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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Hier stirbt die Demokratie!

    Hier stirbt die Demokratie!

    Auf dieses Ereignis hatte die russische Gesellschaft fast ein ganzes Jahr gewartet, seit der Abdankung von Nikolaus II. im März 1917: Am 5. Januar (18. Januar) 1918 trat im Taurischen Palais in Petrograd die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Bis dahin hatte die Regierung, die im Zuge der Februarrevolution an die Macht gekommen war, sich als „provisorische“ bezeichnet. Die damaligen Regierungsmitglieder waren nämlich der Ansicht, dass über die Regierungs- und Verfassungsform in Russland erst noch ein Organ entscheiden soll, das durch eine allgemeine, freie und geheime Wahl bestimmt wird – die Verfassunggebende Versammlung.

    Die meist schwierigen Vorbereitungen dafür liefen über das Revolutionsjahr hinaus und auch der Oktoberumsturz der Bolschewiki stoppte sie nicht.

    Inwiefern die Wahlen Ende 1917 schließlich ihren demokratischen Ansprüchen entsprachen, darüber streiten Historiker immer noch. Tatsache ist aber: Die Bolschewiki, die seit Ende Oktober an der Macht waren, bekamen nur circa 22 Prozent der Stimmen und standen am 5. Januar im Taurischen Palais als Opposition da. Für Lenin war dies ein Rückschlag. Die Demonstrationen, die den Start der Versammlung unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen. Und schon am kommenden Tag unterschrieb Lenin ein Dekret zur Auflösung der Versammlung. Der russische Parlamentarismus war Geschichte.


    Quelle: Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Padeborn, S. 237-238

    Maxim Gorki, schon damals ein landesweit bekannter Schriftsteller, leitete zu der Zeit die parteiunabhängige, aber sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung Nowaja Shisn. Dort vergleicht er in seinem Artikel 9. Januar – 5. Januar die Niederschlagung der Arbeiterdemonstrationen mit dem Blutsonntag vom 9. Januar 1905 – und sagt das Ende der demokratischen Entwicklung in Russland voraus.

    Am 9. Januar 1905, als eingeschüchterte, geknechtete Soldaten auf Befehl des Zaren in eine Menge unbewaffneter, friedlicher Arbeiter schossen, liefen gebildete, kritisch denkende Arbeiter auf sie zu und schrien den Soldaten – unfreiwilligen Mördern – direkt ins Gesicht:

    „Was macht ihr Verfluchten? Wen bringt ihr da um? Das sind doch eure Brüder, sie sind unbewaffnet, sie haben nichts Böses im Sinn. Sie gehen zum Zaren, um ihn auf ihre Not aufmerksam zu machen. Sie fordern nicht einmal, sondern bitten, ohne Drohung, arglos und ergeben! Kommt zur Vernunft, was macht ihr nur, ihr Idioten!“ 

    Man sollte meinen, diese einfachen, klaren Worte, ausgelöst durch Kummer und Schmerz über unschuldig getötete Arbeiter, hätten Zugang zum Herzen des „sanftmütigen“ russischen Mannes im grauen Soldatenrock finden müssen.

    Doch der sanftmütige einfache Mann hat die besorgten Leute entweder mit dem Gewehrkolben geprügelt oder mit dem Bajonett auf sie eingestochen, oder er brüllte, zitternd vor Hass:
    „Auseinander, wir schießen!“

    Sie wichen nicht aus, und da schoss er gezielt, streckte Dutzende, ja Hunderte Leichen aufs Pflaster nieder.

    Der Großteil der Soldaten des Zaren antwortete auf die Vorwürfe und Anpfiffe niedergeschlagen und fügsam:
    „Befehl von oben. Wir wissen nichts – uns wurde befohlen …“

    Und wie Maschinen schossen sie in die Menschenmengen. Ungern vielleicht, widerwillig, aber sie schossen.

    Am 5. Januar 1917 demonstrierte eine unbewaffnete Sankt Petersburger Demokratie – Arbeiter, Hausangestellte – friedlich für die Verfassunggebende Versammlung.   

    Die besten russischen Leute hatten fast hundert Jahre lang von der Idee der Verfassunggebenden Versammlung gelebt – eines politischen Organs, das der gesamten russischen Demokratie Gelegenheit gegeben hätte, ihren Willen frei zu äußern. Im Kampf für diese Idee starben in Gefängnissen, in Verbannung und Zwangsarbeitslagern, an Galgen und durch die Kugeln der Soldaten tausende Intellektuelle und zigtausende Arbeiter und Bauern. Auf dem Opfertisch dieser heiligen Idee wurden Ströme von Blut vergossen – und die „Volkskommissare“ befahlen, die Demokratie zu erschießen, die für diese Idee demonstrierte. 
    Ich möchte daran erinnern, dass viele dieser „Volkskommissare“ selbst ihre gesamte politische Tätigkeit hindurch den Arbeitermassen die Notwendigkeit eingebläut hatten, für die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu kämpfen. 
    Die Prawda [dt. „Wahrheit“ – dek] lügt, wenn sie schreibt, die Demonstration am 5. Januar sei von der Bourgeoisie organisiert worden, von Bankiers und dergleichen, und zum Taurischen Palais seien vor allem Angehörige der Bourgeoisie und Kaledin-Anhänger marschiert.        
    Die Prawda lügt – sie weiß nur zu gut, dass für die Bourgeoisie die Eröffnung einer Verfassunggebenden Versammlung kein Grund zur Freude wäre, dass sie inmitten von 246 Sozialisten einer Partei und 140 Bolschewiki nichts zu suchen hätte. 
    Die Prawda weiß, dass an der Demonstration Arbeiter des Obuchow-Werks, der Munitionsfabrik und anderer Betriebe teilnahmen, dass unter den roten Bannern der Sozialdemokratischen Partei Russlands Arbeiter aus dem Wassileostrowski Rajon, dem Wyborgski und anderen Rajons zum Taurischen Palais zogen.

    Und genau diese Arbeiter wurden erschossen. Und wie viel die Prawda auch lügen mag, diese schändliche Tatsache wird sie nicht verbergen können.

    Die Bourgeoisie hat sich vielleicht gefreut, als sie sah, wie Soldaten und Rote Garden den Arbeitern die Revolutionsbanner aus der Hand rissen, darauf herumtrampelten und sie verbrannten. Möglicherweise freute jedoch auch dieser willkommene Anblick nicht alle „Bourgeoisen“, denn es gibt ja auch unter ihnen ehrliche Leute, die ihr Volk und ihr Land aufrichtig lieben.

    Einer von ihnen war Andrej Iwanowitsch Schingarjow, der von irgendwelchen Bestien heimtückisch ermordet wurde.

    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen
    Am 5. (18.) Januar 1918 trat die Verfassunggebende Versammlung zusammen. Demonstrationen, die ihren Start unterstützten, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen

    Also, am 5. Januar schossen sie auf Arbeiter von Petrograd, auf unbewaffnete. Sie schossen ohne Vorwarnung, schossen aus dem Hinterhalt, durch Zaunritzen, feige, wie richtige Mörder.

    Und genau wie am 9. Januar 1905 fragten Menschen, die Gewissen und Verstand nicht verloren hatten, die Schießenden:
    „Was macht ihr Idioten? Das sind doch eure Leute? Seht doch – überall rote Fahnen, und kein einziges Plakat, das sich gegen die Arbeiterklasse wendet, kein einziger feindseliger Ruf gegen euch!“

    Und genau wie die Soldaten des Zaren antworteten auch diese Auftragsmörder: 
    „Befehl! Uns wurde befohlen zu schießen.“
    Und genau wie am 9. Januar 1905 staunte der Biedermann, dem alles egal ist und der bei der Tragik des Lebens immer nur Zuschauer bleibt:
    „Klasse, sie sperren sie ein!“ 
    Und überlegte hellsichtig:
    „Bald werden sie sich gegenseitig erschlagen!“

    Ja, bald. Unter den Arbeitern kursieren Gerüchte, dass die Rote Garde des Telegrafieunternehmens Ericsson auf Arbeiter im Rajon Lessnoi geschossen hätten und Arbeiter von Ericsson wiederum von der Roten Garde irgendeiner anderen Fabrik beschossen worden seien.

    Solche Gerüchte gibt es viele. Vielleicht sind sie nicht wahr, doch das hindert sie nicht daran, die Masse der Arbeiter auf ganz bestimmte Weise psychologisch zu beeinflussen.

    Ich frage die „Volks“-Komissare, in deren Reihen sich doch anständige und vernünftige Leute finden müssen:

    Ob ihnen klar ist, dass sie, sobald sie ihren eigenen Leuten die Schlinge um den Hals legen, unvermeidlich die gesamte russische Demokratie erdrosseln, alle Errungenschaften der Revolution zunichte machen?

    Ob sie das verstehen? Oder ob sie denken: Entweder wir sind an der Macht, oder es sollen doch alle und alles zugrunde gehen?

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Die islamisch geprägte Teilrepublik Tschetschenien gilt auch in der Literatur oft als Russlands „Anderer“. So anders strukturiert als der Rest Russlands, meint dagegen der Soziologe Denis Sokolow, sei sie aber nicht. Nur geschehe hier „alles unverhüllt“: „Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um“, sagt er im Interview mit Rosbalt.

    Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Menschenrechtslage in Tschetschenien schon seit langem. Im Jahresbericht von 2017 etwa ist von öffentlichem Druck auf Behörden und Justiz genauso die Rede wie von Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger immer wieder ausgesetzt sind. Amnesty nennt auch den Fall des kritischen, unabhängigen Journalisten Shalaudi Gerijew, der wegen des Besitzes von 167 Gramm Marihuana zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Im Prozess hatte er angegeben, dass sein „Geständnis“ nach Folter erzwungen worden war.

    Der Fall ist nicht der einzige seiner Art: Erst am 9. Januar 2018 wurde der bekannte Menschenrechtler Ojub Titijew, Leiter des Memorial-Büros in Grosny, festgenommen wegen angeblichen Besitzes von 180 Gramm Marihuana, das man während einer Autokontrolle bei ihm gefunden haben will. Prominente Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen haben sich für Titijew ausgesprochen und sind von seiner Unschuld überzeugt.

    Das Portal Meduza nimmt ein weiteres Phänomen in den Fokus: Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig? Meduza über eine erniedrigende Praxis und eine Gesellschaft, in der viele den Ehrverlust mehr fürchteten als den Tod.

    Am 18. Dezember 2015 strahlte der tschetschenische staatliche Fernsehsender Grosny folgenden Bericht aus: Das Oberhaupt der Republik Ramsan Kadyrow trifft die tschetschenische Bürgerin Aischat Inajewa. Inajewa sitzt ganz am Rand einer Couch, starrt auf den Boden und hat offenbar große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Frau ist so niedergeschlagen, dass Kadyrow sie nicht zum Reden bringen kann und sich an ihren Mann wendet: „Magomet, bei Allah, bring deine Frau dazu, mir Fragen zu stellen!“ Inajewa sagt so gut wie nichts, sie entschuldigt und rechtfertigt sich nur.

    Kurz vor dem Treffen war auf WhatsApp (die App gehört zu den wichtigsten inoffiziellen Medien in Tschetschenien) eine Audiobotschaft von Aischat Inajewa aufgetaucht, die an einem Rehabilitationszentrum arbeitet. Darin beschwert sie sich über die Nebenkosten-Vorauszahlungen, die von Mietern verlangt werden. Inajewa verweist auf die Armut der einfachen Tschetschenen, kritisiert Kadyrow für seine „Angeberei“ und dafür, dass er mit kostspieligen Geschenken um sich werfe.

    Beim Treffen mit dem Oberhaupt der Republik nimmt Inajewa ihre Worte zurück und beteuert, sie sei „vermutlich nicht ganz bei Verstand“ gewesen. Zuvor wurde Inajewa schon bei einer Bürgerversammlung in ihrem Heimatbezirk, dem Nadteretschenski Rajon, öffentlich verurteilt.

    Zwei Tage nach dem Beitrag über Aischat Inajewa tauchte im Internet ein Entschuldigungsvideo des Bloggers Adam Dikajew auf. In dem Video läuft er ohne Hosen auf einem Laufband, erklärt, er sei ein Nichts, und singt das Lied Mein bester Freund – das ist Präsident Putin.
    Eine Woche zuvor hatte der Blogger Kadyrow dafür kritisiert, dass er am Jahrestag des Tschetschenienkrieges auf Instagram ein Video gepostet hat, das ihn beim Training auf dem Laufband zeigt, während im Hintergrund das besagte Lied läuft.

    Neues Genre

    Die Entschuldigungen von Aischat Inajewa und Adam Dikajew von 2015 waren wohl die ersten einem breiten Publikum bekannten Beispiele dieses Genres, das in Wirklichkeit bereits einige Jahre zuvor entstanden ist. Es gibt keinen strengen Kanon, allerdings ein paar gemeinsame Merkmale: Der Mensch im Bild wirkt erniedrigt – und es sieht nicht so aus, als könnte er seine Teilnahme am Videodreh verweigern.

    Igor Kaljapin, Leiter der NGO Komitee zur Verhinderung von Folter, hat viele Jahre in Tschetschenien gearbeitet. Er zweifelt nicht daran, dass die Menschen in den Entschuldigungsvideos schlichtweg keine Wahl hatten. „Ich denke, dass er [Adam Dikajew] mit massiven Mitteln zu dieser ‚Entschuldigung‘ genötigt wurde, denn in der Tschetschenischen Republik wirkt das extrem erniedrigend – ohne Hose auf dem Laufband.“

    Kaljapin zufolge verschwinden die Menschen oft für einige Tage, bevor sie sich entschuldigen. So war es auch im Fall der Journalisten Riswan Ibragimow und Abubakar Didijew. Sie verschwanden in der Nacht zum 1. April 2016 und tauchten einige Tage später wieder auf bei einem TV-Treffen von Ramsan Kadyrow mit tschetschenischen Historikern und Schriftstellern. In der Sendung des Staatssenders Grosny stehen Ibragimow und Didijew mit verängstigten Gesichtern im Hintergrund und hören zu, wie die anderen Teilnehmer ihre Bücher kritisieren. Am Ende entschuldigen sie sich nicht einfach nur in die Kamera, sondern sprechen einem Priester die Worte eines Bußgebets nach. Ein paar Monate später werden die Bücher von Ibragimow und Didijew von einem Gericht für extremistisch befunden. Vor Gericht sagte Ibragimow aus, er habe nach der Verhaftung vier Tage in der regionalen Abteilung für innere Angelegenheiten des Oktjabrski Rajon von Grosny verbracht, wo er mit Stromschlägen gefoltert worden sei.

    Jeder Unzufriedene gilt als maskierter Feind

    Seitdem gab es in den Medien ein paar Dutzend solcher öffentlichen Entschuldigungen. Der Großteil von ihnen richtete sich an Ramsan Kadyrow persönlich oder an die tschetschenische Regierung. Laut Tatjana Lokschina und vielen anderen Experten war es Kadyrow, der diese Standards setzte, die nun auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus Anwendung finden.

    Anhand der Beiträge des Staatssenders Grosny aus dem letzten Jahr zeigt sich, dass es gar nicht notwendig ist, direkte Kritik an der Regierung zu üben, um zum Protagonisten einer erniedrigenden TV-Reportage zu werden. Es genügt, sich zu beschweren oder öffentlich um Hilfe zu bitten oder in irgendeiner Form anzudeuten, dass die Regierung der Republik nicht effektiv arbeite.

    „Die Menschen in Tschetschenien sollen glücklich sein und ihren Herrscher loben, wie man Kadyrow in den letzten Jahren üblicherweise nennt“, erklärt Kaljapin. „Jeder Mensch, der mit irgendwas unzufrieden ist, ist ein maskierter Feind. Er muss enttarnt und zu einer Entschuldigung gezwungen werden.“

    Laut Kaljapin, werden solche „Feinde“, die es wagen, offizielle Beschwerdebriefe gegen Silowiki und Beamte bei der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungskomitee einzureichen, mit besonderer Härte verfolgt.

    Als Beispiel führt er den Fall von Ramasan Dshelaldinow aus dem Dorf Kechni an. Dieser hatte eine Videobotschaft an Putin aufgenommen, in der er sich über Korruption beschwert. Danach wurde sein Haus in Brand gesetzt, er selbst wurde mit einem Verweis auf das Schicksal der ermordeten Brüder Jamadajew und Boris Nemzows zur Ausreise aus Tschetschenien gezwungen.

