Am 4. März wurden der russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia auf einer Parkbank im britischen Salisbury aufgefunden – bewusstlos. Mit lebensgefährlichen Vergiftungserscheinungen kamen sie in ein Krankenhaus. Skripal ist seit 2010 in England. Damals war er bei einem Agentenaustausch aus einem russischen Arbeitslager nach Großbritannien entlassen worden. Er soll als Offizier des Militärgeheimdienstes GRU für die Briten spioniert haben.
Skripal und seine Tochter waren nach britischen Angaben mit Nowitschok vergiftet worden – ein Nervenkampfstoff, der in der Sowjetunion entwickelt wurde. Deswegen vermutet die britische Regierung unter Theresa May die russische Regierung hinter dem Attentat und stellte ein Ultimatum, das Russland allerdings verstreichen ließ. Großbritannien kündigte daraufhin an, 23 russische Diplomaten auszuweisen. Auf Antrag der britischen Regierung hatte sich auch der UN-Sicherheitsrat mit dem Fall beschäftigt.
Russland weist alle Vorwürfe zurück und zeigt sich empört über die Anschuldigungen. Außenminister Lawrow erklärte, Russland habe kein Motiv und sprach von einer „russlandfeindlichen Kampagne“. Das Außenministerium kündigte außerdem an, mit einem Gegenschlag auf die britischen Sanktionen zu reagieren.
Steckt der Kreml hinter dem Anschlag auf Skripal? Oder sind die Vorwürfe haltlos, will man Putin kurz vor der Wahl schaden? Diese Fragen werden auch in russischen Medien kontrovers diskutiert. dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.
RIA Nowosti: Gipfel der Russophobie
Olga Burgowa unterstützt in der Nachrichtenagentur RIA Nowosti die offizielle russische Sicht der Dinge:
[bilingbox]Großbritannien möchte seine Bedeutung in der Weltpolitik unterstreichen, indem es Russland bestraft, aber es lässt sich auch hinreißen, Brücken abzubrennen und Schiffsverbindungen zu kappen. Und das schon seit 200 Jahren. Wenn nicht sogar mehr.
Die Aggressivität der antirussischen Haltung von Theresa May hat den Höhepunkt erreicht.~~~Хочется Британии подчеркнуть свое значение в мировой политике, наказав Россию, но и колется сжигать мосты и рушить переправы. И так уже 200 лет. А то и больше.
Агрессивность антироссийского настроя Терезы Мэй достигла апогея.[/bilingbox]
erschienen am 14.03.2018
Republic: Signal an Überläufer
Tatjana Stanowaja geht auf dem unabhängigen Portal Republic dagegen nicht von einer Provokation gegen Russland aus:
[bilingbox]War das eine Provokation gegen Russland oder (und wer will das beweisen?) eine Operation der russischen Nachrichtendienste, zu deren indirektem Adressaten die gesamte russische Geheimdienst-Community wird: Der Mordanschlag auf Skripal demonstriert die ausnahmslose Angreifbarkeit jeden „Spions“, der sich zur Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten entschließt. Und eine solche Demonstration von Angreifbarkeit und Todgeweihtheit von „Verrätern“ entspricht genau dem Verständnis von Gerechtigkeit innerhalb der Machtzirkel der russischen Elite, und dem von Präsident Putin selbst.~~~Была ли это провокация против России или (кто докажет?) операция российских спецслужб, косвенным адресатом становится все разведывательное сообщество России: покушение на убийство Скрипаля демонстрирует исключительную уязвимость любого «шпиона», пошедшего на сотрудничество с иностранной разведкой. И такая демонстрация уязвимости, обреченности «предателей» в полной мере отвечает пониманию справедливости внутри силовой части российской элиты, да и самим президентом Путиным. [/bilingbox]
erschienen am 14.03.2018
Novaya Gazeta: Schmutzige Bombe
Ein Leiter des Labors der Militärakademie für Strahlen-, chemischen und biologischen Schutz, der seinen Namen nicht gedruckt wissen wollte, bestätigte gegenüber der Novaya Gazeta, dass man bei der Auswahl eines Kampfstoffes wie Nowitschok offenbar auf öffentliche Wirkung abzielte:
[bilingbox]Schließlich hat der Täter eine Substanz gewählt, die für ihn selbst sehr gefährlich und in der Handhabung äußerst ungünstig ist. Die gewaltige Masse an zuverlässigen, selektiv wirkenden Giften, die der Menschheit bekannt ist, hat er dabei ignoriert.
