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Alexej Nawalny ist tot
Alexej Nawalny war zweifellos einer der talentiertesten Politiker unserer Zeit. Die Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung haben allen vor Augen geführt, wie Wladimir Putins Umfeld sich bereichert. Noch wichtiger war aber, dass er die Mächtigen der Lächerlichkeit preisgab: Ein Volk, das gelernt hat, Angst zu haben vor dem Staat, lernte von Alexej Nawalny, über dessen Vertreter zu lachen. Das untergrub ihre Macht. „Ich habe keine Angst, und ihr sollt auch keine Angst haben“, war Nawalnys wichtigste Botschaft. Mehrfach haben Putins Geheimdienste versucht, ihn umzubringen. Am 16. Februar 2024 meldete die Strafvollzugsbehörde seinen Tod in einem Straflager hinter dem Polarkreis.
Alexej Nawalny verstarb am 16. Februar 2024 im Straflager / Foto © Sergei Fadeichev/ITAR-TASS, imago-images
Ein politischer Mord
Lew Schlosberg, Publizist und Politiker der Partei Jabloko, auf Telegram
[bilingbox]Beim Tod von Alexej Nawalny handelt es sich um einen geplanten politischen Mord. Es muss wegen eines Anschlags auf das Leben einer öffentlichen Person ermittelt werden, eines Anschlags, der begangen wurde, um seine politische Tätigkeit zu unterbinden oder um sich für eine solche Tätigkeit zu rächen. Gemäß Artikel 277 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation wird das mit einer Freiheitsstrafe von zwölf bis zwanzig Jahren geahndet. Oder mit lebenslanger Haft. Oder mit der Todesstrafe. ~~~Смерть Алексея Навального является спланированным политическим убийством и должна быть расследована как посягательство на жизнь государственного или общественного деятеля, совершенное в целях прекращения его государственной или иной политической деятельности либо из мести за такую деятельность (статья 277 Уголовного кодекса РФ), что наказывается лишением свободы на срок от двенадцати до двадцати лет с ограничением свободы на срок до двух лет, либо пожизненным лишением свободы, либо смертной казнью.
большое личное потрясение для граждан России. Мои соболезнования семье, всем родным и друзьям Алексея Навального. Когда в Россию вернется правосудие, убийцы будут установлены и наказаны. [/bilingbox]
16.02.2024, Original
Die Hoffnung wurde getötet
Ilja Asar, Journalist, Politiker, auf Telegram
[bilingbox]Nein, diese Mistkerle haben nicht nur Nawalny umgebracht – als ich von seinem Tod las, hatte ich außer Wut und Entsetzen das Gefühl, dass sie in mir jegliche Hoffnung getötet haben darauf, dass in Russland zu meinen Lebzeiten noch irgendetwas Gutes kommen könnte. Als ob in mir noch irgendein irrationaler Glaube gelebt hätte, solange Nawalny noch am Leben war, obwohl er faktisch eine lebenslängliche (putinsche) Haftstrafe absaß. Jetzt ist es vorbei, nur noch Verzweiflung. ~~~нет, не просто Навального убили эти подонки – я, когда прочитал про его смерть, то почувствовал кроме злобы и ужаса сразу, что убили во мне всякую надежду, что в России еще может быть что-то хорошее впереди, как минимум при моей жизни. получается, пока Навальный был жив, хоть и фактически на пожизненном (путинском) сроке, какая-то вера еще жила иррациональная, а теперь все, только отчаяние [/bilingbox]
16.02.2024, Original
Mit allen Mitteln
Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionsführerin, auf Telegram
[bilingbox]Dieser Tod ist ein weiterer Beleg dafür, dass für Diktatoren ein Menschenleben keinen Wert hat. Putins Regime entledigt sich seiner Gegner mit allen Mitteln, um die Macht zu erhalten – genau wie Lukaschenkos Regime. In Belarus sind in diesem Moment dutzende von politischen Gefangenen in Isolationshaft – das Leben von Mikolaj Statkewitsch, Mascha Kolesnikowa, meinem Mann Sergej und anderen ist unmittelbar bedroht. Witold Aschurok, Wadzim Chrasko, Ales Puschkin und Mikalaj Klimowitsch sind bereits in der Haft gestorben. Und noch Hunderte Weitere werden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jegliche Hilfe im Gefängnis festgehalten. ~~~Эта смерть – очередное доказательство, что для диктаторов человеческая жизнь не имеет никакой ценности. Режим Путина, как и режим Лукашенко, в стремлении сохранить власть избавляется от оппонентов любыми способами.
