Alles Propaganda?! Kann man das so sagen, wenn es um Berichterstattung in Russland geht? Und was ist mit dem Russland-Bild in deutschen Medien? Wie sind die finanziellen und strukturellen Bedingungen, unter denen Russland-Berichterstattung in Deutschland stattfindet? Und umgekehrt: Wie berichten russische Medien über Deutschland und den Westen? Und was sagt das jeweils über die einzelne (Medien-)Gesellschaft aus?
Katrin Rönicke im Gespräch mit Michael Thumann (Außenpolitischer Korrespondent in der Hauptstadtredaktion bei Die Zeit. Von 1996 bis 2001 war er Zeit-Korrespondent in Moskau; von 2014 bis 2015 leitete er das Moskauer Büro der Zeit) und dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher.
Im Dezember 2016 wandte sich der russische Botschafter in Argentinien an die Polizei: Er hatte in einem Regal in der Botschaftsschule zwölf verdächtige Koffer gefunden. In diesen befanden sich 389 Kilogramm Kokain. Russische und argentinische Behörden hätten gemeinsam an dem Fall gearbeitet, berichtet das Außenministerium, die Droge gegen Mehl ausgetauscht und die Koffer mit GPS-Sendern versehen.
Anfang März kamen diese in Russland an, mitgeflogen in einer Regierungsmaschine – was russische Behörden zunächst bestritten, argentinische Stellen jedoch eindeutig identifizierten. Es gab mehrere Festnahmen, in Berlin wurde der vermeintliche Drahtzieher des Schmuggels festgenommen. Diplomaten seien nicht involviert, versichert die Sprecherin des Außenministeriums.
Allerdings zweifeln viele diese offizielle Version an, Medien-Recherchen deuten zumindest Schwachstellen in der offiziellen Version an.
Kirill Martynow beleuchtet in der Novaya Gazeta eine Reihe weiterer Dementi und sieht darin System.
Der Kokain-Skandal zieht immer weitere Kreise. Die argentinische Strafverfolgungsbehörde untersucht den Fall der Drogenlieferung über die russische Botschaft und hat nun Teile des Aktenmaterials veröffentlicht.
Auf den Fotos ist unter anderem das Kennzeichen jenes Flugzeugs erkennbar, das fast 400 Kilogramm Kokain in 12 Koffern nach Moskau befördern sollte. Laut Angaben von RBC gehört das Kennzeichen (96023) zu einer Iljuschin-96-Maschine der Sonderflugeinheit Rossija, die für den Transport von Regierungsbeamten zuständig ist. Nach Veröffentlichung dieser Meldung wurde die Webseite russianplanes.net gesperrt, ein non-profit Projekt, das Informationen über russische Luftfahrzeuge auf Grundlage öffentlicher Quellen publiziert.
Am 20. Dezember 2016 starb der Leiter der Lateinamerika-Abteilung des russischen Außenministeriums Pjotr Polschikow unter ungeklärten Umständen. Insgesamt starben in den letzten anderthalb Jahren neun hochrangige Beamte des Außenministeriums. Es ist bekannt, dass der Sekretär des SicherheitsratesNikolaj Patruschew im Dezember 2017, als sich der zweite Teil der Kokain-Affäre ereignete, auf Staatsbesuch in Argentinien war. Die argentinische Presse versichert außerdem, Patruschew sei mit derselben Maschine geflogen wie die Koffer.
Die offizielle russische Position ist: alles dementieren
Die offizielle russische Position ist: alles dementieren. Erst gab Maria Sacharowa die Stellungnahme ab, dass nur die rechtzeitige Einmischung russischer Diplomaten es ermöglicht habe, die Route des Drogenhandels aufzudecken, involviert in diesen sei aber nur „technisches Personal“ der Botschaft. Später folgte ein Dementi der Präsidialverwaltung, der die Sonderflugeinheit Rossija unterstellt ist. Die Sprecherin der Behörde Jelena Krylowa sagte, dass die Iljuschin-96 mit der Kennnummer 96023 am Kokaintransport beteiligt gewesen sei, entspräche nicht der Wahrheit. Die Nummer sei nämlich „mithilfe moderner technischer Verfahren“ manipuliert worden. Es ist also nicht klar, wer das Kokain transportiert hat – aber wir sicher nicht.
Bemerkenswert ist, dass unsere offiziellen Vertreter zunächst immer fragen: Was habt ihr für Beweise? Und nachdem ihnen die Fakten geliefert wurden, schalten sie einen Gang rauf: Das beweist noch nichts. Irgendwo im Hintergrund befragt derweil das Ermittlungskomitee einen „ukrainischen Augenzeugen“ über den Absturz der malaysischen Boeing, Ergebnis: Alles nicht so eindeutig.
Post truth: russischer Sonderweg
Während die ganze Welt noch über post truth diskutiert und die Schwierigkeit, in Zeiten moderner Medientechnologien die Wahrheit von Lügen zu unterscheiden, hat Russland offensichtlich auch hier einen Sonderweg eingeschlagen: Wir haben die post untruth erfunden, auch bekannt als „ewige Leugnerei“. Da lässt sich jedes Ereignis ganz klar als erfunden bezeichnen, wenn man das unbedingt will und wenn die Obrigkeit nachdrücklich darum bittet.
Rationale Argumente und offensichtliche Fakten sind gegen die russische post untruth machtlos. Darauf basiert offenbar auch unsere ganze geopolitische Größe. Der Westen hinkt da klar hinterher: Dort glaubt man immer noch, man müsse offizielle Ermittlungen einleiten, wenn ein Beamter auf frischer Tat ertappt wird.
Sehen wir uns nur mal die neuesten Beispiele an: Vizepremier Rogosin brüstet sich im Netz zunächst mit seinem „Neffen Roman“, anschließend löscht er seine Tweets und verkündet, es habe nie einen Neffen gegeben, die Journalisten hätten alles erfunden.
Das klassische „Wir waren’s nicht“
Dem „liberal-demokratischen“ Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki wird öffentlich sexuelle Belästigung von Journalistinnen vorgeworfen, Sluzki erwidert: „Niemals. Nicht in dieser Angelegenheit.“ Und damit ist die Sache erledigt – wir sind hier nicht in Amerika. Unsere Sportler hätten nie gedopt, erklärt man uns, und wenn, dann nur aus Versehen, ohne irgendein zielgerichtetes Zutun russischer Beamter. Und was besonders unheimlich und tragisch ist: Es heißt, wir seien schon zweimal aus Syrien abgezogen, und plötzlich stirbt in diesem Februar dort eine unbekannte Zahl russischer Staatsbürger. Was sagen die Beamten? Das klassische „Die sind da nicht gewesen“, sprich: „Wir waren’s nicht“. Vor diesem Hintergrund wirkt Deripaska geradezu europäisch, wenn er, statt alles komplett abzustreiten gegen die Verletzung seiner Privatsphäre klagt.
Die Blütezeit der russischen Kultur der post untruth begann 2014, als unsere Soldaten zunächst nicht auf der Krim gewesen sein sollen, und dann genau dafür mit Medaillen ausgezeichnet wurden.
Seitdem ist unsere Fähigkeit zu lügen sogar etwas, worauf man stolz sein kann. Nach dem Motto: Wenn deren Spione auch lügen, kann es unseren Agenten doch keiner verbieten. Die im vergangenen Jahr von der russischen Gesellschaft tief verinnerlichte Wahrheit lautet: „Im Westen lügen sie auch, und deren Medien sind voller Propaganda“, machen wir also einen Wettstreit draus. Schaut nur, wie gewieft wir sind: Wir lügen sogar besser als die Amerikaner.
Schaut nur, wie gewieft wir sind: Wir lügen sogar besser als die Amerikaner
Zu einem Konflikt kommt es dann, wenn die bekannten Vorurteile, denen die westliche Zivilgesellschaft anhängt, und unser russisches „ewiges Leugnen“ sich widersprechen. Bezeichnend ist die Untersuchung des ehemaligen FBI-Chefs und jetzigen Sonderermittlers Robert Mueller über die mutmaßliche US-Wahleinmischung russischer Staatsbürger. Im Westen funktionieren die Institutionen wie ein Immunsystem: Wenn etwas vorgefallen ist, dann ist etwas vorgefallen, also müssen alle Umstände aufgeklärt werden, unabhängig davon, welche ehrenwerte Herrschaften da Widerstand leisten. Bei uns dagegen kann man die Krankheit an sich leugnen.
Kurzum: Es ist sehr schwer für zwei derart unterschiedliche Wertesysteme – das heimische und das importierte – auf einem Planeten zu koexistieren. Auf lange Sicht wird sich wohl eins von ihnen durchsetzen. Aber welches?
Am 3. März 1918 schied Russland aus dem Großen Krieg aus, wie der Erste Weltkrieg damals genannt wurde. Der Krieg, in dem Russland an der Seite der Alliierten gegen die Mittelmächte – vor allem gegen Deutschland – seit August 1914 gekämpft hatte, überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Und er ist einer der Auslöser der revolutionären Ereignisse 1917.
Seit der Februarrevolution war die Friedensfrage von entscheidender Bedeutung. DieProvisorische Regierung sagte den Alliierten zu, nicht aus dem Krieg auszuscheiden. Diese Entscheidung spaltete die Gesellschaft und führte zu einer Regierungskrise. Die Forderung nach Frieden war der wichtigste Programmpunkt der Bolschewiki, die seit dem Oktoberumsturz an der Macht waren. Tatsächlich war das Dekret über den Frieden das erste der neuen bolschewistischen Regierung. Es war gleich am Tag nach der Machtübernahme verabschiedet worden. Ende Dezember trafen sich die Vertreter der Bolschewiki und der Mittelmächte in Brest-Litowsk, um über die Friedensbedingungen zu verhandeln. Die Forderungen der Bolschewiki nach einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen waren jedoch unannehmbar für alle Beteiligten. Und so mündeten die Verhandlungen, die mehr als zwei Monate andauerten, in ein Abkommen, wonach Russland mehr als ein Viertel seines europäischen Territoriums verlor – und damit 60 Millionen Menschen, große Industriebetriebe und landwirtschaftliche Flächen.
War es ein taktischer Zug der bolschewistischen Regierung? Ein Selbstmord der Revolution? Ein Triumph der deutschen Armee oder eine gewaltige geschichtliche Tragödie? Zum 100. Jahrestag des Friedensvertrags von Brest-Litowsk bringt dekoder in Kooperation mit dem Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin historische Debatten-Ausschnitte: Kontroverse Meinungsstücke, die in russischen und deutschen Medien in den ersten Tage nach der Vertragsunterzeichnung erschienen sind.
