheiten anzusehen.

    Das beim Forum vorgeschlagene Remake mit Upgrade der außenpolitischen Konzepte der 1970er Jahre ergänzt sich tatsächlich gut mit einem ähnlichen Upgrade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Statt Strukturreformen, Entstaatlichung und mehr Konkurrenz wird eine allgemeine Block-Chain und Digitalwirtschaft unter strenger staatlicher Kontrolle vorgeschlagen, bei der Staatsfirmen vorschriftsgemäß „sogenannte Startups“ unterstützen. In den 1970ern nannte man das „Kampaneischina“.

    Innen- und Außenpolitik sind eng verzahnt

    Anatoli Tschubais, der ebenfalls am Forum teilgenommen hat, beschrieb das konzeptuelle Problem sehr treffend: „Das soziale, ökonomische und politische System im Land deckt überraschend viel ab, ist ausgeglichen und auf seine Weise sogar harmonisch. Es ist ein System, bei dem die Innenpolitik die Außenpolitik ergänzt. Was wiederum bedeutet, dass eine ernsthafte Umstrukturierung der Innenpolitik kaum möglich ist, ohne die Außenpolitik anzurühren. Vermutlich braucht es ganzheitliche Schritte, und das birgt große Risiken.“

    Man könnte meinen, bei einem Zeithorizont von sieben Jahren sei man mit der Strategie „Zurück in die 1970er“ innen- und außenpolitisch auf der sicheren Seite. Bleibt nur noch, die äußere Realität daran anzupassen.

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  • Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat gerufen und Tausende sind ihm auf die Straßen gefolgt, landesweit, am vergangenen Montag bereits zum zweiten Mal. Es ist dabei nicht nur der Unmut über Korruption, der die Leute auf die Straßen treibt. Sondern es sind ganz unterschiedliche Motive, von der Forderung nach mehr Demokratie und Menschenrechten bis hin zum regime change

    In Moskau wiederum protestieren viele Bewohner seit Monaten gegen den geplanten Abriss ihrer Wohnhäuser, zumeist Chruschtschowki aus den 1950er Jahren, die die Stadt in einem gigantischen Bauprojekt abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Unlängst brach eine Debatte darüber aus, ob es einen unpolitischen Protest überhaupt geben kann – auf den allerdings viele der Demonstrationsteilnehmer bestehen.

    Ein politisches Empowerment in der russischen Gesellschaft jedenfalls diagnostiziert Andrej Archangelski auf Carnegie.ru – und sieht die Ursachen dafür, ausgerechnet, in der Propaganda.

    Die Ukrainer sagen gerne, Russland habe mit seinem Handeln im Jahr 2014 mehr zur Herausbildung einer ukrainischen Identität beigetragen als die ukrainischen Institutionen in 25 Jahren Unabhängigkeit. Das Gleiche kann man nun in Russland auch von der eigenen Regierung behaupten.

    Massenpropaganda ist von der Taktik her berechenbar (Aggressivität, Befeuerung des Irrationalen, Neurotisierung der Gesellschaft), aber strategisch vorhersagbar sind die Auswirkungen nicht. 

    Wer hätte 2014 gedacht, dass drei Jahre später auch diejenigen zu Massenprotesten gegen Korruption auf die Straße gehen würden, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt haben, jene Generation, von der man annahm, sie bestünde aus lauter Loyalisten des Post-Krim-Konsens?

    Da ist Nawalny mit seinen Nachforschungen, ja; aber viel wichtiger ist, dass eine psychologische Schwelle überschritten scheint. Und paradoxerweise wurde die politische Sprache im „Kisseljow-TV“ vermittelt.

    Nachdenken über Politik – dank Propaganda

    Es waren nämlich die Propaganda-Figuren und Klischees in den Medien, die geholfen haben, dass sich eine politische Massensprache in Russland herausbildete. Genauer gesagt hat die Propaganda – und das ist einer der unvorhergesehenen Effekte – das Nachdenken über Politik zu einem Teil des täglichen Lebens gemacht.

    Unsere Propaganda ist darauf angewiesen, die Zuschauer mit den Einzelheiten des amerikanischen, ukrainischen oder französischen Systems bekannt zu machen; die Konzentration auf die politischen Antagonisten und verschiedenen Einflussgruppen enthüllte vor dem russischen Durchschnittsbürger plötzlich die ganze Komplexität des politischen Lebens.

    Aufgerufen, Geschichte zu schreiben

    2014 wurde der Bürger dazu aufgerufen, Geschichte zu schreiben – das heißt, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Aber man kann nicht an den außenpolitischen Grenzziehungen ein Subjekt sein und gleichzeitig passives Objekt im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten bleiben. 

    Der Sowjetmensch konnte nicht politisch über sich selbst bestimmen, die Möglichkeit einer solchen Selbstermächtigung bestand für ihn nicht – er war nur möglich als „Teil eines Ganzen“, „die Eins ist Null”, wie es damals hieß. 

