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Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf
Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.
Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.
Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.
Der Beamte entscheidet alles
1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“
Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.
Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.
Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.
Der Fisch stinkt vom Kopf her
Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.
In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.
Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.
Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.
So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?
Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.
Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.
Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle
Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.
Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.
In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.
Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.
Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.
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LGBTQ-Verbot: „Ein gigantischer Raum für Willkür“
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat am 30. November die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Menschen aus der Community sehen sich in Russland schon seit Jahren mit immer restriktiveren Gesetzen konfrontiert. Im Juni etwa wurde – angeblich zum Schutz vor ausländischer Einflussnahme – ein Gesetz beschlossen, das geschlechtsangleichende Operationen verbietet. Zuvor wurde das seit 2013 bestehende Verbot „homosexueller Propaganda“ ein weiteres Mal verschärft.
Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew erinnert auf seiner Facebook-Seite an einen Auftritt des russischen Pop-Duos Tatu vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst haben: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen. We’ve come a long way baby“.
Obwohl das Urteil offiziell erst 2024 in Kraft treten soll, gab es in Moskau bereits einen Tag nach der Verkündigung erste Razzien in Clubs und Saunen. In Sankt Petersburg hat der bekannte Szeneclub Central Station vorsorglich den Betrieb eingestellt. Welche weiteren Folgen von dem Verbot zu befürchten sind, darüber schreibt Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, in einem Kommentar auf Twitter.
Symbolbild © ITAR-TASS/imago images
Ich habe den Eindruck, dass nicht allen meinen Landsleuten klar ist, was heute passiert ist. Die Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich LGBTQ-Personen wird für noch mehr Leid und Demütigung queerer Menschen sorgen. Sie ist zudem ein fundamentaler Verstoß gegen die Rechtsgrundlagen des Staates (oder zumindest gegen das, was davon noch übrig war). Und das betrifft uns alle, sogar die Homophoben. Russland schießt sich, wie Dimitri Rogosin [an einem Schießstand 2015 – dek], selbst ins Knie.
Das Urteil beraubt die Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren
Warum auch Homophobe unter dem „Extremismus“-Urteil leiden werden? Weil es seit dem 30. November 2023 in Russland rechtens ist, Menschen dafür zu verfolgen, wer sie sind. Jetzt muss ein Mensch nicht an politischen Aktionen teilnehmen oder Mitglied einer politischen Organisation sein, um verfolgt zu werden. Wenn Homosexuelle per se zu Mitgliedern einer extremistischen Bewegung erklärt werden, kann es jederzeit auch andere Gruppen treffen. Wie das Apartheidsregime in Südafrika oder die Nürnberger „Rassengesetze“ in Nazi-Deutschland beraubt das Urteil des Obersten Gerichts Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren. Ramsan Kadyrow behauptete nach zahlreichen Fällen von Folter und Morden an queeren Menschen, in Tschetschenien gebe es keine Schwulen. Jetzt tut das Oberste Gericht das Gleiche für ganz Russland.
Wie im Fall des „Röhm-Putschs“ in Nazideutschland, hängt auch der gegenwärtige Verstoß gegen die Rechte von Millionen Menschen in Russland mit einem politischen Machtkampf zusammen: Putin droht keine Gefahr von innen, aber gerade vor den Wahlen braucht er „Geschlossenheit“ gegen die „westlichen Agenten“. Der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow schlug einmal vor, 20 Prozent der russischen Bevölkerung, die Putin nicht mögen, zu vernichten. Nun ist seine Idee gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit. Sie fangen einfach mit LGBT an.
Staatlich geförderte Hetze
Kommen wir zu konkreten Auswirkungen. Was gerade passiert, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. In einem gemäßigten Szenario werden die LGBTQ-Gegner mit Beginn des neuen Jahres, wenn das Urteil des Obersten Gerichts in Kraft tritt, wie schon bei den anderen Kampagnen gegen „Extremismus“ vorgehen: mit Bußgeldern für Symbole, Strafverfahren gegen „Anstifter“ und „böse Gesetzesbrecher“. Das hieße: Wer nicht auffällt, überlebt.
Das Problem dieses gemäßigten Szenarios ist, dass queere Menschen eine enorm große „extremistische Organisation“ sind und die staatliche Hetzkampagne gegen sie in einer homophoben Gesellschaft betrieben wird. Das bedeutet, dass das Oberste Gericht – und natürlich auch Putin, es ist ja seine Kampagne – einen gigantischen Raum für Willkür eröffnen. Menschen werden denunziert, bedroht und erpresst werden. Das alles gab es in der Geschichte der Diskriminierung queerer Menschen schon sehr oft. Der Unterschied liegt bloß darin, dass der Hass und die Hetze nun staatlich gefördert werden und in einer Gesellschaft stattfinden, die vor nicht allzu langer Zeit relativ offen war.
Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der staatlich befördert wird
Menschen, die sich nie mit der Geschichte des Kampfes von queeren Menschen für ihre Rechte befasst haben, verstehen oft nicht, wozu es Veranstaltungen wie den CSD gibt. Ihre wesentliche Funktion liegt darin, homosexuelle Menschen sichtbar zu machen, damit sie niemand damit erpressen kann „allen zu erzählen, was sie machen“. Ein offener Umgang mit sexueller Orientierung gibt in einer freien Gesellschaft Schutz gegen Gewalt und Erniedrigung.
Ich habe große Angst um die Menschen. Sie können wie in Tschetschenien zusammengeschlagen oder vergewaltigt werden, denn die Täter wissen, dass die Opfer die Straftat nicht anzeigen werden, um nicht auf die Liste der „Extremisten und Terroristen“ zu kommen. Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der de facto staatlich befördert wird.
Tausende weitere Menschen werden aus Russland fliehen – Menschen, die bis zuletzt auf Veränderungen gehofft hatten und im Land geblieben waren.
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Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“
Vor dem Weltkonzil des russischen Volkes hat Wladimir Putin am 28. November ein weiteres Mal seine Vorstellung von imperialer Größe dargelegt. Er sieht das Zarenreich und die Sowjetunion in einer Traditionslinie, die heute durch den Russki Mir fortgeführt werden soll. In diesem Imperium sind Russen, Belarussen und Ukrainer ein „dreieiniges Volk”. Seine Geschichte ist eine Geschichte von Macht und Größe, die nur dann Rückschläge erlitt, wenn seine Führer Schwäche zeigten. Unter ihm selbst sei Russland wieder zur Weltmacht geworden, dem russophoben Westen die Stirn biete. Außer durch den Westen sei Russlands Macht und Größe aber auch durch die Demographie bedroht. Deshalb sollten russische Frauen es ihren Vorfahren gleichtun und „sieben, acht oder mehr“ Kinder gebären. dekoder bringt Ausschnitte aus der Rede.
Original: kremlin.ru (vom 28. November 2023)
[bilingbox]Wir wissen, welcher Gefahr wir trotzen. Heute ist praktisch die offizielle Ideologie der westlichen Regierungseliten die Russophobie, andere Formen von Rassismus und Neonazismus.
[…]
Ich denke, dass wir uns alle erinnern und erinnern müssen an die Lektionen der Revolution von 1917, den darauffolgenden Bürgerkrieg und den Zerfall der UdSSR 1991. So viele Jahre scheinen vergangen, aber die jetzt lebenden Menschen aller Nationalitäten, sogar die im 21. Jahrhundert geborenen, zahlen bis heute, noch Jahrzehnte später, für die damaligen Fehleinschätzungen, die Nachgiebigkeit, was separatistische Illusionen und Ambitionen betraf, für die Schwäche der zentralen Regierung, für die Politik der künstlichen, gewaltsamen Teilung der großen russischen Nation, des dreieinigen Volkes von Russen, Belarussen und Ukrainern.
[…]
Der Russki Mir, die Russische Welt – das sind alle Generationen unserer Fortfahren und Nachfahren. Der Russki Mir – das ist die Alte Rus, das Moskauer Zarenreich, das russische Imperium, die Sowjetunion, es ist das moderne Russland, das seine Souveränität als Weltmacht wiedererlangt, festigt und ausweitet. Der Russki Mir vereinigt alle, die sich mit unserer Heimat geistig verbunden fühlen, die sich als Träger der russischen Sprache, Geschichte und Kultur betrachten, sogar unabhängig von ihrer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit.
[…]
Viele unserer Völker bewahren Gott sei Dank die Tradition der über Generationen hinweg stabilen Familien mit vier, fünf und mehr Kindern. Wir erinnern uns, dass in russischen Familien viele Großmütter und Urgroßmütter sieben, acht oder mehr Kinder hatten.
Lassen Sie uns diese wunderbaren Traditionen bewahren und wiederbeleben. Kinderreichtum und große Familien sollen zur Norm werden, zur Lebensweise aller Völker Russlands.~~~Мы знаем, какой угрозе противостоим. Сегодня практически официальной идеологией западных правящих элит стали русофобия, другие формы расизма и неонацизма.