Prawda: Ein unausweichlicher taktischer Zug
In derPrawda, dem zentralen Organ der Bolschewiki, begründet der führende Parteifunktionär Karl Lander die Notwendigkeit, den schmählichen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Es sei ein taktischer Zug, dem eine Offensive folgen soll:
[bilingbox]Schöne und laute Sätze ertönen, dass man an den Errungenschaften der letzten Revolution nicht um einen solchen Preis, einer möglichen nationalen Schande, festhalten dürfe, und es sei besser umzukommen. […] Aber macht es Sinn – und sei es nur um eines heroischen Impulses willen – tausende hervorragende Kämpfer der Revolution, ihre Seele, in den sicheren Tod zu schicken und sie auszurotten? […] Ist es nicht besser, dann den Kampf zu führen und in die Offensive zu gehen, wenn wir darauf vorbereitet sind […] Wir schließen diesen Vertrag, weil wir die Pflicht haben, den Feind [die deutsche Bourgeoisie] richtig einzuschätzen. […] Der Vertrag ist ein unvermeidbarer taktischer Schritt, […], den die Interessen einer echten Klassenpolitik erfordern.~~~[…] раздаются красивые и громкие фразы, что нельзя ценою национального позора удерживать завоевания последней революции, что лучше погибнуть. […] но есть ли смысл хотя бы ради самого героического порыва бросить на верную гибель, на истребление тысячи лучших борцов революции, её душу? […] Не лучше ли принять бой и перейти в наступление, когда мы будем к этому подготовлены […] Мы заключаем этот договор постольку, поскольку мы обязаны считать с этим врагом [германской буржуазией], […]. Этот договор – неизбежный тактический ход, […], раз того требуют интересы реальной классовой политики[/bilingbox]
erschienen am 5. März 1918, Nr. 41 (267)
Nowaja Shisn: Selbstmord der Revolution
Diese offizielle Position der Bolschewiki kritisiert Nikolaj Suchanow in der Nowaya Shisn und meint, dass der Frieden mit Deutschland der Sowjetmacht im Gegenteil keine Atempause verschaffe:
[bilingbox]Unsere Herrscher haben erneut im Chor bestätigt, dass der Kampf mit den deutschen Schändern unmöglich und sinnlos ist und dass der einzige Ausweg für die sowjetische Regierung ist, die Revolution zum Selbstmord zu zwingen. […] Lenin und seine Gefährten beziehen sich in ihrer Arbeit als Desorganisatoren auf die Notwendigkeit einer „Atempause“ für die Revolution, um danach den Kampf wieder aufzunehmen. In Wahrheit ist dieses Argument ungeheuer naiv und unaufrichtig. Lenin geht davon aus, dass seine Berliner Kontrahenten, im Wissen um seine Absichten, ihm eine „Atempause“ gönnen und ihm gestatten werden, Waffen gegen sie zu schmieden. […] Nein, jede Atempause bedeutet den Tod. Nicht nur durch die deutsche Faust, sondern auch durch den Weltimperialismus.~~~Наши правители вновь затвердили хором, что борьба с немецкими насильниками невозможна и бессмысленна и что единственный выход для советской власти заставить революцию кончить самоубийством. […] Ленин и его соратники, в своей дезорганизаторской работе, ссылаются на необходимость «передышки» для революции, чтобы потом возобновить борьбу. Наивность или неискренность этого аргумента, по истине, превышают всякое вероятие. Ленин полагает, что его берлинские контрагенты, зная его намерения, действительно дадут ему «передышку» и действительно позволят добровольно выковать оружие против себя. […] Нет, всякая передышка есть смерть. Не только от немецкого кулака, но и от мирового империализма.[/bilingbox]
erschienen in Petrograd am 5. März 1918, Nr. 34 (248)
Wetschernjaja Sarja: Russland ohne Verhandlung erschossen
Auch die Zeitung Wetschernjaja Sarja (dt. „Abendrot“), die von den Menschewiki in Samara herausgeben wird, kritisiert Lenins Regierung für die Unterzeichnung des Friedensvertrags:
[bilingbox]Der Frieden ist unterzeichnet. Unterzeichnet, ohne dass die Bedingungen des Friedensvertrages diskutiert wurden. Das Dekret der Sowjetmacht über die Erschießung bei Ungehorsam ist in Kraft getreten. Russland, ungehorsam gegenüber dem Rat der Volkskommissare, wurde in Brest ohne Gerichtsverfahren erschossen. Allerdings ist die Erschießung noch nicht erfolgt, bisher wurde nur ein Todesurteil ohne Gerichtsverfahren unterzeichnet und genehmigt. Aber Russland war schließlich gar nicht in Brest, es wurde in Abwesenheit mit stummer Beteiligung zum Tode verurteilt, in Anwesenheit mehrerer ihm völlig unbekannter Personen, die Lenin jedoch wohl bekannt waren und die verräterisch ihre Hand nach dem Judasbrief ausgestreckt haben. Wer hat diesen abscheulichen Alptraum in eine reale Tatsache verwandelt? Wer hat diesen gemeinen Verrat, diese feige Heimtücke begangen? Sowjetrussland? Das stimmt nicht. Die große Mehrheit, eine überwältigende Anzahl der bolschewistischen Räte – und in den gegenwärtigen Räten sind die Bolschewiki fast ausschließlich in der Mehrheit – hat sich scharf gegen die Unterzeichnung des Friedens und gegenLenin vorauseilenden Gehorsam ausgesprochen.~~~Мир подписан. Подписан без обсуждения условий мирного договора. Декрет советской власти о расстреле неповинующихся на месте без суда приведен в исполнение. Россия, неповинующаяся совету народных комиссаров, расстреляна в Бресте без суда. Расстрел, правда, еще не совершен, подписан и утвержден без суда только смертный приговор. Но ведь России не было в Бресте, ее заочно приговорили к казни при безмолвном участии и в присутствии нескольких, совершенно ей неизвестных, но зато хорошо известных Ленину, лиц, предательски приложивших руку к иудиной грамоте. Кто претворил этот гнусный кошмар в реальный факт? Кто совершил эту подлую измену, это трусливое вероломство? Советская Россия? Неправда. Огромное большинство, подавляющее количество большевистских советов, – а в нынешних советах почти сплошь преобладают большевики, – резко высказались против подписания мира и против ленинской услужливой расторопности.[/bilingbox]
erschienen am 4. März 1918, Nr. 40
Nasch Wek: Allumfassende Verzweiflung
Die liberale Zeitung Nasch Wek (dt. „Unser Jahrhundert“), die der Partei der Kadetten nahe stand, kritisiert das Abkommen genauso und meint, dass der Kampf gegen Deutschland noch nicht zu Ende ist:
[bilingbox]Wie fremd ist uns allen das Gefühl der Erleichterung, das die Nachricht vom Frieden hätte auslösen müssen! Neben der Verzweiflung, die jeden erfasst, der sein Heimatland liebt, herrscht bei dem Gedanken an das zukünftige Schicksal Russlands, wie es Deutschland zur Versklavung, anheimgegeben ist, auch die völlige Unsicherheit darüber, was die Delegation uns bringen wird, was die wahren Bedingungen des Friedensvertrages sind, der dem wehrlosen Russland von den Gewinnern diktiert wird. […] Die durch den Brester Frieden entstandene Situation ist unannehmbar für ein Land, das die Idee, ein Staat zu sein, nicht aufgegeben hat, und Russland kann sich mit dem Brester-Vertrag nicht zufrieden geben. […] Der große Kampf auf der Welt geht weiter, und noch ist Deutschland nicht überall Sieger.~~~
Как чуждо нам всем то ощущение облегчения, которое должна была вызвать весть о мире! Наряду с отчаянием, охватывающим всех, любящих родную страну, при мысли о грядущих судьбах России, отдаваемой на порабощение Германии, царит еще и полная неопределенность того, что нам привезет делегация, каковы подлинные условия мирного трактата, продиктованного победителями беззащитной России. […] Положение, созданное брестским миром, неприемлемо для страны, не отказавшейся от идеи государства, и Россия не может примириться с брестским договором. […] Великая мировая борьба продолжается, и Германия еще не является победительницей везде и всюду[/bilingbox]
erschienen in Petrograd am 5. März 1918, Nr. 40 (64)
Zeitung der 10. Armee: Sonntagsgeschenk
Die deutsche Zeitung der 10. Armee, die täglich in dem von deutschen Truppen besetzten Wilna erschien, ist begeistert vom Friedensvertrag und der Reichsvergrößerung, was ausschließlich der deutschen Armee zu verdanken sei:
Deutsch
–
Nicht mehr überraschend, aber in seiner Weltgeschichtlichen Bedeutung Herz und Verstand noch immer packend, hat sich der deutsch-russische Friede als wahres Sonntagsgeschenk eingestellt. […] Jeder Geschichtsschreiber wird sich fortan vor dem unermeßlichen Dienst verbeugen, den die deutschen Siege im Osten dem Selbstbestimmungsrecht der Völker erwiesen haben.
Georg Bernhard, der deutsche Publizist und Chefredakteur der Vossischen Zeitung, die damals als eines der wichtigsten liberalen Blätter Berlins gilt, meint, mit dem Friedensvertrag handle es sich um eine Momentaufnahme. Und er nimmt die Möglichkeit eines erneuten Treffens der Verbündeten Russland, Frankreich und England vorweg – was knapp zwei Jahrzehnte später während des Zweiten Weltkriegs Wirklichkeit wird:
Deutsch
–
Wer will heute am Tage nach dem Friedensschluss sagen, wohin die Dinge im Osten sich noch entwickeln werden? […] Und vollends in Ungewissheit getaucht bleibt es, ob die gleiche Koalition, die vor dem Krieg Deutschland gegenüberstand, und die jetzt als Kampforganisation im Augenblick gesprengt ist, sich nach dem Krieg nicht wieder zusammenfinden wird. […] Die einzelnen Kriegsschauplätze stehen nicht nur militärisch in Verbindung, sondern sind auch politisch nicht gesondert zu betrachten. […] Der Krieg im Osten ist nun erledigt und damit vorläufig auch die von Deutschland betriebene östliche Kriegszielpolitik. Nun aber verlangen wir, dass man wenigstens nach dem Westen eine Friedenspolitik auf der Grundlage eines tieferen Erschaffens deutscher Lebensnotwendigkeiten treibt.
erschienen am 4. März 1918, Montags-Ausgabe Nr. 145
Berliner Tageblatt: Sicherungsfrieden statt Verständigungsfrieden
Der deutsche Journalist Josef Schwab meint im Berliner Tageblatt, das damals eine der auflagenstärksten deutschen Zeitungen war, der Vertrag von Brest-Litowsk könne zur Grundlage für eine dauerhafte Friedensordnung im Osten werden:
Deutsch
–
Es wäre dem deutschen Volke in seiner grossen Mehrheit lieber gewesen, wenn ihm statt der Sonderfriedensschlüsse, die unsere Front im Osten entlasten, der allgemeine Friede beschert gewesen wäre. […] Für Deutschland ergab es sich unter solchen Umständen als eine natürliche Handlungsweise, die Schwäche Russlands, letzten Endes die Frucht unserer gewaltigen, mehrjährigen militärischen Arbeit, auszunutzen und ihm den Sonderfrieden, den es brauchte und doch nicht gewähren wollte, abzuringen. […] Aber es regen sich auch Zweifel und bleibt doch die Tatsache, dass wir den Frieden mit den Nachfolgern des Zarentums nicht als ‚Verständigungsfrieden‘, sondern als ‚Sicherungsfrieden‘ durchgesetzt haben. […] Sie machen die Brest-Litowsker Friedenskunde zu einem Dokument, das hinter gefährliche Entwicklungen der jüngsten Zeit einen ernsthaften Schlusspunkt zu setzen verspricht.