В Беларуси прямо сейчас десятки политзаключенных находятся в режиме инкоммуникадо – жизни Николая Статкевича, Маши Колесниковой, моего мужа Сергея и других сейчас находятся под прямой угрозой. Витольд Ашурок, Вадим Храсько, Алесь Пушкин, Николай Климович уже умерли в заключении. А еще сотни людей содержатся в нечеловеческих условиях и без всякой помощ.[/bilingbox]
16.02.2024, Original
Ein tragischer Held
Alexander Friedman, belarussischer Analyst und Historiker, auf Gazeta.by
[bilingbox]Alexej Nawalny ist ein tragischer Held, der sich für eine Gesellschaft geopfert hat, die ein solches Opfer nicht verdient und es nicht würdigen wird. ~~~Алексей Навальный – трагический герой, пожертвоваший собой ради общества, которое такой жертвы не заслуживало и которое такую жертву не оценит. [/bilingbox]
16.02.2024, Original
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Alarmknopf im Wahllokal
Am 25. Februar werden in Belarus Parlaments- und Kommunalwahlen abgehalten. Es sind die ersten landesweiten Wahlen seit 2020. Damals waren die Präsidentschaftswahlen Auslöser für landesweite Proteste, die nur mit massiver Gewalt niedergeschlagen werden konnten. Seitdem haben zigtausende Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen, Tausende wurden eingesperrt, das Regime setzt seine Jagd auf Andersdenkende fort. Wjatscheslaw Korosten gibt für das belarussische Portal Pozirk einen sarkastischen Ausblick auf eine Wahl, bei der sich das Regime noch nicht einmal mehr um den Anschein von Demokratie bemüht.
So etwas wie die Massenproteste im Sommer 2020 will Alexander Lukaschenko nicht noch einmal erleben. Die Wahlen am 25. Februar sollen vergessen machen, dass das Volk dem Präsidenten bereits ein deutliches „Nein“ gesagt hat. / Foto © IMAGO / Pond5 Images
Einen Monat vor dem Einheitlichen Wahltag gibt es keinen Zweifel mehr: Die Wahlen zur zweiten Kammer des Parlaments und in die Lokalparlamente werden diesmal maximal ehrlich ablaufen. Die Behörden haben jede Imitation von Demokratie aufgegeben und verbergen nichts mehr: Sie werden die Kandidaten eigenhändig auswählen, die Abgeordneten selbst ernennen und die Wähler nicht unnötig mit der Illusion einer Willensäußerung verunsichern.
Und wenn jemand meint, von seiner Stimme würde irgendetwas abhängen, oder schlimmer noch, auf die Idee kommt, auf seine Rechte hinzuweisen, dann werden ihn spezielle Leute per „Alarmknopf“ umgehend eines Besseren belehren.
Nicht, dass es früher so viel anders gewesen wäre. Die Parlamentsabgeordneten wurden auch vorher selektiert und ernannt. Es wäre töricht zu glauben, die finale Liste würde durch die Wähler und nicht durch Alexander Lukaschenko persönlich abgesegnet.
Allerdings war der Herrscher vor 2020 noch gnädig und ließ seine Opponenten wenigstens auf dem Stimmzettel zu. 2016, mitten im Tauwetter, ließ er sogar zu, dass die gemäßigten Oppositionellen Jelena Anissim und Anna Kanopatskaja ein Mandat als Abgeordnete erhielten. Das änderte zwar nichts daran, dass die zweite Kammer des Parlaments ein Ort ist, wo Entscheidungen von oben im Fließbandverfahren abgesegnet werden, aber immerhin wehte einen Hauch von Pluralismus durch den Sitzungssaal.
Jetzt sind die Zeiten völlig andere. Es gibt nicht nur keine oppositionellen Kandidaten, es gibt im legalen Bereich gar keine Opposition mehr: Oppositionsparteien wurden aufgelöst, soziale Bewegungen abgeschafft, abweichende Meinungen sind de facto kriminalisiert. Sämtliche nennenswerte regimekritische Politiker sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Den weniger auffälligen wird klargemacht, dass sie besser die Füße stillhalten und nicht aufmucken. Der Bildung eines neuen Parlaments und der regionalen Räte nähert sich Belarus im Stechschritt in Reih und Glied und ohne Widerrede.
Am 15. Januar war die Nominierung der Kandidaten abgeschlossen. Die Zentrale Wahlkommission meldete munter: Auf 110 Abgeordnetensitze kämen insgesamt 298 Kandidaten – 2,7 auf jedes Mandat. Bei der Wahl 2019 waren es 2,4 Mal mehr – 703 Kandidaten und damit 6,4 pro Sitz.