    Heute, so stellt sich plötzlich heraus, wird man zum Subjekt am einfachsten über die Politik. Wobei man politische Identität und Subjekthaftigkeit erlangen kann, indem man eine fremdbestimmte, aufgezwungene Sprache ablehnt (siehe den Konflikt zwischen Schülern und Lehrern), oder indem man sich selbst plötzlich als Eigentümer begreift (siehe die Reaktion der Moskauer [auf den geplanten Abriss ihrer Häuser]), oder auch in Form einer Reaktion auf „große Ereignisse“, wie die von 2014.

    Die Vertuschung des Politischen

    Die Regierenden haben mit diesem Effekt nicht gerechnet; ihr Ideal ist das einer gleichgültigen und indifferenten Bevölkerung. Aber die „Konsolidierung der Nation“ im Jahr 2014 war nicht möglich ohne eine Aktivierung des politischen Instinkts, und einmal aktiviert, ist dieser Instinkt schwer zurückzunehmen.

    Das war tatsächlich ein schwerwiegendes Zugeständnis seitens der Putin-Administration. Denn die gesamte Geschichte der Putin-Periode ist der Versuch, die Politik vor dem Volk zu vertuschen.

    Erstens ist da die Ebene des Begriffsaustauschs: In Russland wurde „Politik“ durch das Wort „Macht“, bzw. „Regierung“ ersetzt, wie Gleb Pawlowski feststellt. „Politik ist der Kampf um die Macht“, das sagt Ihnen, eine pseudo-objektive Position einnehmend, jeder Kreml-Politologe. 
    Aber auch das ist eine Finte: Die Opposition in Russland kämpft nicht um die Macht, sondern um die Politik, um das bloße Recht auf eine andere Meinung.

    Patriotismus – kein Ruf des Herzens

    Auch das Konzept des Patriotismus (du bist „für unsere Leute“, ganz gleich, was sie anstellen) sollte dazu dienen zu verbergen, dass die Unterstützung der Regierung weder ein Instinkt noch ein Ruf des Herzens ist, sondern im Rahmen des normalen politischen Verhaltens stattfindet (Loyalität).

    Sogar der Begriff der Geopolitik, der nach 2014 besonders aktiv eingesetzt wurde, verfolgte dasselbe Ziel: den Menschen nicht als politisches Subjekt gelten zu lassen.
    „Wir sind die Geiseln unserer geografischen Position und haben deshalb keine Wahl; das ist unser Schicksal, man kann ihm nicht entfliehen und deshalb muss man sich ihm fügen …“ 
    Roland Barthes bemerkte zu Zeiten des Algerienkrieges: Wenn die Zeitungen schreiben, „das Schicksal will es so“, heiße das übersetzt, „so will es die französische Regierung“.

    Die Sowjets 2.0

    Und zum grandiosesten Mittel, die Politik zu vertuschen, wurde der Sowjetsprech. Aber die Bestäubung mit Sowjetnostalgie hatte einen weiteren unvorhergesehenen Effekt: Diese Propaganda erschuf einen neuen Sowjetmenschen.
    Er ist zu unterscheiden von dem, der der UdSSR passiv nachtrauert. Die Aktiven – nennen wir sie Reanimatoren – sind die, die heute die Abschaffung des Kapitalismus, die Rückkehr zur UdSSR und einen Wechsel des Wirtschaftsmodells fordern. 

    Gepäppelt von Fernsehen und Regierung, wandeln sich die Sowjets 2.0 im Grunde von Loyalisten in eine konservative Opposition. Das Sowjetische ist mittlerweile Teil der eigenen politischen Identität. Was dem Sinn des Terminus widerspricht, denn das Sowjetische bedeutet eigentlich die Abwesenheit von eigenen Ansichten. 

    Das heutige Sowjetische ist zum Label geworden, zu einer Marke, die bloß noch – aber immerhin – auf eine politische Position verweist.

    Der Zwischenraum 

    Ein totalitäres System sieht keine Opponenten vor. Ein solches System verweist dich bei Widerspruch automatisch auf eine Position außerhalb des Legitimen, macht dich zum Feind. Die russische Propaganda allerdings ist gezwungen, rein formal demokratische Prinzipien zu wahren. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und er erzeugt einen interessanten Zwischenraum. Einen Zwischenraum zwischen den Kauleisten des Leviathan, sozusagen. 

    Die heutige Propaganda appelliert, und sei es nur formal, an einen freien Menschen. Deshalb muss sie so tun, als verfüge sie über ein stabiles System von Argumenten und Beweisen. Es geht gar nicht darum, wie (wenig) überzeugend usw. diese sind. Es ist ein Meta-Paradox: Die bloße Notwendigkeit, dass es überzeugt werden muss, verwandelt das totalitäre Schräubchen in ein Subjekt. 