erschienen am 6. März 1918, Wochen-Ausgabe für Ausland und Übersee, Nr. 10, VII. Jahrgang
Vorwärts: Gewaltige geschichtliche Tragödie
Die Parteizeitung der SPD Vorwärts kritisiert das Abkommen als Gewaltfrieden, der die Nationen im Gefühle tödlicher Feindschaft voneinander trenne:
Deutsch
–
Es ist der letzte Akt einer gewaltigen geschichtlichen Tragödie, den uns das deutsche amtliche Bureau in schonungsvoller Form übermittelt. Wir erleben in diesem Bericht noch einmal das letzte Sichaufbäumen eines großen Volkes, von dem uns niemals Haß getrennt hat, gegen die drückenden Bestimmungen eines Vertrages, die wir selber aufs entschiedenste mißbilligen. […] Man hat Frieden geschlossen und sich im Gefühle tödlicher Feindschaft voneinander getrennt. Das ist ein tief beklagenswertes Ergebnis, das wir vorausgesehen und vor dem wir gewarnt haben. […] Die deutsche Sozialdemokratie vermochte trotz der redlichsten Absicht durch ihre Politik nicht zu verhindern, daß ein Frieden geschlossen wurde, den die Gegner als Verständigungsfrieden nicht anerkennen konnten, den sie vielmehr als einen Gewaltfrieden nur unter Protest unterzeichneten.
erschienen am 6. März 1918, Nr. 65, 35. Jahrgang
Volksstimme: Der Schwertfriede
Noch schärfere Kritik am Abkommen, aber auch ernste Besorgnis über die langfristigen Folgen äußert die sozialdemokratische Volksstimme aus Magdeburg:
Deutsch
–
Der Friede, der jetzt geschlossen worden ist, wird allmählich das russische Volk mit tiefster Erbitterung, mit allen Leidenschaften der Rachsucht erfüllen. Er wird den russischen Nationalismus, den der Sieg der russischen Arbeiter im Mai zu Boden geworfen hat, von neuem beleben. […] So groß die Bedeutung des Friedensschlusses für die Fortführung und Beendigung des augenblicklichen Krieges ist, in Rücksicht auf die Zukunft können wir seiner nicht froh sein.
erschienen am 5. März 1918, Nr. 54, 29. Jahrgang
zusammengestellt von Sofia Artemova & Maria Rupp
Diese historische Presseschau entstand im Rahmen eines Lehrprojekts am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Robert Kindler und Martin Lutz. Das Projekt wurde gefördert vom bologna.lab der HU Berlin.
Egal, ob es um Vorwürfe wegen vermeintlicher Wahleinmischung in den USA oder russischen Kämpfern in der Ostukraine geht: Der Kreml bestreitet dies stets. Offiziell hat sich Putin immer von Hackerangriffen distanziert (s. Video). Zu den aktuellsten Recherchen von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung, die eine russische Einflussnahme auf die US-Wahlen über Vize-Premier Prichodko und den OligarchenOleg Deripaska nahelegen, hat sich der Kreml offiziell nie geäußert.
Einen Monat vor der russischen Präsidentschaftswahl beobachtet Maxim Trudoljubow eine Art „Staat im Staat“, die Auslagerung wichtiger Operationen aus den staatlichen Institutionen heraus.
Ausländische Staaten sprechen von einer Einmischung Russlands in ihre inneren Angelegenheiten und in ihre Wahlen. Russlands offizielle Vertreter dementieren das. Und sichtbare Anzeichen für eine Beteiligung russischer Staatsangehöriger an den Kriegshandlungen in Syrien und in der Ukraine oder an den Troll-Angriffen auf amerikanische Wähler ändern nichts an der offiziellen Position: Das sind nur Privatpersonen, Urlauber und Enthusiasten.
Wenn Putin auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach möglichen Hackerangriffen auf die Wahlen in Deutschland sagt: „Auf staatlicher Ebene machen wir so etwas nie“, dann wählt er seine Worte sorgsam und zieht eine für ihn wichtige juristische Grenze zwischen Privatem und Staatlichem.
Wie sind die gefallenen Kämpfer nach Syrien gekommen?
Das Außenministerium räumt ein, dass in Syrien bei Kämpfen zwischen Assad-treuen Einheiten und Kräften, die von den Amerikanern unterstützt werden, russische Staatsangehörige ums Leben gekommen sind. Wie aber diese russischen Kämpfer, die nicht im Dienst der Armee standen, nach Syrien gelangten, ist den Behörden nicht bekannt.
Nicht bekannt ist auch, warum individuelle Mitarbeiter privater Medienunternehmen amerikanisch anmutende Accounts in Sozialen Netzwerken einrichten oder sogar E-Mail-Server amerikanischer Politiker hacken. „Hacker, das sind freie Menschen, wie Künstler: Die stehen auf, und wenn sie in Stimmung sind, setzen sie sich hin und malen. Genau wie Hacker: Die wachen auf und lesen, dass da was los ist in den internationalen Beziehungen, und wenn sie patriotisch gesinnt sind, dann leisten sie ihren Beitrag“, meinte Wladimir Putin im vergangenen Jahr.
Projekte, bei denen nichtstaatliche Kräfte eingesetzt werden, sind von erheblicher Bedeutung. Es ist also kein Programmfehler, sondern es ist das Programm – eine bewusst aufgebaute Public-private-Partnership im politischen und militärischen Bereich. Ganz offensichtlich ist das Besondere an in diesem Ansatz, dass sich eine Beteiligung des Staates leugnen lässt, ohne sich groß verbiegen zu müssen.
Alibi für den Kreml
Dem Kreml ein Alibi zu verschaffen, ist natürlich nicht die einzige Aufgabe, an der Oleg Deripaska, Jewgeni Prigoshin, Konstantin Malofejew und andere sehr wichtige Privatpersonen arbeiten – jeder in seinem Bereich.
Eine untergründige, aber wichtige Entwicklung all der Jahre unter Putin bestand darin, den Charakter von Eigentum zu ändern: Grundsätzliche Voraussetzung für Besitz ist mittlerweile der Dienst am Staat. Wer über „altes Geld“ verfügte (in Wirklichkeit waren das natürlich junge Leute mit sehr jungem Geld), ging auf dem Wege von trial and error dazu über, ungeschriebene Eigentumsverträge durch neue zu ersetzen, nachdem man gelernt hatte, wie Verhandlungen laufen; jeder gab nach seinen Fähigkeiten: Die einen subventionierten ganze Regionen sowie verlustträchtige, aber sozialpolitisch wichtige Unternehmen. Andere unterstützten Jugendgruppen und politische Parteien, bei denen die Regierung Pate steht, die dritten beteiligten sich an der Sanierung oder dem Bau von Palästen und Projekten zur nationalen Prestigesteigerung.
Es ging dabei nicht nur um den Neuabschluss alter Verträge, sondern auch um das Knüpfen neuer Beziehungen. Im Unterschied zu den alten Oligarchen erhalten die neuen Leute – von denen viele lustigerweise gar nicht so jung sind – einfach die Möglichkeit großer Gewinne (beispielsweise durch Kontakte zu Gazprom oder dem Verteidigungsministerium), vorausgesetzt, sie übernehmen für das Gemeinwohl nützliche Aufgaben. Ein wertvoller Beleg für diesen Prozess sind die Materialien von Sergej Kolesnikow, der einst munter medizinische Geräte aus Deutschland nach Russland lieferte, sich dann aber entschloss, die Geschichte des „Putinpalastes“ publik zu machen.
Wichtige Vorgänge aus den staatlichen Institutionen auszulagern, ist heute ein äußerst wichtiges politisches Instrument des Kreml. Natürlich könnte man den Einsatz dieser Mechanismen ausschließlich in Korruptionsmotiven suchen: weniger Transparenz, also mehr Möglichkeiten zu stehlen. Das wäre jedoch zu eindimensional. Für das konsequente Vorgehen, das außerhalb Russlands oft angriffslustig wirkt, ist eine solche Erklärung nicht hinreichend. Es ist völlig klar: Putins neue Oligarchen erhalten unbeschränkt Zugang zu Gewinnquellen, aber sie führen seine Kriege und bauen seine Brücken.
Sie führen Putins Kriege und bauen Putins Brücken
Paradoxerweise vertraut der Staatsmann Putin dem gewöhnlichen Staat nicht, der ihm zu unpersönlich ist. Und für jeden CIA-Agenten ist es ein Leichtes, die Berichte einzusehen; er ist also für den Feind transparent. Der Staat mag sich zwar heute unter der Kontrolle Putins befinden, aber er ist nach Grundzügen aufgebaut, die – zumindest theoretisch – Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und eine Verantwortlichkeit gewählter Politiker gegenüber der Gesellschaft vorsehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht im Vorhinein abgesegneter Kandidat bei Wahlen gewinnt, ist natürlich verschwindend gering, aber sie ist nicht gleich Null. Und für einen vorsichtigen Spieler ist bereits diese geringe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage Grund genug, sich abzusichern.
Gewöhnlicher Staat versus Staat des Zaren
Eine solche Absicherung ist die Schaffung eines Staates, der außerhalb des gewöhnlichen Staates existiert. Einst gab es ein Synonym für wne („außerhalb“), otdelno („gesondert“) oder snarushi („von außen“): Es lautete opritsch. Die Opritschninawar ihrem Sinne nach ein Staat des Zaren außerhalb der gewöhnlichen Semschtschina. Sie war eine neue institutionelle Realität, mit neuen Leuten, die Eigentum und Reichtum nur für treue Dienste erhielten und dem Geltungsbereich der verhassten Feudalordnung entzogen waren.
Die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten müssen sich nicht unbedingt derart blutig gestalten, wie Iwan IV. („der Schreckliche“) es eingerichtet hatte (auch wenn die Abrechnung mit einigen Gouverneuren und dem ehemaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Alexej Uljukajew, etwas von Opritschnina hatte). Ein Hort idyllischer Harmonie werden sie aber wohl nie werden.
Der „andere Staat“ sammelt Einkommensquellen und rekrutiert Oligarchen, die sie überwachen. Dem gewöhnlichen Staat überlässt er die Kosten, soziale Verpflichtungen und das Fußvolk der Gouverneure.
Den gewöhnlichen Staat leitet der Premierminister, dem ist alles übertragen, womit sich der Anführer des „anderen“, des zarischen Staates, nicht befassen will.
Die Reformprogramme werden für den gewöhnlichen Staat geschrieben, dessen Beamte berechnen ächzend die Haushalte und führen Handelsgespräche. Aber es reicht eine Bewegung des unberechenbaren „anderen Staates“ und alles war umsonst – wie schon mehrfach geschehen.
Sollte Putin irgendwann einmal die Kontrolle über die Wahlen lockern, wird er zwar die Wahl eines Oberhaupts für den gewöhnlichen Staat zulassen, den Staat des Zaren aber wird er selbst behalten.