Man bleibt unter sich, die Kandidaten sind handverlesen und linientreu. Bereit, Lukaschenko und seinem Kurs zu dienen, ihn zu wahren und zu mehren. Es sind Vertreter der vier regierungsnahen Parteien und der offiziellen Gewerkschaften, Beamte, Gesetzeshüter und Propagandisten. Dazu kommen der derzeitige Leiter der Lukaschenko-Regierung, Igor Sergejenko, und die Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit Irina Kostewitsch.
Wir halten die Wahlen für uns selbst ab
Weil den Behörden sonnenklar ist, dass man dem Westen diese „Wahlen“ unmöglich als solche verkaufen kann, machten sie sich nicht einmal die Mühe, OSZE-Beobachter einzuladen. Sie entschieden lieber gleich, nur Vertreter Russlands und anderer befreundeter Länder und Organisationen einzuladen.
Die Entscheidung, die OSZE aus dem Spiel zu lassen, kommentierte Karpenko offen: „Wir haben an sich kein Problem damit“, sagte der Chef der Wahlkommission. „Aber wozu, wenn wir die Wahlen in erster Linie für uns selbst abhalten?“, fragte er rhetorisch. „Für uns selbst“ – das klingt eher nach einer Betriebsweihnachtsfeier als nach einer nationalen Kampagne, an der theoretisch die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes teilnehmen kann.
Die OSZE nahm die rührende Direktheit des Beamten zur Kenntnis, schluckte die bittere Pille und brachte dienstfertig ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck.
Die Silowiki haben indes ihre eigene Rhetorik, und alles deutet darauf hin, dass sich das Innenministerium auf die Wahlen wie auf eine Spezialoperation vorbereitet. Das Ziel ist, die Parlamentsmandate möglichst ungestört an die richtigen Leute zu verteilen.
Am 13. Januar kündigte Innenminister Iwan Kubrakow im Staatsfernsehen an, jedes Wahllokal mit einem „Alarmknopf“ auszustatten, wie ihn auch Bankangestellte für den Fall eines bewaffneten Raubüberfalls haben.
Außerdem seien dem Minister zufolge „bereits jetzt in allen Regionen Überwachungskameras im Umkreis der Wahllokale installiert“ worden.
Am Tag der Wahl, erklärte er weiterhin, würden „nach dem Vorbild von Minsk“, 50 Personen in einem „speziellen Raum“ untergebracht, die (offenbar an den Bildschirmen) jedes Wahllokal in Echtzeit überwachen werden. „Bei der kleinsten Gefahr“, so der General, würden „schnelle Einsatzgruppen“ die diensthabende Polizei verstärken, um eine „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu verhindern.
Die Silowiki lassen derzeit keine Gelegenheit aus, um über die Wahlen zu sprechen. Am 17. Januar sprach der stellvertretende Innenminister, Gennadi Kasakewitsch, anlässlich eines Besuchs in Usda bei Minsk mit seinen Untergebenen über die Unzulässigkeit „extremistischer Äußerungen“ während der Wahlen. Am selben Tag besprach Karpenko mit Offizieren der Inneren Truppen und der Grenzschutzorgane das „Verfahren für die Organisation der Stimmabgabe von Wehrdienstleistenden und Vertragssoldaten“.
Ein paar Details: Die Namen der Mitglieder der Wahlkommissionen sind nun geheim – zu ihrer eigenen Sicherheit. Belarussische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten, dürfen nicht wählen – dort kann man im Notfall ja nicht mal eben eine „schnelle Einsatztruppe“ hinschicken. Und natürlich kann von unabhängigen Beobachtern keine Rede sein.
Kurzum, es wird alles getan, um sicherzustellen, dass nichts die Aufrechterhaltung der „Verfassungsordnung“ (sprich: der Macht Lukaschenkos und seines Regimes) gefährdet.
Ist sie denn durch irgendetwas gefährdet? Aus Sicht der Machtvertikale offenbar schon.
Viele Karrieren hängen davon ab, ob die Wahlen glatt laufen
Die Verhaltensauffälligkeiten der Behörden vor den Wahlen lassen sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Einer der wichtigsten: Das System, das Lukaschenko errichtet hat, ist zu einer anderen Form der Mobilisierung gar nicht fähig. Ihr politisches Credo scheint zu sein: „Es kann gar nicht genug sein“.