    Weibliche Angehörige dieses Tschetschenen mit der Videobotschaft an Putin berichten, sie seien nachts aus dem Haus gezerrt worden, man habe ihnen gedroht, sie in eine Schlucht zu werfen und habe direkt über ihren Köpfen Schüsse abgefeuert.

    Diejenigen, die sich in Sozialen Netzwerken über ihr Alltagsleben beschweren, werden nicht ganz so hart verfolgt, sie werden zu Protagonisten in erniedrigenden Reportagen auf Grosny. Meduza hat etwa zwei Dutzend solcher TV-Berichte analysiert. Sie alle folgen einem ähnlichen Schema und sollen immer dieselbe simple Botschaft vermitteln: sich im Internet zu beschweren ist schlecht und eine Schande.

    Der Aufbau einer typischen Reportage dieses Genres sieht in etwa so aus:

    1. Der Macher der Reportage berichtet, dass in Sozialen Netzwerken oder über WhatsApp ein Video/eine Beschwerde verbreitet wird – es folgt ein Screenshot oder ein Ausschnitt aus dem Video.

    2. Auf Anweisung des Oberhaupts der Republik wird eine besondere Kommission gebildet, um die Sache zu klären – für gewöhnlich mit hochrangigen Personen: Ministern, Kreisvorsitzenden und so weiter. In seltenen Fällen sogar Kadyrow selbst.

    3. Es stellt sich heraus, dass der Verfasser der Beschwerde oder der Macher des Skandal-Videos selbst an allem Schuld ist. Seine Motive können folgendermaßen ausfallen:

    – Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er falsche Gerüchte und Tratsch verbreitet.

    – Er wollte sich auf fremde Kosten bereichern und seine Wohnsituation verbessern.

    4. Angehörige des Protagonisten und andere Interviewpartner erklären, es sei alles in Ordnung und seine Anschuldigungen seien frei erfunden.

    5. Die Kommissionsmitglieder entrüsten sich darüber, dass Menschen Falschmeldungen verbreiteten, während in der Republik so viel für die allgemeine Sicherheit/das Gesundheitswesen/die Unterstützung der Armen/das Wohlbefinden junger Mütter getan werde. Sie beklagen, dass derlei falsche Anschuldigungen die Regierungsorgane davon abbrächten, jenen zu helfen, die es wirklich brauchen.

    6. Der Protagonist der Reportage erkennt an, dass er im Unrecht war, er entschuldigt sich oder steht einfach nur beschämt da.

    7. Der Macher der Reportage beendet den Beitrag mit der Moral: Man darf keine Gerüchte und Tratsch verbreiten und sich nicht auf fremde Kosten bereichern.

    Keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Ehrverlust

    Die tschetschenische Gesellschaft basiere auf dem Prinzip der Ehre, nicht nur der eigenen, sondern auch der Familienehre, erklärt die Projektdirektorin der NGO International Crisis Group Jekaterina Sokirjanskaja. „Wenn du beleidigt wurdest und deine Familie nicht angemessen reagieren konnte, leiden alle Verwandten darunter – deine Schwestern werden nicht heiraten, deine Brüder werden es schwer haben, einen Job zu finden, die ganze Familie wird einen Statusverlust erleiden“, erklärt die Expertin.

    Genau dieser Umstand macht ihr zufolge die Praxis der öffentlichen Entschuldigung zu einer so effektiven Methode der Kontrolle über die Gesellschaft – sogar effektiver als Todesdrohungen, denn die Tschetschenen haben keine Angst vor dem Tod. Eine andere sehr effektive Methode ist, auf die Verwandten Druck auszuüben. Denn jeder Mensch kommt besser zurecht mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit als der seiner Angehörigen.

    Sokirjanskaja vermutet (wie auch die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch Tatjana Lokschina), man könne die Ursprünge des Genres tschetschenischer Zwangs-Entschuldigungen in einer ähnlichen in dieser Region weit verbreiteten Praxis suchen: wenn Verwandte von Kämpfern dazu gezwungen werden, sich von ihren Familienmitgliedern loszusagen und sie somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu streichen.

    Über die Grenzen Tschetscheniens hinaus

    Anfang 2016 verbreitete sich das Format der öffentlichen Entschuldigung auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Konstantin Sentschenko, ein Abgeordneter des Stadtrats von Krasnojarsk, reagierte auf beleidigende Aussagen des tschetschenischen Regierungsoberhaupts gegen die russische Opposition damit, dass er ihn auf Facebook „eine Schande für Russland“ nannte, die „alles, was nur ging, diskreditiert“ habe.

    Einige Tage später veröffentlichte Kadyrow ein Video auf Instagram, worin der Abgeordnete für seine Worte um Vergebung bittet: Er habe sich „nach persönlichen Gesprächen mit Vertretern des tschetschenischen Volkes“ dazu entschlossen. Als Verhandlungsführer fungierte damals Buwaissar Saitijew, dreifacher Olympiasieger im Freistilringen und Ehrenbürger der Stadt Krasnojarsk.

    Vor laufender Kamera verprügelt

    Später versicherte Sentschenko, er habe nicht mit einer Veröffentlichung des Videos gerechnet, und die Entschuldigung habe er im Rahmen eines privaten Gesprächs erbracht. Der Abgeordnete sagte, er sei nicht direkt bedroht worden, es habe aber Anspielungen auf mögliche Unannehmlichkeiten gegeben.

    Seit Anfang 2016 tauchten vermehrt Videos auf, in denen sich die Menschen nicht bei Ramsan Kadyrow, sondern bei Ramasan Abdulatipow, dem damaligen Oberhaupt der Republik Dagestan, entschuldigen müssen. In einem schlagen Unbekannte vor laufender Kamera auf einen Menschen ein und fordern eine Entschuldigung.

     

    Entschuldigungen werden aber nicht nur vor den Oberhäuptern der Republiken fällig. Mittlerweile kann jeder jeden zur Entschuldigung zwingen, wie der Fall von Oleg Tereschenko zeigt. Der Student der RANCHiGS wurde von seinen Kommilitonen dazu gezwungen, sich für Kommentare bei VKontakte zu entschuldigen, die sie als beleidigend empfunden hatten. Gibt man bei Sozialen Netzwerken „zur Entschuldigung gezwungen“ ins Suchfeld ein, stößt man auf zahlreiche ähnliche Videos.

    Verwandte als „Mittäter“

    Die tschetschenische Regierung hat mehr als einmal erklärt, dass für terroristische Straftaten die Angehörigen der Verdächtigen zur Rechenschaft gezogen werden: Mehr als einmal wurden die Häuser von Familien niedergebrannt und die Menschen gezwungen, die Republik zu verlassen. Laut Jekaterina Sokirjanskaja zählt die Regierung diese Verwandten als „Mittäter“, obwohl man bestens weiß, dass die Verwandten in den meisten Fällen überhaupt keine Ahnung haben, dass ihre Kinder in den Einfluss von Terrororganisationen geraten sind.

    Die Menschenrechtlerin Tatjana Lokschina ist überzeugt, dass gerade die tschetschenische Praxis der öffentlichen Entschuldigung die Standards für alle anderen gesetzt habe. Laut Lokschina nimmt die Zahl der öffentlichen Entschuldigungen zu, weil die föderale Regierung in Moskau nichts gegen die tschetschenischen Fälle unternimmt, selbst wenn Bewohner anderer Regionen betroffen sind.

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  • Die Erzfreunde Russland und USA

    Die Erzfreunde Russland und USA

    Russische Trolle! US-amerikanische Bedrohung! Die Hysterie in den Beziehungen zwischen Russland und den USA erreicht gerade in letzter Zeit immer wieder neue Höhepunkte. Einer, der sich dagegen wohltuend ruhig und sachlich mit dem gegenseitigen Verhältnis auseinandersetzt, ist der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Olga Filina von Kommersant-Ogonjok erklärt er unter anderem, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden Ländern ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat. Und warnt vor zu viel „Schaum vor dem Mund“.

    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University
    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University

    Kommersant-Ogonjok: Schon im Titel Ihres Buches behaupten Sie, Russland und die USA seien zwar „Erzfreunde“, aber immerhin doch Freunde. Können Sie diese These begründen?

    Ivan Kurilla: Meinem Buch liegt ein zehnjähriges Projekt zugrunde: Ich habe Materialien gesammelt, die mit der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Russland und den USA zu tun haben. Ein paar hundert kamen da zusammen.

    Ich möchte mit einer Art Metapher beginnen: Russland ist sehr stolz auf „seine Spur“ – die materialisiert sich in den russischen Eisenbahnschienen, die eine andere Spurweite haben als die in Europa. Aber warum sind unsere russischen Eisenbahnen anders als die europäischen? Weil sie amerikanisch sind, ein Modell von 1836. Heute haben die Amerikaner natürlich andere Standards, doch im 19. Jahrhundert lieferten sie uns die Schienen, die auch Baltimore mit Ohio verbanden. Und so setzten sich bei uns die Schienen aus Maryland durch.

    Die ganze Industrialisierung verdanken wir ,amerikanischer Einmischung‘

    Und weiter: Die ganze Industrialisierung der 1930er Jahre verdanken wir „amerikanischer Einmischung“. Das Stalingrader Traktorenwerk genauso wie die Nishni Nowgoroder Automobilfabrik, die Magnitka genauso wie das Wasserkraftwerk DniproHES, sie alle wurden nach amerikanischen Plänen gebaut. Wir waren das 20. Jahrhundert hindurch einander viel näher, als man uns zu denken erlaubte.

    Auch deutsche Ingenieure arbeiteten vor dem Krieg in der Sowjetunion …

    Trotzdem spielt Amerika bei jeder unserer Modernisierungen eine ganz besondere Rolle. Es ist sogar so: Jedes Mal, wenn unser Staatschef von der „Modernisierung“ spricht, meint er „Amerikanisierung“. Mit einem Ruck wollen wir durch Europa hindurch und direkt nach Amerika. Das war schon unter Nikolaus I. so und unter Lenin, unter Chruschtschow und Gorbatschow und sogar unter Medwedew. Trotzki war da übrigens sehr ehrlich: In den 1920ern verwendete er durchweg genau diesen Begriff – „Amerikanisierung“ – wenn er dem Land den Weg in die Zukunft aufzeigte. Berühmt ist noch eine weitere Losung aus diesen Jahren: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung“.

    Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung

    Wir erinnern uns an diese Formel natürlich mit dem Wort „Elektrifizierung“, weil die Geschichte der ersten Sowjetjahre erst in Zeiten des Anti-Amerikanismus geschrieben wurde. Der Kalte Krieg ließ uns überhaupt viel von der Präsenz Amerikas in Russland vergessen, obwohl die Spuren überall sichtbar sind, wenn man nur den Blick dafür schärft.

    Sie haben jetzt ein paar Beispiele genannt, wie Amerika Russland veränderte. Kann man auch Geschichten über den Einfluss Russlands in den USA finden?

    Die sucht man vielleicht nicht so sehr auf dem Gebiet der Technik, obwohl auch dort … etwa der Elektrotechniker Alexander Poniatoff mit seiner Firma Ampex, der den ersten funktionierenden Videorekorder erfand.

    Von der ersten Generation von Emigranten, die Russland noch als Kinder verließen und alle berühmten Hollywood-Filmstudios gründeten, rede ich schon gar nicht. Der kulturelle Einfluss von Auswanderern unseres Landes auf die USA ist wirklich offensichtlich: Man denke an Irving Berlin, aus dessen Feder die wichtigsten patriotischen Lieder Amerikas im 20. Jahrhundert stammen (inklusive God bless America), obwohl er in Tjumen geboren wurde.

    Der kulturelle Einfluss von russischen Auswanderern auf die USA ist offensichtlich

    Während des Kalten Krieges ging dann der berühmte Ausspruch des amerikanischen Impresarios Sol Hurok um, der den kulturellen Austausch zwischen UdSSR und USA organisierte: „Was ist denn unser kultureller Austausch? Das ist, wenn sie uns ihre Juden aus Odessa schicken, und wir schicken ihnen unsere Juden aus Odessa.“ Und da war viel Wahres dran.      

    Und der ideelle Einfluss, der ideologische? Der war, nehme ich an, einseitig …

    Bei den Amerikanern entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, ab den ersten Puritanern, die Tradition, sich als Leader zu sehen: zuerst als religiöse („City upon a Hill“), dann als demokratische („Citadel of Freedom“) und so weiter.

    Damals im 19. Jahrhundert wurden amerikanische Verhältnisse von Nikolaus I. (der den transatlantischen Pioniergeist äußerst schätzte) und den Dekabristen (die ihre Verfassung nach amerikanischem Muster schrieben) gleichermaßen bewundert.

    Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft

    Mit Russland ist das komplizierter, doch Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft. Wir haben sie früher abgeschafft als Amerika die Sklaverei, und während des Bürgerkriegs studierten die USA aktiv die Erfahrungen Russlands. Wahrscheinlich haben wir sie genau in diesem Moment „eingeholt und überholt“, ohne es selbst zu bemerken.

    Eine weitere bekannte Geschichte erzählt davon, wie die Amerikaner ihr Bildungssystem zu reformieren begannen, als sie mit den Erfolgen des sowjetischen Raumfahrtprogramms konfrontiert waren. Das ist doch auch ein ideeller Einfluss.

    Wenn man heute vom Einfluss Amerikas auf Russland oder Russlands auf Amerika spricht, dann impliziert man etwas Ungutes. Bei Ihnen ist „Einfluss“ fast immer für beide Seiten vorteilhaft.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht. Wie wir wissen, folgte nach der „Entspannung“ eine neuerliche Abkühlung der Beziehung zwischen UdSSR und USA, die mit der Präsidentschaft Jimmy Carters zusammenfiel. Ich betone, der Krieg in Afghanistan begann 1979, aber das Verhältnis verschlechterte sich bereits 1977. Anlass für diese Abkühlung war, dass Carter bei einem bilateralen Gespräch die Einhaltung der Menschenrechte in der Sowjetunion in den Vordergrund rückte. In den 1960er Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass die USA etwas derartiges vorbringen: Sie hatten damals selbst eine gesetzlich verankerte Rassentrennung. In den 1970ern jedoch hatte die Bürgerrechtsbewegung in Amerika Erfolge erzielt und stand auf dem Gipfel ihrer Popularität – Carter konnte sie nicht ignorieren.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht

    Gleichzeitig verlor Amerika Mitte der 1970er auf anderen Gebieten praktisch überall: Misserfolg in Vietnam, die heftigste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, Watergate … Beim besten Willen nichts, worauf man stolz sein konnte. Es ging darum, das Land wieder auf die Beine zu stellen. Und es zeigte sich, dass es vor diesem beklemmenden Hintergrund doch auch eine gute Nachricht gab – das Ende der Rassentrennung [im Jahr 1964 – dek], in den USA siegten die Bürgerrechte, anders als in der UdSSR!

    Die Sowjetunion, die Andersdenkende und die eigenen Bürger unterdrückte, wurde wie eine Spielkarte zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt, um die Stärken Amerikas besser hervorzuheben.   

    Also waren wir einander nützlich als „Feindbilder“?

    Das Verhältnis zwischen Russland und den USA gestaltet sich generell auf einer bildhaften, symbolischen Ebene. Wenn sich etwas verändert darin, dann bedeutet das nicht, dass der eine dem anderen tatsächlich etwas angetan hat.  

    Kann man von einer eindeutigen Dynamik des Russlandbildes in Amerika sprechen?

    Im Laufe des ersten Jahrhunderts der Unabhängigkeit Amerikas war Russland das europäische Land, das ihm von allen am freundlichsten gesinnt war. Eine markante Episode jener Zeit war das Erscheinen von zwei russischen Geschwadern in den Häfen von New York und San Francisco im Jahr 1863. Ihre Präsenz unterstützte die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg moralisch. Andererseits reisten in den Jahren des Krimkriegs einige Dutzend amerikanische Ärzte nach Russland, um im belagerten Sewastopol in den Spitälern zu arbeiten: Viele von ihnen starben an Infektionen, den Überlebenden überreichte unser Chirurg Pirogow zum Andenken Medaillen mit der knappen Aufschrift „Sewastopol. Alles getan, was möglich war“.