[…]
Думаю, что мы все помним, нужно помнить уроки революции 1917 года и последовавшей затем Гражданской войны, распада СССР в 1991-м. Казалось бы, столько лет прошло, но живущие сейчас люди всех национальностей, даже родившиеся уже в XXI веке, до сих пор, даже спустя десятилетия, расплачиваются за допущенные тогда просчёты, за потакание сепаратистским иллюзиям и амбициям, за слабость центральной власти, за политику искусственного, насильственного разделения большой русской нации, триединого народа – русских, белорусов и украинцев.
[…]
Русский мир – это все поколения наших предков и наши потомки, которые будут жить после нас. Русский мир – это Древняя Русь, Московское царство, Российская империя, Советский Союз, это современная Россия, которая возвращает, укрепляет и умножает свой суверенитет как мировая держава. Русский мир объединяет всех, кто чувствует духовную связь с нашей Родиной, кто считает себя носителем русского языка, истории, культуры независимо даже от национальной или религиозной принадлежности.
[…]
У многих наших народов, слава богу, сохраняется традиция крепкой, многопоколенной семьи, где воспитываются четверо, пятеро и больше детей. Вспомним, что и в русских семьях, у многих наших бабушек, прабабушек детей было и по семь, и по восемь человек, и того больше.
Давайте эти замечательные традиции сберегать и возрождать. Многодетность, большая семья должны стать нормой, образом жизни для всех народов России.[/bilingbox]
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Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert
Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.
„Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk“, so Shraibman / Foto © Sven Simon/IMAGO
Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.
Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.
Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine
Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.
Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.
Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?
Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten
Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen.
Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs.
Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten?
Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird.
All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein.
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Wegbereiter der Unabhängigkeit
Im Laufe des Jahres 2023 haben die belarussischen Machthaber alle oppositionellen Parteien liquidiert. Es ist Teil der Radikalisierung des politischen Systems von Alexander Lukaschenko, das sich mit der Niederschlagung der Proteste von 2020 zusehends in Richtung Totalitarismus entwickelt, manche sagen, sich sowjetischen Zuständen annähert.
Auch die Partyja BNF wurde im August verboten; die national-konservative Partei hat in Belarus Geschichte geschrieben. Hervorgegangen aus der Belarussischen Volksfront, die in der zweiten Hälfte der 1980er entstand, wurde die BNF zu einem wichtigen Akteur im Übergang von Belarus in die Unabhängigkeit, wie auch BNF-Mitgründer Yury Drakakhrust in seiner Analyse für dekoder schreibt.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo erzählt die Geschichte ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs, die auch eine Geschichte darüber ist, wie der einst demokratisch gewählte Lukaschenko in den 1990er Jahren sein autoritäres Machtsystem etablieren konnte.
Die Gründungsversammlung der Belarussischen Volksfront „Wiedergeburt“ (Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, BNF), die damals formal noch keine Partei, sondern eine Bewegung war, fand am 24. und 25. Juni 1989 in Vilnius statt, da die Minsker Behörden eine Durchführung in der Hauptstadt der BSSR nicht genehmigt hatten. Die Entstehung der BNF hatte bereits früher begonnen, begünstigt durch eine Reihe von Ereignissen.
Vier Jahre zuvor war Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen und hatte die Perestroika begonnen. Dies bedeutete unter anderem eine gewisse Liberalisierung des Lebens in der Sowjetunion und eine Politik der Glasnost mit einer größeren Medienfreiheit. Davon machte der Kunstwissenschaftler und Archäologe Sjanon Pasnjak Gebrauch: Am 3. Juni 1988 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Ingenieur Jauhen Schmyhaljou (russ. Jewgeni Schmygaljow) in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) den Artikel Kurapaty – Weg des Todes.
Der Text berichtete von den Massenerschießungen, die während der Stalin-Zeit im Wald von Kurapaty am heutigen Stadtrand von Minsk stattgefunden hatten. Alexander Feduta schreibt in seinem Buch Lukaschenko. Eine politische Biografie aphoristisch, damals [Ende der 1980er] sei Belarus aufgewacht. Geweckt hätten es Ales Adamowitsch mit der Wahrheit über Tschernobyl und Sjanon Pasnjak mit der Wahrheit über Kurapaty.
Die Veröffentlichung des Artikels erregte bald Aufmerksamkeit über die Grenzen der Republik hinaus, er wurde in zentralen sowjetischen und ausländischen Medien abgedruckt. Die Behörden kamen daher nicht umhin, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. An den archäologischen Grabungen nahm Pasnjak selbst teil. Die Ermittlungen ergaben, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden, und zwar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Die BNF konnte sich auf Vorbilder stützen, die es damals bereits in den baltischen Ländern gab. Diese „Volksfronten“ waren keine Parteien, sondern möglichst breit aufgestellte Bewegungen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, aber ähnlichen Zielen versammelten. Auch die Belarussische Volksfront begann als solche Bewegung.
So lässt sich teilweise erklären, warum in unserem Land seitdem jegliche Regierungskritiker häufig unter dem Begriff „BNFler“ zusammengefasst werden. Andere oppositionelle Bewegungen gab es damals nicht, daher unterstützte der überwiegende Teil der demokratisch eingestellten Belarussen die BNF. Einen entscheidenden Einfluss hatte auch die Propaganda im belarussischen Fernsehen und in der staatlichen Presse seit Anbruch der Lukaschenko-Ära. Erstens verteufelte diese gerade die BNF stärker als alles andere. Zweitens sollten unter den neuen Bedingungen andere politische Parteien daran gehindert werden, sich zu entwickeln und zur Regierungsmacht aufzuschließen. Dadurch wurde im Bewusstsein der Massen die BNF zur wichtigsten Oppositionsbewegung.
Kehren wir zurück in die letzten Jahre der Sowjetunion. Im Februar 1989 versammelte die BNF im Minsker Dynamo-Stadion 40.000 Menschen. Das war die erste behördlich genehmigte oppositionelle Massenveranstaltung in Belarus. Dass die Menschen, wie das Portal Tut.by schrieb, neben weiß-rot-weißen Flaggen auch Flaggen der BSSR, der UdSSR sowie russische und litauische Fahnen trugen.
Wie bereits erwähnt, hatten die belarussischen Behörden die Gründungsversammlung der BNF in Minsk verboten, und die Delegierten mussten nach Vilnius ausweichen. Erwartungsgemäß wurde Pasnjak zum Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend erhielt die Organisation den Namenszusatz Für die Perestroika, der erst zwei Jahre später abgelegt wurde. Das Programm enthielt auch Verweise auf kommunistische Grundsätze. Konkret hieß es darin, die BNF „tritt ein für den Umbau der Gesellschaft gemäß den Prinzipien von Demokratie, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit, für die Errichtung eines Rechtsstaates, für die Wiedergeburt der leninistischen Grundsätze der Politik der Völker, für die tatsächliche Souveränität von Belarus, wie in der Verfassung der BSSR verankert“.
1990 sollten die ersten alternativen Wahlen zum Obersten Sowjet stattfinden, dem Parlament der BSSR. Am 25. Februar organisierte die BNF vor dem Haus der Regierung eine riesige Wahlkundgebung. Sjarhej Nawumtschyk nennt in seinem Buch die Teilnehmerzahl von 100.000: „Zum ersten Mal sah Minsk eine solche Massenversammlung, zum ersten Mal fand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen BNF und der (Führung der) Kommunistischen Partei von Belarus [KPB – dek] statt, genauer gesagt, zwischen dem Vorsitzenden der BNF, Sjanon Pasnjak, und dem Generalsekretär des ZK [Zentralkomitee – dek] der KPB, Jefrem Sokolow. Letzterer begann seinen Auftritt begleitet von Zurufen ,Nimm deine Mütze ab! Du sprichst vor dem Volk!‘, und beendete ihn vor einer Menge, die ,Tritt ab!‘ skandierte.“ Nach der Kundgebung zogen die Menschen zum Gebäude des Staatsfernsehens und forderten Sendezeit für die BNF-Führung. Infolgedessen konnte Pasnjak im Fernsehen auftreten und die Front wurde zu einer Kraft, mit der die Machthaber immer stärker rechnen mussten.
Die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet fanden wenige Wochen später statt, am 4. März. Für die noch ganz junge Bewegung wurden sie ein Erfolg – die BNF konnte 30 Abgeordnete in das gesetzgebende Organ entsenden. Insgesamt gab es 360 Abgeordnete, sodass die Front weniger als zehn Prozent des Gremiums ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der Sitze im Ovalen Saal nahm immer noch die kommunistische Nomenklatura ein, die Reformen blockierte. Vergleicht man das Ergebnis mit den Parlamentswahlen anderer Sowjetrepubliken im selben Jahr, so schnitten die demokratischen Bewegungen dort häufig viel besser ab: In Georgien waren es etwa 70 Prozent, in Litauen 67 Prozent, in Lettland 65 Prozent und in der Ukraine 22 Prozent. Doch auch mit ihren geringen Ressourcen gelang es der BNF, Bahnbrechendes für unser Land zu erreichen.