Die belarussischen Behörden können weder flexibel noch nach dem Prinzip der Effizienz arbeiten. Vor allem nicht in letzter Zeit. Wenn Ideologie – dann in Überdosis und überall, bis in die Kindergärten. Wenn Wirtschaft – dann mit strengster Preisregulierung und Strafverfolgung wegen jedem Cent. Wenn Politik – dann ohne die kleinste Alternative, mit Säuberungen, willkürlichen Entlassungen und Razzien in Betrieben. Die Kahlschlag-Methode ist in den Augen der Staatsdiener eben die effektivste. Sie können gar nicht anders.
Man könnte es als Rückversicherung betrachten – nicht so sehr der Vertikalen, sondern ihrer einzelnen Vertreter. Für Karpenko ist es im Grunde die erste wichtige Prüfung im neuen Amt. Für Kubrakow ist es ebenfalls der erste Stresstest. Seit 2020 mussten sich viele aus Lukaschenkos Entourage verabschieden, und die Neuen wollen die Fehler ihrer Vorgänger nicht wiederholen. Viele Karrieren hängen davon ab, wie „elegant“ die nächste Wahl verläuft.
„Das Echo von 2020“ – so lautet eine verbreitete und im Prinzip treffende Erklärung dafür, warum sich das Regime auf die Wahlen wie auf einen Krieg vorbereitet. Die Situation nicht noch einmal erleben wollen, die Traumata loswerden, Rache üben – das sind durchaus logische Motivationen für ein Regime, das bereits am Rande des Abgrunds stand.
Ja, eine Wahlkampagne gab es nach diesen Ereignissen bereits: das Referendum von 2022. Sie haben es planmäßig durchgeführt und alle gewünschten Änderungen in die Verfassung geschrieben. Aber aus irgendeinem Grund hat das keine Ruhe gebracht. Vielleicht, weil vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine erneut Proteste im Lande ausbrachen. Nach einem ruhigen 2021 gingen viele Menschen auf die Straße, die Zahl der Inhaftierten schnellte wieder in die Tausende, und das Okrestina-Gefängnis öffnete wieder sperrangelweit seine Tore.
Sogar in der Kirche spricht Lukaschenko von den Wahlen
Aber die Angst der Machthaber wurzelt natürlich nicht nur in der Vergangenheit. Im Palast auf dem Prospekt der Sieger in Minsk versteht man sehr wohl, dass die Parlamentswahl kein Ereignis ist, das die Gemüter der Bevölkerung übermäßig aufwühlt. Man kann sogar getrost behaupten, dass sich die Belarussen aufgrund der dekorativen Rolle des Abgeordnetenhauses im Staatskonstrukt kaum dafür interessieren. Nicht umsonst wurde im vergangenen Jahr die Beteiligungsschwelle für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgeschafft – so mussten die Behörden die Menschen nicht mehr zur Wahlurne treiben.
Es liegt auf der Hand, dass das Regime die Wahlen von 2024 als Prolog für den Präsidentschaftswahlkampf von 2025 versteht. Eine Generalprobe, die um jeden Preis jedes Lob von oben übertreffen muss.
Experten sind sich einig, dass Lukaschenko vorhat, zum siebten Mal zu kandidieren, auch wenn er im Oktober 2020 bei dem berühmten Treffen mit politischen Gefangenen im KGB-Gefängnis das Gegenteil versprochen hatte. „Ich gebe euch mein Wort, Jungs“, sollen seine Worte gewesen sein, wenn man dem Pseudo-Oppositionellen Juri Woskressenski glauben darf.
Doch die Zeit verging, und Lukaschenko hat sein Wort offenbar zurückgenommen. Und nun ist es der ewige Herrscher selbst, der am häufigsten in der Öffentlichkeit über die Präsidentschaftswahlen spricht.
Sogar als er an Weihnachten eine Kirche in der Agrarstadt Scherschuny besuchte, sprach er von weltlichen Dingen: „Sie werden an uns trainieren. Und wir müssen durchhalten. Sie werden an uns für die kommenden Präsidentschaftswahlen trainieren.“ Die Wahlen seien das Hauptereignis des Jahres, das man „würdig überstehen“ müsse.
Die Präsidentschaftswahlen werden spätestens am 20. Juli 2025 stattfinden, und in der Zeit bis dahin kann wirklich alles passieren.
Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und niemand weiß, wohin das Pendel ausschlagen wird. Der belarussischen Wirtschaft stehen nach dem Aufschwung im Jahr 2023 voraussichtlich schwierige Zeiten bevor. Auch auf dem vielbeschworenen „weiten Bogen“ [in der Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika] sind keine Durchbrüche zu erwarten. Im Westen nichts Neues. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wächst und droht uns politisch teuer zu stehen zu kommen. Bis zu den Wahlen im Jahr 2025 muss zudem noch eine belarussische Volksversammlung gebildet werden, die dann auch noch einen Vorsitzenden braucht. Das alles macht das Machtsystem zusätzlich kompliziert und erfordert zusätzliche Kontrolle.