Der „andere Staat“ bleibt unsichtbar
Russland fällt in der Welt immer stärker durch das Vorgehen des „anderen Staates“ auf (jenes Staates, der private Kriege führt und die öffentliche Meinung manipuliert). Doch ist der „andere Staat“ für Russen wie für Ausländer unsichtbar: Wir kennen seine Dimensionen nicht, wissen nicht, wieviel Geld und wieviel Leben durch ihn aus dem gewöhnlichen Staat abgezapft werden und dann in der Blackbox des parallelen, privaten Staates verschwinden. Offiziell werden nur die üblichen Zahlen veröffentlicht und diskutiert, und nur auf dieser Grundlage werden Prognosen erstellt. Das vermittelt uns aber keine Vorstellung von den Plänen des privaten Staates.
Welcher von beiden Staaten wird mehr Gewicht haben? Den meisten Bürgern des Landes, so scheint es, gefällt es, auf die Erfolge des agilen „anderen Staates“ stolz zu sein. Sie leben aber in der Realität des depressiven gewöhnlichen Staates, eines Staates, in dem die staatlichen Angestellten mit Ach und Krach versuchen, ein schändliches Minimalgehalt an das kärgliche Existenzminimum anzugleichen.
Am 23. Januar hatte das Investigativ-Portal Russiangate seine Recherchen über unversteuerten Immobilienbesitz von FSB-Chef Alexander Bortnikow veröffentlicht. Innerhalb weniger Stunden war die Website blockiert – ohne Vorwarnung durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor. Am 24. Januar war die Seite wieder zugänglich, der Artikel über Bortnikow allerdings nicht mehr darauf zu finden. Chefredakteurin Alexandrina Jelagina erklärte am gleichen Tag im Radiosender Echo Moskwy, dass ihr gekündigt worden und das Medium geschlossen worden sei, da die Investoren ihre Unterstützung zurückgezogen hätten. Der offizielle Vorwurf gegen Russiangate laute, es würde „extremistische Inhalte“ verbreiten.
Oleg Kaschin nimmt den Fall zum Anlass und thematisiert auf Republic offene und weniger offene Zensur, „durchgezogene Linien“ und ein paar Faustregeln für russische Journalisten.
„Ich verhehle nicht, dass das für das Land ein verbotenes Thema ist: Putin … das hab ich immer gesagt. Der Präsident, der Premier und der Patriarch von ganz Russland, das sind drei verbotene Themen.“ Aram Gabreljanow, Boulevardpresse-Zar der 2000er Jahre, der 2011 die Leitung der Zeitung Izvestia übertragen bekam, war wohl der erste, der so offen und laut die grundsätzlichen Beschränkungen umriss, die für ein dem Kreml gegenüber loyales (oder sogar unter dessen Kontrolle stehendes) großes Medium bestehen.
Heute ist nurmehr schwer vorstellbar, wie monströs in jenen Jahren solch ein Bekenntnis klang. Auf seine Unfreiheit stolz zu sein, sie gar leichtfertig zur Schau zu stellen, das konnte wohl nur ein Neuling auf dem Markt der „erwachsenen“ Medien fertig bringen. Zudem ein einschlägig bekannter, der in einer ganz anderen Welt großgeworden ist, wo es statt Freiheit und Grundsätzen Exklusivberichte über ein Gemetzel oder über die Hochzeit von Alla Pugatschowa (mit Maxim Galkin – die Redaktion) gibt.
Verbote sind Teil des Alltags
Mittlerweile ist klar, dass Gabreljanow einfach seiner Zeit voraus war. Die damals von ihm benannten Verbote sind innerhalb nur weniger Jahre für Medien in Russland Teil des Alltags geworden. Als 2016 die Führung von RBCwechselte, versuchten die neuen Redakteure nicht zu sagen, welche konkreten Recherchen der Grund für den Wechsel an der Holdingspitze waren. Sie bemühten vielmehr Begriffe der Straßenverkehrsordnung und beschrieben die neuen Regeln derart, dass es eine gewisse „doppelt durchgezogene Mittellinie“ gebe, die in keinem Fall überschritten werden dürfe, aber eben nur diese, alles andere sei möglich. Seither ist die „doppelt durchgezogene Linie“ zum allgemeinen Mem der Journalisten geworden.
Offene Zensur
Inzwischen wundert es niemanden mehr, wenn ein entlassener Chefredakteur eines geschlossenen Presseorgans unumwunden davon spricht, dass die Investoren bei der Gründung des Mediums jene Bedingung formulierten, die seit langem allseits bekannt ist: Man könne über alles Mögliche schreiben, außer über den Präsidenten, die Regierung und den Patriarchen.
Das Ende Januar geschlossene Medienprojekt namens Russiangate hatte sich auf investigative Recherchen spezialisiert. Der Skandal begann nach der Veröffentlichung eines Artikels über eine nicht deklarierte Immobilie des Direktors des FSB, Alexander Bortnikow. Hier haben wir es eindeutig mit einer äußerst weiten Auslegung der Drei-P-Regel zu tun. Denn Bortnikow ist weder Präsident, noch Premier & Co, noch Patriarch, allerdings – so hat es den Anschein – eine Figur, die allen dreien nahesteht und somit ihnen gleichzustellen ist.
Ruft man sich die journalistischen Standards nicht nur der 1990er, ja selbst noch der 2000er Jahre in Erinnerung, so erscheint eine solche Beschränkung inakzeptabel und unterscheidet sich nicht im Geringsten von offener Zensur.
Millimeter um Millimeter
Jetzt befinden wir uns am Ende der 2010er Jahre – und die russischen Medien haben seit jenen Jahren kein einziges Mal erlebt, dass die journalistische Freiheit von einem Moment auf den anderen drastisch eingeengt worden wäre. Im Gegenteil, dieser Prozess vollzog sich fließend und allmählich, Millimeter um Millimeter.
Es gibt keinen Grund für Vorwürfe, schließlich lässt es sich viel einfacher arbeiten, wenn die durch Zensur gesteckten Grenzen klar und deutlich formuliert sind. Dann ist es nicht wie auf einem Minenfeld, wo jederzeit etwas hochgehen kann, ganz gleich wo man hintritt. Dann ist jede Tretmine gekennzeichnet und durch eine „doppelt durchgezogene Linie“ markiert. Solange du nicht über Putin oder den Patriarchen schreibst, ist alles in Ordnung. So stellt es sich zumindest in der Theorie dar.
Irgendeine Mine gibt es immer
In der Praxis jedoch gibt es immer irgendeine Mine, die nicht markiert war und mit der man nicht gerechnet hatte, ganz wie mit Bortnikow im Fall von Russiangate. Den leidtragenden Journalisten käme in dieser Situation die dissidentische Parole aus der Sowjetzeiten zupass: „Haltet euch an eure Verfassung!“. Deren Finesse bestand darin, dass das totalitäre Regime aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, sich an die Gesetze zu halten, die es selbst geschaffen hatte. Die einzige öffentliche Kraft, die seinerzeit bereit war, für diese Gesetze zu kämpfen und deren Einhaltung zu fordern, war nicht der Staat, sondern es waren seine Feinde.
Heute ist es ganz ähnlich: Wenn sich das Regime und die regimeloyalen Medienbesitzer an die klare Regel „Putin und der Patriarch werden nicht angerührt“ halten würden, gäbe es keine Probleme. Doch aus irgendeinem Grund ist es ausgerechnet die Staatsmacht – die diese Regel ja gesetzt hatte – die ein ums andere Mal neue verbotene Themen findet, die über jene hinausgehen, die öffentlich und klar abgesteckt sind. Die „doppelt durchgezogene Linie" ist nicht statisch, sie liegt nicht ruhig in der Mitte der Fahrbahn, sondern rutscht darauf so herum, dass die Spur für Journalisten immer schmaler wird.
Die Spur für Journalisten wird immer schmaler
Das ist ein ganz natürlicher und unausweichlicher Prozess. Beim Verbot Putin, den Premier oder den Patriarchen zu kritisieren geht es nicht um die Person, die außerhalb jeder Kritik stehen soll. Sondern es geht um die Möglichkeit an sich, verbotene Themen zu setzen. Und wenn diese Möglichkeit besteht, wenn niemand sie anficht, dann wird die Verbotsliste unweigerlich immer länger.
Nach der Geschichte mit Russiangate werden es sich die Chefredakteure etliche Male überlegen, bevor sie in ihren Artikeln Alexander Bortnikow erwähnen. Und schon könnte ein neuer Skandal heraufziehen, dessen Hauptfigur irgendein neuer Bürokrat ist, den zu kritisieren früher erlaubt war und der jetzt davor geschützt ist. Wer das nun sein wird, ob Sobjanin, Schoigu oder jemand aus den weniger prominenten Reihen, werden wir erst erfahren, wenn der nächste Chefredakteur bei Echo Moskwy in der Sendung sitzt und leicht verwirrt erklärt, dass er wohl nicht mehr Chefredakteur ist.
Ein breit zu interpretierendes Verbot
Ein Verbot mit der Möglichkeit, es breit auszulegen, ist in der Tat genauso angelegt wie die Gesetze eines totalitären Regimes, denen jeder durchaus loyale Bürger zum Opfer fallen kann. Dafür ist andererseits klar, wie man zum Helden wird: Man muss nur einen Schritt auf verbotenes Terrain tun.
Ist die russischen Medienwelt heute zu solch einem Schritt in der Lage? Offensichtlich nein, und der Titel der mutigsten russischen Journalisten geht an Irina Resnik, Ilja Archipow und Alexander Sasonow, die einzigen Moskauer Autoren, die heute fähig sind, Recherchen über das Familienleben einer Frau zu schreiben und zu veröffentlichen, die bei uns üblicherweise als „mutmaßliche Tochter Wladimir Putins“ bezeichnet wird. Allerdings muss man erwähnen, dass es sich hier um russische Journalisten handelt, die auf Englisch für die amerikanische Agentur Bloomberg schreiben. Nicht auszuschließen, dass sich die einzige Möglichkeit für unzensierten Journalismus in Russland in absehbarer Zukunft genau so darstellen wird: nicht auf Russisch und nicht in russischen Medien.
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny darf bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 nicht kandidieren und hat zum Wählerstreik aufgerufen. An Xenia Sobtschak, die erklärt hat, Kandidatin gegen alle zu sein, scheiden sich die Geister: Ist sie am Ende eine Marionette des Kreml, angetreten, um die liberale Wählerschaft zu spalten? So oder so: Was Nawalny grundlegend von Sobtschak unterscheidet, obwohl sich ihre Positionen ähneln, und welche Möglichkeiten ein kritischer Wähler im März sonst noch hat – das analysiert Politologe Alexander Kynew aufRepublic.
Es scheint so, als wären die Wahlkampagnen von Nawalny und Sobtschak quasi identisch. Tatsächlich aber unterscheiden sie sich sehr und ziehen völlig unterschiedliche Folgen nach sich.
Worum geht es in Nawalnys Kampagne? Nawalny ist zweifellos ein Mensch mit demokratischen Ansichten, er ist bestrebt, mit den Menschen in der Sprache zu sprechen, die die Mehrheit versteht und zwar über das, was diese Mehrheit anzuhören bereit ist. Er übersetzt den liberalen Diskurs in eine für die Mehrheit verständliche Sprache und führt Beispiele an, die jeweils für sich genommen überzeugend sind – im Prinzip schafft er eine Synthese von Freiheit und Gerechtigkeit. Denn sein zentrales Thema – der Kampf gegen Korruption – entspricht im Grunde dem Thema soziale Gerechtigkeit, nur knackig und anschaulich serviert.