Die Erklärung der Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahlen
Schon bald nach den Wahlen 1990 erarbeitete die Belarussische Volksfront den Gesetzesentwurf Unabhängigkeitserklärung der BSSR, der Vorrang der belarussischen Gesetzgebung vor der sowjetischen gebot, doch das Dokument fand vorerst keine Unterstützung. Das änderte sich, als im Juni 1990 Russland seine Unabhängigkeit erklärte. Damals stand Boris Jelzin, Gorbatschows stärkster Konkurrent, dem Obersten Sowjet der RSFSR vor. Um ihm das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bedeutung des Dokuments zu schmälern, beschloss man in Moskau, gleichlautende Deklarationen in allen Sowjetrepubliken zu verabschieden.
Nun machte sich die Vorarbeit der BNF bezahlt. Der damalige BNF-Abgeordnete Valentin Golubew erinnert sich: „Auf Bitte von Sjanon Pasnjak schrieb ich in einer Nacht den ersten Entwurf der Präambel (der Deklaration), wir diskutierten ihn im berühmten Raum 306 der Opposition und verteilten ihn an die Abgeordneten. Dann wurde der damalige Parlamentspräsident, Mikalaj Dsemjanzej (russ. Nikolaj Dementej) nach Moskau zu Gorbatschow bestellt. Als er zurückkam, erzählte er lebhaft: Wie gut, dass ich dieses Projekt mithatte, er [Gorbatschow – dek] sagte, in Belarus geht es wohl auch voran!“
Am 18. Juni, sechs Tage nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung der RSFSR, wurde eine parlamentarische Kommission gegründet, um einen analogen Entwurf für Belarus vorzubereiten, der schließlich bei der Sitzung am 27. Juli 1990 angenommen wurde. Ohne die Vorbereitung der BNF hätte es dieses Dokument nicht gegeben, und bei der Formulierung der finalen Fassung wurden die Einwände der Front berücksichtigt.
Im März 1991 gab die BNF auf dem Zweiten Parteitag ein neues Programm bekannt. Darin wurde nun ganz offen das wichtigste Ziel der Bewegung formuliert: durch die Umsetzung der Souveränitätserklärung die vollständige Unabhängigkeit von Belarus zu erreichen. Zudem plante die Organisation den Aufbau einer belarussischen Armee, die Einführung der belarussischen Staatsbürgerschaft und die Durchführung eines Allbelarussischen Gründungskongresses, der das zukünftige Staatssystem festlegen sollte. Ein weiteres Ziel der BNF war die Einführung des Privateigentums. Damals erschienen diese Ziele fantastisch. Doch schon im April 1991 wurde in Belarus massenhaft gestreikt. Die Arbeiter (unter den Mitgliedern der Streikkomitees waren auch Vertreter der BNF) forderten Lohnerhöhungen. Später kamen auch politische Forderungen hinzu: Rückzug der Vertreter der KPdSU aus den Betrieben, Auflösung des kommunistischen Obersten Sowjets, neue Parlamentswahlen, Nationalisierung des kommunistischen Eigentums, keine Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags, und andere.
Zu diesem Zeitpunkt verlief der Streik ergebnislos. Doch die Erinnerung daran beeinflusste vielleicht die Vorgangsweise der prokommunistischen Mehrheit im Parlament im August 1991, als zwischen den Mitgliedsstaaten der Sowjetunion ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte. Michail Gorbatschows Idee war ein neuer Staatenbund anstelle der alten UdSSR, wenngleich mit derselben Abkürzung: die Union der Souveränen Sowjetrepubliken. Der sowjetische Geheimdienst und eine Reihe hoher Parteifunktionäre verstanden den neuen Vertrag als einen Schritt Richtung Zerfall des Landes und versuchten am 19. August, einen Staatsstreich zu verüben. In Minsk gingen nur Wenige gegen das von den Putschisten proklamierte Staatskomitee für den Ausnahmezustand auf die Straße, darunter die BNF. Die Volksfront, aber auch Vertreter anderer politischer Parteien, nannten den Putsch umgehend „einen Versuch der Machtergreifung“, das Staatskomitee eine „Junta“. Die kommunistische Mehrheit im belarussischen Parlament nahm eine Wartehaltung ein. Erst am 22. August, als die Niederschlagung des Putsches in Moskau offensichtlich war, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets, eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.
In kürzester Zeit erarbeitete eine Gruppe von Abgeordneten der BNF ein Gesetzespaket und stellte es bei der Sitzung am 24. August vor. Die folgenden Tage wurden zum Triumph für die Front und für Sjanon Pasnjak persönlich. Ihr Nachdruck und eine wohlgewählte Taktik (zum Beispiel jagten sie den letzten Vorsitzenden der KP der BSSR, den allmächtigen Anatoli Malofejew, von der Tribüne, ein Schock für die Nomenklatura) trugen Früchte. Am 25. August erlangte die ein Jahr zuvor beschlossene Souveränität der BSSR den Status eines Verfassungsgesetzes, und Belarus wurde de jure unabhängig.
In den 20 Tagen bis zur nächsten Sitzung erarbeitete die BNF-Fraktion noch 31 weitere Gesetzesentwürfe, unter anderem zur Staatsbürgerschaft, zum Aufbau einer Armee, zu Grenzschutz, Zoll, Militärgerichtsbarkeit, zur Anerkennung von privatem Grundbesitz und zur Aufhebung des Unionsvertrags von 1922. Alle diese Punkte (mit Ausnahme des privaten Grundbesitzes) konnten später umgesetzt werden. In dieser Septembersitzung wurden auch das Wappen Pahonja und die weiß-rot-weiße Flagge zu den offiziellen Staatssymbolen. Der Demokrat Stanislau Schuschkewitsch wurde zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Dezember 1991 unterzeichnete er die Belowesher Verträge, die das Ende der UdSSR besiegelten und nach deren Ratifizierung Belarus auch de facto unabhängig war.
Das verweigerte Referendum und die ersten Präsidentschaftswahlen
Die BNF hatte ihr wichtigstes Ziel, das sie kaum ein Jahr zuvor formuliert hatte, erreicht: Belarus war ein unabhängiger Staat geworden. Doch in diese neue Epoche trat das Land mit der alten Nomenklatura im Obersten Sowjet, die keine politischen und wirtschaftlichen Reformen wollte. In Fragen der Bildung und Kultur mischte sie sich weniger ein, weshalb in diesen Bereichen die größten Erfolge verzeichnet werden konnten. In der BNF hatte man die berechtigte Vermutung, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht dem tatsächlichen politischen Meinungsbild und den Wählersympathien entsprach. Letztlich war es noch zu Sowjetzeiten gewählt worden, unter maßgeblichem Druck des kommunistischen Systems. Daher initiierte die Front unter der Führung von Pasnjak ein Referendum über vorgezogene Wahlen zum Obersten Sowjet. Um diese Initiative durchzubringen, mussten mindestens 350.000 Unterschriften gesammelt werden. Die BNF übertraf diese Vorgabe und reichte im April 1992 sogar 442.000 Unterschriften im Zentralen Wahlkomitee ein, von denen die Mehrzahl als gültig anerkannt wurde.
Dem Gesetz nach war das Parlament nun verpflichtet, ein Datum für das Referendum festzusetzen. Die Belarussen sollten gefragt werden, ob sie einer vorzeitigen Auflösung des aktuellen Parlaments und Parlamentswahlen nach neuem Gesetz zustimmen. Vorgezogene Wahlen hätten 1992 die Chance eröffnet, die Geschichte zu verändern, Reformen und einen demokratischen Wandel einzuleiten. Doch vermutlich fürchtete die Mehrheit der Abgeordneten, im Fall einer Neuwahl ihr Mandat und damit viele Privilegien zu verlieren, die den Volksvertretern zustanden. Daher widersetzten sich die Parlamentarier dem Gesetz und führten kein Referendum durch. Rückwirkend betrachtet ist dieses verweigerte Referendum einer der Points of no Return: Ab diesem Moment fuhr die Lokomotive der belarussischen Geschichte in Richtung Präsidialsystem, und dann weiter bis zu Lukaschenkos Diktatur.
Die Verweigerung des Referendums war ein Rückschlag für die BNF. Doch sie trug keine Schuld daran – es waren ihre politischen Gegner, die gesetzeswidrig gehandelt hatten. Im Folgejahr 1993 registrierte die BNF endlich eine Partei unter gleichem Namen. Ihr Vorsitzender – und auch der Vorsitzende der Bewegung Belarussische Volksfront „Wiedergeburt“ – blieb Sjanon Pasnjak.Allmählich trat in Politik und Gesellschaft eine neue Frage in den Fokus: Welches System soll die Republik in Zukunft haben – ein parlamentarisches oder ein präsidiales? Die Ausarbeitung der belarussischen Verfassung dauerte bereits seit Sommer 1990 an. Die Opposition um die BNF sprach sich für die erste Variante aus. „Die Front begründete ihre Position damit, dass sich ein Präsidialsystem unter den Bedingungen fehlender demokratischer Traditionen, eines kaum entwickelten Parteiensystems und eines der Exekutive unterstellten Parlaments durch die Machtkonzentration unausweichlich zu einer Diktatur entwickeln würde“, schreibt Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Vierundneunzig [Dsewjanosta tschazwerty].