    Zu bröckeln begann das Russlandbild in den 1880er Jahren, als der Journalist und Schriftsteller George Kennan Sibirien bereiste und dort auf gebildete und liberal denkende Verbannte und Zwangsarbeiter stieß, da war zum ersten Mal die Rede von Russland als „großem Gefängnis“. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten auch die USA in der Krise, da nach dem Bürgerkrieg im Süden die Weißen wieder an die Macht kamen, die Rassentrennung festgelegt wurde und sich die Amerikaner natürlich die Frage stellten: Wofür haben wir gekämpft? Da kamen die Beobachtungen von George Kennan gerade recht, der den kritischen Blick der Amerikaner von sich selbst in Richtung Russland umlenkte, à la: Seht mal, dort haben sie überhaupt die besten Leute nach Sibirien verbannt!
    Die einstigen Verfechter der Unabhängigkeit des schwarzen Südens vereinigten sich also zur amerikanischen Society of Friends of Russian Freedom, um für die Befreiung des russischen Volkes von der Alleinherrschaft zu kämpfen.

    Russland und die USA als zwei extreme Versionen von Europa: eine konservative und eine radikale

    Damals begann sich ein interessantes dreiteiliges Darstellungssystem herauszubilden, wonach Russland und Amerika zwei extreme Versionen von Europa sind: eine konservative und eine radikale. Deswegen erweist sich Russland als willkommener Vergleichspunkt – als entgegengesetzter Pol im europäischen Kulturraum. Und deswegen ist es so harscher Kritik ausgesetzt. 

    Die gegenwärtigen Anwandlungen von Antiamerikanismus und Russophobie – sind die auch der Tradition gezollt?

    Beide Länder benutzten und benutzen Bilder voneinander zur Lösung ihrer inneren Probleme. Vor allem von Problemen, die mit einer Identitätskrise zu tun haben.

    Beide Länder benutzen einander zur Lösung ihrer Identitäts-Probleme

    Wenn Russland sich von Amerika „geplagt“ fühlt, heißt das, etwas stimmt mit unserer Identität nicht, irgendwo haben wir uns verloren. Wenn Amerika sich von Russland „geplagt“ fühlt, stimmt mit Amerika etwas nicht, es schafft einfach nicht, sich zu entscheiden, wie es nun sein soll: wie Hillary, wie Obama oder wie Trump … Aus der Sicht des Durchschnittsamerikaners muss man, wenn sich Russland wirklich in die Präsidentenwahlen der USA eingemischt hat, konkrete Schritte tun, um das nicht mehr zuzulassen: die Cybersecurity verstärken, irgendwelche internationalen Verträge abschließen, zusätzliche Mittel für Geheimdienste ausgeben – was auch immer.

    Aber mit Schaum vor dem Mund zu wiederholen, wie schlecht Russland ist, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Das hat eine andere Funktion – den eigenen Schmerz zu lindern. Und dasselbe gilt auch für Russland.

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  • Die Honigdachs-Doktrin

    Die Honigdachs-Doktrin

    Die außenpolitische Strategie Russlands scheint aufzugehen: Der Syrien-Konflikt ist ohne Russland nicht lösbar, der Westen zerbricht sich den Kopf an der Ukraine-Frage, und alle Welt hat Angst vor russischen Hackern. Bereits vor über einem Jahr bemerkte der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, dass Russland neben Öl und Gas vor allem eines exportiere: Angst. Mit diesem Exportgut erscheine das eigentlich schwache Land im westlichen Ausland allmächtig.
    Dem kann der Journalist Michail Krostikow auf Carnegie.ru allerdings nur sehr wenig abgewinnen. 

    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia
    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia

    Gegen die russische Außenpolitik der letzten Jahre wettern häufig sogar diejenigen, die die Postulate grundsätzlich teilen. Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines strategischen Kalküls, eines Plans wenigstens für die nächsten zehn Jahre. Russland, so die Kritiker, handele situativ und taktisch, es reagiere bloß auf hereinbrechende Schicksalsschläge und verliere allmählich an Kraft.


    Im Grunde jedoch hat Russland über die letzten drei Jahre eine vollwertige außenpolitische Strategie entwickelt, die man fürs Erste als Honigdachs-Doktrin bezeichnen könnte.


    Der Honigdachs merkt sich, wer ihn beleidigt, und macht ihm das Leben schwer

     


    Die kleinen Tiere zeichnen sich vor allem durch eine für ihre Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus. Honigdachse werden dank noch nicht vollständig erforschter regenerativer Eigenschaften sogar mit dem Gift der Kobra fertig – der tödliche Biss setzt sie nur für eine Stunde außer Gefecht. Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick, in Anbetracht der Gewichtsklasse, nicht anlegen sollte: Löwen, Tiger und sogar Alligatoren. Es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu töten, aber sie aus dem eigenen Revier zu vertreiben – das schafft es meistens, wovon man sich leicht in zahlreichen YouTube-Videos überzeugen kann. Nicht zuletzt hat der Honigdachs ein hervorragendes Gedächtnis: Er merkt sich genau, wer ihn beleidigt hat, und macht demjenigen noch lange auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer.


    Die Außenpolitik soll zeigen, dass Russland international in der Schwergewichtsklasse spielt

     


    Das Verhalten dieser Tiere lässt sich leicht auf die russische Außenpolitik der letzten drei bis vier Jahre übertragen. Diese erfüllt fünf grundsätzliche Aufgaben: Erstens, zu zeigen, dass Russland auf dem internationalen Parkett in der Schwergewichtsklasse spielt, in einer Liga mit den USA und der EU, und sogar noch vor Ländern wie zum Beispiel China.


    Moskau kann eine eigene Wirtschaftsunion bilden (die Eurasische Union), einen Konflikt auslösen (die Ukraine), eine Schlüsselrolle in einem bereits bestehenden Konflikt einnehmen (Syrien), und es scheut nicht vor der Konfrontation mit den heftigsten Gegnern zurück. 


    Dabei ist Russlands Staatshaushalt (2016 rund 233 Milliarden US-Dollar) lächerlich klein im Vergleich zu dem der USA (3,3 Billionen Dollar, also 14 Mal so viel) und geradezu absurd im Vergleich zum Gesamtbudget der EU-Länder (6,4 Billionen Euro, also 32,3 Mal so viel). Beim Verteidigungsbudget sind die Unterschiede zwar geringer, aber immer noch bezeichnend: Das der USA lag 2016 nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) bei rund 611 Milliarden Dollar, das der EU (2015, laut der European Defense Agency) bei 199 Milliarden Euro, und das russische bei rund 69 Milliarden Dollar.


    Alles unwichtig, sagt die russische Führung. Wenn’s drauf ankommt, schlagen wir euch nicht mit Dollars und Euros, sondern mit TOS-1 „Buratino“-Geschossen. Finanzielle Kennziffern hätten keinerlei Bedeutung, das militärisch-politische Potential Russlands liege bei weitem über dem ökonomischen.


    Wir werden euch das Leben schwermachen …


    Die zweite Aufgabe ist zu zeigen, dass Russland, wenn es will, jedem das Leben schwermachen kann. Die USA möchten Assad entmachten? Tut uns leid, aber nein. Die EU will den Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews lösen? Und wieder nein, sorry.


    Stattdessen wird Geld in rechts- und linksradikale Parteien gesteckt, die angesichts der anhaltenden Krise ohnehin genügend Zulauf haben. Ist es möglich, dass sie an die Macht kommen? Wohl kaum. Lässt ihr Erfolg die traditionellen Politiker nervös werden? Ohne Frage.


    Falls ihr uns in die Quere kommt, will Moskau sagen, dann stellt euch schon mal auf jahrelange Kopfschmerzen ein. Wir werden euch das Leben schwermachen, eure Initiativen behindern und die innenpolitische Lage zerrütten, indem wir uns die Verwundbarkeit der Demokratie zunutze machen. Wenn ihr das wollt – nur zu, aber wollt ihr das wirklich?


    Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland!

     


    Drittens soll innerhalb der internationalen Beziehungen eine eigene Linie aufgebaut werden, und das tut Moskau fürwahr. Lange hat man der russischen Außenpolitik vorgeworfen, passiv zu sein, nur auf das Handeln der anderen zu reagieren, aber jetzt hat sie offensichtlich zum Gegenangriff ausgeholt.


    Die reale oder mutmaßliche Einmischung Moskaus in politische Prozesse in einem Dutzend Länder ist zum wichtigsten medialen Ereignis in Europa und Nordamerika geworden. Die praktischen Auswirkungen dieser Einmischung, dort wo sie tatsächlich stattgefunden hat, mögen verschwindend gering sein. Doch die Hysterie der westlichen Politiker erweckt den Eindruck, als wäre der Kreml allmächtig und könnte leicht das politische Geschehen in Ländern beeinflussen, die ihm wirtschaftlich weit überlegen sind.


    Als Ergebnis protestieren in den USA Menschen auf Anti-Trump-Demos mit Plakaten, auf denen auf Russisch zu lesen ist: „Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland.“ Wer hätte das noch in den 2000er Jahren zu träumen gewagt? Wenn das mal keine eigene Linie ist.


    Die allmächtigen russischen Hacker im Cyberspace


    Viertens will man zeigen, dass Russland ganz weit vorne ist, wenn es um die Mittel der modernen Kriegsführung geht: den Informationskrieg und den Krieg im Cyberspace. Das Jahresbudget des Fernsehkanals RT wirkt geradezu lachhaft, verglichen mit dem der westlichen Kollegen: 323 Millionen gegen zum Beispiel 6,6 Milliarden bei der BBC (Jahresumsatz 2015/2016). Analytiker werden nicht müde, die minimale Reichweite von RT zu unterstreichen (in keinem Land der EU erreicht der Sender mehr als zwei Prozent der Zuschauer), doch wozu gründet man dann auf EU- und Länder-Ebene laufend „Arbeitsgruppen zur Bekämpfung von Desinformation“?


    Im Cyberspace ist alles noch schlimmer: Die allmächtigen russischen Hacker haben angeblich die US-Wahlen geknackt, den Bundestag, das dänische Verteidigungsministerium, und, wenn man den jüngsten Berichten glauben darf, auch beim Brexit nachgeholfen. Die Namen der angeblich von GRU und SWR betriebenen Hackerkollektive Cozy Bear und Fancy Bear sind in aller Munde. Der Effekt, den Russland mit geringstmöglichem Aufwand erzielt, ist phänomenal.


    In Moskau geht man auf die Straße? Uns doch egal


    Und schließlich Aufgabe Nummer fünf: Moskau will demonstrieren, wie vollkommen unempfindlich es gegen Reaktionen aus der eigenen Bevölkerung ist. Der Konflikt mit der Ukraine macht Geschäftsleuten und Menschen, die dort Verwandtschaft haben, schwer zu schaffen? Interessiert uns nicht.
    In Moskau geht man gegen Wladimir Putin auf die Straße? Uns doch egal. 
    Staatsgesellschaften und zahlreichen Unternehmen, die sich anboten, wurde der Kredithahn abgedreht? Selbst schuld, wer Feindesgeld annimmt.


    Der Kreml will uns zeigen, dass ihn die Sanktionen als  Phänomen nicht tangieren: Die Kosten werden auf die Bevölkerung umgelegt, und die ist vom politischen Prozess ausgeschlossen. Die Staatsbeamten aus den Sanktionslisten leben auch weiterhin wie arabische Ölscheichs und kaufen ihren Wein bei Tschitschwarkin in London.


    Die Honigdachs-Strategie verfolgt zwei Ziele: Erstens will man alle Konkurrenten Moskaus davon überzeugen, dass der Nutzen eines Eingriffs in seine existenziellen Interessen viel geringer ist als der potentielle Schaden. Russland vergisst nicht, verzeiht nicht, setzt seine begrenzten Ressourcen äußerst geschickt ein und hat keinerlei Angst vor Gegenangriffen.


    Zweitens will man zeigen, dass es völlig sinnlos ist, auf die russische Innenpolitik Einfluss nehmen zu wollen, schon gar nicht über ein „Sponsern der Demokratie“. Das Volk ist in Russland vom Staat getrennt, und deshalb muss man sich mit den Eliten einigen. Die mögen einem gefallen oder auch nicht – „Geografie ist Schicksal“, und ergo ist der einzige Weg, Moskau eine Reihe von Interessen zuzugestehen und sich um konstruktive Beziehungen zu bemühen.


    Die Strategie verspricht bei minimalem Einsatz enormen Nutzen


    Außenpolitisch betrachtet ist die Honigdachs-Strategie äußerst effektiv: Mit – im internationalen Vergleich – minimalem Einsatz (Geld haben wir keins, und alle wissen’s) wird eine enorme und langfristige Wirkung erzielt. Zudem bekommt Russland Hilfe von den westlichen Medien, die nach Traffic gieren, den die „russische Bedrohung“ bringt: Belanglose Geschichten werden aufgebläht zu echten James-Bond-Comics.


    Und so bekommt die politische Klasse in Russland nach und nach, was sie schon lange will: die Anerkennung als äußerst gefährlicher Gegner. Es ist leicht, Hussein oder Gaddafi mit Krieg zu drohen. Viel schwieriger ist es im Falle des riesigen, mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung ausgestatteten Russland – dessen Führung bereit ist, die „nationalen Interessen“ bis zum letzten Russen zu „verteidigen“.

    Die Honigdachs-Doktrin hat aber auch Schwächen. Es ist eine Überlebensstrategie, keine Strategie der Entwicklung. Sie hat nichts zu tun mit dem Anlocken von Investoren, mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas, mit dem Schaffen eines positiven Russland-Bildes, mit der Modernisierung der Wirtschaft oder anderen langweiligen Dingen. Sie ist einzig dazu da, die „Souveränität zu gewährleisten“, was nichts anderes heißt als die völlige Autonomie der Elite von äußeren und inneren Einflüssen.


    Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muss Russland mit dem Westen kooperieren, doch dafür sind gewisse Zugeständnisse nötig. Und das wiederum hieße, die absolute Autonomie bei Entscheidungen zu verlieren. Es gefährdet den Status der russischen Elite, ergo ist es inakzeptabel.


    Die Kontrahenten erkennen mittlerweile die Spielzüge Moskaus


    Darüber hinaus basiert der Erfolg vieler Elemente der Honigdachs-Doktrin auf dem Kriegsnebel-Effekt, das heißt dem gegnerischen Mangel an Informationen über die Ziele, die Russland verfolgt, und die Handlungen, die es auszuführen gedenkt. Leider lichtet sich der Nebel nach und nach; die Kontrahenten lernen, Moskaus Spielzüge zu erkennen und sogar vorauszusagen, die Effektivität der Methode sinkt. Für die westlichen Geheimdienste wird es zur Routine, Trolle und Hacker aufzuspüren, Politiker, denen Verbindungen zu Moskau vorgeworfen werden, scheiden immer früher aus dem Rennen aus und erhalten immer weniger Stimmen.


    Die Honigdachs-Doktrin mag Russland durchaus in die Lage versetzen, seinen Partnern Respekt abzuringen. Aber echten Aufschwung kann sie dem Land nur als Teil einer weiter gedachten Strategie bringen. Die Angst, die die russische Außenpolitik aktuell sät, müsste sich in Achtung verwandeln, nicht in den Wunsch, eine Quarantänezone um die Russische Föderation zu errichten und so wenig wie möglich mit den Russen zu tun zu haben.

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  • Was kommt nach Putin?

    Was kommt nach Putin?

    Verfassungen sind eigentlich vor allem dafür da, um die Macht der Machthaber zu begrenzen. In der Russischen Föderation jedoch ist seit 1993 der Präsident Garant der Verfassung. Absurd, meint Grigori Golossow, einer der wichtigsten Politikwissenschaftler des Landes. Denn wie kann jemand etwas garantieren, was seine eigene Macht begrenzen soll? Und dies, so Golossow, sei nicht der einzige Systemfehler, der Putin den Weg zu seiner autoritären Konsolidierung Russlands ebnete.

    Eine Korrektur dieser Fehler bedeute auch eine tiefgreifende Reform des gesamten politischen Systems. Nach 2024 freilich, denn Putins Triumph bei der Präsidentschaftswahl 2018 gilt als sicher.

    Um nicht die alten Fehler zu wiederholen, müsse sich das liberal-demokratische Russland jetzt schon Gedanken machen, was nach Putin kommt und wie denn dieses Szenario verwirklicht werden kann. Grigori Golosssow bringt auf Takie Dela seine Vorschläge ein. 

    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com
    Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com

    Mittlerweile kann man sich nur schwer vorstellen, dass es in Russland vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keinen Präsidenten gab, weder in der Sowjetunion noch in den Bruderrepubliken – bis 1990.

    Wie alle Staaten mit kommunistischem Regime hatte auch die UdSSR formal ein parlamentarisches System. In der Praxis lag alle Macht bei der KPdSU, die den politischen Kern des Systems darstellte. Dieser Kern bildete sich 1990 und 1991 allmählich zurück – und die Macht des ersten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hing in der Luft. Im August 1991 versuchte die Parteielite, diese Macht zu ergreifen: Sie erklärte den Ausnahmezustand und ließ in Moskau Panzer auffahren. Doch sie scheiterte auf ganzer Linie.