Die Sprache der Mehrheit
Ob er auch auf andere Bürgerrechte Wert legt, auf freie Religionsausübung und so weiter und so fort? Bestimmt, und kaum jemand bezweifelt das. Nur orientiert er sich an einem breiten Auditorium, wenn es darum geht, die Probleme zu gewichten. Er versucht, mit dem Übertragen des liberalen Diskurses in die „Sprache der Menschen“ eine neue Mehrheit zu schaffen. Genau deswegen ist er für die gegenwärtige Staatsmacht eine Bedrohung.
Alles, was bei Nawalny die Grundlage für sein Image und sein politisches Programm bildet, kommt bei Sobtschak entweder gar nicht vor oder nur irgendwo am Rande. Und umgekehrt: Das, was bei Nawalny zwar implizit ist, im Kampf um die Wählermassen aber keine Rolle spielt, ist in Sobtschaks Kampagne ein Hauptanliegen. Ob die Krim uns gehört oder nicht, europäische Werte, Sanktionen gegen Russland, Legalisierung leichter Drogen, LGBT-Rechte, Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens und so weiter – das alles sind natürlich wichtige Fragen. Doch aus der Sicht des einfachen Bürgers stehen sie nicht an erster oder zweiter und nicht mal an dritter Stelle.
Mobilisierung einer Minderheit
Weil sie Probleme anders hierarchisiert und weil die Kandidatin ein anderes Image hat, ist die an sich ähnliche Kampagne Sobtschaks nicht dazu geeignet, eine neue Mehrheit zu erzeugen, sondern nur dazu, eine Minderheit zu mobilisieren. Wobei dieser Effekt durch die geringe Beliebtheit der Kandidatin verstärkt wird.
Wie unterscheiden sich die Folgen dieser beiden Strategien, der Erzeugung einer neuen Mehrheit (bei Nawalny) und der Mobilisierung einer ultraliberalen Minderheit (bei Sobtschak)?
Die Strategie der neuen Mehrheit ist immerhin ein realer Kampf um die Macht – Macht, zumindest was [einen hypothetischen – dek] politischen Einfluss im Parlament angeht. Und sie ist eine Chance, die gesellschaftliche Evolution durch Schritte voranzutreiben, die die Menschen zu verstehen und anzunehmen bereit sind.
Kampf um die Macht versus Wähler-Ghetto
Die Strategie der Mobilisierung einer Minderheit bedeutet, dass auf sehr lange Sicht kein realer Einfluss auf die Machthaber zu erwarten ist, ganz zu schweigen von einer Chance, sie abzulösen. Im Grunde ist es ein Kampf für das Recht auf ein ruhiges Leben im Wähler-Ghetto, es ist eine Strategie der langfristigen politischen Aufklärung und ein Versuch, die Gesellschaft allmählich an die Existenz und Akzeptanz eines liberalen Diskurses zu gewöhnen – in der Hoffnung, sie würde sich von selbst schrittweise weiterentwickeln.
Auch wenn sich also die Positionen in vielen Fragen ähneln, sind die Aussichten in realita völlig unterschiedlich. Die zweite Strategie zu wählen, würde für Anhänger der ersten nicht bedeuten, „quasi Gleichgesinnte“ zu unterstützen – es wäre eine Kapitulation und ein Eingeständnis, auf Ambitionen und Kampfgeist zu verzichten. Und genau so wird das auch benutzt werden. „Quasi dasselbe“ zu unterstützen, wird sich als Falle erweisen.
Nawalny: kein Ritter im weißen Gewand
Nawalny als Ritter im weißen Gewand zu bezeichnen, ist sicher auch nicht angebracht.
In verschiedener Hinsicht kann man ihn kritisieren, vor allem für seinen fehlenden Teamgeist: Im Prinzip wurde nichts unternommen, um anderen oppositionellen Kandidaten zu helfen, sei es bei den Wahlen zum Moskauer Stadtrat 2014, zur Staatsduma 2016 oder bei den Moskauer Kommunalwahlen 2017. Die offenbar gut organisierten Mitarbeiter Nawalnys sind heute praktisch das einzige funktionsfähige regionale Netzwerk eines führenden demokratischen Politikers.
Stimme „gegen alle“ gibt es nicht
Vielleicht ändert sich diese Situation in der Zukunft, aber derzeit unterstützen Sie bei den bevorstehenden Wahlen, wenn Sie eine der beiden genannten Strategien wählen, auch den Trend, der die Demokratiebewegung weiterhin dominieren wird. Eine Stimme „gegen alle“ gibt es bei diesen Wahlen nicht. Das ist eine Illusion. Sie unterstützen (oder auch nicht) einen ganz konkreten Politiker und mit ihm die Strategie, die er verkörpert. Das Ergebnis derer, die an der Macht sind, werden Sie bei solchen Wahlen fast nicht beeinflussen, das Schicksal der Demokratiebewegung jedoch durchaus.
Also, wenn Sie für ein kleines liberales Ghetto und Versuche einer schrittweisen Aufklärung sind, dann ist Ihre Kandidatin Xenia Sobtschak. Andernfalls haben Sie gleich drei Möglichkeiten: beim „Wählerstreik“ mitzumachen; Stimmzettel zu verschandeln oder mitzunehmen; oder aber „für jeden anderen Kandidaten“ zu stimmen, der chancenlos, aber unschädlich ist (wie Jawlinski und Titow).
Bei einem US-Luftangriff in Syrien Anfang Februar sollen russische Söldner der Einheit Wagner getötet worden sein. Mehrere Medien berichteten darüber. Doch der Kreml hüllte sich zunächst in Schweigen. Denn solche Privatarmeen sind illegal.
Nach Darstellung der USA ereignete sich die Offensive regierungstreuer syrischer Truppen auf eine Raffinerie und ein Ölfeld, die unter Kontrolle der oppositionellen Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in der Provinz Dair as-Saur waren. An der Seite der Assad-Truppen sollen auch Soldaten der Wagner-Einheit gekämpft haben – 200 russische Söldner kamen laut der Nachrichtenagentur Bloomberg bei dem US-Luftangriff ums Leben. Die USA sprachen von 100 russischen Toten und weiteren 100 Verletzten.
Die Nachricht erregte große Aufmerksamkeit, aus mehreren Gründen: Das Portal Fontanka hatte im vergangenen Jahr einen Bericht veröffentlicht, wonach seit 2017 nicht das russische Verteidigungsministerium, sondern die syrische Regierung für Kosten und Ausstattung der Privatarmee aufkomme. Insofern heizt der Tod der russischen Söldner nun Gerüchte an, dass es Interessenskonflikte zwischen der russischen Armee und den privaten Milizen gebe.
Zudem läuft schon seit längerem eine breite Debatte, solche Einheiten zu legalisieren. Allein schon, damit Hinterbliebene im Todesfall versorgt werden und angemessen trauern können. Die Wagner-Einheit soll auch in der Ukraine gekämpft haben.
Der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow sprach nach dem US-Bombardement von einem Skandal. „Doch die russische Regierung wird so tun, als sei nichts passiert”, sagte er. Erst nach mehreren Tagen äußerte sich die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa zu dem Vorfall, sprach von „fünf Toten, die vermutlich russische Staatsbürger sind“, aber nicht zur Armee gehörten.
Das Portal Znak traf die Witwe und den Ataman eines Kosaken, der für Wagner in Syrien gekämpfte hatte – und beim US-Luftschlag ums Leben kam.
Znak: Wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes [Stanislaw Matwejew – dek] erfahren?
Jelena Matwejewa: Unser Ataman aus der Stadt Asbest rief mich an. Als erstes fragte er, wann ich zum letzten Mal Kontakt zu Stas hatte. Ich sagte, dass ich ihn schon den dritten Tag nicht erreiche. Und dass die Mädels, deren Männer dort sind, auch von nichts und niemandem etwas wissen. Eine Minute später ruft mich der Ataman noch einmal an und sagt: „Stas und Igor sind nicht mehr unter uns.“ Ich war gerade einkaufen. Das Telefon fiel mir aus der Hand, da, das hat jetzt einen Sprung. Wie auf Autopilot ging ich nach Hause, fast wär ich überfahren worden.
Hat man Ihnen gesagt, unter welchen Umständen Ihr Mann umgekommen ist?
Nein. Am Abend rief ich nochmal den Ataman an. Er bat mich, Ruhe zu bewahren, sagte, dass man bisher noch nichts Genaues weiß. Ich wollte erstmal wegen der Leichen Bescheid wissen. Bat darum, einen Priester anzufragen, der sie segnen würde, wie es sich gehört, wenn Sie gebracht werden. Der Ataman sagte dann, sie sollen gebracht werden, und es würde ein offizieller Anruf aus Rostow kommen. Ob das wirklich so ist, ich weiß es nicht. Die Kosaken bekommen alle Informationen aus dem Donbass (sie weint). Ich weiß nicht, wie bei denen alles zusammenhängt. Ich versuche bisher, das alles nicht zu glauben, bereite auch das Begräbnis noch nicht vor.
Haben Sie von der Wagner-Truppe gehört?
Die Mädels haben davon erzählt.
Als Stas nach Syrien fuhr, wussten Sie davon?
Er hatte mich vorgewarnt. Nach dem Donbass war er etwa ein Jahr zu Hause. Er war im Juli [2016] zurückgekommen. Ein Jahr später, am 27. September [2017], fuhr er wieder weg – im Zug saß er da schon mit den Jungs aus Kedrowoje. Aber jetzt setzt sich niemand so richtig mit uns in Verbindung, keiner sagt uns, ob es stimmt oder nicht. Zuerst so ein Schlag auf den Kopf – und dann halten sie die Klappe.
Aus Kedrowoje, sagten Sie?
Neun Mann aus Asbest, und etliche aus Kedrowoje. Mehr weiß ich nicht.
Zu welchen Bedingungen ist Ihr Mann nach Syrien gefahren, wie viel Geld hat man ihm versprochen?
Hat er mir nicht erzählt. Er hat so auf mich aufgepasst, dass er mich nie in solche Dinge eingeweiht hat. Seine Kumpels aus dem Donbass wurden begraben, und ich hab das immer als Letzte erfahren.
Mit wem hatte er Kontakt?
Mit Igor Kossoturow, das ist Stas’ Kommandeur. Sie sind entfernte Verwandte. Stas hat eine Cousine, die früher mit Igor verheiratet war. Die hängen immer zusammen. Kosaken eben.
Konnte Ihnen Ihr Mann von dort Geld schicken?
In eineinhalb Monaten 109.000 [1500 Euro]. Das war dafür, dass sie in Rostow waren. Von September bis Oktober, während der Ausbildung. Ich hab dieses Geld im Dezember bekommen.
Wozu ist er überhaupt nach Syrien gefahren?
Offenbar haben ihn diese ganzen Waffen und Militärtrainings fasziniert. Ein halbes Jahr nach dem Donbass fing er an, das alles zu vermissen – redete von seinem Gewehr, „wie geht es wohl meinem ‘Täubchen’”. Ich hab mit Engelszungen versucht, ihm das auszureden, wir standen kurz vor der Scheidung. Aber jetzt ist das ja alles sinnlos.