Die parlamentarische Mehrheit, die auf der Seite der Regierung stand, unterstützte das präsidiale System und sah an der Staatsspitze den damaligen Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, einen ehemaligen Kommunisten und sogenannten „roten Direktor“. Die Verfassung wurde eigentlich ihm auf den Leib geschrieben, und er konnte letztendlich – wiederum gesetzeswidrig – die ihm passende Version durchdrücken. Nachdem er die Einführung des Präsidentenamts nicht hatte verhindern können, sah sich Pasnjak gezwungen, selbst um diesen Posten zu kämpfen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen standen sechs Namen auf den Wahlzetteln, doch reale Chancen auf einen Sieg hatten nur vier Personen: Kebitsch, Schuschkewitsch, Lukaschenko und Pasnjak.
Die beiden Ersteren wurden im Volk als Vertreter der Regierung wahrgenommen. Mit ihnen verband man die Folgen der Wirtschaftskrise und den rapiden Niedergang des Lebensstandards in den letzten Jahren. Lukaschenko und Pasnjak hatten keine Funktionen inne und konnten deshalb die Staatsmacht kritisieren. Doch die Ideen der nationalen Wiedergeburt und der Marktwirtschaft, für die der Vorsitzende der BNF eintrat, fanden bei den Wählern keine Zustimmung. Lukaschenko dagegen appellierte an das sowjetische Erbe, was in der Bevölkerung Unterstützung fand. Dem offiziellen Endergebnis des ersten Wahlgangs zufolge hatte Lukaschenko etwa 45 Prozent erreicht und ging damit gemeinsam mit Kebitsch (17,3 Prozent) in die zweite Runde, die er dann auch gewann. Den dritten Platz holte Pasnjak ein, für den 12,8 Prozent der Wähler gestimmt hatten, mehr als 757.000 Menschen.
Der Hungerstreik, der „Minsker Frühling“ und Pasnjaks Emigration
Die Präsidentschaftswahlen – die einzigen in der Geschichte des Landes, an deren Ergebnis kein ernsthafter Zweifel besteht – hatten die Popularität der BNF in einem maßgeblichen Teil der belarussischen Bevölkerung gezeigt. Von einer Mehrheit konnte man zwar noch nicht reden, in jedem anderen demokratischen Land hätte eine solche Partei jedoch eine wichtige Fraktion im Parlament gebildet und damit Chancen gehabt, den Kurs der Regierung zu beeinflussen und die eigene Wählerschaft auszubauen.
Alexander Lukaschenko begann jedoch gleich nach der Wahl, sein persönliches Machtsystem zu implementieren, wie zum Beispiel eine Geschichte um den BNF-Abgeordneten Sergej Antontschik zeigte. Im Dezember 1994 präsentierte dieser vor dem Parlament einen Bericht über Korruption in Lukaschenkos Umfeld. Ein Jahr zuvor hatte der zukünftige Präsident dieses Thema von derselben Tribüne aus auf die Agenda gebracht. Lukaschenkos Vortrag war in der Presse abgedruckt und im Radio ausgestrahlt worden, er wurde sein Sprungbrett zur Macht. Antontschiks Rede aber wurde nicht im Radio gesendet und auch die Veröffentlichung in der Zeitung wurde verboten. Die führenden Tageszeitungen des Landes, darunter Sowjetskaja Belorussija (SB) und Narodnaja Gaseta (NG), erschienen zum Ausdruck des Protests mit weißen Flächen auf der Titelseite. Daraufhin setzte Lukaschenko den Chefredakteur der SB, Igor Ossinski, ab (später den Chef der NG, Iossif Sereditsch) und begann damit, die Presse unter Druck zu setzen. Am Ende hatte Antontschiks Rede keinerlei Folgen für Lukaschenko. Die wichtigsten Informationskanäle der Bevölkerung waren blockiert worden.
Dass es diese Rede überhaupt gab, zeigt deutlich, dass die BNF zu diesem Zeitpunkt Lukaschenkos wichtigste Gegnerin war. Das war dem Politiker auch bewusst, und er wollte sich offenbar rächen. In der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge der BNF der Status der belarussischen Sprache als einzige Amtssprache (der noch 1990 vom kommunistischen Obersten Sowjet beschlossen worden war) und die Einführung der historischen Staatssymbole, des historischen Wappens Pahonja und der weiß-rot-weißen Flagge (diese Änderung wurde 1991 erreicht). Daher setzte Lukaschenko ein Referendum an, in dem die Bevölkerung über eine Änderung der Staatssymbolik und die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen sollte. Das Gesetz über Volksbefragungen von 1991 verbot es, Fragen zu stellen, „die das unverbrüchliche Recht des belarussischen Volkes auf eine souveräne nationale Staatlichkeit und die staatliche Garantie der belarussischen nationalen Kultur und Sprache beeinträchtigen“, daher war dieses Referendum gesetzeswidrig. Doch das kümmerte Lukaschenko nicht.
Die parlamentarische Abstimmung über die Aufnahme der einzelnen Fragen ins Referendum war für den 11. April 1995 angesetzt. Die Opposition trat zum Zeichen des Protests gegen den Verfassungsbruch in den Hungerstreik, an dem insgesamt 19 Abgeordnete der BNF, angeführt von Sjanon Pasnjak, und der Belarussischen sozialdemokratischen Partei Hramada unter Führung von Aleh Trussau teilnahmen. Trussau hatte 1988 auch dem Gründungskomitee der Front angehört.
„Jahre später sprachen wir über diese Situation mit den anderen Abgeordneten der BNF-Fraktion und kamen überein, dass wir alle bereit waren zu sterben“, erinnert sich Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Fünfundneunzig [Dsewjanosta pjaty]. „Wenn ein Mensch bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn er sein Lebensende vor Augen hat, dann merkt man ihm das wohl an. Jedenfalls fällt es mir schwer, das, was danach geschah, irgendwie rational zu erklären. Wir saßen den anderen Abgeordneten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir schauten ihnen in die Augen und sie uns.“ Die schockierten Abgeordneten, die bis vor Kurzem Lukaschenko noch uneingeschränkt unterstützt hatten, stimmten nun ganz anders ab, als der Präsident es erwartet hatte. Sie akzeptierten lediglich die Frage über eine Integration mit Russland im Referendum .
Die 19 Abgeordneten blieben auch nach Sitzungsende im Parlamentsgebäude. Nachts kamen der OMON und der Sicherheitsdienst des Präsidenten in den Sitzungssaal, einige hundert Mann. Sie trieben die Hungerstreikenden gewaltsam aus dem Gebäude. Die Abgeordneten wurden brutal geschlagen und dann auf dem heutigen Prospekt der Unabhängigkeit aus den Polizeiwagen geworfen. Noch in der Nacht dokumentierten die Abgeordneten die Misshandlungen und zeigten sie bei der Staatsanwaltschaft an. Das Eindringen von Geheimdiensttruppen ins Parlament hätte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten gereicht, doch die vom brutalen Vorgehen der Silowiki eingeschüchterten Abgeordneten verurteilten den Angriff auf ihre Kollegen nicht einmal, sondern beschlossen nun, alle von Lukaschenko eingebrachten Fragen zum Referendum zuzulassen.
Am 14. Mai 1995 fand nicht nur das Referendum statt, sondern auch der erste Wahlgang für das neue Parlament. Es gibt Gründe, die Ergebnisse dieser Wahl als gefälscht zu bezeichnen. Aus Auftritten der Oppositionskandidaten im Fernsehen sowie aus Flugblättern waren Kritik am Referendum und der Regierung gestrichen worden. Doch vor allem passierte etwas höchst Erstaunliches. Alexander Feduta schreibt im bereits erwähnten Buch: „Die Beteiligung am Referendum entsprach wundersamerweise der Nichtbeteiligung an der Parlamentswahl, obwohl dieselben Menschen wahlberechtigt waren. In 141 von 260 Wahlbezirken konnte aufgrund zu niedriger Wahlbeteiligung (weniger als 50 Prozent) kein Abgeordneter gewinnen, gleichzeitig war die Beteiligung am Referendum aber ausreichend für dessen Gültigkeit.“
Damals sah das Wahlrecht vor, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis ihre Stimme abgeben mussten, damit das Ergebnis gültig war. In vielen Fällen fehlten den Oppositionskandidaten nur wenige Dutzend Stimmen. Ein Abgeordneter der BNF, Valentin Golubew, erreichte zum Beispiel 58 Prozent der Stimmen, doch die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis betrug angeblich nur 49,9 Prozent (und das war kein Einzelfall).Im Ergebnis wurde kein einziger Abgeordneter der Volksfront in das neue Parlament gewählt. Die neuen Parlamentarier waren zur Kooperation mit Lukaschenko bereit. Dieser setzte nun, ohne Widerstand aus den Eliten zu begegnen, auf die Integration mit Russland. Der russische Präsident Boris Jelzin war krank, und die Chance, die Herrschaft im Kreml zu übernehmen, sah für Lukaschenko greifbar nahe aus.