Zu allem Überfluss lässt den Herrscher hin und wieder seine Gesundheit im Stich, was Gerüchte von einer vorzeitigen Übergabe der Macht schürt. Diese werden durch das neue Gesetz über die lebenslange Immunität für den Staatschef und die erneute Beschränkung auf zwei Amtszeiten [für neu gewählte Präsidenten] in der Verfassung genährt.
Die Zeit rennt, und sie ist allzu sehr verdichtet. Der Preis für Fehler ist mittlerweile so hoch, dass man sich schlichtweg keine mehr leisten darf.
Entsprechend gibt es keinen Grund mehr, bei den Wahlen einen Wettbewerb zu imitieren. Die Zeiten sind andere.
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Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“
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Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen?
Im letzten Jahr hat sich die Entwicklung des autoritären Regimes von Alexander Lukaschenko in Richtung Totalitarismus zusätzlich beschleunigt. Die Regierung sieht keinen Grund, diese Entwicklung zu stoppen, und dringt in alle möglichen Bereiche vor, einschließlich des Privatlebens der Menschen, ihrer Arbeitsbeschäftigung, ihrer Auslandsreisen, ihrer Bildung oder ihres historischen Gedächtnisses.
Der belarussische Politologe Artyom Shraibman analysiert, wie die Elemente des klassischen Totalitarismus durch die einer Diktatur im digitalen Zeitalter erweitert werden und ob dieser Prozess überhaupt gestoppt werden kann.
Ende 2022 beschrieb ich in einem dekoder-Artikel detailliert die zahlreichen Merkmale des totalitären Systems, die auf das Regime Alexander Lukaschenkos damals zutrafen. Dabei ging es nicht nur um das Ausmaß von tiefgreifenden Repressionen, wie Belarus sie seit der Stalin-Ära nicht mehr erlebt hatte, sondern auch um andere, weniger offensichtliche Merkmale. Regierungsnahe Aktivisten und professionelle Denunzianten beteiligten sich nun an den Repressionen und unterrichteten die Machthaber, auf wen sie ein Auge haben sollten.
Lukaschenko verankerte in der Verfassung ein neues, ohne Wahlen bestelltes Machtorgan, die Allbelarussische Volksversammlung – eine Art Hybrid aus dem sowjetischen Plenum des ZK der KPdSU und dem chinesischen Nationalen Volkskongress. Außerdem wurde landesweit ein System zur Überprüfung der politischen Unbedenklichkeit bei Neueinstellungen eingeführt. Mit einem Vermerk über Illoyalität oder Teilnahme an Protesten bekommt man nun keine Stelle im staatlichen Sektor mehr.
Im Verlauf des Jahres 2023 vermehrten sich die Anzeichen für eine Bewegung Richtung Totalitarismus. Dieser Trend war als Reaktion des autoritären Organismus auf die Erschütterungen von 2020 auszumachen, hatte sich dann aber nach einer ganz eigenen Logik weiterentwickelt. Der Prozess funktioniert exakt nach der Orwell’schen Formel „der Zweck der Macht ist die Macht“. Angesiedelt in einem Raum ohne Grenzen sieht die autoritäre Macht keinen Grund innezuhalten und dringt in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein, die sie vorher nicht berührte. Hier findet der belarussische Staat neue Nischen, um Verbote einzuführen, auch im Privatleben der Menschen, in der Bildung der Kinder, dem historischen Gedächtnis sowie der Berufs- und Reisefreiheit.
Digitale Diktatur und Ausreisehindernisse
Bereits seit drei Jahren erweitern die belarussischen Geheimdienste ihren Zugriff auf alle nur möglichen Datenbanken, die persönliche Informationen enthalten. Direkt nach den Protesten 2020 ließ die Regierung die Informationen aller Videoüberwachungskameras des Landes in ein System einfließen, mit dem gesuchte Personen mithilfe von Gesichtserkennungssoftware schnell identifiziert werden können. Ende 2022 erhielten die Geheimdienste das Recht des dauerhaften Zugriffs auf faktisch jede beliebige elektronische Datenbank. Theoretisch gab dieser Erlass Lukaschenkos den Silowiki die Möglichkeit, nicht nur auf Anfrage, sondern ständig Zugriff auf die Datenbanken von Krankenhäusern, Banken, Mobilfunkanbietern, Kurier- und Speditionsdiensten zu haben – mit anderen Worten also die volle Kontrolle über den digitalen Fußabdruck jedes Einwohners von Belarus. Im August 2023 unterzeichnete Lukaschenko einen Erlass, der den Sicherheitskräften Zugriff auf das Verwaltungssystem aller Banktransaktionen im Land gewährt. Die Geheimdienste erhalten die Möglichkeit, jede Zahlung bis zu zehn Tage lang zu blockieren, wenn der Verdacht auf einen Gesetzesverstoß vorliegt.