    Am Ende hat das, was auf die Totalisierung des Bewusstseins gezielt hatte, den umgekehrten Effekt bewirkt: Es hat den Durchschnittsbürger in seinem Status als politisches Subjekt gefestigt. Dieser wird ja als Person angesprochen, eine Person mit Rechten, Entscheidungsmöglichkeiten, einem freien Willen – da wächst ungewollt die Selbstachtung. Das Subjekt reckt seine Schultern.

    Zwischen den Kauleisten des Leviathan

    Weshalb stärkt der Kreml ständig das, was er zu bekämpfen versucht? Hier kommt wieder jener Zwischenraum ins Spiel – der Widerspruch zwischen den heutigen realen Praktiken in Russland, den autoritären Instrumenten, und dem formal demokratischen Gesellschaftsaufbau gemäß der Verfassung. Dieser Zwischenraum ist der wahre Quell des Politischen im heutigen Russland.

    Die offiziellen demokratischen Institutionen sind zwar zu einer Formalität verkommen, aber Politik gibt es trotzdem, und zwar in diesen Zwischenräumen und Rissen. Die Entpolitisierung einer weiteren Nische führt sofort zu einem Ausbruch von politischer Aktivität an einer anderen Stelle.

    Das Streben nach dem Politischen

    Wir können eine Hypothese aufstellen: Das endgültige Ziel des hybriden Organismus (Ekaterina Schulmann) ist das – im Freudschen Sinne – unbewusste Streben nach dem Politischen. Das, was tabuisiert und ausgetrieben wird, wird unbewusst zum sehnlichsten Verlangen des hybriden Wesens.

    Möglicherweise ist die Politisierung tatsächlich im Kern unseres heutigen Systems angelegt, es muss sich dessen nicht einmal bewusst sein, es kann versuchen, mit aller Gewalt dagegen anzukämpfen. Aber das würde bedeuten, dass es gegen die eigene Natur ankämpft. Deshalb erscheint es uns, als wäre die Hauptquelle der Politisierung die Macht selbst.

    Bonus für die Wähler

    Die Hauptaufgabe des Kreml für das kommende Jahr 2018 wird vermutlich sein, die Аmtszeit des derzeitigen russischen Präsidenten um weitere sechs Jahre zu verlängern, möglichst unter Einhaltung aller Normen und mit maximaler Legitimierung. Alle Aktivitäten werden sich darauf richten, dieses Ziel zu erreichen.

    Was wird die Regierung im Zuge der Wahlen als Bonus verkaufen? Eine Möglichkeit wäre die Politisierung selbst. Der Wähler bekommt als Bonus angeboten, ein eigenständiges politisches Subjekt zu sein. Sie wählen nun nicht mehr als Schräubchen, sondern Sie wählen als vollwertige Subjekte der Geschichte – und das in einer Situation der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen.

    Der postsowjetische Mensch als politisch Handelnder 

    Man wird nicht auf Passivität, sondern auf Aktivität setzen – natürlich auf eine kontrollierte. Aber wie wir uns bereits überzeugen konnten, gerät die Sache, sobald es um Werte geht – und Politik ist eben auch ein Wert –, schnell außer Kontrolle.

    Man kann behaupten, dass der Klientelismus das System immer noch besser absichert als alle offiziellen Mechanismen, und dass es in den Regionen keinerlei Voraussetzungen für politische Aktivität gibt. Aber das ist, wenn man so will, nur die äußere Gestalt. Was im Massenbewusstsein passiert, kann keine Meinungsumfrage einfangen. Wir können nur annehmen, dass ganze Massen zu politischen Subjekten werden, dass der postsowjetische Mensch sich als Spieler und sogar als politisch Handelnder bewusst wird.

    Ein völlig anderes Land mit völlig anderen Menschen

    Ändert sich dadurch etwas Grundlegendes? Ja. Das ändert absolut alles. 

    Den sowjetischen „Massenmenschen“ gibt es nicht mehr, er ist in Millionen von Subjekten mit Interessen zerfallen, auch politischen, was immer man jeweils unter diesem Wort versteht. Die Regierung hat das selbst angerichtet, entgegen ihrem eigenen Willen, oder vielleicht kraft ihrer eigenen momentanen Natur. 

    Wir haben es mit politischen Subjekten zu tun – und das ist bereits ein völlig anderes Land, mit völlig anderen Menschen. Die Politisierung Russlands ist unausweichlich. Und genau das ist es, was die nächste historische Zukunft grundlegend und entscheidend bestimmen wird.

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    Politik aus der Trickkiste

    „Irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, so beschreibt ein Polittechnologe sein Berufsbild auf Meduza. Russland ist das Geburtsland der Polittechnologie. Was wie eine Wissenschaft klingt, meint ein Arsenal von Manipulationstechniken, die den politischen Prozess maßgeblich beeinflussen können. Vor allem bei Wahlen kommen diese Instrumente zum Einsatz. 

    Der Begriff Polittechnologie ging während des russischen Präsidentschaftswahlkampfs 1996 in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Mit zweifelhaften Methoden versuchen Polittechnologen, den Wählerwillen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Sie berufen sich auf Machiavelli: Jedes Mittel zur Machterlangung und zu deren Erhalt ist ihnen recht. Am Geburtstag des politischen Philosophen feiern sie den Tag des Polittechnologen.