    Das Tätigkeitsverbot für die Kommunistische Partei und der Zerfall der Sowjetunion zogen Gorbatschow beide Stühle weg. Er landete im politischen Nichts – zusammen mit dem Staat, den er angeführt hatte.

    Gorbatschow landete im politischen Nichts

    Völlig anders war die Lage von Boris Jelzin zu Beginn seines Weges als Staatsoberhaupt Russlands. Kontrolle über die Kommunistische Partei gewinnen konnte er nicht; er wollte es wohl auch nicht. Macht konnte Jelzin allein über die staatlichen Strukturen gewinnen. Also erlangte er zunächst den Posten des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation (damals noch der RSFSR) und wurde danach, im Juni 1991, zum ersten gewählten Präsidenten Russlands. Ein grundlegender Wandel der politischen Institutionen in Russland erfolgte daraufhin allerdings nicht. Formal lag die Macht weiterhin in den Händen der Sowjets, Jelzins Vollmachten waren vor allem repräsentativer Natur. In dieser Hinsicht unterschied sich der Status Jelzins kaum von dem Gorbatschows.

    Der politische Sieg im August 1991 ermöglichte es Jelzin, weitreichende Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Vom verschreckten und desorientierten Parlament Russlands erwirkte er außerordentliche Vollmachten zur Durchführung von Wirtschaftsreformen. Mehr noch: Von November 1991 bis Juni 1992 war Jelzin gleichzeitig Präsident und Regierungschef.

    Panzer beschießen das Parlament

    Das Parlament erholte sich jedoch mit der Zeit von dem Schock und begann einen systematischen Angriff auf Jelzin, dessen verfassungsmäßige Vollmachten als Präsident nach wie vor gegen Null gingen. Die Verfassung zu seinen Gunsten ändern, das konnte Jelzin nicht, das konnte nur das Parlament. Also blieb ihm nur zu drohen, zu lavieren und seine Macht mit Hilfe eines Referendums zu festigen. Das half Jelzin, seine reale Macht zu wahren, führte aber zu einem Konflikt, der in der gewaltsamen Auflösung des Parlaments und dem Minibürgerkrieg vom Oktober 1993 endete. Wieder wurden Panzer in Bewegung gesetzt. Allerdings waren die neuen Machthaber entschlossener: Die Panzer nahmen das Parlament unmittelbar unter Beschuss.

    Nach dem Sieg über das Parlament konnte Jelzin die Verfassung diktieren, wie sie ihm gefiel, und sich so viele Vollmachten geben, wie ihm beliebte.

    Allerdings gab es zwei einschränkende Faktoren. Der eine, wenn auch nur ein schwacher, war die öffentliche Meinung im Westen, die von dem gewaltsamen Eingreifen Jelzins enttäuscht war und keine Errichtung einer Präsidialdiktatur in Russland wollte. Der andere Faktor, der von sehr viel größerer Bedeutung war, wurzelte in Jelzins Unwillen, sich allzu sehr mit Fragen des Alltagsgeschäfts zu belasten, für das er nie großes Interesse hatte (möglicherweise aus der Haltung heraus, dass dies nicht des Zaren Sache sei).

    Der Präsident als Garant der Verfassung

    Deshalb hat die Verfassung von 1993 die Kernaufgabe von Dokumenten dieser Art nicht erfüllt, nämlich die Zuständigkeiten der staatlichen Institutionen klar festzulegen. War die Macht des Präsidenten zuvor unklar definiert gering, so war sie nun unklar definiert groß. Entgegen gesundem Menschenverstand wurde dem Präsidenten die vage Rolle eines „Garanten der Verfassung“ zugesprochen, wo doch klar sein sollte, dass derjenige, dessen Macht durch die Verfassung beschränkt werden soll, nicht gleichzeitig Garant dieser Beschränkungen sein kann.

    Da die Verfassung von 1993 auf Jelzin zugeschnitten war, versorgte sie ihn mit einem politisch durchaus angemessenen Instrumentarium. Der Präsident konnte, sollte dies nötig sein, praktisch uneingeschränkt Macht ausüben. Bei Bedarf konnte er wiederum in den Hintergrund treten und sich hinter der Regierung vor dem Volkszorn verstecken. Wie etwa in der Augustkrise 1998, als das Scheitern der Jelzinschen Wirtschaftspolitik unübersehbar wurde.

    Putin hat Mittel gefunden, die Verfassung für seine Interessen zu nutzen

    Es liegt auf der Hand: Die Unbestimmtheit der präsidialen Vollmachten bringt es mit sich, dass das Funktionieren dieses Amtes unmittelbar abhängig ist von den persönlichen Qualitäten und den politischen Ressourcen desjenigen, der es bekleidet. Die Verfassung von 1993 war zwar nicht auf Putin zugeschnitten. Doch hat er die Mittel gefunden, sie für seine ureigenen Interessen zu nutzen.

    Formal gesehen gehört die russische Verfassung von 1993 zum Typus der semipräsidentiellen Systeme, die eine zweifache Verantwortlichkeit der Regierung vorsehen: gegenüber dem Parlament und gegenüber dem vom Volk gewählten Präsidenten. Solche Systeme sind nicht sonderlich stabil, und die Hauptgefahr besteht darin, dass es zu einer politischen Konfrontation zwischen Parlament und Präsident kommt.

    In erster Linie war Putin bestrebt, dieser Gefahr zu begegnen. Zu diesem Zweck gestaltete er das Wahl- und Parteiensystem derart um, dass die Mehrheit im Parlament stets der Partei gehört, die ihn unterstützt. Gerade diese Umstrukturierung führte dazu, dass Russland Mitte der 2000er Jahre keine durch Wahlen gestützte Demokratie mehr war, sondern endgültig den Weg in Richtung Autoritarismus eingeschlagen hatte.

    Der Weg in Richtung Autoritarismus

    Das Risiko, das dem semipräsidentiellen System innewohnt, bietet einem starken politischen Akteur einen spürbaren Bonus. Falls der Präsident aus irgendwelchen Gründen seinen Posten verlassen muss, so kann er sich, indem er Regierungschef wird, nahezu alle Einflussmöglichkeiten bewahren. Genau das war während der Rochade [von Putin und Medwedew – dek] zwischen 2008 und 2011 zu beobachten. Und es ist durchaus möglich, dass uns 2024 etwas Ähnliches erwartet. Somit schafft die Verfassung von 1993 nicht nur Möglichkeiten zur Entfaltung uneingeschränkter persönlicher Macht, sondern ermöglicht auch, diese auf unbestimmte Zeit zu behalten.

    Der Präsident hat kaum Verantwortung

    Gleichzeitig ist die Verantwortung, die dem Präsidenten durch die Verfassung auferlegt ist, vergleichsweise gering. Die unmittelbare Verantwortung trägt er nur für die Außen- und Verteidigungspolitik. Für alles andere ist der Regierungschef verantwortlich, der jederzeit abgesetzt werden kann, wenn man ihm zum Beispiel die Schuld für ein Scheitern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugeschoben hat. Die Regierung bleibt für die Bevölkerung der Sündenbock. Kein Wunder, dass die Umfragewerte des Präsidenten stets erheblich über jenen der Regierung liegen.

    Die Unbestimmtheit der Vollmachten und Verantwortlichkeiten schafft eine Situation, in der sich die Entscheidungsmechanismen auf eine Schattenebene verlagern, die nur schwer zu durchschauen ist. Das ist zum Teil auch den spezifischen Regierungsgewohnheiten Putins geschuldet. Richtig ist aber auch, dass in jedem politischen System ein wichtiger Teil der Entscheidungen mehr oder weniger informell auf den Fluren getroffen wird. Allerdings wird diese Praxis durch klar festgelegte Normen beschränkt. In Russland wird durch das Fehlen solcher Normen diese Praxis nur verstärkt.

    Entscheidungen werden auf den Fluren getroffen

    Die Hauptaufgabe, die beim Übergang zur Demokratie bevorsteht, besteht darin, die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Staatsämter in der Verfassung klar voneinander abzugrenzen. Das ließe sich auf unterschiedliche Weise bewältigen.

    In oppositionellen Kreisen herrscht relativ breite Einigkeit, dass man auf das Präsidialsystem verzichten und ein parlamentarisches System einführen sollte. Das würde bedeuten, dass die Vollmachten des Präsidenten vor allem repräsentativer Natur wären und die gesamte politische Verantwortung auf einem Premierminister läge, der von einer Parlamentsmehrheit im Amt zu bestätigen wäre.

    Ich sehe keine ernsthaften Hindernisse für eine Umsetzung dieser Variante. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass auch ein semipräsidentielles System seine Vorteile hat, wenn es richtig angelegt ist und funktioniert. Das zeigen die Beispiele einiger europäischer Staaten: Etwa Frankreich (wo dieses System erfunden wurde), Polen oder Rumänien. In allen diesen Ländern gibt es Probleme; diese sind jedoch erstens nicht allzu gravierend, und zweitens könnten wir den nötigen Scharfsinn zeigen und das System unter Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Länder optimieren.

    Natürlich kann der Präsident nicht „Garant der Verfassung“ sein. In einem normalen System wäre er lediglich ein höher gestellter Staatsdiener. Im Prinzip hat die Verfassung von 1993 richtig festgeschrieben, welche Verantwortungsbereiche beim Präsidenten zu verankern sind: die Außenpolitik und die Verteidigung. Politischen Führern ist sehr wohl bewusst, dass sich jede Art ihres Scheiterns durch einen außenpolitischen Triumph kompensieren lässt. Putin ist hierbei vorgegangen, wie’s im Buche steht. In Ländern, die keine aktive Außenpolitik betreiben, haben solche Überlegungen keine sonderlich große Bedeutung. In Russland spielen sie auf lange Sicht eine wichtige Rolle. Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen.

    Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen

    In einem optimalen Modell, wie ich es mir vorstelle, sollten sowohl Präsident als auch Parlament direkt gewählt werden. Der Präsident würde neben repräsentativen Funktionen die tatsächliche und unmittelbare Verantwortung für die Außen- und Verteidigungspolitik tragen, während die Macht in allen anderen Bereichen bei einer Regierung liegen würde, die von einer Partei oder einer Koalition getragen wird. Der Premier wäre somit der politische Führer des Landes.

    Den Premierminister könnte nur das Parlament absetzen, und zwar nur dann, wenn der Premierminister das Vertrauen der Partei oder Koalitionsmehrheit verliert. Oder aber, was häufiger der Fall ist, wenn die Partei oder die Koalition auseinanderbricht, was gewöhnlich zu Neuwahlen führt. Was den Präsidenten betrifft, so kann dieser in einem solchen System nur dann abgesetzt werden, wenn er Gesetze bricht: über ein Amtsenthebungsverfahren mit Gerichtsbeschluss. Politische Differenzen mit dem Premierminister sind kein hinreichender Grund.

    Direkte Wahlen und eine neue Verfassung

    Das grundlegende Modell zur Einteilung und Abgrenzung der Befugnisse kann nicht ohne Verabschiedung einer neuen Verfassung geändert werden. Das bedeutet aber weder, dass die Verfassung von 1993 in einem eigenmächtigen, revolutionären Akt abgeschafft werden sollte, noch heißt es, dass man – selbst unter Beachtung aller rechtlichen Aspekte – es mit ihrer Abschaffung eilig haben sollte.

    Die erheblichen innenpolitischen Vollmachten des Präsidenten könnten für die Umsetzung von Reformen sinnvoll sein. Nach einer solchen Übergangszeit hätte dann laut der Verfassung von 1993 das zur Verfassungsänderung berechtigte Gremium das Sagen. Und das ist die die Verfassunggebende Versammlung. Bislang fehlt noch ein Gesetz, das festlegt, wie diese zu bilden ist. Das wäre Aufgabe jener Gesetzgeber, die nach dem Übergang zur Demokratie durch die ersten freien Wahlen ins Parlament gelangen. Ich denke, die würden das schaffen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Petersburger Trolle im US-Wahlkampf

    Hat der Kreml die US-Wahl 2016 beeinflusst? Gerüchte gibt es schon länger, auch die US-amerikanischen Geheimdienste werfen Russland vor, die Wahl manipuliert zu haben. Ihr Hauptverdächtiger ist die sogenannte Trollfabrik, die unter dem Dach der St. Petersburger Nachrichtenagentur Glawset wirken soll. Untergebracht in einem unscheinbaren Gebäude an der Uliza Sawuschkina, soll sich hier demnach eine Zentrale für die nahezu industrielle Produktion von Falschinformationen befinden.

    Nun bringt die Nachrichtenplattform RBC Licht in diese „Trollhöhle“ und recherchierte zu wichtigen Fragen: Wer steckt hinter der Kampagne zur US-Wahl? Wie teuer war sie? Der vielbeachtete investigative Artikel deckt die Mechanismen hinter der Aktion auf. 

    Uliza Sawuschkina 55 –  seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant
    Uliza Sawuschkina 55 – seit vier Jahren Sitz einer Trollfabrik? / Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    22. Oktober 2016. Die Stadt Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina. Es ist ein sonniger Samstag. Einige Dutzend Menschen sind in den Central Park der Stadt gekommen. Allerdings nicht zum Spazierengehen, sondern zu einer Demonstration der afroamerikanischen Bevölkerung gegen Polizeigewalt. Die Protestierenden rufen am Brunnen des Parks Parolen, dann ziehen sie friedlich zum Eingang der örtlichen Polizeistation. Auf der Eingangstreppe zur Polizeiwache rufen sie einige Male: „Black Lives Matter!“ Eine populäre Parole und der Name einer Organisation, die sich für die Rechte schwarzer US-Bürger einsetzt.

    Die Aktion in Charlotte war auf Facebook ordentlich beworben worden von der Gruppe BlackMattersUS, die mit der Organisation Black Lives Matter nichts zu tun hat. Die Verbindungen von BlackMattersUS reichen weit über die Grenzen der USA hinaus – bis nach Russland in die Uliza Sawuschkina 55 in St. Petersburg.

    Diese Adresse im Primorski-Bezirk ist schon lange ein feststehender Begriff. Vor rund drei Jahren sind in das vierstöckige Gebäude in der Uliza Sawuschkina einige hundert junge Leute eingezogen, deren Hauptaufgabe es ist, patriotische Werte zu propagieren. Die Arbeit der Mitarbeiter dieser Trollfabrik (im Weiteren kurz: Fabrik), gegründet und finanziert vermutlich von dem Petersburger Geschäftsmann Jewgeni Prigoshin, bestand vor allem darin, unter fiktiven Namen non-stop Kommentare in Blogs und Sozialen Netzen des russischen Internet zu schreiben. Sie sollten das gegenwärtige Regime verteidigen, Oppositionelle kritisieren und politisch willkommene öffentliche Events unterstützen.

    Die Trollfabrik in der Uliza Sawuschkina

    Bald schon wurden in der Fabrik die anfänglich primitiven Methoden weiterentwickelt. Ungefähr zu dieser Zeit entstanden die ersten Portale, die dann zum Kern des Medien-Anteils der Organisation wurden, der sogenannten „Medienfabrik“. Eine komplette patriotische Holding, über die RBC im März 2017 berichtet hat und die mittlerweile monatlich über 50 Millionen Menschen erreicht.

    Bis Mitte 2015 war die Fabrik auf 800 bis 900 Leute angewachsen. Auch das Instrumentarium hatte sich erweitert, hinzugekommen waren Videos, Infografiken, Meme, Reportagen, Nachrichtenmeldungen, Interviews, analytische Beiträge und eigene Gruppen in den Sozialen Netzwerken. Im Januar 2017 wurde dann in einem Bericht der US-amerikanischen Geheimdienste über die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen neben dem Fernsehsender RT  [Russia Todaydek] die Agentur für Internetrecherchen erwähnt. Mutmaßlich war dies eine der ersten juristischen Personen im Rahmen der Trollfabrik (die hatte ihre Tätigkeit 2015 eingestellt und war Ende 2016 aus dem Handelsregister gestrichen worden). Bald nach der Wahl Donald Trumps wurden im US-Kongress und im Senat eine Reihe von Ausschüssen eingesetzt, die die Vorkommnisse untersuchen sollten.

    US-amerikanische Firmen wie Facebook, Twitter oder Google arbeiten mit den Behörden zusammen und forschen auf ihren Plattformen nach Trollen. Westliche Medien, unter anderem The Wall Street Journal, The New York Times, CNN und The Daily Beast veröffentlichen fast täglich neue Details zu einer möglichen russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen. Es werden immer neue Social-Media-Gruppen gefunden, die vor und nach den Wahlen aktiv waren, sowie Aufrufe und Veranstaltungen, die mit ihnen in Verbindung standen. Als Grundlage dieser Berichte dienen zuweilen einzelne Bilder und Videos gesperrter Gruppen.