Ein weiteres klassisches Merkmal totalitärer Systeme ist die Ausreisebeschränkung der Bürger. Das belarussische System hat bislang keine Auslandsreisepässe und Ausreisevisa, wie es sie beispielsweise in der UdSSR gab. Dennoch werden die Auslandsreisen der Belarussen sehr viel gewissenhafter kontrolliert. Seit Frühjahr 2023 nach einer Drohnenattacke auf ein russisches Flugzeug auf dem belarussischen Flugplatz Matschulischtschi überprüfen die Silowiki stichprobenartig die Mobiltelefone einreisender und ausreisender Menschen an den Grenzübergängen. Finden sie etwas Verbotenes, verhaften sie die Person. Vorrangig unterliegen diesen verstärkten Kontrolle diejenigen, die bereits einmal aus politischen Gründen verhaftet wurden, sowie Bürger, die eine Verbindung zur Ukraine haben: die häufig dorthin reisen, einen ukrainischen Pass oder eine Aufenthaltserlaubnis haben.
Im Mai 2023 wurde ein Gesetz beschlossen, das den KGB berechtigt, die Ausreise einer Person „im Interesse der nationalen Sicherheit“ für die Dauer eines halben Jahres einzuschränken. Seit November dürfen einige Staatsbedienstete, Leiter staatlicher Betriebe und alle Silowiki Belarus nur mit dem Einverständnis ihres Vorgesetzten verlassen.
Geschichtsrevision als Teil der ideologischen Doktrin
Vor einem Jahr noch schrieben wir, dass die Entwicklung des belarussischen Regimes zum Totalitarismus unvollständig bleibt, da eine Schlüsselkomponente fehlt: eine mobilisierende Ideologie, die den gesamten öffentlichen Raum, den Bildungssektor und die Propaganda durchdringt. Diese Einschätzung ist weiterhin aktuell. Doch werden einzelne Komponenten eines vollwertigen ideologischen Fundaments immer deutlicher, zumindest in der Schaffung eines offiziellen historischen Narrativs und, mit dessen Hilfe, in der Indoktrinierung der Schüler.
In dieser Mischung aus sowjetischem und prorussischem Geschichtsbild wurde die belarussische Staatlichkeit nur dank des antiwestlichen Bündnisses mit Moskau möglich. Die Helden der belarussischen Geschichte, die gegen das Russische Imperium kämpften und die bis vor Kurzem noch offiziell geehrt wurden, wurden nun zu Feinden erklärt. Dazu gehören zum Beispiel die Anführer der antirussischen Aufstände im 18. und 19. Jahrhundert, Tadeusz Kościuszko und Kastus Kalinouski. Im Mai 2023 schlug der Chef der Präsidialadministration Igor Sergejenko vor, diese Personen aus dem Pantheon der Nationalhelden zu streichen, ebenso die Magnaten aus dem Geschlecht der Radsiwill, unter denen die belarussischen Gebiete im Großfürstentum Litauen vom 15.–17. Jahrhundert eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten. Igor Sergejenko verglich Kalinouski mit Stepan Bandera, dem zentralen Antihelden des historischen Narrativs des Kreml.
Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind
Seit September 2023 finden diese Ansichten Niederschlag in den neuen Instruktionen des Bildungsministeriums für Geschichtslehrer an belarussischen Schulen. Literarische Werke belarussischer Klassiker, die den Kampf gegen den russischen Imperialismus preisen, werden als „extremistisch“ bezeichnet und verboten. Romane, die ein positives Bild von Kalinouski zeichnen, werden aus dem Lehrplan verbannt. Die Regierung änderte auch die Regelungen für Touristenführer und die Organisation von Ausstellungen in Museen. Museumsmitarbeiter geraten unter anderem bei Führungen in Konflikt mit dem Gesetz, wenn sie vom offiziellen Geschichtsnarrativ abweichen.
Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind. Für Lukaschenkos Regime ist Polen ein solcher Feind, ein ewiger Kolonisierer belarussischer Erde und Unterdrücker der belarussischen Kultur. Die Regierung ließ sogar einen Spielfilm produzieren, Auf der anderen Seite des Flusses (russ. Na drugom beregu) – über das Leiden der Bewohner von Westbelarus unter polnischer Herrschaft in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im Herbst 2023 wurde dieser Film als Pflichtveranstaltung Schülern und Studenten im ganzen Land vorgeführt.
Der Mensch ist Ressource, Wünsche zählen nicht
Durch das demografische Tief – also die geringe Anzahl junger Menschen im arbeitsfähigen Alter – und die massenhafte Abwanderung von Fachkräften ins Ausland in den letzten Jahren steht die belarussische Regierung vor dem Problem eines ernstzunehmenden Arbeitskräftemangels, vor allem im medizinischen Bereich. Die totalitäre Logik der Weiterentwicklung des Regimes diktiert ein Verhältnis zum Menschen als ökonomische Ressource, für deren Lenkung nicht unbedingt die Berücksichtigung persönlicher Prioritäten der Bürger nötig ist.
Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender
Im September 2023 wies Lukaschenko an, den Universitätsabsolventen verstärkt Arbeitsplätze zuzuweisen. Bis heute müssen belarussische Studenten, die auf Staatskosten studiert haben, nach dem Abschluss zwei Jahre lang an einem vom Staat zugewiesenen Ort ihr Studium abarbeiten (sog. raspredelenije). Häufig werden die Absolventen an Orte auf dem Land verteilt, um dort das Problem des Fachkräftemangels zu lösen. Es ist möglich, sich von dieser Zuweisung zu befreien, indem man eine hohe Ausgleichssumme an den Staat zahlt, die die Kosten des Studiums übersteigt.
Nun hat Lukaschenko festgelegt, dass die Dauer der Pflichtzuweisung verlängert wird und die Regel für alle Absolventen gilt, unabhängig davon, ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben. Junge Ärzte müssen seit Oktober 2023 nun nach Abschluss der Facharztausbildung fünf Jahre lang ihr Studium abarbeiten.
Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender. Die belarussische Regierung hatte, im Unterschied zum Kreml, diesen Themen nie große Bedeutung beigemessen, nun aber beschäftigt sie sich damit. An Schulen soll ein Kurs zu traditionellen Familienwerten eingeführt werden, den die Generalstaatsanwaltschaft ausarbeitet. Das Regime teilte zudem mit, dass bald „Propaganda“ für LGBT und Kinderlosigkeit verboten werden soll. Die Silowiki haben begonnen, Ausprägungen „nichttraditioneller“ Werte in den Medien aufzuspüren und zu verfolgen – es traf eine Reklame mit einem Mann im Kleid, oder einen Blogger und Sänger, der rosafarbene Kleidung trägt. Belarussische Staatsbeamtinnen rufen eine nach der anderen die Frauen dazu auf, mehr Kinder zu gebären und früher damit zu beginnen.
Ist ein Rückgang der Repressionen vorstellbar?
Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, in welche Richtung sich ein Regime wie das belarussische in Zukunft entwickeln wird. Personalistische Regime sind stark vom Schicksal ihres Herrschers abhängig. Und auch wenn die Geschichte erfolgreiche Fälle kennt, in denen sich das Regimes unter einem Nachfolger repliziert hat (Venezuela, Nordkorea, Iran, Syrien), gibt es auch zahlreiche Gegenbeispiele, wie Stalins UdSSR oder das maoistische China. Der institutionelle Rahmen dieser Regime blieb nach dem Tod des Führers erhalten, aber die Brutalität der Repressionen und die Totalität der staatlichen Kontrolle ließen entscheidend nach. Der belarussische Fall sticht zudem noch dadurch heraus, dass die Stabilität des Minsker Regimes von der Unterstützung des Moskauer Schutzherren abhängt. Der Krieg und Putins Alter erhöhen hier den Grad der Unberechenbarkeit.
Dabei ist durchaus ein Rückgang der Repressionen auch unter Lukaschenkos Führung vorstellbar. Immerhin hat er das in der Vergangenheit bereits getan, um die Beziehungen zum Westen zu reaktivieren. Heute allerdings wäre eine Freilassung der politischen Gefangenen wohl kaum ausreichend für eine vollständige Normalisierung, berücksichtigt man den Nachgang von 2020, die künstlich hervorgerufene Migrationskrise an den EU-Außengrenzen, die Zwangslandung der Ryanair-Maschine 2021 und die Beteiligung am russischen Krieg. Im Falle eines für Russland ungünstigen Kriegsausgangs in der Ukraine oder einer Krise im belarussisch-russischen Verhältnis könnte Lukaschenko durchaus wieder eine Bereitschaft zum Dialog mit dem Westen signalisieren, und dafür auch die Repressionen im Land reduzieren.