    Taissija Bekbulatowa hat sich in der Branche umgehört. 

    1999 fanden in der chakassischen Stadt Sajanogorsk Bürgermeisterwahlen statt. Der junge Unternehmer Oleg Deripaska versuchte, anstelle des ihm nicht freundlich gesonnenen Stadtoberhaupts „seinen“ Kandidaten unterzubringen. In der Zeit vor den Wahlen wurde Sajanogorsk in ein merkwürdiges Spiel hineingezogen – die Wähler wurden aufgefordert, an einer Verlosung teilzunehmen: Um zu gewinnen, musste man den Ausgang der Wahlen voraussagen. Im Fernsehen wurden dann täglich die Umfragewerte gezeigt. Die Bewohner der Stadt setzten auf den führenden Kandidaten – und stimmten schließlich auch für den, auf den sie gesetzt hatten. Deripaskas Kandidat siegte mit großem Abstand. Er hatte das Ranking angeführt, das ständig im Fernsehen lief und mit der Realität nichts zu tun hatte.

    Das war das „Smirnowsche Hütchenspiel“. Dessen Erfinder, der Polittechnologe Wjatscheslaw Smirnow, nennt es bescheiden eine „primitive Technik, die auf Gier setzt“: „Die Leute sahen sich  Clips an, die ich schon aufgenommen hatte, bevor sie ihre Stimmzettel ausfüllten, und sie sahen, dass unser Kandidat führt. Den Wahlkampfstab leitete Deripaska persönlich. Er saß mit Stift und einem Notizheft für fünf Kopeken da und schrieb irgendwas auf.“

    Mit Methoden wie dieser haben sie Bekanntheit erlangt, die Vertreter eines für Russland neuen Berufsstandes. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als echte Wahlen eingeführt wurden, war der Beruf des Polittechnologen entstanden, und zwar in enger Nachbarschaft zum Geld: bei den Großunternehmen, die in den Regionen „ihre“ Gouverneure und Bürgermeister einsetzen wollten. Die Finanz- und Industriegruppen hatten in den Regionen ihre spezifischen Interessen. Und bei den für sie wichtigen Fragen hingen die Entscheidungen von den Stadt- und Regionalregierungen ab.

    „Der Beruf [des Polittechnologen] ist ein Grenzgänger, irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, erklärt Smirnow. „Einerseits gibt es bestimmte Methoden, wissenschaftliche Gesetze. Andererseits musst du schon Geld zur Arbeit mitbringen, weil du ein halbes Jahr deines Lebens in irgendeiner Region herumhängen musst, um irgendeinem Bürgermeister oder Gouverneur zur Wahl zu verhelfen.“

    Bald war in diesem Bereich viel Geld im Spiel. Teilweise stürzten sich für die Platzierung eines Wunschkandidaten zwei, drei Firmen mit vergleichbaren Ressourcen ins Rennen. Diese Firmen stellten dann die ersten Technologenteams auf. Denn die Sponsoren zogen es vor, den Spitzenkandidaten nicht direkt Geld zu geben. Sie konnten ja nicht wissen, wofür es ausgegeben wird. Stattdessen schickte man firmeneigene Leute, die dann das Wahlkampfbudget verwalteten.

    NAMENSVETTER UND GEFÄLSCHTE ANZEIGEN

    Recht bald wurde mit „Polittechnologie“ der Begriff „schwarze PR“ assoziiert. Wahlen in Russland waren ein sehr spezifisches Phänomen und unterschieden sich deutlich von Wahlen in westlichen Ländern. Daher reichte es nicht, die Instrumente der europäischen und amerikanischen Kollegen zu übertragen – die Technologen in Russland mussten selbst kreativ werden: Bei den Wahlen tauchten plötzlich Namensvetter auf, gefälschte Anzeigen in Zeitungen, die die Opponenten diskreditieren sollten, und vieles mehr. Technologien, die sich in einer Region bewährt hatten, fanden sofort in anderen Regionen Anwendung. Viele von ihnen werden bis heute eingesetzt.

    Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Bogdanow gilt als Erfinder vieler Wahltechniken. „Das [mit den Namensvettern] hat sich Bogdanow ausgedacht“, behauptet Smirnow. „Später dann, bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, hat man ihm deswegen den Kopf eingeschlagen, einfach, weil er erklärt hatte, dass er einen Namensvetter gegen einen mit uns befreundeten Kandidaten aufstellen wird. Der hat daraufhin zwei Kerle mit Schlageisen bei ihm vorbeigeschickt.“ In den Medien wurde schließlich nur erwähnt, dass Bogdanow während des Wahlkampfes 1997 von Unbekannten angegriffen worden war.