    RBC hat jetzt eigene Recherchen angestellt. Es ist uns gelungen, die Beteiligung von Mitarbeitern aus der Uliza Sawuschkina an 120 Gruppen und Themen-Accounts in Sozialen Medien aufzudecken und deren Existenz zu belegen, ihren Inhalt zu analysieren und die Gesamtausgaben für diese Kampagne zu berechnen. Rechtfertigt das Ausmaß der Auslandstätigkeit der Trollfabrik die Hysterie, die in den USA darum entstanden ist?

    Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert

    Frühjahr 2015. Ein paar Leute sind vor einem Bildschirm versammelt. Auf dem Monitor des Computers ist ein recht monotones Bild zu sehen: Menschen kommen auf einen Platz in New York, lassen den Blick schweifen, schauen auf ihre Telefone, schauen sich noch einmal um und gehen nach einiger Zeit weg.

    Einige Tage zuvor war auf Facebook mit einem Targeting auf die Bewohner von New York ein Event beworben worden: Man bekommt kostenlos einen Hotdog, wenn man zur richtigen Zeit am festgelegten Ort erscheint. Allerdings hat letztendlich niemand irgendein Würstchen bekommen. Dafür hatten andere Leute ihren Spaß: Mit Hilfe städtischer Überwachungs-Webcams wurde das Geschehen auf dem Platz online verfolgt, von St. Petersburg aus, aus einem Büro im ersten Stock der „Trollhöhle“.

    Die Aktion sollte die Praxistauglichkeit einer Hypothese prüfen, nämlich, ob sich aus der Ferne eine Aktion in einer US-amerikanischen Stadt organisieren lässt. „Es wurden nur Möglichkeiten getestet, es war ein Experiment. Und es hat funktioniert“, erinnert sich ein Mitarbeiter der Fabrik, ohne seine Freude zu verhehlen. An jenem Tag, also fast anderthalb Jahre vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, begann die eigentliche Arbeit der Trolle in der amerikanischen Internet-Community.

    Im März 2015 wurde auf dem Portal Super Job eine freie Stelle als „Internet-Operator (nachts)“ ausgeschrieben. Für ein Gehalt zwischen 40.000 und 50.000 Rubel [etwa 590 und 740 Euro – dek] und mit Arbeitszeiten von 21.00 bis 9.00 Uhr (nach dem Schema „zwei Nächte arbeiten, zwei Tage frei“) wurde ein Mitarbeiter für ein Büro im Primorski-Bezirk gesucht: Zu den Aufgaben gehört das Verfassen von „nachrichtlich-informierenden und analytischen“ Beiträgen „zu einem vorgegebenen Thema“. Gefordert wird unter anderem „fließendes Englisch in Wort und Schrift“ sowie Kreativität.

    Die freie Stelle wurde von der Petersburger Firma Internet-Issledowanija [dt. Internet-Recherche – dek] angeboten. Als Besitzer dieser Firma wurde damals Michail Bystrow geführt, ehemaliger Leiter der Verwaltung des Innenministeriums für den Moskowski-Bezirk von St. Petersburg. Er leitete auch die Agentur für Internetrecherchen und steht bis heute an der Spitze von Glawset, registriert unter der Adresse Uliza Sawuschkina 55 (Angaben von SPARK-Interfax).

    Über Anzeigen dieser Art wurden in der Uliza Sawuschkina Leute rekrutiert, die die amerikanischen Social-Media-Gruppen in Echtzeit bearbeiten sollten, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik gegenüber RBC. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter ergänzt, dass seit Frühjahr 2015 zum Arbeitsfeld auch die „Diskreditierung der Kandidaten“ gehörte, die bei den Präsidentschaftswahlen in den USA antraten.

    Wenn Facebook die Accounts der Trolle sperrt, kauft die IT-Abteilung Proxy-Server, teilt neue IP-Adressen zu, schafft virtuelle Betriebssysteme, und die Arbeit beginnt von Neuem, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Fabrik. Auch kaufen sie neue SIM-Karten oder Cloud-Nummern, es werden neue Zahlungskonten eröffnet und manchmal auch Dokumentenpakete zur Registrierung von Accounts, ergänzt ein Gesprächspartner von RBC aus der Fabrik. Für die IT-Versorgung werden monatlich bis zu 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek] ausgegeben, führt eine Quelle aus, die mit der Vorgehensweise der Organisation vertraut ist.

    Einen sehr viel umfangreicheren Ausgabenposten stellen die Gehälter dar. Bis zum Sommer 2016, also innerhalb eines Jahres, hatte sich die Zahl der Mitarbeiter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina fast verdreifacht, auf 80 bis 90 Personen. Das sind rund zehn Prozent derjenigen, die der Fabrik zugeordnet werden können.

    Die Köpfe der Trollfabrik

    Chef der gesamten Fabrik ist de facto der 31-jährige Michail Burtschik, wie RBC berichtet hatte. Er war früher Besitzer der IT-Firmen VkAp.ru und GaGaDo und Herausgeber kommunaler Zeitungen. Burtschik hat nie offiziell bestätigt, dass er Chef der Fabrik sei oder im Büro in der Uliza Sawuschkina arbeite.

    Gegenüber RBC meinte er jedoch, dass er Medien berate, „als Fachmann für die Förderung und Entwicklung von Internet-Projekten“. Burtschik hat mit etwa 20 bis 30 Leuten zu tun, die ihrerseits wiederum, je nach Aufgabenbereich, Teams von zehn bis 100 Mitarbeitern leiten, beschreibt ein Informant der Fabrik das Arbeitsmodell.

    Auf die Frage, wer die Amerika-Abteilung leite, nannten Gesprächspartner gegenüber RBC einhellig den 27-jährigen in Aserbaidschan geborenen Ceyhun Aslanov. Einem Korrespondenten von RBC gegenüber hat Aslanov diese Information dementiert. Als Quellen dienten RBC ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik, ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung sowie eine Person, die mit der Tätigkeit der Organisation vertraut ist. Neben diesen mündlichen Angaben liegt RBC noch eine Mitteilung aus einem Telegram-Chat vor, die Aslanov verfasst hat und in der es um die Zwischenergebnisse der Fabrik-Arbeit in den USA geht.
    Aslanov war Ende der 2000er Jahre aus der Stadt Ust-Kut (Gebiet Irkutsk) nach St. Petersburg gezogen, um dort an der Hydrometeorologischen Universität Wirtschaft zu studieren. 2009 verbrachte er einige Monate in den USA, besuchte dabei New York und Boston und fuhr 2011 nach London, wie aus den öffentlichen Informationen auf Aslanovs Profil bei Vkontakte hervorgeht. Aktuell gehören dem mutmaßlichen Leiter der Auslandsabteilung der Fabrik zwei Firmen mit Spezialisierung im Werbe- und Online-Geschäft. Eine der Firmen namens Asimut bietet Dienste an, mit denen Accounts in Sozialen Netzen gepusht werden, erzählte Aslanov und bot dem Korrespondenten von RBC sogar seine Hilfe an, um dessen persönliche Seiten hochzubringen.

    Eine Million Euro für Gehälter

    Ein beträchtlicher Teil des Content in den englischsprachigen Gruppen wurde auf Facebook mittels eingetakteter Postings veröffentlicht. Von der Gesamtbelegschaft der Auslandsabteilung arbeiteten rund zehn Mitarbeiter in Nachtschichten, die übrigen hatten eine normale Arbeitswoche (fünf Arbeitstage, zwei Tage frei). Der Budgetposten für die Gehälter der Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina liegt bei 60 bis 70 Millionen Rubel [knapp eine Million Euro – dek] jährlich. Trolle der unteren Ebene erhalten rund 55.000 Rubel [etwa 800 Euro – dek] (plus Prämien, wenn Mitglieder der Gruppen reagieren), Administratoren verdienen 80.000 bis 90.000 [etwa 1200 Euro – dek] und Führungskräfte 120.000 [1700 Euro – dek] aufwärts. Diese Zahlen nennen ein ehemaliger und ein aktueller Mitarbeiter der Fabrik.

    RBС liegt eine Liste mit fast 120 Gruppen und Themen-Accounts auf Facebook, Instagram oder Twitter vor, die bis zum August 2017 aktiv waren. Die Echtheit dieser Liste wird durch Screenshots mit Posts der Gruppen und der einzelnen Accounts bestätigt, die von den internen Panels der Administratoren aus gemacht wurden (ebenfalls gesperrt). Der Mitwirkung der Trolle an dieser Liste wurde RBC von einem Informanten aus dem engeren Umfeld der Fabrik-Leitung bestätigt. Darüber hinaus ist über die Hälfte der Twitter-Accounts auf Telefonnummern mit der russischen Ländervorwahl +7 registriert, wie aus der Passwortwiederherstellung hervorgeht.

    Zusätzlich hat RBC Linguisten gebeten, sieben Veröffentlichungen aus den Social-Media-Gruppen zu analysieren, die auf der Liste stehen. Die Autoren der Posts waren in vielen Fällen Russen. Ronald Meyer, Adjunct Associate Professor an der Columbia-Universität, und seine Kollegin Alla Smyslova, Direktorin des Programms für russischen Spracherwerb, haben hierfür „hinreichend Belege“ gefunden. Sie verwiesen auf wörtliche Übersetzungen aus dem Russischen (z. B.: „sitting on welfare“ – sidet’ na possobii / auf Stütze sitzen), auf Fehler in der Zeichensetzung ( Kommata vor „that“), auf fehlende Artikel und überhaupt auf „merkwürdige“ Formulierungen.

    Jekaterina Tschegnowa, Direktorin der Sprachenschule Star Talk, und der Englischlehrer Dimitri Bulkin meinten allerdings, dass die Publikationen in „recht sauberem Englisch“ geschrieben seien. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Verfasser Muttersprachler seien. Zum Teil könnte das damit zusammenhängen, dass die Trolle immer wieder Teile ihrer Posts von „echten“ US-Amerikanern übernehmen.

    Weniger als 100 Personen haben wöchentlich mehr als 1000 Beiträge verfasst und gepostet. Die Reichweite betrug beispielsweise im September 2016 durchschnittlich 20 bis 30 Millionen Nutzer. Wie ist es den Trollen gelungen, die User für ihre Fabrik-Inhalte zu interessieren?

    Das Erfolgsrezept der Trollfabrik

    Am 28. Februar 2017 hat sich Trump-Spitzenberaterin Kellyanne Conway bei einem Staatsempfang im Oval Office des Weißen Hauses mit Schuhen auf ein Sofa gekniet. Das Bild löste in den Sozialen Netzwerken einen Sturm der Entrüstung aus: Sie in dieser Position im Vordergrund und der Präsident im Hintergrund, wie er gerade mit den Direktoren der speziell für die schwarze Bevölkerung gegründeten afroamerikanischen Colleges und Hochschulen (HBCU) vor den Kameras posiert. Conway sei Respektlosigkeit gegenüber dem Oval Office, dem US-amerikanischen Volk und seinem Präsidenten vorgeworfen worden, hieß es in der BBC.   

    Am selben Tag reagierte die Bloggerin Jenn Abrams mit zwei Tweets auf die Kritik an Conways Verhalten: Ein Bild zeigte den Ex-Präsidenten Barack Obama mit den Füßen auf dem Tisch, das zweite wiederum den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton mit Monica Lewinsky im Arm. Beide Fotos wurden im Oval Office gemacht. Diese Beiträge bekamen insgesamt circa 1000 Retweets, 1,3 Millionen Likes und wurden von der britischen Zeitung Independent aufgegriffen. Backlinks zu Abrams Beiträgen wurden von RBC unter anderem auf den Webseiten von Aljazeera, Elle, Business Insider, BBC, USA Today und Yahoo gefunden. Der Account @Jenn_Abrams, der unter einer Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert wurde, und die Homepage Jennabrams.com sind aktuell nicht verfügbar.

    Die Fabrik hatte Dutzende von Accounts wie den von „Jenn Abrams“. Um die zehn Mitarbeiter der amerikanischen Abteilung waren für Twitter zuständig. Ihre Aufgaben hätten nicht den Wahlkampf selbst betroffen, sondern im Einrichten von Accounts und im Durchführen von Flashmobs bestanden, die von großen Medien und zentralen Medienpersonen aufgegriffen werden sollten, erzählt ein Mitarbeiter der Fabrik.

    Mehr Clinton als Trump

    Laut einer Quelle aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung wurde fast der gesamte US-bezogene Content der Fabrik weniger zugunsten eines konkreten Kandidaten als zu „sozial brisanten Themen“ erstellt. Es sei quasi rein zufällig zu Übereinstimmungen mit Trumps Rhetorik gekommen, was ein Informant als „Korrelation“ und nicht etwa als direkte Unterstützung bezeichnet.

    „Wir hatten nicht den Auftrag, Trump zu unterstützen. Alle Probleme waren unmittelbar auf die Arbeit der damaligen Regierungspartei [der Demokraten Anm. d. Red.] zurückzuführen. Als ihre Vertreterin trägt Hillary [Clinton Anm. d. Red.] eine Mitschuld“, sagt ein anderer. Die Analyse hunderter Publikationen ergab, dass Clinton in den Posts der Trolle wesentlich öfter vorkam als Trump.

    „Teilt das, wenn ihr glaubt, dass Muslime an 9/11 unbeteiligt waren. Seht euch an, wie viele Menschen die Wahrheit kennen“ (Post von United Muslims of America vom 11. September 2016). „Clinton besteht darauf: ‚Wir haben keinen einzigen Amerikaner in Libyen verloren‘. Die vier mit Fahnen zugedeckten Särge waren nicht leer, Hillary“ (Being Patriotic zu Clintons Verhalten ob der nationalen Tragödie vom 8. September 2016). In einer Stellungnahme hat Facebook darauf hingewiesen, dass ein Großteil der gesperrten Beiträge Themen wie LGBT, Rassismus, Immigration oder Waffenbesitz betraf und „das ganze ideologische Spektrum umfasste“.   

    Die Gesamtzahl der Fans und Follower der etwa 120 gesperrten Gruppen und Accounts betrug nahezu sechs Millionen, nach Berechnungen von RBC waren davon über die Hälfte auf Facebook und ein Drittel auf Instagram. Unterteilt man die gesperrten Gruppen nach Themen, so wird deutlich, dass die Trolle meistens politische Konflikte anheizten, und ethnische, vor allem mit Bezug auf die Probleme der schwarzen US-Bevölkerung. Insbesondere für die massenhafte Streuung dieser Themen wurde das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken verwendet.

    „Es ist verboten, mich im Fernsehen zu zeigen, weil ich zu gewalttätig war. Klick auf Gefällt mir und Teilen, wenn du mich als Kind im Fernsehen gesehen hast, eine Pistole besitzt und niemanden angeschossen oder umgebracht hast!“ Dieses Posting wurde am 9. März in der Facebook-Gruppe South United veröffentlicht. Inmitten des Textes ist ein Bild, das die Zeichentrickfigur Yosemite Sam zeigt. Die Reichweite dieses Beitrags betrug über 17 Millionen Nutzer, 1,6 Millionen haben darauf reagiert, lediglich 3000 Nutzer haben den Beitrag auf ihrer Chronik verborgen und neun haben ihn als Spam gemeldet, wie sich aus einem Screenshot schließen lässt.

    Die Zahl der Fabrik-Beiträge auf Facebook mit vergleichbarer Reichweite lässt sich an zwei Händen abzählen. Darunter war ein Post über Veteranen und Flüchtlinge, der in der Gruppe Being Patriotic über 17,2 Millionen Personen erreicht hat. Gerade mal an die 20 Posts hatten eine Reichweite von einer Million Nutzern. Nach Berechnungen von RBC sieht die Statistik bei Twitter ganz ähnlich aus. Es gibt zwar mehrere hundert Tweets, die zehntausende Views hatten, der Löwenanteil der Tweets hatte allerding bestenfalls 1000 Views.  

    Ein Marketingbudget von 5000 US-Dollar pro Monat

    Einer internen Statistik, die RBC vorliegt, kann man entnehmen, dass das Marketingbudget in Sozialen Netzwerken etwa 5000 US-Dollar pro Monat betrug, beziehungsweise 120.000 US-Dollar für den Zeitraum von insgesamt zwei Jahren. Diese Zahlen bestätigte ein Informant aus der Organisation gegenüber RBC.
    Der wesentliche Teil des Werbeetats der Fabrik war jedoch nicht etwa für die Promotion der Gruppen an sich vorgesehen, sondern für eine Potenzierung der Hotdog-Erfahrung.   