Die Gerüchte über die Unterzeichnung eines Unionsvertrags und den drohenden Verlust der Unabhängigkeit brachten tausende junge Menschen auf die Straßen, die früher nicht an politischen Aktionen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kundgebungen im Jahr 1996 ging als „Minsker Frühling“ in die Geschichte ein. Organisiert wurden sie von der BNF.
Bei der Demonstration gegen die Unterzeichnung des Unionsvertrags zwischen Belarus und Russland gingen am 24. März zwischen 15.000 und 30.000 Menschen auf die Straße. Die Nachricht über die Proteste ging weltweit durch die Medien. Am 26. März teilte Boris Jelzins Sprecher Sergej Medwedew mit, es gehe nicht darum, „einen neuen Staat zu schaffen“, was dann der am 2. April in Moskau unterzeichnete „Vertrag über die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Belarus und Russland“ abbildete. Am selben Tag fand in Minsk eine neuerliche Aktion mit etwa 30.000 Teilnehmenden statt, diesmal ohne Auflösung und Festnahmen. Am 26. April nahmen bereits etwa 50.000 Menschen am Tschernobyl-Gedenkmarsch teil, der brutal aufgelöst wurde.2011 schrieb der Journalist Andrej Dynko rückblickend in Nasha Niva: „Den Demonstranten in Minsk war es gelungen, die Unionsverträge mit Russland zu stoppen und die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr eines Anschlusses aufmerksam zu machen. Es war Zeit gewonnen und die Initiative gekapert worden. […] Hätten sie einen Monat mehr zur Verfügung gehabt, hätte die Bevölkerung geschwiegen, Belarus hätte zu einem Tatarstan (einer Republik innerhalb der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) werden können.“
Die Erfolge des „Minsker Frühlings“ hatten einen hohen Preis: Sjanon Pasnjak und sein Mitstreiter Sjarhej Nawumtschyk mussten das Land verlassen, da ihr Leben bedroht war. Sie erhielten Asyl in den USA. Die Situation in Belarus geriet augenblicklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit führender amerikanischer Medien. Das führte dazu, dass die USA und die Europäische Union die Ergebnisse des Referendums von 1996 nicht anerkannten. Doch die Zukunft der Front sollte sich dadurch massiv verändern.Alternative Wahlen und die Spaltung der BNF
Zum direkten Grund für die Spaltung der BNF wurden die alternativen Wahlen. Alexander Lukaschenkos erste fünfjährige Legislatur endete laut Verfassung im Jahr 1999. Doch mit der Verfassungsnovelle von 1996 wurde festgelegt, die Legislaturperiode ab diesem Zeitpunkt neu zu beginnen.
Diesen Umstand wollte ein Teil der Opposition für sich nutzen. Viktor Gontschar, vormals ein Mitstreiter Lukaschenkos, später sein Gegner, schlug vor, 1999 alternative Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Da er 1996 unrechtmäßig als Leiter des Zentralen Wahlkomitees abgesetzt worden war, hatte er formal das Recht, einen solchen Wahlprozess zu organisieren. Mit dutzenden Politikern wurden Gespräche geführt, doch nur zwei Personen wollten bei einer solchen Wahl kandidieren: Der ehemalige Premierminister Michail Tschigir, der seit seinem Rücktritt 1996 in Moskau arbeitete, und Sjanon Pasnjak.
Einen Tag, nachdem seine Kandidatur „registriert“ wurde, wurde Tschigir festgenommen und des Amtsmissbrauchs, der Amtsanmaßung und der Fahrlässigkeit beschuldigt. Kurz nach Beginn des Wahlkampfs zog auch Pasnjak seine Kandidatur zurück und warf den Organisatoren Provokation vor. Damit verloren die Wahlen ihren Sinn: Es gab nur noch einen einzigen Kandidaten, der zudem im Gefängnis saß. Das ganze Vorhaben war zu einer politischen Mobilisierungsaktion der Opposition geworden, die einen widersprüchlichen Eindruck hinterließ. Unter anderem auch bei den Aktivisten der BNF.Tatsächlich schwelten innerhalb der BNF schon lange vorher Konflikte. Es gab keine Einigkeit bezüglich der Parteistrategie. Pasnjak und seine Gleichgesinnten hielten an der ursprünglichen Linie fest, die in den 1990er Jahren verfolgt worden war: Sie nahmen die Front als führende und eigenständige politische Kraft wahr, an die die anderen Parteien sich „anpassen“ sollten. Ihre Opponenten wiederum waren bereit, sich mit anderen oppositionellen Kräften abzusprechen und für einen Sieg der Demokratie Kompromisse einzugehen.
Bereits früher hatten Pasnjaks Mitstreiter ihm Autoritarismus vorgeworfen. „Im Mai [1999] teilte ich dem Rat mit, dass beim Parteitag alle meine Stellvertreter neu gewählt werden würden, dass es diesen Diskussionsklub, wie ich ihn nannte, so nicht mehr geben sollte. Danach begann die Meuterei auf dem Schiff“, räumte Pasnjak ein. Wir ergänzen hier, dass er zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Partei schon seit drei Jahren aus der Emigration geführt hatte, per Fax und Telefon.Pasnjaks Opponenten stellten als Gegenkandidaten den 38-jährigen Philologen Winzuk Wjatschorka auf, Gründungsmitglied der Bewegung und ebenso Teil des Gründungskomitees der Partei (sein Sohn Franak Wjatschorka ist heute Berater von Swetlana Tichanowskaja). Weder er noch Pasnjak konnten eine Mehrheit erlangen. In der Folge organisierten Pasnjaks Anhänger einen eigenen Parteitag, wählten den Politiker zum Vorsitzenden und benannten die Partei um in Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF). Die Gegner erkannten diese Entscheidungen nicht an, trafen sich ebenfalls und wählten Wjatschorka zum Vorsitzenden, der damit die Partei BNF anführte.
Nach der Spaltung schlugen die Parteien verschiedene Richtungen ein, die sich nie mehr überschneiden sollten. Wjatschorkas BNF setzte auf einen Kurs der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die KChP-BNF trat für den Boykott jeglicher Wahlen ein. In den zwei Jahrzehnten nach der Spaltung gab es nicht den Funken einer Chance auf eine Wiedervereinigung. In jedem Fall aber ist die BNF in die Geschichte eingegangen, als Organisation, die das Schicksal des Landes für immer verändert hat, indem sie die Unabhängigkeitserklärung von Belarus herbeiführte und als Erste den Kampf gegen Alexander Lukaschenko aufnahm, für die Freiheit.
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Auf der Schattenseite der Geschichte
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Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus
Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund.
Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte.
Wer spricht in Belarus Belarussisch?
Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent.
Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus
Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak.
Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken.
Yury Drakakhrust (links mit Megaphon) und BNF-Boss Sjanon Pasnjak bei einer Kundgebung in Minsk im Februar 1990 / Foto © privat
Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte
Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint.
Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben.
Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür.
Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte.Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?
Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus.
Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte.
So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen.„Der belarussische Nationalismus spricht Russisch“
Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern.
Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.„Nation als Schicksalsgemeinschaft“
Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998.
Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt.
Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes.
So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront.Weitere Themen
Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991
Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?
Unter dem Einfluss der russischen Welt
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Ist Russland totalitär?
Als der Begriff „Putler“ in den 2000er Jahren im russischsprachigen Internet aufkam, klang es vielen wie ein Kalauer. Mit der Zeit häuften sich die Hitlervergleiche, auch mit Stalin wurde Putin immer wieder verglichen. Heute ist es gewissermaßen normal, das System Putin als faschistisch und/oder stalinistisch zu bezeichnen. Was sind die Gemeinsamkeiten dieser drei Diktaturen? dekoder hat mit dem Historiker Matthäus Wehowski gesprochen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung.
Das System Putin wird heute häufig als faschistisch oder stalinistisch bezeichnet / Foto © Mikhail Metzel/ZUMA Wire/imago-images
dekoder: Was ist Totalitarismus und worin unterscheidet er sich vom Autoritarismus?
Matthäus Wehowski: Es gibt verschiedene Definitionen von Totalitarismus. Ganz grob gesagt, sind das Staatswesen, die auf Massenmobilisierung setzen und dazu alles anhand einer bestimmten Ideologie ausrichten. Die Ideologie durchdringt hier alles, jedes einzelne Leben. Manche Forscher beschreiben Ideologien als politische Religionen: Sie haben einen Ausschließlichkeitsanspruch, die Deutung ist quasi monopolisiert. Eine Ideologie ist weitgehend widerspruchsfrei, ihre einzelnen Komponenten können aufeinander bezogen werden. In der Theorie hat sie also ein Mindestmaß an Konsistenz und Kohärenz.