    Bogdanow hat Smirnows Aussage bestätigt. Auch heute noch werden Polittechnologen bedroht. Einer von ihnen meint im Scherz „Ein Technologe im Feldeinsatz, der noch nie in einem Kofferraum irgendwo in den Wald gefahren wurde, ist kein Technologe.“

    Folge der „schwarzen“ Innovationen war, dass als Polittechnologien vor allem die bunten Tricks  wahrgenommen wurden – zum Beispiel der aus Krasnojarsk 1998: Um den Gouverneursposten kämpften damals Alexander Lebed und Waleri Subow. Zur Unterstützung des ersten trat Alain Delon auf, für den zweiten Alla Pugatschowa. Gewinnen sollte Lebed, doch wollten die Sponsoren der Kampagne auf keinen Fall, dass der General schon im ersten Durchgang siegt, weil sie befürchteten, dass er dann nicht mehr kompromissbereit wäre. Also finanzierten sie eine Kampagne für und eine gegen ihn.

    Zur Unterstützung des einen trat Alain Delon auf, für den anderen Alla Pugatschowa

    Höhepunkt der Kampagne war der Marsch der Penner. „Wir heuerten Obdachlose an, gaben ihnen Topfdeckel und Schöpflöffel, hängten ihnen Schilder um, mit Portraits von Lebed und Parolen wie Lebed ist unsere Wahl auf Leben und Tod“, erzählt Smirnow. „Alle Fernsehsender warteten darauf, das auf dem zentralen Platz der Stadt filmen zu können.“

    Gleichzeitig erschienen „Leute von Lebeds Wahlkampfstab“ in der Stadt, die die Höfe abklapperten und fragten, wieviel Schweine und Hühner es da gebe, angeblich für den Entwurf einer Sondersteuer auf landwirtschaftliche Selbstversorger­wirtschaft; auch davon wurden Berichte im Fernsehen gezeigt. Lebed siegte, wie geplant, erst im zweiten Durchgang.

    KREATIVE TECHNIKEN

    Kreative Techniken gefallen den Politikern gewöhnlich sehr, funktionieren aber nicht immer. „Nehmen wir mal an, ein Kandidat ist reich, und er will gegen den Konkurrenten gleich fünf Namensvettern ins Rennen schicken. Du erklärst ihm dann, dass das nicht besonders hilfreich sein wird. Der aber meint: ‚Der soll ruhig nervös werden, ich will ihm eine verpassen‘ “, erklärt Smirnow.

    Das Gleiche gilt auch für gröbere Methoden wie Wählerbestechung: „Unsere Wähler sind bereit, jemandem gegen Geld ihre Stimme zu geben. Sie sagen: ‚Komm und bau uns eine Haustür aus Metall ein, dann können wir miteinander reden.‘ In vielen Regionen ist das durchweg so. Die Rentner sagen: ‚Schaut, Pupkin hat mir einen Lebensmittelkorb gebracht, ich bin für ihn.‘ Allerdings sind unsere Rentner auch nicht blöd – nach einer gewissen Zeit holen sie sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht.“

    Unsere Rentner sind auch nicht blöd: Sie holen sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht

    Die Technologen, die schon in den 1990er Jahren tätig waren, haben jene Zeit als unerreichbare, goldene Ära in Erinnerung: Das Geld floss in Strömen, es gab viele Wahlen, und Auftraggeber auch. Die Ära endete abrupt.

    „Ungefähr seit der Verhaftung Chodorkowskis hörte die Wahlfinanzierung durch große Unternehmen auf. Es wurde ihnen einfach verboten“, erinnert sich Smirnow. „Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass jemand ‚seine‘ Gouverneure installiert. Jetzt entscheidet die Regierung, wer ernannt wird.“

    Im Endeffekt wurde nicht nur von den Politikern verlangt, systemkonform zu werden, sondern auch von den Technologen, die für sie arbeiten. Für die besteht laut Branchenmitgliedern eine Erfolgsgarantie vielfach darin, gute Kontakte zur Machtpartei und zur Präsidialadministration zu unterhalten.

    Oppositionsparteien bringen nichts ein

    „Jetzt sehen die Spielregeln so aus: Sucht euch Aufträge bei Einiges Russland. Die anderen Parteien dienen nur als Deko. Das sind nur Krümelreste. Die haben ihre Haustechnologen“, sagt Bogdanow. „Der größte Arbeitgeber, das ist die Staatsmacht. Über 90 Prozent der normalen, guten Aufträge kommen von dort“, bestätigt der Polittechnologe Wladimir Perewostschikow.