Fotos zeigen Stanislaw Matwejew in Syrien
Hat Ihr Mann früher in der 12. Brigade des Militärgeheimdienstes GRU gedient, die hier in Asbest stationiert war?
Nein.
Hat er Wehrdienst geleistet?
Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Der Donbass war sein erster derartiger Einsatz. Wahrscheinlich gab es da irgendeine Armee.
Sieht so aus, ja. Sagen Sie mir lieber, wer mich jetzt anrufen soll, wer wird mich informieren? Wenn dort alles, verdammt noch mal, in die Luft geflogen ist, wie erkennen sie ihn denn, tackern sie einfach die Fetzen zusammen und sagen dann, das ist mein Mann, oder wie?
Jelena, Sie sagten, Ihr Mann hat im Donbass gekämpft, wann ist er da hingefahren?
2016.
Was hat ihn dazu bewegt?
Das haben die Männer alles unter sich entschieden. Er kam und sagte: „Du siehst ja, wie es im Donbass zugeht. Wir müssen den Leuten helfen.“ Er sagte, er fährt dahin und baut Häuser für Flüchtlinge. Er ist ja wirklich Bauarbeiter.
Und wie haben Sie erfahren, dass er dort nicht auf dem Bau arbeitet, sondern in der Volksmiliz kämpft?
Das hat mir die Frau eines Kameraden gesagt. Er selbst hat es mir nicht mal erzählt.
Wie haben Sie das aufgenommen?
Ich war beunruhigt. Aber was soll ich machen?
In welcher Brigade hat er gekämpft?
Weiß ich nicht.
War er lang dort?
Etwa sieben Monate.
Wie haben Sie ihn nach dem Donbass empfangen?
Die Kinder haben vor Freude so gekreischt, dass seine Kameraden ganz entrüstet waren. Nach dem Motto: Uns begrüßt niemand so freudig. Er ist dann gleich zu seinen Eltern gefahren. Seine Mutter ist krank, sie hat Diabetes, und ich hab mich um sie gekümmert. Und dort tischten wir auf, klar, ordentlich Alkohol, das Übliche.
Was hätten Sie jetzt gern, welche Maßnahmen würden sie sich jetzt vom Staat wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass alle von meinem Mann erfahren. Und nicht nur von meinem Mann, von allen Jungs, die dort so sinnlos umgekommen sind. Arg ist das alles! Wohin wurden sie geschickt, warum? Es gab keinerlei Schutz. Wie Schweine wurden sie zur Schlachtbank geführt. Ich will, dass die Regierung sie rächt. Ich will, dass dieser Männer gedacht wird, dass die Frauen sich nicht schämen müssen für ihre Männer und die Kinder stolz sein können auf ihre Väter.
Ataman Oleg Surnin, im Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift „Russen lassen die eigenen Leute nicht im Stich“
Mit Ataman Oleg Surnin sprechen wir im Büro des örtlichen Verbands der Afghanistan-Veteranen, am anderen Ende von Asbest.
Znak: Igor Kossoturow und Matwejew waren Kosaken?
Oleg Surnin: Die waren von unserer Staniza. Wir haben sie im vorletzten Jahr zusammen aufgenommen, am Tag der Aufklärer [5. November – dek].
Kannten Sie sie schon lange?
Mit Igor Kossoturow hab‘ ich humanitäre Hilfe in die Ukraine gefahren, nach Luhansk. Dort ist er dann geblieben. Ich bin damals zurückgekommen, musste auf Arbeit.
Welches Jahr war das?
2015, glaub ich.
Wie lang war Igor Kossoturow in der LNR [Volksrepublik Luhansk – dek]?
Ein halbes Jahr ungefähr. Dann wurde er verwundet. Am Bein, ein Granatsplitter. Er kam hierher und wurde behandelt.
Als was hat er da gekämpft?
Als Aufklärer.
Und was hat er nach der Verwundung gemacht?
Ist nochmal für ein ein halbes Jahr hingefahren. Danach ist er nicht mehr in Luhansk gewesen.
Warum nicht?
Er hatte schon andere Pläne, wegen Syrien.
Warum wollte er dann nach Syrien gehen?
Ja, wie soll ich das sagen … Um zu helfen. Wieder aus Patriotismus! Viele seiner Regimentskameraden aus der Ukraine sind ja da hingegangen.
Welchen Rang hatte Igor?
In der Ukraine war er Hauptmann. Hier, in der Brigade, hatte er nicht mal einen Offiziersrang.
Wie lief das, als sie nach Syrien zogen?
Dort gibt es viele Russen. In Rostow gibt einen Ausbildungsstützpunkt. In solchen Stützpunkten werden sie trainiert. Folglich ist da auch die Gruppe Wagner dabei. Das erste Mal, als sie da hingingen, wurde ihnen vorgeschlagen, sich in zwei gleichgroße Gruppen aufzuteilen und in verschiedenen Flugzeugen nach Syrien zu fliegen. Die Jungs haben sich geweigert. Igor kam nach zwei Monaten aus Rostow hierher. Doch dann rief der Kommandeur an; sie sammelten sich alle und fuhren los.
Es gab noch einen von meinen Kosaken dort, Nikolaj Chitjow.
Hat er überlebt?
Ja, wir haben schon miteinander gesprochen. Dann kam die Meldung aus dem Donbass, dass Kossoturow und Stas [Stanislaw Matwejew] umgekommen sind. Und jetzt erreiche ich keinen mehr per Telefon, der Mensch, der da die Leichen gesammelt hat, mit Codenamen „der Schwede“, der geht nicht mehr ran. Kolja Chitjow haben sie telefonisch erreicht, der hat auch erzählt, dass es drei Tote gibt: Igor, Stas und ein dritter, Codename „Kommunist“. Bei den beiden ist es sicher, die Informationen zum Dritten werden noch geprüft.
Was geschieht jetzt mit den Leichen, werden die den Angehörigen übergeben?
Gestern ging die Information ein, dass die Leichen schon nach Petersburg gebracht wurden. Das ist aber noch nicht bestätigt.
Warum nach Petersburg und nicht nach Jekaterinburg?
Das habe ich auch gefragt. Es wurden alle dorthin überführt.
Sie sagen ständig „die Information ging ein“ – woher denn eigentlich?
All diese Informationen kommen hauptsächlich über den Donbass, von Dienstkameraden.
Sind Entschädigungszahlungen an die Angehörigen vorgesehen; die haben ja nunmal einen Ernährer verloren?
Die müsste es geben. Es wird von drei Millionen Rubel geredet [ca. 42.850 Euro; pro Gefallenem – dek].
Gibt es denn eine Garantie, dass gezahlt wird?
Bis jetzt wurde noch niemand übers Ohr gehauen. Denjenigen, der mit der Überführung befasst war, können wir telefonisch nicht erreichen.
Unterstützt der Staat diese Söldner denn irgendwie?
Jetzt ist einer aus Syrien zurückgekommen, weil er krank ist. Der sollte am besten operiert werden, hat aber keinerlei Unterlagen, die das bestätigen. Wie auch, wenn er fünf Jahre Verschwiegenheit unterschrieben hat?!
Gibt es bei den privaten Truppen wenigstens irgendeinen Vertrag mit den Leuten, Brief und Siegel?
Natürlich, da werden Dokumente unterschrieben.
Wird das alles denn auf irgendeine Art vom Verteidigungsministerium oder dem FSB kontrolliert?
Was hat das Verteidigungsministerium damit zu tun?
Wer übernimmt denn dann alle Kosten und die Entschädigungen?
Weiß ich nicht.
Wladimir Putin hat vor einiger Zeit öffentlich erklärt, dass alles geräumt ist, dass sich Syrien vollständig unter der Kontrolle der Regierungstruppen und Baschar al-Assads befindet…
Ich schaue auch Fernsehen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was uns gesagt wird und was reale, lebende Menschen aus erster Hand erzählen. Ein Teil des Territoriums wird immer noch vom IS kontrolliert. Unsere Leute ziehen in die Kämpfe, von Raffinerie zu Raffinerie, befreien eine und bleiben zur Bewachung da. Dann wird eine neue Operation vorbereitet und es geht zur nächsten Raffinerie. Man hat unseren Leuten diesmal aufgelauert. Es gab ein Informationsleck, sie wurden eindeutig erwartet. Wenn das einfache Angehörige des IS mit Schusswaffen gewesen wären, wäre das alles anders gelaufen.
Die eroberten Raffinerien werden von unseren Ölleuten kontrolliert. Es gab Informationen, dass Mitarbeiter von Rosneft da hingefahren sind…
Nein, das waren Syrer.
Nach dem, was passiert ist, sollte der Staat da nicht irgendwie reagieren?
Nein. Es wissen doch sowieso alle, dass unsere Leute dort sind.
Kaum bekleidet und teilweise in Latex mit SM-Anmutung, drangen im vergangenen Jahr selbsternannte „Sex-Jägerinnen“ ins Moskauer Wahlkampfbüro des Oppositionellen Alexej Nawalny ein. Eine lächerliche Geschichte, begleitet vom Sender Life, die man normalerweise gar nicht erwähnen würde. Doch über sie wurde Nawalnys Team vom Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK) auf Nastya Rybka aufmerksam, die an der Aktion beteiligt war. Auf Rybkas öffentlich einsehbaren Instagram-Kanal erregten einige öffentlich einsehbare Fotos und Videos die Aufmerksamkeit der FBK-Mitarbeiter: Diese zeigen das Escort-Girl zusammen mit dem OligarchenOleg Deripaska auf dessen Yacht – in einem Video ist neben Deripaska auch der russische Vize-Premier Sergej Prichodko zu sehen, der laut Nawalny „wenig bekannt, aber sehr einflussreich ist”.
Am 8. Februar 2018 veröffentlichte Nawalny schließlich ein Enthüllungs-Video, das inzwischen mehr als 4 Millionen Aufrufe verzeichnet. Darin stellt Nawalny das auf dem Instagram-Kanal dokumentierte Treffen als ein fehlendes Puzzlestück im Rätselraten um russische Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf dar: Trumps Ex-Berater Paul Manafort und Deripaska waren geschäftlich verbunden. Im Instagram-Video von Nastya Rybka, die ursprünglich aus Belarus stammt, ist dabei auch eine Audiopassage, in der man jemanden sagen hört: „Wir haben schlechte Beziehungen zu Amerika. Warum? Dafür ist die Freundin von Sergej Eduardowitsch verantwortlich, Nuland heißt sie.” Nawalny ordnet die Stimme Deripaska zu, Sergej Eduardowitsch sind Vor- und Vatersname von Vize-Premier Prichodko, Victoria Nuland war unter Obama im US-Außenministerin zuständig für Europa und Eurasien.
Laut FBK-Recherchen fand das Treffen von Prichodko und Deripaska im August 2016 statt. Wie Nawalny ausführt, ist dies auch deswegen bemerkenswert, weil laut US-amerikanischen Medienberichten Trumps Ex-Berater Paul Manafort dem Oligarchen im Vormonat private Briefings zum Wahlkampf angeboten hatte. Prichodko ist demnach der missing link von Deripaska zu Putin.