Als „Klassiker“ des totalitären Staates gelten das sogenannte Dritte Reich und die Sowjetunion unter Stalin. Im „Dritten Reich“ war die Ideologie des Nationalsozialismus auf ausnahmslos alle Sphären von Politik und Gesellschaft ausgerichtet. Ob etwa eine Person „Wert“ hatte oder nicht – im Dritten Reich hat man das anhand der Abstammung, von „Blut und Volk“ und dieser ganzen sozialdarwinistischen Ideen definiert. Im Stalinismus gab es eine besondere Färbung des Marxismus-Leninismus und der sogenannten Diktatur des Proletariats. Der „Wert“ einer Person wurde daran gemessen, inwieweit er im Sinne der Staatspartei in diese Ideologie hineinpasst oder nicht. Ob das eine kohärente Ideologie gewesen ist, ist in der Wissenschaft in vielen Punkten umstritten. Wichtig ist aber unter anderem, dass sie allgegenwärtig war: Die Gesellschaft war mobilisiert, es gab ständig Paraden und Indoktrination, die Ideologie war überall, alles wurde durch das Prisma der Ideologie gesehen, ohne Ausnahmen und Nischen. Dies ist wohl auch der Unterschied zum Autoritarismus: Beides sind diktatorische Herrschaftsformen, im Autoritarismus gibt es aber noch ein Mindestmaß an Pluralismus – dieser ist zwar eingeschränkt, aber es gibt ihn eben. Totalitäre Systeme kennzeichnen sich dagegen durch ein Deutungsmonopol.
Sie haben das Stichwort politische Religion genannt. Hat eine Ideologie auch ein Heilsversprechen oder eine Zukunftsvision? Will sie unbedingt einen neuen Menschen?
Wenn wir uns diese klassischen historischen Beispiele anschauen, dann gehört das wohl dazu. Der Stalinismus hatte einen Anspruch auf die Bildung einer neuen Gesellschaft, auf die Schaffung des sogenannten Sowjetmenschen. Der neue Mensch ist natürlich ein utopisches Element, und wenn man will, auch eine Art Heilsversprechen. Im Nationalsozialismus ist es etwas anders: Hier gab es die Idee einer glorreichen idealen Vergangenheit, die wiederhergestellt werden sollte. Das sogenannte Urvolk sei demnach eine „reine Rasse“ gewesen, ohne Einflüsse von außen – und da, so die NS-Vision, müsse man wieder hin. Gleichzeitig gab es natürlich das Versprechen von moderner Technik. Wir haben diese Ideen von utopischen Umgestaltungen – zum Beispiel Berlin, das zur „Reichshauptstadt Germania“ umgebaut werden sollte. Es war also ein Mix aus romantisierter Vergangenheit und einer utopischen Zukunft. Im Stalinismus haben wir dagegen diesen extremen Blick nach vorn: Dem Anspruch nach wollte der Stalinismus komplett mit der Vergangenheit brechen und aus dieser Tabula Rasa eine neue Gesellschaft, einen vollständig neuen Menschen schaffen.
Wenn man diese Prinzipien zugrunde legt, dann ist Russland also nicht totalitär. Richtig?
Ja. Aus vielen Gründen. Es gab früher diesen sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Ihr könnt alles machen und reden, was ihr wollt, dafür mischt ihr euch aber nicht in die Politik ein – und wir sorgen für euren Wohlstand. 2014 kam noch der sogenannte „Krim-Konsens“ dazu: Wer für die „Angliederung“ ist, ist auch für Putin – fertig, aus. Das Regime hat also jahrzehntelang dezidiert darauf gesetzt, die Gesellschaft eben nicht zu mobilisieren, sondern sie zu depolitisieren und apolitisch zu halten. Es gibt daher auch keine klare Ideologie, mit der man mobilisieren könnte.
Seit 2014 sinkt das Realeinkommen in Russland, der Kreml kann sein Wohlstandsversprechen also nicht halten. Auch der „Krim-Konsens“ scheint zu bröckeln. Das Regime ideologisiert sich zwar scheinbar – man nehme etwa die Diskussion um die Einheitlichkeit der Geschichtsbücher an den Schulen – insgesamt ist der Prozess aber sehr versatzstückartig, Schaffung einer Ideologie aus einem Guss scheint mir da eher unwahrscheinlich. Und eigentlich braucht der Kreml auch keine Ideologie, um sich zu legitimieren: Es ist zynisch, aber der Machterhalt kann auch durch Repressionen gesichert werden.
Aber es gibt doch die sogenannte Russische Welt – ist das denn keine Ideologie?
Wie man’s nimmt, kohärent ist diese Anschauung jedenfalls nicht: Hier etwas Mystizismus, da ein bisschen Orthodoxie, eine Prise Stalinismus, noch etwas Sowjetnostalgie etc. Für eine kohärente Ideologie reicht das nicht, eigentlich gibt es im aktuellen Russland überhaupt keine Ideologie im klassischen Sinne. Das ist eine ganz wichtige Sache, die wir uns immer wieder vor Augen halten müssen. Mark Galeotti, der britische Russland-Historiker, spricht von Adhocracy. Ich finde, dieser Begriff passt sehr gut: Zuerst konstruiert man eine gefällige russische Geschichte, und dann bedient man sich daraus nach Belieben – man nimmt aus dieser Mottenkiste einfach das, was einem gerade ad hoc in den Kram passt, mal Peter den Großen, mal Katharina, mal Gumiljow, mal Dsershinski. Das ist keine kohärente Ideologie mit einem festen Fundament. Wenn es so etwas heute überhaupt noch gibt, dann wohl nur in Nordkorea.
Der Journalist Andrej Archangelski hat kürzlich von einem Totalitarismus 2.0 gesprochen: Die Ideologie des Putinismus speise sich aus der Ablehnung von progressiven Werten.
Das machen doch auch andere Regierungen, in Ungarn oder Polen zum Beispiel. Feindschemata können zwar auch Solidaritätseffekte stiften und damit eine Eigengruppe formen, das macht das Ganze aber noch lange nicht zu einer Ideologie. Eine Ideologie ist vom Anspruch her konstruktiv, sie ist für etwas – und nicht nur gegen. Der Kreml legitimiert sich aber zunehmend nur noch durch ein schlichtes Feindschema: Russland, so heißt es, sei eine belagerte Festung, der Westen wolle es unterwerfen und plündern. Auch die Aggression gegen die Ukraine verkauft die Propaganda doch als einen Verteidigungskrieg. So ein Feindschema kann zwar einen Rally ‚round the flag-Effekt stiften und auch die Repressionen im Inneren legitimieren, eine Zukunftsvision bietet es aber nicht. Außerdem legitimiert sich das System im Grunde ex negativo: Es braucht einen konstituierenden Anderen.
Damit macht es sich doch letztendlich auch abhängig von diesem Anderen. Ist es nicht eine recht unzuverlässige Methode des Machterhalts?
Es gibt diesen wunderbaren Spruch von Alexei Yurchak: „Everything was forever until it was no more“. Der Zusammenbruch einer Diktatur kann ganz plötzlich passieren oder auch gar nicht. Das klingt jetzt trivial, aber im Sommer 1989 hätte eine Mehrheit aller Beobachter wohl gesagt, dass die Mauer natürlich die nächsten 100 Jahre noch stehen bleiben wird, so wie Honecker das erklärt hat. Hätte man vor dem Arabischen Frühling Experten um ihre Einschätzung zur Dauerhaftigkeit der libyschen Diktatur gefragt, hätten sie die wohl auch als stabil eingestuft. Natürlich kann Putin ein Gaddafi-Schicksal ereilen. Denkbar ist aber auch, dass er bis zu seinem natürlichen Tod an der Macht bleibt. Oder gar darüber hinaus, es gibt da wirklich ganz absurde Fälle: Der algerische Präsident Bouteflika war jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwunden und hat trotzdem noch geherrscht. Die Bevölkerung wusste nicht mal, ob der Mann überhaupt noch lebt, er blieb trotzdem an der Macht. Und Mugabe war zuletzt völlig senil und hat nur noch Unsinn geredet. Aber regiert hat er bis zu seinem Exitus. Wir hatten das in der Sowjetunion mit Tschernenko, der schon todkrank war, als er überhaupt zum Generalsekretär der KPdSU wurde.
Es gibt so viele Faktoren, die völlig unkalkulierbar sind. Putin hat zwar funktionierende Instrumente des Machterhalts: Propaganda, Feindschema, Repressionsapparat, Geheimdienste etc. – dann kommt aber so ein Prigoshin, und das Regime gerät ins Wanken. So etwas kann in autoritären Regimen mit ihrem typischen Mangel an echten politischen Institutionen eben schneller passieren. Kann passieren, muss aber nicht.
Experte: Matthäus Wehowski
Interview: Anton Himmelspach
Veröffentlicht am 24.10.2023Weitere Themen
BYSTRO #36: Putinismus und die frühere Sowjetunion – ein Vergleich
Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus
Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse
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Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!
Die Ideologie des Russki Mir beschreibt Russlands Konfrontation mit dem Westen als apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein einstmals international gefeierter Regisseur deutet ein eingeritztes Zeichen im Boden einer Moskauer Kirche als Beleg dafür, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf göttlicher Vorsehung beruhe. Die orthodoxe Kirche übernimmt Formulierungen von Ideologen, die sie früher wegen Okkultismus und Satanismus bekämpft hat. Wladimir Putin argumentiert mit „Erkenntnissen“, die sein Geheimdienst mit Hilfe von Gedankenlesern errungen haben will. Der Präsident und sein Verteidigungsminister besuchen gemeinsam „Kraftorte“ in der Taiga. Woher dieser Trend zum Magischen in der russischen Führung kommt, schildert der Religionsexperte Alexander Soldatow in der Novaya Gazeta.