    Mit der Systemopposition arbeiten die Technologen nur wenig zusammen und reißen sich auch nicht darum – es bringt wenig Geld, und die Chancen auf einen Sieg sind klein. „Die LDPR hat überhaupt keine Technologen nötig“, merkt Jewgeni Malkin an, einer der erfahrensten Polittechnologen im Land. „Shirinowski ist selbst Technologe genug.“

    „Das größte Problem der [System-]Opposition ist, dass sie nicht so richtig gewinnen will. Größeren Anspruch zu erheben, ist gefährlich, sie wollen ihre Opponenten nicht allzu sehr angehen. Sie sind mit allem zufrieden, so wie es ist“, fährt Malkin fort. „Wir können aber keine halbherzige Kampagne entwerfen.“ Das Elend der demokratischen Parteien sieht Malkin in deren „ineffektiver und kaum fokussierter Botschaft“: „Würden sie mit der Parole Putin muss weg! antreten, kämen sie auf sechs Prozent.“

    Würde die Opposition mit der Parole Putin muss weg! antreten, käme sie auf 6 Prozent

    „Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit ziemlich auf Protest aus. Sie sieht alles, was vor sich geht, durchschaut es, duldet es einfach“, ergänzt Perewostschikow. „Fast in jeder Gegend Russlands ließe sich innerhalb weniger Monate ein Protest lostreten.“

    Der Polittechnologe Abbas Galljamow erinnert sich, dass sie bei einer der Kampagnen vor der Hälfte der Wohnungstüren „schon nach dem Satz ‚Guten Tag, wir sind von Einiges Russland‘ sofort eine Abfuhr erlebt haben“.

    Für eine erfolgreiche Protestkampagne der Opposition reichen die Ressourcen aber nur selten – die Anzahl der Leute, die sowohl das Geld haben, um die Administrativen Ressourcen zu übertrumpfen als auch Kampfeswillen, liegt dem Politberater Valentin Bianki zufolge bei „ungefähr null.“ Gewöhnlich sieht die Auseinandersetzung der Regierung mit der Opposition aus wie „ein Panzer, der einen Frosch niederwalzt“, wie es Perewostschikow ausdrückt.

    DIE ARBEIT IM FELD

    Ein Teil der Polittechnologen ist mit der ständigen Begleitung der Kandidaten in einer Region befasst. Früher konnte es passieren, dass ein ganzes Team von bis zu 120 Personen angeflogen kam, das dann auch den Wahlkampfstab bildete. Doch diese Zeiten sind vorbei, jetzt erlauben es die Wahlkampfbudgets nur selten, derart große Teams von extern anzuheuern. „In jeder Region haben sich eigene Medienleute, feste Wahlkampfhelfer bei den Parteien und eigene Technologen etabliert“, erklärt der Politikberater Dimitri Gussew. Es hat sich ein Format entwickelt, bei dem zwei, drei erfahrene Polittechnologen zum Einsatzort fliegen und dann Technologen vor Ort einweisen.

    Unter den Polittechnologen gibt es die gesonderte Gruppe der Politikberater, die in der Regel die Kampagnen vor Ort nicht selbst führen.  Zu ihnen gehören die bekanntesten Markt-Akteure. „Wenn man sich die Top-20 [der Polittechnologen in Russland] anschaut, ist dort außer Parfjonow niemand Polittechnologe im Sinne des Handwerkes; der also in der Lage wäre, alles von der Pike auf selbst zu machen, der hinfährt, eine klare Strategie entwirft, ein Konzept, der die Mobilisierung organisiert, der selbst Fokusgruppen durchführen kann und auch Meinungs­umfragen“, meint ein Gesprächspartner von Einiges Russland. „Alle diese Leute delegieren bis zu einem gewissen Maße die Aufträge nur weiter. Sie fahren rum, holen Aufträge ein, indem sie ihr Gesicht zeigen. Dann kommen sie zu irgendeiner Sitzung in der Präsidialadministration und erzählen: ‚Ich komme gerade aus der Region X, der Dreck an meinen Stiefeln ist noch nicht trocken.‘ Und zur gleichen Zeit befindet sich das Team in der Region – und am Steuer sitzt ein ganz anderer.“

    Es gibt die Bürosklaven und den Chefredakteur, der die Sache verkauft

    „Politikberatung ist, wenn zum Gouverneur ein kluger Herr in feinem Anzug kommt, der in der Regel die Sitzungen bei SurkowWolodinKirijenko besucht und zu den Top-Polittechnologen Russlands gehört“, erzählt Wjatscheslaw Smirnow. „Er schreibt dann ein Konzept, auf welche Weise die Wahl zu gewinnen ist, mit welcher Ideologie und so weiter. Genauer gesagt: Die Bürosklaven schreiben alles auf, und er ist der Chefredakteur, der die Sache verkauft. Der Preis liegt zwischen 50.000 und 150.000 Dollar pro Konzept.“

    Bogdanow und Smirnow haben ihre eigene Nische: Sie „halten sich Parteien“, die von Interessenten gegen eine bestimmte Summe für ihre Zwecke gepachtet werden können. (Aufgrund der „Liberalisierung“ der Parteiengesetze nach den Protesten von 2011/2012 ist es Bogdanow gelungen, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Namen beim Justizministerium registrieren zu lassen.) „Wenn Sie mal Vorsitzender einer Partei waren, und sei es nur für drei Monate, für die Zeit der Wahlen, dann kommen Sie in Ihrer Stadt mächtig voran“, erklärt Smirnow.