    Im Mai 2016 erhielt Micah White, ein bekannter amerikanischer Aktivist und Mitbegründer der Bewegung Occupy Wall Street, eine E-Mail von einem gewissen Yan Davis. Dieser gab sich als ein freier Mitarbeiter der Organisation BlackMattersUS aus, die sich den Problemen der afroamerikanischen Bevölkerung widmet, und bat um ein Telefoninterview. Der Aktivist willigte ein und gab ihm seine Nummer, die anschließende Unterhaltung kam ihm allerdings seltsam vor. „Die Verbindung war schlecht und ich glaube, der Interviewer war kein Muttersprachler“, erinnert sich White gegenüber RBC. White war 2014 vom Magazin Esquire zu einem der einflussreichsten Menschen unter 35 gekürt worden.

    Jetzt ist das Interview nur noch auf der Webseite BlackMattersUS verfügbar. Außer des Tumblr-Accounts sind die Seiten der Plattform auf Facebook, Twitter und Instagram mit insgesamt über 250.000 Fans und Followern nicht mehr aufrufbar. Auch das Facebook-Profil von „Yan Davis“ wurde deaktiviert. RBC hat versucht, die Person über die Adresse zu kontaktieren, über die auch White mit dem „freien Journalisten“ kommuniziert hat, aber nach Meldung des Dienstes Readnotify wurde die E-Mail nicht geöffnet. Der Account @BlackMattersUS ist bei Twitter auf eine Telefonnummer mit der Vorwahl +7 registriert. Laut Angaben eines fabriknahen Informanten von RBC waren die Mitarbeiter, die in Nachtschichten Kommentare in Gruppen beantworteten, auch für den Beziehungsaufbau zu verschiedenen amerikanischen Aktivisten verantwortlich.

    BlackmattersUS – geführt aus Russland

    Im Gegensatz zu einem Großteil der von der Fabrik geführten Gruppen, wurde BlackMattersUS als ein nichtkommerzielles Nachrichtenportal mit eigener Redaktion präsentiert: Jeder konnte den Kampf gegen Rassismus durch Spenden über PayPal auf ein Gmail-Konto mit dem Nutzernamen xtimwalters unterstützen. Auf der Webseite werden neben Yan Davis sechs weitere Redaktionsmitglieder gelistet. RBC hat außerdem von noch zwei „Mitarbeitern“ Twitter-Accounts gefunden: Einer davon ist gesperrt, der andere seit 2016 inaktiv.   

    BlackMattersUS gelang es, ein ganzes Interview-Portfolio mit bekannten Bürgerrechtlern zu erstellen, die sich für die Gleichstellung dunkelhäutiger US-Amerikaner einsetzen. Der Kontakt mit ihnen bestand nach den Interviews weiter: Besagter White erhielt von Yan Davis im Folgenden mehrere E-Mail-Anfragen mit der Bitte, die Aktionen von BlackMattersUS zu unterstützen. So sollte er über seinen Account Informationen zu einem Protest am 14. Oktober 2016 im Gebäude des Strafgerichts von New Orleans teilen. An diesem Tag wurde der Prozess gegen den Afroamerikaner Jerome Smith wiederaufgenommen, der 1986 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wie man auf der Seite von BlackMattersUS nachlesen kann, sei geplant gewesen, dass die Protestierenden nach der Kundgebung die Anhörung besuchen. RBC konnte jedoch nicht in Erfahrung bringen, ob tatsächlich jemand an der Protestaktion teilgenommen hat. Die Facebook-Seite der Veranstaltung wurde gesperrt.

    Mehr Belege gibt es hingegen für die anfangs erwähnte Demonstration gegen Polizeiwillkür, die ebenfalls im Oktober 2016, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, in Charlotte stattfand. Kurz vor Beginn der Veranstaltung kontaktierten Akteure der Gruppe BlackMattersUS per Facebook den lokalen Aktivisten und Leiter der Initiative Living Ultra-Violet Conrad James. Er sei gebeten worden, bei der Durchführung der Protestaktion zu helfen, berichtet James. Dieser erklärte sich nicht nur dazu bereit, sondern mobilisierte weitere lokale Bürgerrechtler, Afroamerikaner und andere Minderheiten. Er selbst erschien sogar mit Megafon bei dem Protest.

    Nach der Wahl: Anti-Trump-Posts

    Einige Wochen nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten habe in Charlotte eine weitere, von James zusammen mit BlackMattersUS organisierte, Kundgebung stattgefunden, erzählt der Aktivist. Unter dem Motto „Charlotte against Trump“ versammelten sich mehrere Dutzend Gegner des neugewählten Präsidenten. Solche heftigen Positionswechsel der Fabrik lassen sich damit erklären, dass in der Uliza Sawuschkina völlige Gleichgültigkeit darüber herrscht, wer das andere Land letztendlich regiert.

    Durch die Initiative von BlackMattersUS seien in den USA im Zeitraum von 2016 bis 2017 etwa zehn Veranstaltungen durchgeführt worden, berichtet ein mit der Arbeit der Fabrik vertrauter Informant. Seine Aussagen werden von organisationsinternen Berichten über die Aktionen bestätigt und von Bildern illustriert, die bisher unveröffentlicht geblieben sind (sie liegen RBC vor). Die an den Aktivitäten von BlackMattersUS beteiligten Bürger vor Ort hätten nicht gewusst, dass hinter der Organisation Trolle von der Uliza Sawuschkina standen, versichern ein Angestellter der Fabrik sowie ein ehemaliger Mitarbeiter der Amerika-Abteilung. Beide betonen, dass es keinerlei Dienstreisen aus St. Petersburg in die USA gegeben habe.    

    Unterm Strich konnten die Trolle, die sich in den Sozialen Netzwerken unter falschen Namen als Mitarbeiter von Gruppen ausgeben, etwa 100 nichtsahnende ortsansässige Aktivisten mobilisieren, die bei der Umsetzung durch ihr Offline-Engagement halfen. 

    Über die Social-Media-Gruppen der Fabrik wurden in den USA rund 40 Kundgebungen und Aktionen verschiedener Art organisiert, wie aus internen Berichten hervorgeht. Dabei kamen einige dieser Veranstaltungen erst in die amerikanischen Medien, nachdem Facebook die Informationen zu den gesperrten Beiträgen und Accounts an den Kongress übergeben hatte. So hatte Being Patriotic im August 2016  die Bewohner von 17 Städten Floridas über Facebook dazu eingeladen, an Unterstützungskundgebungen für Trump teilzunehmen, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsidentschaftskandidat war. Mindestens zwei dieser Veranstaltungen haben auch tatsächlich stattgefunden, stellten die Journalisten von The Daily Beast in einer investigativen Recherche zu Being Patriotic fest.  

    Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht

    Die Ausgaben der Fabrik für die Arbeit der lokalen Organisatoren – darunter Inlandsflüge, Druckproduktion, Technik und ähnliches – beliefen sich monatlich auf circa 200.000 Rubel [knapp 3000 Euro – dek], wie RBC aus organisationsnahen Kreisen berichtet wird. Somit betrugen diese Kosten für zwei Jahre insgesamt fünf Millionen Rubel, beziehungsweise 80.000 US-Dollar, und damit etwas weniger als die Marketing-Ausgaben in den Sozialen Netzwerken.

    Heute zählt die Amerika-Abteilung in der Uliza Sawuschkina etwa 50 Mitarbeiter. Diese namen- und gesichtslose Gruppe gilt in der aktuellen Berichterstattung US-amerikanischer Medien als geradezu wichtigster Motor für den Wahlsieg Trumps. US-Präsident Trump selbst hat zu den Vorwürfen über eine mögliche Einmischung der russischen Trolle in die Präsidentschaftswahlen nie eine klare Stellung bezogen.

    Statt Präsident Putin reagierte dessen Pressesprecher Dimitri Peskow auf die Vorwürfe. „Wir wissen nicht, von wem und wie Werbung auf Facebook platziert wird und haben so etwas auch nie gemacht. Von russischer Seite gab es keinerlei Beteiligung daran“, erklärte er bei einer Pressekonferenz. Quellen aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung beteuern, dass es „keinerlei direkte Zusammenarbeit mit Vertretern der Präsidialverwaltung gab“. Die von RBC an Prigoshin adressierte Anfrage blieb bis dato unbeantwortet.  

    Unterdessen führt die amerikanische Abteilung ihre Arbeit fort, wie ein derzeitiger und ein ehemaliger Mitarbeiter berichten. Aus dem Gebäude in der Uliza Sawuschkina würden nach wie vor englischsprachige Gruppen mit einer Gesamtreichweite von rund einer Million Menschen betrieben, so ein Angestellter. Und ein Informant aus dem Umfeld der Fabrik-Leitung sagt:

    „Konnten wir den Wahlausgang beeinflussen? Natürlich nicht. Konnten wir unentschiedene Staaten zugunsten von Trump beeinflussen? Möglicherweise. Aber die Ergebnisse haben uns selbst umgehauen. Wozu wir das alles machen? Einfach aus Spaß an der Freude.“ 

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  • Sobtschak: Gegen alle, für Putin?

    Sobtschak: Gegen alle, für Putin?

    Schon länger wurde darüber gemunkelt, Mitte der Woche machte es Xenia Sobtschak nun offiziell: In einem bei Vedomosti veröffentlichten Brief gab sie ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 bekannt. Gleichzeitig gingen ihr YouTube-Video mit der Ankündigung und ihre neue Seite online: Sobtschak gegen alle heißt sie.

    Ein ehemaliges It-Girl als Präsidentschaftskandidatin? Xenia Sobtschak hat sich in den letzten Jahren von der „Schoko-Blondine“ zu einer durchaus veritablen Journalistin gemausert. Bei den Bolotnaja-Protesten war sie Mitglied im Koordinationsrat der Opposition, trat gerne öffentlichkeitswirksam gegen das Schienbein des Kreml und kokettierte zuweilen mit der häufigen Zuschreibung, dass sie ja immer zwischen den Stühlen sitzen würde.

    Xenia ist die Tochter von Anatoli Sobtschak – ein St. Petersburger Demokrat der ersten Stunde, der nach dem Zerfall der Sowjetunion tiefgreifende liberale Reformen anstieß und zugleich einen Grundstein für den späteren Aufstieg Putins legte. Dieser soll Xenia angeblich nahestehen – eine Spekulation, die in den jüngsten Debatten eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Denn schon vor der offiziellen Bekanntgabe ihrer Kandidatur, hagelte es Kritik von oppositionellen Stimmen des Landes: Das Spiel sei abgekartet, Sobtschak habe ihre Kandidatur mit Putin abgesprochen, sei nur von seiner Gnaden zugelassen worden, um die Kandidaturen ernstzunehmender Oppositioneller zu neutralisieren, so der Tenor.

    Dabei betont Sobtschak, dass sie ihre Kandidatur zurückziehen werde, wenn der Oppositonspolitiker Nawalny, der derzeit unter Arrest steht, zugelassen würde.  
    Wieviel Protestpotential steckt in der Kandidatur Sobtschaks? Meint sie es ernst, wenn sie gegen den Kreml poltert? Kirill Martynow geht in der Novaya Gazeta solchen Fragen nach. 

    Ehemaliges It-Girl als Präsidentschaftskandidatin – ein abgekartetes Spiel? / Foto © Screenshot aus dem Video „Xenia Sobtschak – Kandidat protiw wsech“/YouTube
    Ehemaliges It-Girl als Präsidentschaftskandidatin – ein abgekartetes Spiel? / Foto © Screenshot aus dem Video „Xenia Sobtschak – Kandidat protiw wsech“/YouTube

    Xenia Sobtschaks Kandidatur für das Präsidentschaftsamt ist ein Symptom für das Verwelken des russischen Wahl-Autoritarismus. Es ist ein Symptom für dessen endgültige Verwandlung in ein System, dessen Instrumente darauf abzielen, den Status Quo zu erhalten.

    Dass in der Kandidatenliste eine Figur wie Sobtschak auftauchen wird, wurde schon mehrere Monate vor Beginn der Wahlkampagne vorhergesagt. Neben der traditionellen Entourage [der Systemoppositiondek] in Person von Sjuganow und Shirinowski braucht der Kreml bei diesen Wahlen zwei Spoiler: Einerseits einen ultrakonservativen Kandidaten, neben dem Putin für die entsprechenden Zielgruppen wie ein vernünftiger Kompromiss aussieht, wie ein Zentrist. Auf der anderen Seite muss diese Konstruktion gestützt werden von einem verhältnismäßig liberalen und protestlerischen Spoiler. Unmittelbare Aufgabe dieses Kandidaten ist es, der Welt freie und demokratische Wahlen zu demonstrieren und dem liberalen Wähler anzubieten, [bis zu den Wahlen – dek] darüber zu streiten, ob man für den Spoiler stimmen sollte oder nicht. Anderen Bevölkerungsgruppen soll der Spoiler gelegentlich die Schreckensgeschichte verdeutlichen, dass die liberalen Westler an die Macht drängten und es nun an der Zeit sei, sie aufzuhalten, indem man zur Wahl geht.

    Harmlos und keine echte Konkurrenz

    Das Casting für die rechte Flanke ist noch nicht abgeschlossen – vielleicht wird im konservativen Szenario derselbe Shirinowski diese Rolle für sich reklamieren. Eine Liberale wurde dagegen nun gefunden – mit eigener Seite, einem Programm und Werbevideos. Offensichtlich hat man für die Rolle des Liberalen verschiedene Kandidaten in Betracht gezogen, doch letztendlich setzte man auf Sobtschak – für sie sprechen eindeutige Argumente: eine Frau, Westlerin, weitläufig bekannt sowohl bei Dom 2-Zuschauern und Glamour-Magazin-Lesern, als auch beim Publikum von TV Doshd, dazu absolut harmlos und keine echte Konkurrentin für den Kandidaten Nummer Eins.

    Es ist erstaunlich, wie offen Sobtschak über die Ziele ihrer Kampagne sprach, als sie meinte, dass sie an die Stelle der Option „gegen alle“ trete. Aus der polittechnologischen Sprache ins Russische übersetzt heißt das, dass sie die Protest-Stimmen auf sich ziehen wird, gleichzeitig die Wahlbeteiligung erhöht und Teile der Kreml-loyalen Wählerschaft mobilisiert, die ausdrücklich gegen Sobtschak stimmen wollen. Vermutlich ist das eines der wenigen Beispiele, wo ein Kandidat zu Beginn der Wahlkampagne offen seinen Status als Spoiler ankündigt. 

    Vorsicht, Spoiler

    Witzig, dass das alles so dargeboten wird, als wäre Putin verärgert über diese Dreistigkeit Sobtschaks, was Xenia jedoch nicht daran hindere, zu kandidieren. Auch diese gekünstelte Message richtet sich wieder an drei Gruppen und soll von ihnen unterschiedlich gelesen werden: Die westliche Presse kann über freie Wahlen in Russland diskutieren, schließlich sei doch „Xenia Sobtschak bekannt für ihre Kritik an der Kreml-Politik“. Die liberale Wählerschaft wird sich spalten an der Frage über ihre Sympathien für Xenia, dem Otto-Normal-Wähler aber gibt die These über den verärgerten Putin Raum für Kompromat und für mediale Attacken gegen Sobtschak, inklusive Aufrufe sich gegen sie zusammenzuschließen. 

    Kurz gesagt, man hat die Fassade des Wahl-Autoritarismus mit einer grellen Neonreklame behangen. Die Wahlen erscheinen nicht mehr so todlangweilig wie noch vor einigen Wochen, auch wenn sich im Grunde nichts verändert hat.

    Grelle Neonreklame für langweilige Wahlen

    Leute, die persönliche Sympathie für Sobtschak empfinden (und von solchen gibt es unter russischen Facebook-Usern nicht wenige), argumentierten bereits, dass es keinen Anlass gäbe, Sobtschak für ihre Kandidatur zu kritisieren. Ganz nach dem Motto, dass alle ein Recht hätten, sich nach eigenem Ermessen zur Wahl zu stellen, und ob nicht gerade wir immer dazu aufgerufen hätten, alle zur Wahl zuzulassen. Mit diesem Argument fiel, wie es scheint, der Startschuss für die Diskussion über „unsere Kandidaten“. Eine Diskussion, in die uns der Kreml gastfreundlich einlädt, bis März zu versinken. Danach ist die Sache getan, und Sobtschak kann das Interesse an einer politischen Karriere wieder verlieren, wie einst schon Prochorow. 
    Die Opposition hat in der Tat dazu aufgerufen, alle zur Wahl zuzulassen – aber gerade diese Forderung wird aktuell nicht erfüllt. Sobtschak nimmt an der Wahl nicht als eine Kandidatin unter Gleichen teil, sondern als eine, die im handgesteuerten Modus zugelassen wurde. Nichts Persönliches, bloß Arbeit an der Festigung des Autoritarismus.