Nicht mal zwei Tage nach der Veröffentlichung verbot ein Gericht in Ust-Labinsk, der Geburtsstadt Deripaskas im Süden Russlands, Nawalnys Film. Kurz darauf nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Video und den Blogeintrag ins Register verbotener Internetseiten auf.
Bei so viel Aufsehen und Lärm um einen Film hat sich Oleg Kaschin auf Republic Gedanken über unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gemacht – und stellt viele beunruhigende Fragen.
Nawalnys Recherchen über Sergej Prichodko auf der Yacht von Oleg Deripaska – das ist ein absolut westlicher Plot, europäisch oder amerikanisch. Da braucht es ein Happy-End: Der Staatsbeamte muss zurücktreten, der Milliardär meldet Konkurs an, der Oppositionelle kommt an die Macht. Das Russland von heute unterscheidet sich allerdings sehr vom Westen, wie man ihn aus dem Kino kennt.
Will man den Plot vom Staatsbeamten und dem Milliardär für unsere Lebenswirklichkeit adaptieren, dann müsste er ganz anders ablaufen. Bestechung heißt in unserer Tradition, dass man einem Amtsträger Geld bar in die Hand drückt; dann tauchen von irgendwoher Fahnder auf und durchleuchten das Geld und die Hand mit UV-Lampen. Das ist Bestechung, aber wenn jemand jemanden auf eine Yacht einlädt – für sowas wird man bei uns nicht verklagt.
Wessen Ruf kratzt das an?
Die Amoral im vorliegenden Plot ist auch keine wirkliche Amoral. Nun ja, ein Escort-Girl. Aber wessen Ruf kratzt das an? Die russische Vorstellung von Reichtum beinhaltet, dass ein reicher Mensch von allem viel hat, auch Frauen, er kann’s sich halt leisten. Bei staatlichen Amtsträgern ist das formal schwieriger, aber nur formal. Über praktisch jeden mehr oder weniger bekannten Staatsdiener weiß man, dass für sein Privatleben gilt, was in den sozialen Netzwerken als „es ist kompliziert“ bezeichnet wird: Es gibt eine vor langer Zeit verlassene Ehefrau, außerdem irgendein Mädchen, mit dem er überall hingeht, ohne es auch nur ein bisschen peinlich zu finden, und dann ist da noch, bildlich gesprochen, die Komitee-eigene Banja, die sie alle von Zeit zu Zeit besuchen, ebenfalls ohne es peinlich zu finden.
Das heißt: Wenn man den Plot für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert, dann müsste man ihn dahingehend ändern, dass der Milliardär den Staatsbeamten nicht mit einem Ausflug auf einer Yacht besticht (wie das überhaupt klingt! Mit einem Ausflug bestochen! Mit frischer Luft bestochen!), sondern mit Bargeld, außerdem muss der Moment der Übergabe per Video gefilmt und das Geld mit Spezialfarbe behandelt worden sein.
Auch der Sex-Strang des Plots muss außerhalb etablierter Normen angesiedelt sein. Ideal wäre, wenn der Staatsbeamte gleich mit dem Milliardär schläft – Homosexualität ist bei uns zwar nicht ausgerottet, aber dennoch nicht gern gesehen – und wenn es schon nicht miteinander geht, dann muss man auf die Yacht irgendwelche Jünglinge einladen, am besten minderjährige. Dann kann man von einem Skandal sprechen.
Alle möglichen Zufälle
Nawalny zu verdächtigen, für den Kreml, den FSB oder für Putin persönlich zu arbeiten – das ist mies. Wenn eine statistisch signifikante Zahl von Bürgern an Zufall und Unvoreingenommenheit der Ermittlungen glaubt, wird es ganz von selbst eine Tatsache, und Verschwörungstheorie bleibt Verschwörungstheorie. Im russischen Plot gibt es keine Verschwörungstheorien, hier kann es generell alle möglichen Zufälle geben, denn der Glaube an den Zufall ist eine konstituierende Eigenschaft der Gesellschaft, die man keinesfalls ignorieren darf.
Sollen sich doch die paranoiden Zeitgenossen den Kopf zerbrechen, wer hier wen beauftragt hat. Prichodko Deripaska, Deripaska Prichodko oder Setschin alle beide. Wenn die Menschen glauben, dass niemand niemanden beauftragt hat, dann ist das auch so – in solchen Fällen ist der Glaube wichtiger als der Verdacht.
Eine echte Weltsensation
Wichtig ist auch, dass für einen Teil des Publikums ein westlicher Plot gar nicht adaptiert werden muss, weil es ein westliches Publikum ist und ihm all die Plot-Linien mit Staatsbeamten, Milliardären und Oppositionellen durchaus vertraut sind. Für dieses Publikum ist die Verbindung von Deripaska mit Prichodko das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (Paul Manafort, der Chef von Trumps Wahlkampfteam, hat für Deripaska gearbeitet, und ohne die Yacht war die Kette genau bei Deripaska abgerissen) – und das ist eine echte Weltsensation, die übrigens auch Moskau neue Möglichkeiten eröffnet, die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf zu rechtfertigen. Bei Bedarf kann man alles auf Prichodko abwälzen und ihn in Rente schicken und so zur Entspannung der internationalen Missstimmungen beitragen. Obwohl letzteres eher in der Phantastik anzusiedeln ist.
Das Verhalten des Escort-Girls, die auf der Yacht ein Video für Instagram gedreht hat, ist das unverständlichste an allem. Ihre öffentlichen Aktivitäten begannen ein halbes Jahr, bevor Nawalny sich für sie zu interessieren begann. Wer hat dem Mädchen ihre Sicherheit garantiert? Warum wurde ihr nicht gleich am Anfang ihrer Medienaktivität Einhalt geboten? Warum ist sie ins Wahlkampfbüro von Nawalny eingedrungen? Wenn sie die Situation in ihren Videobotschaften ins Absurde treibt, möchte sie Nawalny dann in die Hände spielen oder sein Drehbuch kaputtmachen?
Der Plot gerät aus den Fugen
Antworten darauf gibt es nicht, und dass sie fehlen, das ist eine entscheidende Tatsache, durch die der ganze Plot fast aus den Fugen gerät, völlig unabhängig davon, ob er für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert ist oder nicht.
In ihrem Video lädt das Mädchen alle Protagonisten der Geschichte zu Pust goworjat (dt. „Lasst sie reden“) ein – einer apolitischen Show, die sich sämtlichen Boulevardthemen widmet. Das klingt unheilvoll, denn weder aktive Oligarchen und erst recht keine amtierenden Vize-Premiers nehmen an solchen Sendungen teil.
Um sie dahin zu bringen, müsste man sie ihrer derzeitigen Macht und ihres derzeitigen Status entledigen. Eine derartige Einladung klingt wie eine Drohung für die beiden, aber wer droht ihnen da? Das Mädchen wohl kaum und auch nicht Nawalny. Wieder diese verfluchte Unsicherheit.
Eine Routinekontrolle auf der Straße, der Kontrollierte kann sich nicht ausweisen und wird auf die Wache gebracht. Dort „findet“ die Polizei bei ihm Marihuana, konfisziert es und verklagt den vermeintlich Süchtigen oder Dealer. Nicht selten gesteht dieser seine Schuld in Videos öffentlich ein.
Oft sind die Beklagten jedoch unschuldig, wie Recherchen von Republic ergeben. Demnach verläuft der Anti-Drogen-Kampf in Tschetschenien nicht selten nach dem oben beschriebenen Muster, bei Verhören wendet die Polizei zudem häufig Gewalt an.
Ilja Roshdestwenski hat mit Betroffenen und deren Anwälten gesprochen – und zeigt, wie plötzlich auch Menschenrechtler ins Visier geraten.
Am 16. August 2017 wurde Magomed-Ali Meshidow aus dem tschetschenischen Dorf Awtury zum wiederholten Mal in Begleitung eines Vollzugsbeamten ins Büro der Kriminalpolizei des Innenministeriums im Bezirk Schali geführt. Die Kripo-Mitarbeiter gingen zum Safe auf der linken Seite und holten ein Gerät heraus, das mit einer Trainingsjacke abgedeckt war. Das Gerät diente, wie sich kurz darauf herausstellte, der Folter mit Strom. Gewöhnlich nimmt man dafür alte Isolationsmessgeräte, Kondensator-Zündmaschinen oder Feldtelefone mit Kurbelinduktoren; sie erzeugen Starkstrom, aber mit geringer Kraft; Spuren bleiben fast keine zurück, nur schwarze Punkte.
Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe
Dem Inhaftierten wurden mit der Trainingsjacke die Augen verbunden, ihm wurden Klemmen an die Daumen gesteckt und das Gerät eingeschaltet. „Ich habe geschrien, es tat höllisch weh. Die Beamten sagten, dass sie mich so lange foltern, bis ich das Geständnis unterschreibe“, erklärt Meshidow in seiner Strafanzeige. Eine Kopie liegt Republic vor. In dem Dokument betont Magomed-Ali, die Beamten hätten mehrmals wiederholt: „Bei uns kommt niemand ohne Schuldgeständnis raus.“ „Zwei Tage später wurde ich wieder mit Strom gefoltert, diesmal wurden die Klemmen an den kleinen Fingern und an den Handschellen befestigt, damit ich etwas gestand, das ich nicht getan hatte“, so Meshidow.
Er war einer von etwa 70 Menschen, die Mitte August im hiesigen Untersuchungsgefängnis gelandet waren. Die Verhaftungen waren Teil einer Anti-Drogen-Kampagne, die der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow ausgerufen hatte.
Razzien und Folter
Auf Anfrage von Republic gab das Innenministerium der Teilrepublik an, die Rechtsschutzorgane hätten bis Ende Dezember 507 Verstöße gegen entsprechende Artikel des Strafgesetzes aufgedeckt. Zwei Informanten, die mit dem Verlauf der Operation vertraut sind, berichten, die Polizisten hätten Razzien in den Ortschaften durchgeführt und jeweils mehrere Dutzend Menschen festgenommen. Sie hätten von ihnen verlangt zuzugeben, illegale Substanzen konsumiert oder verbreitet zu haben, und wollten weitere Personen genannt bekommen, die im Besitz von Drogen seien.
Die Situation erinnert zum Teil an das, was in Tschetschenien mit den Menschen geschah, die einer nichttraditionellen sexuellen Orientierung bezichtigt wurden. Diesmal aber ohne Mord und Totschlag: Jetzt setzt man auf das Androhen von besonders schwerwiegenden Strafparagraphen, auf Folter und per Video aufgenommene Geständnisse.