    Bogdanow fügt hinzu, dass man nicht nur mit Parteien Geld verdienen könne, sondern auch mit gesellschaftlichen Organisationen (von denen er auch einige im Angebot hat). In der Vorwahlzeit zum Beispiel würden sich sehr gut Beschäftigungs­nachweise in NGOs verkaufen, die man in den Wahlunterlagen angeben kann.

    Bogdanow fasst es so zusammen: „Auf dem Markt gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt.“

    DER MARKT WANDELT SICH

    Auf dem schrumpfenden Markt der Wahlen in Russland versuchen die Akteure mittlerweile, andere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Ihre eigentlichen Fertigkeiten bringen Polittechnologen aus Russland oft in den Ländern der GUS an den Mann, wo es bis heute riesige Budgets gibt (besonders gute Honorare werden, so ein Gesprächspartner von Meduza, in den nicht anerkannten Republiken gezahlt, etwa in Südossetien). Einige machen ihre Erfahrung zu Geld, indem sie Schulungen anbieten und Vorträge halten.

    „Mein Eindruck ist, dass der Markt nicht kleiner wird, sondern sich wandelt“, meint Alexej Kurtow, Gründer der Agentur InterMediaKom. „Politikberatung betrifft nicht nur Wahlen, sie ist ein ständiger Prozess.“

    Es gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt

    Die Präsidialadministration wurde in der Ära Putin zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum des Landes – also auch zum Anziehungspunkt für Polittechnologen. Jeder Leiter erneuert in den ersten sechs bis zwölf Monaten nach seiner Ernennung das System.

    Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, für die Staatsmacht erfolgreich Wahlen zu bestreiten: Die Präsidialadministration und das zentrale Exekutivkomitee von Einiges Russland widmen sich den Wahlen auf föderaler Ebene, ist von einer Quelle in der Partei zu erfahren.

    Andrej Koljadin, früher Leiter der Abteilung Regionalpolitik des Referats für Innenpolitik in der Präsidialadministration, berichtet, dass er sich unter Surkow auch mit dem FSB auseinandersetzen musste. Denn der war seinerzeit entschlossen, anderthalb Monate vor den Wahlen das Oberhaupt einer Region zu verhaften. „Ich habe mit denen vom FSB total gestritten, weil die Festnahme eines Gouverneurs vor den Wahlen eindeutig die Wahlergebnisse verdirbt. Er wurde verhaftet, aber erst nach den Wahlen.“

    Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht

    Unter Wjatscheslaw Wolodin, der Surkow im Dezember 2011 [in der Präsidialadministration – dek] abgelöst  hatte, änderte sich das System ein wenig. „Es gab weniger Einmischung in die regionalen Wahlkämpfe, so nach dem Motto: Ihr sollt ruhig eure eigene lokale Agenda haben“, berichtet ein Gesprächspartner von Meduza, der Einiges Russland nahesteht. Ihm zufolge nahm das neue Team [im Kreml] die regionalen Wahlen nicht mehr als Gefahr wahr, nachdem die Proteste von 2011/2012 abgeklungen waren. Und nach der Angliederung der Krim haben sie sich auch hinsichtlich der föderalen Wahlen beruhigt.

    „Der einzige große Fehler war die Bürgermeisterwahl [2013] in Moskau“, so der Informant. „Warum haben sie damals Nawalny zugelassen? Sie wollten ihn wunderschön ausspielen! Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht“ (Nawalny hatte später mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz errungen – Anm. Meduza).

    Jetzt, da in der Präsidialadministration Sergej Kirijenko für die Innenpolitik verantwortlich ist, ändere sich das Gefüge allmählich, berichten Marktakteure. Insgesamt arbeite Kirijenko sehr viel weniger intensiv mit Experten als seine Vorgänger. Er verschickt keine Themen-Memos, hat es nicht eilig, Geld zu verteilen, und vielen ist daher nicht klar, was weiter zu tun ist.

    „Wo will man als Politologe unterkommen? Der wichtigste Auftraggeber für diese Sparte sind in Russland die Regierungsstrukturen. Es gibt zwar noch die großen Unternehmen, aber auch da ist es besser, systemkonform zu sein. Und die Opposition ist keine ernstzunehmende Geldquelle“, erläutert Nikolaj Mironow.