Kara-ool Doptschun-ool ist der oberste Schamane der Russischen Föderation. Schamanismus ist Teil der Kultur der Burjaten und anderer Völker des Landes. In ihrem Feldzug gegen den Westen setzt nun auch die politische und militärische Elite auf rituelle Unterstützung / Foto © Sergey Pyatakov/SNA/imago-images
Im Zuge der wachsenden Sinnkrise der „militärischen Spezialoperation“ tauchen immer öfter Begriffe wie „Magie des heiligen Krieges“ oder „Blut- und Opferkult“ auf. Die Bemühungen des Patriarchen Kirill, das Geschehen in ein christliches Gewand zu hüllen, klingen wenig überzeugend. Besser funktioniert da schon das Verschwörungskonstrukt von Alexander Dugin oder die heidnisch-manichäische Doktrin des Russki Mir.
Das lateinische Wort occultus bedeutet so viel wie „geheim“, „verborgen“. Und während die großen klassischen Religionen offen predigen, liegt der Reiz des Okkulten im Verborgenen, in seinem esoterischen Charakter. Träumen Sie von geheimen Instrumenten der Weltpolitik, und möchten Sie ewig in Ihrem physischen Leib leben? Dann ist Okkultismus genau das Richtige für Sie. Besonders hilfreich beim Eintauchen in esoterische Tiefen sind Verschwörungserzählungen.
Die Doktrin des Russki Mir, die der Russischen Föderation heute als Ideologie dient, ist durch und durch konspirologisch. Im vergangenen Jahr haben orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern diese Doktrin in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Sie verglichen sie mit dem Manichäismus – dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (der Westen). Wenn es sich bei der „Spezialoperation“ um eine metaphysische Schlacht handelt, wie Patriarch Kirill behauptet, dann reichen weltliche – militärische und politische – Mittel allein nicht aus, um sie zu gewinnen. Dann braucht man „Hilfe von oben“.
Die Facetten der neuen russischen Konspirologie
„Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen“, sprach Jesus (Matthäus-Evangelium 12:39). Wenn man eines braucht, dann findet man auch ein Zeichen – und den Einen oder Anderen vermag es sogar zu überzeugen. So entdeckte Nikita Michalkow in der Großen Christi-Himmelfahrt-Kirche in Moskau ein „Z“ (welches man übrigens auch als „N“ lesen kann), das jemand im 19. Jahrhundert in den Steinboden geritzt haben soll. Daraus schlussfolgerte der Großmeister des Kinos: „Also ist das [was in der Ukraine geschieht] von Gott gewollt“.
Einer gründlicheren Suche nach einer orthodoxen Rechtfertigung für die „Spezialoperation“ widmete sich im vergangenen Oktober das Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Einer der Ideologen des Konzils war Alexander Dugin, dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einst mit Misstrauen begegnete, weil seine Schriften eine Fülle von okkulten Verschwörungsmythen enthielten. Nun finden sich Dugins Gedanken in den Abschlussdokumenten des Konzils wieder: „Der Westen ist eine Idee. Die Einpflanzung dieser Idee begann mit der Säkularisierung, die das Göttliche vom Menschlichen trennte … Die Spezialoperation ist ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.“
Vordenker des Nationalsozialismus als Inspiration
Auf Dugins Lehren, die von russischen Intellektuellen bisher belächelt wurden, muss man nun genauer schauen – der ideologische Überbau der „Spezialoperation“ ist unübersehbar von seinen Postulaten beeinflusst. Dugins Ansichten gediehen im mystischen Nebel des Jushinski-Zirkels, der in den 1960er Jahren von dem Schriftsteller Juri Mamlejew gegründet wurde. Die Teilnehmer – überwiegend Studenten – probierten sich durch sämtliche ihnen zugängliche esoterische und magische Praktiken, psychedelische eingeschlossen. Nach Radikalität strebend, entdeckten die Mamlejew-Anhänger die Ideologie der europäischen Rechtsextremen für sich. Dugin verbreitete im Folgenden die Ideen des französischen Traditionalisten René Guénon und des italienischen Esoterikers Julius Evola. In seinem Buch Heidnischer Imperialismus schreibt Evola: „Der Mensch besitzt keinen Wert an sich. Sein Leben wird durch und durch vom Kastensystem bestimmt und entfaltet sich erst im Imperium … Der Humanismus ist das Böse. Der Imperator steht über der Religion … Die wahre Freiheit ist die Freiheit zu dienen.“ Auf der Suche nach einem Ort, an dem er seinen rechtsextremen Ideen nachgehen konnte, trat Dugin der [National-patriotischen Front] Pamjat bei, wo man ihn jedoch wegen seines „okkulten Satanismus“ rauswarf. Bald darauf gründete er seine Eurasische Bewegung.
Der heutige Kriegsphilosoph begeisterte sich für die Mystik des Dritten Reiches. In Archiven studierte er die Schriften der okkulten SS-Abteilung Ahnenerbe, und sein Buch Hyperboreische Theorie gibt die Anschauungen eines ihrer Köpfe wieder – Herman Wirth.
In seinem Almanach Das Ende der Welt publiziert Dugin Werke des englischen Schwarzmagiers und Begründers des Ordo Templi Orientis Aleister Crowley, der dem Satanismus nahe stand. Dugins Kernidee, die der Kreml und das Weltkonzil des Russischen Volkes übernommen haben, ist der „okkulte geopolitische Dualismus“. Für die Anhänger dieser Idee ist die Weltgeschichte einzig ein Kampf zwischen dem Atlantischen Orden des Todes und dem Eurasischen Orden des Lebens. Diese Theorie gipfelt in einer grotesken Rassenlehre: Laut Dugin stammen die reinrassigen Arier von Cro-Magnon-Menschen ab, während die westlichen „Dämonen-Menschen“ von den Neandertalern abstammen. Seine Überzeugungen betrachtet der Chefdenker der Eurasier als durchaus orthodox, genauer noch: als altgläubig – und bezieht sich dabei auf die Starowerzy (dt. Altgläubige), wurzelnd in einer volkstümlichen esoterischen Strömung, die von der offiziellen Kirchen vergessen worden sei.
Moskau als Nachfolgerin von Byzanz
Eine andere Figur, die einen religiösen Einfluss auf das aktuelle Geschehen hat, ist Metropolit Tichon (Schewkunow), ehemals Archimandrit des Sretenski-Klosters auf der Lubjanka, jetzt Metropolit von Pskow. Tichon und Putin verbindet eher Freundschaft, wobei dem Lubjanka-Archimandrit einst die Rolle des persönlichen Geistlichen des Präsidenten zugeschrieben wurde. Ihre Freundschaft reicht lange zurück: Bereits 2001 begleitete Tichon Putin zum Starzen Johann Krestjankin, und vor kurzem besuchten sie gemeinsam das Freilichtmuseum Chersonesos von Tauria auf der Krim. Tichons Ideologie ist zwar orthodoxer und weit entfernt von Dugins kruden Theorien, aber in der Praxis führt sie zu denselben Schlüssen.
Tichons Lehre zufolge ist Russland von Gott als Nachfolger von Byzanz auserwählt und dazu berufen, ein Abbild des Reiches Gottes auf Erden zu sein. Doch eine Vielzahl an äußeren, vom Teufel inspirierten Feinden sorge dafür, dass es ständigen Prüfungen ausgesetzt sei.
Die „Geschichtsparks“, die unter Tichons Patronage eröffnet wurden und in die Milliarden aus Staatsunternehmen fließen, vermitteln den Besuchern mit interaktiven Mitteln einen einfachen Gedanken: Russland hat immer wieder seine Feinde besiegt, ist dann auf seinen vorbestimmten Weg zurückgekehrt und hat andere Völker mitgezogen.
Der russische Präsident und Tichon haben sich über den heute im Exil lebenden Oligarchen Sergej Pugatschow kennengelernt, und der ist folgender Ansicht: „[Tichon] verehrt Putin wirklich, er glaubt an sein gottgleiches Charisma.“ Tichon seinerseits sagte unlängst dem Staatssender Rossija 24: „Ich kenne den russischen Präsidenten persönlich. Er hätte die Spezialoperation unter anderen Bedingungen und Umständen für Russland nicht begonnen. Also musste es sein.“
Populärer Okkultismus bietet einfache Lösungen
Der populäre, kommerzielle Okkultismus unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und geopolitischen Verschwörungsmythen dadurch, dass er einfache Lösungen anbietet. In den vergangenen Jahren (und im letzten ganz besonders) ist oft davon die Rede, dass die Machthaber aktiv auf archaische schamanische Praktiken, Magie, Zauberei und andere esoterische Methoden zurückgreifen würden. Einer der ersten „Schamanismus-süchtigen“ russischen Politiker war der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung in Sankt Petersburg Wadim Tjulpanow. Bereits als Senator brachte er den nenzischen Schamanen Kolja Talejew mit in den Föderationsrat. „Er bekommt Botschaften vom Universum und kann dir alles über dich erzählen, über deine Vergangenheit und deine Zukunft. Die Vergangenheit kennt er so gut, dass ich Gänsehaut bekomme“, schwärmte der Senator. Bei der gläubigen Orthodoxen [und Vorsitzenden des Föderationsrats] Valentina Matwijenko zeigte das Schwärmen Wirkung: „Dann zaubern Sie uns doch was herbei, damit die Wirtschaft wächst“, bat sie Kolja.