Wochenlanges Verhör
Am 14. August hatten zwei Polizeimitarbeiter in Zivil Magomed-Ali Meshidow vor seinem Wohnhaus auf der Bamat-Girej-Straße festgehalten, das offizielle Protokoll ist jedoch auf den 31. August datiert; am 2. September erließ das Gericht den Haftbefehl. Eine Woche lang verhörte man den 31-Jährigen, wer im Dorf Drogen konsumiere oder verkaufe, und schlug mit einem Metallverbundrohr auf ihn ein. Am 20. August willigte Meshidow ein, das Geständnis zu unterschreiben, aber man ließ ihn trotzdem nicht frei, sondern wartete, bis die Spuren der Schläge nicht mehr zu sehen waren. Zusammen mit Magomed-Ali wurde auch sein Bruder Magomed-Sidik festgenommen: Er war zu Hause und wollte gerade los, um seine Kinder aus dem Kindergarten abzuholen, als ein Mann in Zivil in den Hof kam und ihn aufforderte, auf ein paar Worte mit vor das Tor zu kommen. Dort steckte man Magomed-Sidik in dasselbe Auto, in dem auch schon sein jüngerer Bruder saß, und brachte die beiden aufs Polizeirevier.
Die Polizisten sagten, wenn ich nicht gestehe, würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen
„Im Büro waren mehrere Mitarbeiter, die mir sagten, ich hätte keine Wahl, ich würde sowieso gestehen, sonst würde man mir einen ‚terroristischen Akt‘ anhängen oder eine Klage wegen der Mitgliedschaft in einer ‚illegalen bewaffneten Organisation‘, und dann könnte man mit mir sowieso alles machen, was man will“, berichtet Magomed-Sidik in seiner Strafanzeige. Genau wie sein Bruder wurde er mithilfe von Klebeband und Handschellen so lange gefesselt und gefoltert, bis er das Geständnis unterschrieb.
Schließlich wurde Magomed-Ali zur Last gelegt, am 20. August gut 16 Gramm Marihuana für 1000 Rubel [ca. 14 Euro – dek] verkauft zu haben (für diesen Drogendeal gibt es keine Videobeweise, nicht einmal markierte Geldscheine kamen zum Einsatz). Magomed-Ali hat seine Ware dabei deutlich unter Wert verkauft: Aus einem Bericht des Amtes für Rauschgiftkontrolle beim tschetschenischen Innenministerium geht hervor, dass man 2016 für ein Gramm Marihuana durchschnittlich 600 Rubel hinlegen musste [ca. 8,50 Euro – dek].
Seinem Bruder wird der Besitz von fast 128 Gramm Marihuana vorgeworfen, die man am selben Tag bei der Körperkontrolle gefunden haben will und die er, so heißt es im Ermittlungsprotokoll, im August 2016 für den Eigengebrauch gekauft habe.
Die Strafverteidigung besteht darauf, dass die Fälle gefaked seien, allein, weil die Meshidow-Brüder am 20. August bereits seit einer Woche in Untersuchungshaft saßen. Beweise dafür gibt es reichlich: Mindestens zwei Nachbarn können die Festnahme bezeugen; Magomed-Sidiks Frau hat den beiden zwei Wochen lang Essen gebracht und ihre Wäsche gewaschen; aufgrund der Folter bekam einer der Brüder eine Nierenentzündung, weswegen ein Rettungswagen kommen musste. Nicht zuletzt nennt die Verteidigerin Marina Dubrowina in ihrem Antrag an den Ermittlungsrichter die Namen von vier Mitinsassen, die gesehen haben, wie man die Brüder geschlagen hat.
Zeugen werden eingeschüchtert
Die Meshidows befinden sich im Moment in U-Haft und warten auf die Verhandlung. Zeugen, die den Fakt ihrer Entführung bestätigen könnten, seien von den Kriminalbeamten eingeschüchtert worden, berichtet Anwältin Dubrowina. Sie selbst habe sich mehrfach von den Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane anhören müssen, sie hätten „so Anwälte schon gesehen“, die mit der „besonderen tschetschenischen Mentalität“ und den Feinheiten der Strafverfolgung in der Republik nicht vertraut seien, aber sobald man ihnen „alles verständlich erklärt“ hätte, wären die bald wieder nach Hause gefahren. Zu guter Letzt wurde Dubrowina, ob spaßeshalber oder im Ernst, von einem der Richter ans Herz gelegt: „Wie wäre es mit Personenschutz, Marina Alexejewna.“
„Unsere Parole lautet: Drogensucht und Terrorismus sind gleichwertige Übel!“, sagte Ramsan Kadyrow im September 2016. Ihm zufolge sei Tschetschenien, was das angeht, eine der sichersten Regionen denn in der Teilrepublik würden weder illegale Substanzen hergestellt noch führten die Apotheken Psychopharmaka. „Aber sie werden von außerhalb eingeschleust und an Heranwachsende und junge Leute verkauft. Unsere Aufgabe muss es sein, diese Kanäle zu kappen und die Jugend vor diesem üblen Einfluss zu retten“, fügte der Republikchef hinzu.
Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst!
Wenige Tage später berichtete die Novaya Gazeta von einer Konferenz zum Kampf gegen die gestiegene Zahl der Verkehrstoten und gegen den Drogenkonsum. „Wer in der Tschetschenischen Republik Ärger macht, wird verdammt nochmal abgeknallt. Gesetz hin oder her, was bedeutet das schon … Abknallen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum – Problem gelöst! Das ist das Gesetz!“, hatte Kadyrow damals in Anwesenheit von örtlichen Silowiki, Staatsbeamten und Vertretern der Geistlichkeit gesagt. Der Mitschnitt wurde in den 7-Uhr-Nachrichten im TV-Kanal Grosnyausgestrahlt, aber aus nachfolgenden Beiträgen wurde dieser Teil des Auftritts herausgeschnitten. Die Staatsanwaltschaft behauptete später, die Worte Kadyrows seien aus dem Zusammenhang gerissen worden: „In dem Ausschnitt ging es darum, dass Drogen- und Rauschgiftsüchtige sehr empfänglich sind für die Verlockung von terroristischen Aktivitäten.“
Mahnrede vor 700 Menschen
Seit ein paar Jahren bekämpft Kadyrow das Drogenproblem mithilfe des Glaubens: Im März 2015 legten in der Achmat-Kadyrow-Moschee 300 Menschen vor ihm Buße ab, und im Herbst 2016 hielt er im Amphitheater von Grosny eine Mahnrede vor 700 Menschen. Derartige Veranstaltungen führt auch der stellvertretende Vorsitzende des tschetschenischen Innenministeriums Apti Alaudinow durch. Und manche Drogensüchtige fängt Kadyrow fast höchstpersönlich.
Die aktuelle Anti-Drogen-Kampagne ist ähnlich umfassend: Seit mehreren Monaten schon laufen Festnahmen quer durch die Region. Den Startschuss gab ein Treffen mit der Spitze des tschetschenischen Innenministeriums am 12. August. Damals hatte Kadyrow bekanntgegeben, dass ein Einsatzstab zur Bekämpfung des Drogenproblems eingerichtet wird.
Urteile nach dem immer gleichen Muster
Republic hat sich 67 Urteile näher angesehen, die seit August 2017 von tschetschenischen Gerichten in Verbindung mit Drogendelikten gesprochen wurden und die allesamt auf dem Internet-Portal des automatisierten staatlichen Systems Prawosudije (dt.„Rechtssprechung“) öffentlich zugänglich sind. Die Urteilsverkündungen haben einiges gemeinsam. In allen Fällen hatte der Angeklagte einige Blätter von wildwachsenden Cannabispflanzen abgeschnitten und getrocknet. Die Polizei entdeckte die verbotene Substanz, als der Angeklagte sich bei einer Routinekontrolle nicht ausweisen konnte und auf die Wache gebracht wurde, wo man im Zuge einer Durchsuchung das Marihuana fand und konfiszierte. In Einzelfällen wurde der Verdächtige während eines Kontrolleinkaufs festgenommen. Absolut alle Beschuldigten waren geständig, und ihre Fälle wurden fast ausschließlich in Spezialverfahren verhandelt.
Ein Informant von Republic, der den regionalen Rechtsschutzorganen nahesteht, erklärt, dass die meisten Verhafteten gezwungen würden, Videobotschaften aufzunehmen, in denen sie zugeben, regelmäßig illegale Substanzen zu konsumieren. Wenn jemand sich weigere, vor der Kamera auszusagen, würde man ihn mit Drohungen und Gewalt dazu bringen. Die meisten dieser Fälle hätten sich Ende Oktober bis Anfang November 2017 ereignet, so der Informant.
„Die Rechtsschutzorgane haben freie Hand, weil sie wissen, dass sie einen Befehl ausführen“, betont ein anderer Gesprächspartner, der Verbindungen zu den obersten Sicherheitskreisen hat.
Betroffene holen sich nur selten Hilfe
Einen praktischen Nutzen hätten die Videogeständnisse nicht, sagt ein dritter Informant. Ihm zufolge würden die Mitarbeiter der Polizei diese Videos wahrscheinlich brauchen, um später vor ihren Vorgesetzten und vor Kadyrow selbst Rechenschaft ablegen zu können. Diese Funktion haben die Videobotschaften auch für die Vorsitzende des Zentrums für Konfliktforschung und -prävention Jekaterina Sokirjanskaja. Darüber hinaus, sagt sie, könnten die Videoaufnahmen im regionalen Fernsehen gezeigt und als Belastungsmaterial eingesetzt werden. Sokirjanskaja merkt an, dass sowohl Anti-Drogen-Kampagnen als auch Anwendung von Gewalt bei Verhören in Tschetschenien keine Seltenheit seien. Die Betroffenen würden sich jedoch nur selten an Journalisten oder Menschenrechtler wenden und die Folter thematisieren.
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Nicht nur einfache tschetschenische Bürger geraten im Zuge der Anti-Drogen-Kampagnen ins Visier der Rechtsschutzorgane. So hielt die Polizei am 9. Januar auf der Landstraße zwischen Kurtschala und Oischara bei einer Verkehrskontrolle Ojub Titijew an, den Leiter des Memorial-Büros in Grosny. Er wurde festgenommen, und das Innenministerium erklärte, in seinem Pkw sei ein Päckchen gefunden worden, dessen Inhalt „spezifisch nach Marihuana gerochen und ca. 180 Gramm gewogen“ habe. Titijew selbst sagte vor Gericht aus, die Drogen seien ihm untergeschoben worden: Dafür mussten die Polizeibeamten zusammen mit dem Menschenrechtler zur Landstraße zurückkehren, um in Anwesenheit von Zeugen das Protokoll über die Festnahme aufzunehmen. Die Mitarbeiter des Innenministeriums hätten versucht, Titijew zu einem Geständnis zu bewegen, und ihm damit gedroht, dass man andernfalls gegen seinen Sohn ein Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen bewaffneten Organisation“ einleiten würde.
Bei der Präsidentschaftswahl im März tritt Putin erneut an. Seine Wiederwahl gilt als sicher.
Am 18. Dezember 2003, gegen Ende seiner ersten Amtszeit, antwortete Putin in der jährlichen TV-Sendung Direkter Draht auf Fragen zum Thema Amtszeitverlängerung und Wiederwahl.
* 2012 wurde die Amtsperiode des Präsidenten in Russland von vier auf sechs Jahre verlängert.
** 2012 wurde Putin zum dritten Mal ins Amt des Präsidenten gewählt. Laut russischer Verfassung darf eine Person das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben. „In Folge“ war Putins dritte Amtszeit jedoch nicht, da zwischen 2008 und 2012 Dimitri Medwedew Präsident war.