     

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  • (K)ein Abgesang auf Europa

    (K)ein Abgesang auf Europa

    Abgesang auf Europa: Nach dem illegalen Referendum in Katalonien kündeten einige Kommentatoren in staatlichen russischen Medien vom nahenden Ende der EU – sie zerfalle bald, wie auch einst die UdSSR zerfallen sei.

    Derartiges Medien-Echo hält Andrej Archangelski für „Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus“. Auf Republic argumentiert er gegen solche Vergleiche und Untergangsszenarien – und für Europa.

    Das Referendum in Katalonien – wie eigentlich jede Krise in Europa, den USA oder der Ukraine – gibt der russischen Propaganda so etwas wie ihren Lebenssinn. Die Intonation der Staatsmedien wird in den letzten Jahren mehr und mehr Teil des Know-how: Man hat gelernt, jede Wunde aufzukratzen, aufzureißen und die Einzelheiten des fremden Fehltritts, der fremden Tragödie auszukosten. Und das alles unter dem Deckmantel der „objektiven Berichterstattung“ oder gar des „Mitgefühls“ .

    Mitte August brachte der Moderator einer Radiosendung bei Vesti FM einen Mitschnitt vom grauenerregenden Geschrei der Menschen, die während des Terroranschlags von Barcelona in Panik auseinanderstoben, und kommentierte sie mit den Worten: „Hört her, so klingt das wundervolle Europa.“
    Am 3. Oktober fragte eine andere Moderatorin des Senders den Sportkommentator: „Sagen Sie, wenn sich Katalonien abspaltet, unter welcher Flagge nimmt es dann an der Fußball-WM teil?“ Die Unschuld und das Alltägliche dieser Phrase vermittelt einzig die Botschaft: „Wir hätten gern, dass es so ist.“ 
    So war es schon beim Referendum in Schottland, während der Wahlen in den USA, in Frankreich und den Niederlanden und erst recht während der Flüchtlingskrise.

    Propaganda unterm Deckmantel des Journalismus

    Das ist Propaganda auf niedrigstem Niveau, unter dem Deckmantel des Journalismus. Ihr Überbau ist die „Analytik“, die dem Gefühlsausbruch den Anschein von Argumentation und Tiefsinn verleihen soll. Eine ihrer grundlegenden Thesen sieht heutzutage so aus: „Die EU wiederholt das Schicksal der UdSSR.“ Auf diesem Vergleich gründen alle möglichen „Beweise“ für einen „Zerfall der Europäischen Union“ und das Referendum in Katalonien als seinen ersten Vorboten.

    Der Politikexperte Fjodor Lukjanow zum Beispiel sagte in einem Radiokommentar zu den Ereignissen, das Geschehen in Katalonien erinnere an die „Zeiten der späten Sowjetunion mit seinen Souveränitätsparaden“. Ein anderer Fernsehkopf und Dauergast in analytischen Talkshows, Vitali Tretjakow, beruft sich auf Zahlenmagie als Argument: „Sie [die Staatenbündnisse] haben eine Lebenserwartung von 50 bis 70 Jahren, das zeigt die Geschichte, doch genauer ausführen will ich das jetzt nicht. […] Beobachten können wir das anhand der Europäischen Union, deren letztes Jahrzehnt jetzt läuft.“

    Vermeintliches „Naturgesetz“: Imperien zerfallen

    „Imperien zerfallen“, so schlussfolgern die Propagandisten nach dem katalanischen Referendum und wollen uns damit weismachen, das seien „Naturgesetze“ und „erst der Anfang“. „Die UdSSR war ein Imperium, und alle Imperien zerfallen, also wird auch die EU auseinanderfallen.“

    Der Vergleich der EU mit einem Imperium gründet auf dem Prinzip der äußeren Ähnlichkeit: Das Wort „Imperium“ assoziiert man schlicht mit etwas, das größer ist als ein Staat. Die EU besteht, wie einst die UdSSR, aus vielen Nationen; Entscheidungen werden zentral getroffen (Brüssel); sie umfasst ein Territorium, das durch wirtschaftliche Verbindungen und eine gemeinsame Idee geeint ist – scheint alles logisch, doch die Analogie bröckelt schon beim ersten kritischen Blick. Allein die Größe der Union bedeutet noch lange nicht, dass es keine Alternative zu einem Beziehungstyp des Imperiums gibt.

    Ein Imperium ist in erster Linie ein System von Beziehungen zwischen Souverän und Vasallen, zwischen Metropole und Peripherie – etwas, das auf Europa so gar nicht zutrifft, allein, wenn man bedenkt, wie sehr sich die politischen Prozesse in Polen von denen in Griechenland oder eben Spanien unterscheiden. Die „Souverän-Vasallen-Beziehungen in Europa“ existieren nur in den Köpfen der Propagandisten, die sich sicher sind, dass die EU „nach deutsch-französischer Pfeife tanzt und Deutschland und Frankreich nach der US-amerikanischen“.

    UdSSR war „Kompromiss auf Zeit“

    Vielmehr ist der Gebrauch des Wortes „Imperium“ auch in Bezug auf die Sowjetunion nicht korrekt. Nur ihre Gegner verwendeten diese Bezeichnung, und das metaphorisch (so bezeichnete zum Beispiel Reagan die UdSSR als „Imperium des Bösen“). Die Sowjet-Ideologen selbst wären angesichts dieser Formulierung höchst erstaunt gewesen.

    Das sowjetische Projekt war von Grund auf ein überweltliches, internationales Projekt, über allen Grenzen und vor allem über allen Ideen des „Nationalen“ stehend – genau das war das Universelle an der kommunistischen Idee; in dieser Logik war die UdSSR nur ein „Kompromiss auf Zeit“ bis zum endgültigen Sieg des Kommunismus.

    Zu all dem schweigt man im heutigen Russland lieber; sogar wenn über das hundertjährige Jubiläum der Revolution gesprochen wird, spricht man über alles, nur nicht über die damalige Ideologie. Das ist kein Zufall. Im Russland von 2017 gilt die UdSSR fast schon offiziell als „Reinkarnation des Tausendjährigen Reiches“, und wenn man von ihrem Zerfall redet (der sich schlecht leugnen lässt), setzt man den Akzent auf den Zerfall des Territoriums und nicht auf den Zusammenbruch der Ideologie.

    1991 zerbrach eine Utopie, nicht nur eine Union

    Und das ist die hauptsächliche Verfälschung. 1991 zerfiel nicht einfach nur eine Union, sondern es zerbrach eine Jahrhunderte währende Utopie der gesamten Menschheit – der Traum von der Errichtung des Paradieses auf Erden, von einer gerechten Gesellschaft. Das grandiose Experiment endete mit einem Zusammenbruch, die Utopie entpuppte sich als historische Sackgasse (dabei hatte sie lange Zeit viele Menschen auf der Welt inspiriert).

    Die Utopie war gescheitert, weil ihr wichtigstes Werkzeug – der Zwang, gegenüber dem Individuum und gegenüber den Gesetzen der Wirtschaft – sich schließlich als ineffektivste Art der Steuerung erwies. Heute ist dieser Erinnerungsblock zuverlässig gelöscht – sowohl aus dem Gedächtnis der Massen als auch aus dem der Fachleute, und zwar mit Hilfe von eben jenem Fernsehen und jener Propaganda. Dabei wäre noch in den 1990er Jahren niemand auf die Idee gekommen zu fragen, warum die UdSSR auseinandergebrochen war – die Menschen hatten einfach keinen Sinn mehr gesehen in den übermenschlichen Anstrengungen zugunsten eines mythischen Morgen.

    Selbst Brexit hebt EU-Prinzipien nicht auf

    Nichts von dem sehen wir heute in der Europäischen Union, weder einen Zusammenbruch der Wirtschaft noch der Ideologie (soweit sie im Falle der EU überhaupt existiert). Natürlich gibt es Probleme und sogar Krisen; aber selbst ein hypothetischer Zerfall hebt, wie der Brexit gezeigt hat, nicht die zugrundeliegenden ethischen und politischen Prinzipien der Mitgliedsstaaten auf – die Achtung der Persönlichkeitsrechte und Freiheiten der Bürger.

    Die als Analytik getarnte Propaganda übermittelt dem Kreml genau das, was er gerne hören möchte: „Europa steht kurz vor dem Kollaps.“ Das Problem dabei ist, dass der Kreml beginnt, selbst an diese Utopie zu glauben, und danach seine Berechnungen anstellt. Die Fehlerhaftigkeit dieser „geopolitischen Analyse“ hat sich bereits mehr als einmal erwiesen: im Falle der Ukraine (mit der angenommenen Spaltung in einen pro-westlichen Westen und pro-russischen Osten) oder im Falle der USA (Trump wird schon aufräumen). Der zentrale Irrtum der kremlnahen „Analytiker“ ist der, dass die Ereignisse in Katalonien oder die „rechte Revanche“ in Europa in Wahrheit keine Rückkehr zur alten Weltordnung darstellen, sondern eine Spiegelung völlig neuer Prozesse, deren Kern die Suche nach einer neuen Identität ist.

    EU auf der Suche nach einer neuen Identität

    Eine neue globale Existenzkrise nach dem Zusammenbruch von Ideologien kann, wie schon Samuel Huntington im Kampf der Kulturen schrieb, verschiedenste Formen annehmen; um sich zu schützen, krallt sich der Mensch alles, was gerade zur Hand ist – Nationalität, Rasse, Religion, Territorium.

    Aber diese Konzepte spielen jetzt eine ganz andere Rolle – sie stellen den Menschen in den Vordergrund, arbeiten seiner eigenen Identität zu. Das bedeutet keine Rückkehr zur alten Ordnung und den einstigen Konzepten, sondern, im Gegenteil, die Suche nach einer neuen Sprache und Lebensform, die durch die alten Formen hindurch aufkeimt.

    Die Welt verändert sich tatsächlich vor unseren Augen, und die Ereignisse in Europa bestätigen das. Aber ihre Konsequenz wird die – zuweilen beschwerliche – Herausbildung einer neuen Identität sein, die die gegnerischen Parteien versöhnen und unter neuen Voraussetzungen alle Akteure der heutigen politischen und weltanschaulichen Kämpfe mit einschließen wird.

    Allerdings, wenn in Europa am Ende eine solche neue Identität gefunden wird, dann sicher nicht mittels einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Sondern mit Hilfe einer ehrlichen und gleichberechtigten Diskussion zwischen allen Teilnehmern am Drama.

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  • Debattenschau № 58: Referendum in Katalonien

    Debattenschau № 58: Referendum in Katalonien

    Gewalt und Gegengewalt: Das Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens ist am vergangenen Sonntag blutig geendet. Das Verfassungsgericht hatte es zuvor verboten. Beobachter geben nun zumeist beiden Seiten die Schuld an den Ausschreitungen: der Zentralregierung in Madrid wie auch der katalanischen Regierung. Beide hätten eine Gewalteskalation riskiert, anstatt zu verhandeln. 
     
    In russischen Medien erregt das Referendum viel Aufsehen, auch schon vorab: Schließlich sehen hier viele eine Parallele zu den international nicht anerkannten „Unabhängigkeitsreferenden“ in den ukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk und auf der Krim 2014.
     
    Unabhängigkeits- beziehungsweise Separatismus-Fragen beschäftigen das heutige Russland außerdem spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. In der Argumentation steht dabei das Selbstbestimmungsrecht der Völker oft gegen das Recht auf territoriale Integrität, je nach Fall und Interesse kann die Position wechseln. Gern zitiertes Beispiel ist der Kosovo, dessen Unabhängigkeit Russland, auf der Seite Serbiens, nicht anerkannt hatte. Denn Russland warnte davor, dass der Kosovo ein Präzedenzfall sein würde. Auch Spanien hatte die Unabhängigkeit des Kosovo nie anerkannt.

    In russischen Medien wird debattiert, unter anderem über solche Fragen: Katalonien, Kosovo, Krim … : Wer wird in die Unabhängigkeit entlassen und wer nicht? Und warum? Wer handelt dabei nach doppelten Standards? Und warum diskutiert Russland zwar über Katalonien, aber nicht über die Krim und eigene innenpolitische Fragen?

    pravda.ru: Kosovo als „Büchse der Pandora“

    Die Onlinezeitung pravda.ru, die sich als Nachfolger des kommunistischen Parteiorgans versteht, bemüht den Kosovo – wie es auch der Kreml gerne tut:

    [bilingbox]Im Jahr 2008 trat Madrid gegen die Unabhängigkeit des Kosovo ein – trotzdem: Heute zahlt ausgerechnet Spanien einen hohen Preis für die kurzsichtige Politik der Europäischen Union, die mit der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo die Büchse der Pandora für den gesamten europäischen Kontinent geöffnet hat.~~~Хотя Мадрид в 2008 году выступил против независимости Косово, тем не менее, сегодня именно Испания платит дорогую цену за недальновидную политику Евросоюза, открывшего признанием независимости Косово „ящик Пандоры“ для всего европейского континента.[/bilingbox]

     

    erschienen am 30.09.2017

    Rossijskaja Gaseta: Sowjetisches Szenario

    Fjodor Lukjanow, Außenpolitik-Experte und Professor an der HSE, fühlt sich in der Rossijskaja Gaseta an Szenarien kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert:

    [bilingbox]Von einem nuancierten Bild zur Schwarzweiß-Gegenüberstellung „Kämpfer für die Freiheit“ gegen den „unterdrückenden Leviathan“ ist der Weg in der Regel nicht weit. Und die Ermahnungen des Leviathan – von wegen, die anderen hätten angefangen, würden nur provozieren und niemandem würde es durch die Abspaltung besser gehen – gehen am Ziel vorbei! Aserbaidschan, Georgien, Litauen … Das Szenario lief, eines folgte aufs andere – und das „Zentrum“ konnte einfach nicht verstehen, was da nicht stimmte. 
    In Spanien beobachten wir eine merkwürdige Wiederholung dieses Schemas, zum Glück bislang ohne die Grausamkeit, die Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre im sowjetischen Raum zu Tage trat.~~~От нюансированной картины к черно-белой оппозиции „борцы за свободу“ против „репрессивного Левиафана“ путь, как правило, короткий. И увещевания Левиафана о том, что они, мол, первые начали, провоцируют и никому не будет лучше от размежевания, – мимо. Азербайджан, Грузия, Литва… Сценарий работал линейно, а „центр“ не мог понять, что не так. В Испании мы наблюдаем странное повторение схемы, слава Богу, пока что без жестокости, что проявлялась в конце 1980-х – начале 1990-х на советских просторах.[/bilingbox]

     

    erschienen am 02.10.2017

    Iswestija: „Ukrainisierung der EU“

    Die regierungsnahe Iswestija übt noch vor dem Referendum, am 25. September, Kritik an der Zentralregierung in Madrid genauso wie an der EU:

    [bilingbox]Wir erleben aktuell eine „Ukrainisierung“ der EU. Die Eurobürokraten rüsten sich heute mit den Methoden, die die ukrainische Staatsgewalt im Donbass und im ganzen Land angewendet hat. Ich befürchte Spanien wird nicht das letzte Beispiel bleiben.
    Mit ganz anderen Farben spielt der kollektive Westen bei allen Problemfragen an Russland in Bezug auf Südossetien, Abchasien, Transnistrien und den Donbass. Und natürlich in Bezug auf die Krim, die im März 2014 die Kraft und den Mut gefunden hat, gegen allen Widerstand und unter Berufung auf internationales Recht in den „heimatlichen Hafen“ zurückzukehren.
    Das Flair der schönen Worte über Demokratie und Menschenrechte fliegt von der EU wie Herbstlaub von den Bäumen. Nach jedem Herbst kommt der Winter.~~~Мы сегодня наблюдаем процесс «украинизации» ЕС. Те методы, которыми действовали украинские власти в Донбассе и по всей стране, сегодня берут на вооружение евробюрократы. Пример Испании, боюсь, не последний.
    В этом смысле совершенно другими красками играют все проблемные вопросы к России со стороны коллективного Запада относительно Южной Осетии, Абхазии, Приднестровья, Донбасса и так далее. И, конечно, Крыма, который нашел силы и мужество вопреки всему и опираясь на международное право, вернуться в «родную гавань» в марте 2014 года.
    Флер красивых слов про демократию и права человека слетает с ЕС как осенние листья с деревьев. За осенью всегда приходит зима.[/bilingbox]

     

    erschienen am 25.09.2017

    Republic: Nicht ganz wie bei uns

    Oleg Kaschin bedauert im unabhängigen Onlinemagazin Republic, dass innenpolitische Themen nicht klar angesprochen, sondern nur indirekt an fremden Ereignissen diskutiert würden:

    [bilingbox]Grundthese der offiziellen Antiwestlichkeit Russlands in den 2010er Jahren ist: „Bei denen ist alles wie bei uns“, wie es auch Wladimir Putin in zahlreichen Variationen wiederholte. Früher war dieses „bei uns“ noch direkt gemeint: Bei uns werden Demos gewaltsam aufgelöst, aber bei denen auch; bei uns wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, aber bei denen auch. Doch inzwischen sind die Grenzen dieses „bei uns“ stark verschwommen, die russische Medienrealität findet außerhalb von Russland statt.