    Ökonomie der Politik

    „Die teuerste Kampagne, die gibt es nicht“, meint Jewgeni Malkin. Marktakteure räumen allerdings ein, dass die für Polittechnologen vorgesehenen Budgetposten geschrumpft sind, sodass Kampagnen wie die Gouverneurswahlen 2002 in der Region Krasnojarsk, als der Wahlkampf von Alexander Chloponin noch um die 30 Millionen Dollar kostete, sind heute  kaum noch möglich. „Ich kenne Menschen, die sich einander gegenüber gesetzt und geübt haben, folgenden Satz ruhig auszu­sprechen: ‚Das kostet eine Million Dollar‘“, erzählt einer der Gesprächs­partner von Meduza. „Aber die Zeiten sind jetzt natürlich andere.“

    Ein großer Teil der Wahlkampfgelder fließt „inoffiziell“. Nach Einschätzung von Valentin Bianki bekommen rund zehn Prozent der Technologen eine offizielle Entlohnung. Ein Gesprächspartner von Einiges Russland sagte Meduza, die Zunft sei nicht sonderlich an einer Legalisierung ihrer Budgets interessiert. „Mindestens jeder zweite Technologe fährt nicht wegen der Honorare zu einem Wahlkampf, sondern um vor Ort Kohle abzuzwacken“, meint der Informant.

    „Man braucht sehr viel Cash“, meint einer der Marktakteure. „Nehmen wir an, du schickst Kiezagitatoren los, um den Wahlkampf der Opposition zu sabotieren, wie bezahlst du die, aus dem Budget? Man muss den Journalisten was zahlen, den Wahlkommissionen, den Wahlbeobachtern. Man muss irgendjemandes Wahlkampf stören, Provokateure zu fremden Veranstaltungen schicken … Schließlich kann man wohl schlecht in einen Vertrag reinschreiben: ‚Provokationen – 5 Stück à 1 Stunde‘. Man muss Bots oder echte Menschen ranholen, die die Kommentare zumüllen. Und dann muss man manchmal jemanden mit Füßen treten. Was in den Regionen oft vorkommt.“

    Wettbewerb der politischen Instrumente

    Weithin bekannt ist beispielsweise der Fall Nikolaj Sandakow. Der ehemalige Vizegouverneur des Gebietes Tscheljabinsk, der seit April 2016 in Haft ist, wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Auch Nikita Belych, seinerzeit Gouverneur des Gebietes Kirow, der im Juli 2016 bei der Entgegennahme von 400.000 Euro in bar festgenommen wurde, soll nach Angaben der Agentur Reuters von örtlichen Unternehmern Geld „für die Wahlen“ eingesammelt haben.

    „Die verschiedenen politischen Player wollen den Markt umschichten“, meint Jewgeni Mintschenko. „Die einen sagen: Warten Sie mal, wozu brauchen wir einen Wahlkampfmarkt, wenn man alles administrativ regeln kann? Andere wiederum sagen: Wozu alles administrativ entscheiden, wenn wir alles mit Hilfe eines Strafverfahrens oder einer Durchsuchung regeln können? Das ist der Wettbewerb der politischen Instrumente …“

    Andrej Koljadin fasst zusammen: „Ein Polittechnologe, das ist unter anderem auch jemand, der weiß, wie man einen Wahlkampf führt, ohne dass jemand ins Gefängnis wandert.“

    Der Beruf des Polittechnologen weist heute in Russland eine eindeutige Spezifik auf: Da die Wahlen meist von oben kontrolliert werden, ist der Sinn von Wahlkämpfen nicht immer klar. Die Wahlkampfstäbe von Einiges Russland in den Regionen arbeiten stets im Verbund mit der Regierung vor Ort, in deren Händen sich in der Regel die wichtigsten Ressourcen befinden, unter anderem die Medien.

    Es gibt auch direktere Methoden, um auf den Ausgang von Wahlen Einfluss zu nehmen. „Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt“, erklärt Smirnow. „Der Traum eines jeden reichen Kandidaten ist es, dass er zum Vorsitzenden der Wahlkommission geht, diesem Geld zahlt – und dass dieser ihm ein Protokoll gibt, das den Sieg feststellt. Möglichst schon vor den Wahlen.“

    Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt

    Andrej Bogdanow zufolge „werden Technologen jetzt in Wirklichkeit nicht mehr gebraucht“, weil Wahlkämpfe oft einfach nur Blendwerk seien, das verdecken soll, dass alles schon durch Abmachungen und Scheinkandidaten entschieden ist.

    „Alle unerwünschten Kandidaten werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Der Polittechnologe ist jetzt eher ein Unterhändler, ein Bindeglied zwischen Präsidialadministration und den lokalen Eliten“, erklärt Bogdanow.

    Die Technologen sind überzeugt, dass ihr Beruf gefragter sein wird, sobald es mehr echte Urnengänge und Referenden gibt.

    „Man sagt: Diese Politberater, das sind Leute, die der Gesellschaft schaden … Wir gehören aber zu denen, die der Demokratie weltweit am meisten nützen!“, erklärte Jewgeni Malkin jüngst bei einem Briefing zum Tag des Politikberaters. „Wir sind auf dem Feld des realen elektoralen Wettbewerbs präsent, wir erklären den Politikern, was die Leute wirklich von ihnen wollen, wir helfen Koalitionen zu schmieden und Übereinkommen zu erreichen, um die Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite zu minimieren. Solch hervorragende Leute wie uns sollte man nicht beschimpfen, sondern sie auf Händen tragen und jeden Tag ‚Danke‘ sagen.“

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