Davon, dass das Schamanismus-Thema nicht nur Spaß ist, zeugt das tragische Schicksal von Alexander Gabyschew, einem jakutischen Schamanen, der sich zu Fuß nach Moskau aufgemacht hatte, um „den Präsidenten zu vertreiben“. Jetzt wird er seit drei Jahren von unterschiedlichen Gerichten von einer Nervenheilanstalt in die nächste geschickt. Gleichzeitig werden die „richtigen“ Schamanen von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitiert: „Der oberste Schamane der Russischen Föderalen Kara-ool Doptschun-ool dankte den Schamanen in Russland für das gemeinsam durchgeführte Ritual zur Unterstützung der russischen Streitkräfte und wünschte ihnen viel Erfolg für die weitere Stärkung unserer Heimat.“
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus einer Region stammt, in der der Schamanismus zur Tradition gehört, ist der einzige russische Minister, der unter allen Präsidenten und Premierministern in der Regierung verblieb. Er war schon als Kind mit den Traditionen seines Volkes vertraut – er führte Archäologen aus Leningrad zu tuwinischen Grabhügeln. Der junge Schoigu begeisterte sich außerdem für die Geschichte des „schwarzen Barons“ Roman von Ungern-Sternberg, der während des Bürgerkriegs im russisch-mongolischen Grenzgebiet kämpfte. Als einer der ersten eurasischen Mystiker träumte von Ungern-Sternberg von der Wiedererrichtung des Reiches von Dschingis Khan und einem neuen „Feldzug nach Westen“, an dem die Völker Asiens beteiligt sein sollten. Der Vater des Ministers, Kushuget Schoigu, war als Volksheiler und „wahrer Hüter der Volkstraditionen“ bekannt, was ihm zu einer Parteikarriere unter dem alternden Breshnew verhalf. Offenbar haben auch Putins und Schoigus berühmte gemeinsame Reisen zu sibirischen „Kraftorten“ eine spirituelle Erklärung.
Streben nach ewigem Leben
Unter der Leitung von Michail Kowaltschuk wird derweil am Kurtschatow-Institut an der Verlängerung des Lebens geforscht. Das Wissenschaftsverständnis von Kowaltschuk, der als Freund Putins gilt, ist dabei durchaus ungewöhnlich. So schlug er 2016 bei einem Treffen mit dem Präsidenten vor, „nach Organisationen zu suchen, die den Gedankenfluss in bestimmte Richtungen lenken können“, und in jüngster Zeit machte er auf die Gefahr von „ethnischen Waffen“ aufmerksam („Kampftauben“ oder „Moskitos“, die „nur Russen“ angreifen würden).
Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Interesse an künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen soll, nach dem physischen Tod in ein Meta-Universum umzusiedeln. Die Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes auf Staatsebene zieht auch die Weltanschauung der einfachen Bürger in Mitleidenschaft, die zunehmend in Aberglaube und magisches Denken abgleitet. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums im vergangenen Jahr ergab, dass nur ein Viertel der Russen an das Reich Gottes nach dem Tod glaubt, aber fast ein Drittel an den bösen Blick und Verwünschung (das sind doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren). Als wäre das nicht genug, hat das Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften ohne viel Aufhebens die Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaft und Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschafft. Der Verschwörungs-Ideologe Dugin argumentiert: „Echte Forschung und echte Wissenschaftler gibt es schon lange nicht mehr … Durchdrungen von der starren Diktatur des Liberalismus, sehen sie in allem nur noch die in sie selbst eingeimpften Codes.“
Atmosphäre des kollektiven Rasputinismus
Esoterik und Okkultismus gab es im Kreml schon lange vor Putin. Gleich zu Beginn von Boris Jelzins Amtszeit ernannte der Leiter des Sicherheitsdienstes, Alexander Korshakow, den General Boris Ratnikow zu seinem Chefberater und General Georgi Rogosin zu seinem ersten Stellvertreter: In den 1980er Jahren hatten diese beiden in geheimen KGB-Labors auf dem Gebiet der „Psychotechnik“ und „extrasensorischen Wahrnehmung“ geforscht. Rogosin erstellte astrologische Karten für Jelzin und förderte die Psychotronik, auf deren Grundlage der Generalstab „psychotronische Waffen“ entwickelte. Laut Eduard Krugljakow, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften, brachte Rogosin „alle möglichen Hellseher, Heiler, Okkultisten, Astrologen und andere Scharlatane“ mit in den Sicherheitsdienst, was zu einer Atmosphäre des „kollektiven Rasputinismus“ geführt habe.
General Boris Ratnikow ging obendrein in die Geschichte ein, weil er das Gehirn von Madeleine Albright „auf Entfernung scannte“ und „pathologischen Slawen-Hass“ darin vorfand. Ratnikow sah seine Mission im Sicherheitsdienst des Präsidenten darin, das Bewusstsein des Staatsoberhaupts vor Manipulationen zu schützen, so erklärte er es in einem Interview mit dem Staatsblatt Rossijskaja Gaseta. Die Manipulationen des parapsychologischen Generals selbst haben jedoch eine deutliche Spur in der Geschichte hinterlassen. Vergleichen wir zwei Aussagen: „Wir haben eine Seance durchgeführt, um uns mit dem Unterbewusstsein von US-Außenministerin Albright zu verbinden … Sie war empört darüber, dass Russland über die größten Rohstoffreserven der Welt verfügt. Ihrer Meinung nach sollten die russischen Reserven in Zukunft nicht von einem Land allein verwaltet werden“ (General Ratnikow, 2006). „Jemand wagt es ungerecht zu finden, dass Russland allein die Reichtümer einer Region wie Sibirien besitzt – ein einzelnes Land“ (Wladimir Putin, 2021). Im Jahr 2015 erklärte Albright, in Russland gebe es „Leute, die glauben, ihre Gedanken lesen zu können“, und fügte hinzu, dass sie „nie so etwas über Sibirien oder Russland gedacht oder gesagt“ habe.
Hoffen auf Botschaften aus dem All
Bis 2003 existierte innerhalb der russischen Streitkräfte die sogenannte Dienststelle Nr. 10003 – eine Experten-Abteilung des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation für außergewöhnliche menschliche Fähigkeiten und besondere Waffentypen. Ihrem ehemaligen Chef Generalleutnant Alexej Sawin zufolge, sei es die Aufgabe der Abteilung gewesen, „das Gehirn für Botschaften aus dem Universum empfänglich zu machen“. Er erläuterte: „Wir nannten uns ‚Spezialoperatoren‘ – Menschen mit erweiterten Hirnfähigkeiten … Die Amerikaner erreichten nicht annähernd unsere Ergebnisse.“ Mir, dem Autor dieses Textes, war es vergönnt, an Konferenzen teilzunehmen, auf denen Militärwissenschaftler, viele von ihnen im Generalsrang, allen Ernstes ihre mit Hilfe von „psychotronischen Techniken aufgedeckten“ konspirologischen Erkenntnisse präsentierten. Das sowjetische New Age, das von Science Fiction das in den 1960er bis 1980er Jahren von Science Fiction, Ufologie und dem Glauben an das Übersinnliche geprägt war, wächst und gedeiht in der Armee-„Elite“ fröhlich weiter.
Angesichts der extremen Auswüchse der russischen Propaganda fragt man sich häufig: „Sind diese Menschen verrückt geworden oder täuschen sie einfach nur sehr professionell eine Paranoia vor?“ Tatsächlich erleben wir gerade eine interessante Verschiebung des Massenbewusstseins weg von einer objektiven und hin zu einer esoterischen Sicht auf die Welt. Einerseits erinnert das an Massenhysterie und eine extreme Archaisierung des Denkens. Wenn wir uns jedoch das ganze technologische Arsenal ansehen, das zur Volksverdummung eingesetzt wird, wirkt es eher wie eine komplexe Manipulation. Wer braucht noch systematische Bildung, nüchterne Religiosität oder die Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn der große Leader alles mit Hilfe von Schamanen und künstlicher Intelligenz entscheidet?
In Wirklichkeit ist das Erstarken des Okkultismus in den Regierungskreisen ein klares Zeichen für ihre Schwäche und Unfähigkeit. Wenn ein Politiker oder ein militärischer Führer nicht in der Lage ist, seine Handlungen rational zu planen und seine Macht lieber an unbekannte und unsichtbare Kräfte „delegiert“, offenbart er damit seine Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren.
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Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren
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Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach
Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien?
Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt.1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.
Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.
Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.
2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?
Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.
3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?
Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.
International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.
Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke
4. Wer könnte Alijew stoppen?
Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.
5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.
Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.
In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.
Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke
6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?
Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben.
7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind?
Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.
Expertin: Cindy Wittke
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am 04.10.2023Weitere Themen
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