    Deswegen wird Madrid nun mit Kiew verglichen und Barcelona mit Donezk. Das „Bei denen ist alles wie bei uns“ meint nicht mehr „wie in Russland“, sondern „wie in den russischen Fernsehnachrichten über die Ukraine und andere Länder“.

    Das dezente Mitgefühl der Sendung Wremja für die katalanischen Separatisten ist von gleicher Natur wie die Unterstützung der Donezker Separatisten. Gleichzeitig verschwinden ganz augenscheinliche Dinge der unmittelbaren russischen Realität von der Bildfläche: Erst gerade wurde die erste reale Haftstrafe „für Separatismus“ verhängt, gegen den krimtatarischen Aktivisten İlmi Ümerov, weniger aufsehenerregende Rechtsfälle desselben Paragraphen sind schon längst Teil des medialen Hintergrundrauschens wie auch die alltäglichen Verurteilungen für Reposts und die Teilnahme an Demos.~~~Базовый тезис официального антизападничества России десятых – это часто в разных вариациях повторяемое и самим Владимиром Путиным «у них все, как у нас», но если раньше «у нас» подразумевало прямой смысл – у нас разгоняют демонстрации, но и у них разгоняют демонстрации; у нас душат свободу слова, но и у них душат свободу слова, – то теперь границы этого «у нас» сильно размыты, российская медиареальность сместилась за пределы России, поэтому Мадрид теперь сравнивается с Киевом, а Барселону – с Донецком, и «у них все, как у нас» расшифровывается не «как в России», а «как в российских теленовостях об Украине и других странах». Сдержанное сочувствие программы «Время» каталонским сепаратистам имеет ту же природу, что и поддержка донецких сепаратистов, при этом более очевидные вещи непосредственно из российской реальности просто уходят за кадр – как раз на днях первый реальный срок «за сепаратизм» получил крымскотатарский активист Ильми Умеров, а менее громкие дела по той же статье уже давно превратились в часть информационного фона наряду с привычными приговорами за репосты и участие в митингах.[/bilingbox]

     

    erschienen am 02.10.2017

    Facebook/Arkadi Babtschenko: Was geht uns Catalunya an?

    Dementsprechend zeigt sich der Journalist und Blogger Arkadi Babtschenko auf Facebook genervt über die Berichterstattung auf allen Kanälen. Babtschenko verließ Russland im Februar 2017 – nach eigener Aussage wegen massiver Drohungen gegen ihn. Derzeit lebt er in Kiew und schreibt betont kremlkritische Beiträge. Auf Facebook hat er mehr als 180.000 Follower, mit jedem Beitrag sammelt er hunderte likes und shares. 

    [bilingbox]Da ist etwas, was ich einfach nicht verstehe. Ich rede nicht von Staatspropaganda. Das ist sowieso klar. Aber sagen wir mal Meduza. Oder Echo. Oder Doshd. Live-Übertragungen aus Catalunya!!! Nur hier – schauen sie unsere Online-Reportage!!! Die Polizei hat Teile Barcelonas eingenommen!!! Eilmeldung! Eilmeldung! Eilmeldung! Die Protestierenden beginnen, Barrikaden zu errichten!!!
    Freunde, sagt mal, glaubt ihr wirklich, dass in unserem Land, das gerade zwei Kriege führt, wo die Staatsmacht seit 17 Jahren usurpiert ist, wo orthodoxe Aktivisten Kinos in Brand stecken, wo Nemzow auf einer Brücke ermordet wurde, wo ein Kadyrow ist, der Donbass, Meltschakows und Girkins, Sanktionen, Verelendung, wo es überhaupt keine Wahlen gibt und erst recht keine Referenden, wo es Annexionen gibt, Folter und Verschleppung – sagt mal, glaubt ihr wirklich, dass Russlands wichtigstes Ereignis zurzeit das Referendum in Catalunya ist?
    Geht es Euch nicht am Arsch vorbei, was da aus Catalunya wird?
    Hauptsache über irgendetwas sprechen, nur ja nicht nicht über die wichtigen Dinge …~~~Вот чего я реально никогда не мог понять. Про госпропаганду я молчу. С ними и так все понятно. Но, вот, скажем, „Медуза“. Или „Эхо“. Или „Дождь“. Прямая трансляция из Каталунии!!! Только у нас – смотрите он-лайн репортаж!!! Полиция захватила участки в Барселоне!!!! Срочно! Срочно! Срочно! Протестующие начали возводить баррикады!!!!
    Друзья, скажите, а вы вправду считаете, что в вашей стране, которая ведет сразу две войны, где власть узурпирована уже семнадцать лет, где православные экстремисты жгут кинотеатры, где Немцова убили на мосту, где Кадыров, где Донбас, где Мильчаковы-Гиркины, где санкции, где обнищание, где вообще никаких выборов и уж тем более никаких референдумов, где аннексия, пытки и похищения – скажите, вот вы реально считаете, что главное событие России сейчас это референдум в Каталунии?
    Вот вам правда не похуй, как там в Каталунии будет?
    О чем бы ни говорить, лишь бы не о главном …[/bilingbox]

     

    erschienen am 01.10.2017

    Wsgljad: Gegensatz, keine Analogie

    Der kremlnahe Wsgljad vom 20. September kritisiert, dass Madrid den „katalanischen Frühling“ unterdrücke und hebt die Krim als positives Beispiel hervor: 

    [bilingbox]Die Krim war, wie auch Katalonien, autonom. Und die Ukraine, wie auch Spanien, ein Einheitsstaat. Tatsächlich handelt Katalonien in vielen Bereichen schon seit Langem selbstständig, seine Autonomie ist real und und vielfältig, während die Krim nur formell einen autonomen Status besaß.
    „Allerdings besteht zwischen den Ereignissen keine Analogie, sondern ein Gegensatz. Auf der Krim hat man den Leuten erlaubt, ihre Meinung kundzutun, und ein Referendum durchgeführt – in Katalonien wird diese Möglichkeit nicht gegeben“, erklärt [Alexander Tschitschin, Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der – dek] RANChiGS.~~~Крым, как и Каталония, был автономией, а Украина, как и Испания, – унитарным государством. Правда, Каталония во многом давно уже действует самостоятельно – ее автономия вполне реальная и широкая, Крым же в составе Украины обладал лишь формальным автономным статусом.
    «Только между этими событиями не аналогия, а противопоставление. В Крыму дали людям высказаться, провели голосование, а Каталонии такой возможности не дают, – поясняет эксперт РАНХиГС.[/bilingbox]

     

    erschienen am 20.09.2017

    Facebook/Morosow: Selbstermächtigungs-Referenden

    Dagegen warnt Alexander Morosow, Journalist unter anderem bei colta.ru, auf seinem Facebook-Kanal vor zuviel Verständnis: 

    [bilingbox]Im 21. Jahrhundert sollte man in Europa nicht mit einseitigen Handlungen sympathisieren. Die eine Sache ist der Zerfall der Tschechoslowakei und der Brexit – wo es beidseitigen Konsens gab. Die andere Sache sind Selbstermächtigungs-Referenden wie auf der Krim oder in Katalonien. Sogar dann, wenn die ganze Welt in den Abgrund rollt – wir selbst müssen den Wert des politischen Konsens anerkennen.~~~В 21-м веке в Европе не следует симпатизировать односторонним действиям. Одно дело распад Чехословакии или Брекзит – где имелся консенсус обеих сторон, а другое дело самочинные референдумы в одностороннем порядке, такие как Крым или Каталония. Даже если весь мир катится в тар-тарары, мы сами должны сознавать ценность политического консенсуса.[/bilingbox]

     

    erschienen am 02.10.2017

     
    Bei der Abschlussveranstaltung des Diskussions-Klubs Valdai am 19. Oktober 2017 kam auch Präsident Putin auf das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien zu sprechen.

     

    dekoder-Redaktion

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  • Lüftchen des Wandels

    Lüftchen des Wandels

    Es ist ein kleiner Stimmungstest, ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl: Rund 40 Millionen Wahlberechtigte waren vergangenes Wochenende aufgerufen, an den Regional- und Kommunalwahlen teilzunehmen. In 16 von 82 Regionen wurde auch der Gouverneur gewählt.

    Allerdings: Die Wahlbeteiligung an dem Termin kurz nach den Sommerferien ist traditionell gering, auch diesmal lag sie nach vorläufigen Ergebnissen bei insgesamt nur knapp 29 Prozent. In Moskau, wo Stadtrat und Bezirksräte gewählt wurden, kam gar der Verdacht auf, sie sei gewollt niedrig: Es gab kaum Wahlwerbung, auch die staatlichen Medien berichteten nicht.

    Wie erwartet hat die Regierungspartei Einiges Russland in den meisten Regionen die meisten Stimmen bekommen. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos nannte außerdem mehr als 1500 Verstöße.

    Und dennoch gibt es Überraschungen: Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl verzeichneten oppositionelle und unabhängige Kandidaten landesweit Achtungserfolge. Besonders sichtbar sind diese Erfolge in Moskau, wo die Opposition, vor allem die Wahl-Koalition rund um Dimitri Gudkow, in 62 Bezirken der Stadt insgesamt 266 Sitze holte – von insgesamt 1502 Sitzen in 125 Bezirken. Zwar sind Einfluss und Machtfülle der Bezirksabgeordneten eher gering. Gleichwohl haben sie in begrenztem Rahmen dennoch die Möglichkeit, Druck aufzubauen.

    Die System-Opposition dagegen verlor so viele Sitze, dass einige Beobachter schon von einer Krise innerhalb des Systems Putin sprechen. Manche sehen in lokalen Wahlsiegern wie Gudkow oder dem Solidarnost-Politiker Ilja Jaschin gar eine oppositionelle Alternative zu Oppositionspolitiker Alexej Nawalny – der Gudkow nicht einmal gratuliert hatte.

    All dies, meint Politologe Alexander Kynew auf Vedomosti, sagt eine Menge aus über die gesellschaftliche Stimmung und den Zustand des politischen Systems – ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Kynew identifiziert drei wichtige Punkte:

    Die Ergebnisse der Wahlen vom 10. September waren vor allem eines – ein Indikator für die Stimmungen in der Gesellschaft. Sie zeigten auch, wie die Gesellschaft auf die Polittechnologien reagiert, die von der Regierung eingesetzt werden. Darüber hinaus sagen die Ergebnisse eine Menge über den Zustand des politischen Systems aus und über den Zustand des Parteiensystems. Und sie stecken für eine Reihe konkreter Führungsfiguren die Optionen für die Zukunft ab.

    Punkt eins. Der Ausgang der Wahlen zeigt vor allem einen Triumph derjenigen Kräfte, die nicht von dem politischen Parteiensystem abhängen.

    Die wichtigsten und unerwarteten Wahlsieger waren unabhängige Kandidaten: So bei den Wahlen zur Stadtduma in Bolschoi Kamen (Region Primorje) – hier setzten sich 18 freie Kandidaten durch, außerdem zwei von Einiges Russland sowie jeweils einer von den Kommunisten und von Gerechtes Russland. Oder bei den Kommunalwahlen in Moskau, wo eine Vielzahl von Aktivisten Erfolge feierten.

    Kandidaten des Wandels

    Es stimmt zwar, dass viele von ihnen in Moskau für Jabloko angetreten waren, doch die Marke „Jabloko“ spielte im Wahlkampf bei kaum einem Kandidaten eine Rolle. Sehr viel wichtiger waren die Marken „Jaschins Team“, „Russakowas Team“ oder „Galjaminas Team“. Einige der Teams traten formal gar für unterschiedliche Parteien an. Sie präsentierten sich als Kandidaten des Wandels und als Gegner der Stadtregierung. Und dass die Parteizugehörigkeit nur bedingt etwas bedeutet, war jedermann klar.

    Im Gegensatz dazu fielen die Ergebnisse der im Parlament vertretenen Parteien der System-Opposition höchst bescheiden aus. Sie werden von den progressiveren und gebildeteren Moskauer Wählern vielfach nicht mehr als echte Opposition wahrgenommen.

    Punkt zwei. Die Wahlen haben erneut gezeigt, dass sich ein Wahltermin Anfang September zerstörerisch auf die Qualität des Wahlkampfes und die gesellschaftliche Legitimität der Wahlen auswirkt.

    Die Strategie, die Wahlbeteiligung erodieren zu lassen, ist eine Sackgasse. Versuche, die niedrige Wahlbeteiligung mit Administrativen Ressourcen zu kompensieren oder Wähler mit Gewinnspielen und Lotterien förmlich zu bestechen, sind ins Leere gelaufen. Im Endeffekt erscheinen so nur die Leute, die auch dorthin beordert werden. Die tatsächliche Wählerschaft nimmt dadurch kaum zu. Das ist wenig überraschend: Die Bereitschaft, auf Anordnung zu wählen, und die Bereitschaft, für einen Lottoschein zur Wahl zu gehen, zeigen schlicht, dass es an einer eigenen staatsbürgerlichen Haltung mangelt und die Wähler sich des Werts ihrer eigenen Stimme nicht bewusst sind.

    Sobald da, wo es von Fakes nur so wimmelt und viele nur zum Schein antreten, jemand Echtes auftaucht, jemand, der in der Lage ist, mit einer guten Kampagne die Wähler zu mobilisieren, entgleist das ganze System. Wählerbestechung mit Hilfe von Lotterien führt lediglich dazu, dass Wahlen als Institution diskreditiert werden. Hierbei ist es unwichtig, welche Position die Regierung vertritt. In den Augen der Leute ist es Bestechung, sind das Almosen – und Versuche der Rechtfertigung diskreditieren denjenigen, der sie unternimmt. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen mit Hilfe mobiler Wahlurnen oder vorzeitiger Stimmabgabe an den Wahlergebnissen geschraubt wird.

    Die so gewonnenen Stimmenanteile erzeugen weder Vertrauen noch verleihen sie Autorität. Diese „Lotto-Legitimität“ ist genauso ein Bonbon-Papier wie ein Lottoschein. Der einzige annehmbare Ausweg, über den sowohl die Wahlen selbst als auch das Parteiensystem saniert werden könnten, wäre ein für Wähler und Kandidaten günstiger Wahltermin. Die Regierung muss lernen, normale Wahlkämpfe zu führen – das käme auch der eigenen Qualität zugute.

    Punkt drei. Die Wahlergebnisse zeigen ausgeprägte regionale Unterschiede, besonders wichtig in Moskau.

    Mit ihrer Unterstützung verschiedener Oppositionskandidaten machen die Wähler eindeutig ihrer Unzufriedenheit Luft. Schließlich weiß kaum jemand in Moskau, wie überhaupt der Leiter dieser oder jener Bezirksverwaltung heißt; aber jeder kennt den Bürgermeister und dessen Mannschaft.

    Die Moskauer Protestwahl vom 10. September ist vor allem ein Protest der Wähler gegen Sergej Sobjanin und dessen Politik. Die Wahlergebnisse haben die psychologische Atmosphäre in der Stadt verändert und der gesellschaftlichen Bewegung neuen Schwung und neue Energie verliehen.

    Unter diesen Umständen ist nur schwer vorstellbar, wie Sergej Sobjanin ohne Lärm und Skandale überhaupt noch die direkten Bürgermeisterwahlen gewinnen soll. So muss die Zentralregierung die Bürgermeisterwahlen entweder ganz absagen (was Skandal und Risiko bedeuten würde) oder sie muss sich irgendeine andere Lösung einfallen lassen.

    In Moskau geht es jetzt erst los.

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