Die seinerzeit sehr beliebten Cyanide zum Beispiel sind leicht zugänglich. Es gibt auch schnell zerfallende, farb- und geruchlose. Hier aber wurde bewusst ein, wie es heißt, barbarisches Gift ausgewählt, das von den Gutachtern garantiert entdeckt wird und einen riesigen politischen Effekt hat. Schließlich ist das, soweit ich weiß, in der Geschichte die erste Anwendung einer Massenvernichtungswaffe auf dem Gebiet Großbritanniens, einem Mitgliedsland der Nato.~~~Ведь преступник выбрал очень опасное лично для себя и самое неудобное в обращении вещество, проигнорировав огромное количество надежных ядов с избирательным действием, известных человечеству.
Можно упомянуть популярные в свое время цианиды как вполне доступные. Но есть и быстро распадающиеся, без цвета и запаха. Тут же намеренно был выбран, как говорится, варварский яд, который гарантированно будет обнаружен экспертизой и вызовет наибольший политический эффект. Ведь это, насколько я знаю, первое в истории использование оружия массового поражения на территории Великобритании, страны — члена НАТО.[/bilingbox]
erschienen am 14.03.2018
Kommersant FM: Abrechnung mit einem Verräter?
Viktor Loschak hält die britischen Anschuldigungen für wenig plausibel, wie er in seinem Kommentar auf Kommersant FM erklärt:
[bilingbox]Wenn die Machthaber, die Frau May beschuldigt, auf diese Weise mit einem Verräter abrechnen wollten, hätten sie das in den Jahren machen können, in denen [in Russland – dek] die Ermittlungen und das Verfahren gegen Skripal liefen und er schließlich im Gefängnis saß. Solch einen grausamen, weltweit laute Reaktionen hervorrufenden Schritt zu tun – wo der Verräter schon seit sechs Jahren in England ist und außerdem die Wiederwahl von Wladimir Putin bevorsteht und die Fußballweltmeisterschaft – damit wird der russischen Regierung und dem ganzen Land ein Bein gestellt.~~~Если бы власть, которую обвиняет госпожа Мэй, хотела рассчитаться таким образом с предателем, все могли сделать в те несколько лет, что шло следствие, суд, и Скрипаль, наконец, находился в тюрьме. Делать такой жестокий, чреватый мировой оглаской шаг через шесть лет после того, как предатель оказался в Англии, да к тому же накануне переизбрания Владимира Путина и чемпионата мира по футболу — это подставить подножку и российской власти, и всей стране.[/bilingbox]
erschienen am 15.03.2018
Rossijskaja Gaseta: Wahleinmischung?
Gegen den Vorsitzenden des Duma-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten Leonid Sluzki werden seit einiger Zeit Vorwürfe wegen sexueller Belästigung erhoben. Im Amtsblatt der russischen Regierung, der Rossijskaja Gaseta, schließt er nicht aus, dass der diplomatische Akt aus London …
[bilingbox][…] mit der anstehenden Präsidentschaftswahl zusammenhängt, um das Image Russlands im weltweiten medialen und politischen Raum zu beschädigen und das Vertrauen in die politische Herrschaft Russlands noch mehr auszuhöhlen.~~~ […] связан с предстоящими выборами президента, дабы деформировать образ РФ в мировом информационном и политическом пространстве и еще больше подорвать доверие к российским властям[/bilingbox]
erschienen am 14.03.2018
Vedomosti: Ruinierter Ruf
Dass die Anschuldigungen gegen Russland erhoben wurden, obwohl noch viele Fragen offen sind, verwundert die Redaktion von Vedomosti nicht:
[bilingbox]Die Beschuldigungen sind Folge von einem etablierten, aus der UdSSR geerbten Ruf: dem Ruf von Staat und Geheimdiensten, die mehrfach Überläufer und sowjetische Staatsfeinde liquidiert haben, wobei sie offiziell die Beteiligung bestritten haben.
[…] Der Anschlag auf Skripal ließ sofort an die Londoner Vergiftungsgeschichte des ehemaligen FSB-Offiziers Alexander Litwinenko im Jahr 2006 zurückdenken.
Moskau ist erneut in die Lage eines Wiederholungstäters geraten, der oft gesündigt hat, aber seine Schuld immer bestreitet.~~~
Эти обвинения – следствие уже сложившейся репутации, унаследованной от СССР, репутации государства и спецслужб, которые много раз ликвидировали перебежчиков и врагов советской власти, официально отрицая причастность к их уничтожению.
[…] Покушение на Скрипаля сразу же заставило вспомнить историю отравления в Лондоне бывшего офицера ФСБ Александра Литвиненко в 2006 г.
Москва снова оказалась в положении рецидивиста, не раз согрешившего, но всегда отрицавшего свою вину.[/bilingbox]
erschienen am 14.03.2018
dekoder-Redaktion
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