Die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten
Ein zweiter Weg zum selben Ergebnis könnte sein, dass die Repressionen die für das System tragbaren Grenzen überschreiten. Ende der 1930er Jahre endete Stalins Großer Terror in der UdSSR nicht, weil Stalin den Dialog mit dem Westen suchte, sondern weil es für die Parteinomenklatura unerträglich geworden war, in Angst zu leben; die Repressionen hatten zu viele der eigenen Leute vernichtet. Dieses Szenario ist für Belarus nicht ausgeschlossen, die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten.
Allerdings ist der Grad der Repressionen, der aus taktischen Gründen reguliert werden kann, bei Weitem nicht die einzige Komponente dieses Systems. Stalins Regime blieb auch nach dem Großen Terror eine totalitäre Diktatur. Sie blieb erhalten, weil sie maximal auf die Psychologie des kommunistischen Führers ausgerichtet war und ihm die verständlichste Art der Regierung war. Leider kann man dasselbe über die Elemente des Totalitarismus sagen, die Lukaschenko wiedererweckt hat. Für ihn ist es bequem, genau solch einen Staat zu regieren, der immer mehr an das sowjetische System erinnert, in dem er aufgewachsen ist.
Es ist schwierig, sich einen Anreiz vorzustellen, der Lukaschenko dazu bringen würde, diesen Prozess umzukehren: die von niemandem gewählte Allbelarussische Volksversammlung aufzulösen, den Geheimdiensten die Vollmachten zur totalitären Überwachung der Gesellschaft zu entziehen, das prorussische historische Narrativ aufzugeben, die Pflichtzuweisung der Absolventen oder die Überprüfung der politischen Loyalität bei der Arbeitsaufnahme abzuschaffen. All diese Attribute des Regimes zu demontieren, wird wohl die Aufgabe der nächsten belarussischen Regierung sein.
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FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?
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Belarussisches Roulette
Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten haben belarussische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mindestens 125 Personen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, festgenommen. Einige wurden direkt an der Grenze abgeführt, andere wurden später verhaftet. Warum kehren die Menschen zurück, wenn der Machtapparat Lukaschenkos nach wie vor mit scharfen Repressionen gegen die eigenen Bürger vorgeht und es auch immer wieder zu regelrechten Massenverhaftungen kommt? Die Gründe sind vielfältig: Möglicherweise findet man keine Arbeit im Ausland, kann so sein Leben nicht sichern, vielleicht sind die Eltern krank, man will die eigene Wohnung verkaufen oder man muss dringende Amtsgeschäfte erledigen. Schließlich können belarussische Staatsbürger seit vergangenem Jahr keine neuen Ausweisdokumente an den Botschaften ihrer Heimat mehr beantragen.
Das Online-Portal Zerkalo hat eine Belarussin und einen Belarussen getroffen, die die Reise trotz allen Risikos gewagt haben. Aber wie plant man solch eine Reise, wie stellt man sicher, dass die Sicherheitskräfte nicht doch auf einen aufmerksam werden, wenn eigentlich vor allem ein Faktor über Gelingen oder Scheitern einer solchen Unternehmung entscheidet: die Willkür.
Die Namen der Befragten wurden zur Sicherheit anonymisiert.
Hier beschreiben sie Reiserouten und Vorsichtsmaßnahmen, die sie selbst gewählt und ergriffen haben. Wir empfehlen jedoch nicht, ihre Wege und Erfahrungen als Anleitung zu ähnlichen Reisen zu verstehen und ein Risiko einzugehen, wenn Sie davon ausgehen, in Belarus von einer Festnahme bedroht zu sein.
Schlimmstenfalls kommen die Maskierten direkt zum Notar
Seit zweieinhalb Jahren lebt Viktoria mit ihrem Mann im Ausland. 2020 nahmen sie an den Protesten teil, ein paarmal wurden sie festgenommen, aber sie hatten Glück, sagt Viktoria: „Mal war kein Platz, mal haben sie uns vergessen, wir kamen immer wieder frei.“ Doch auch mehrere Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahme ihrer technischen Geräte musste das Paar über sich ergehen lassen. Die letzte Durchsuchung war so brutal, dass sie beschlossen, lieber doch das Land zu verlassen. Später kam der Entschluss dazu, ihre Eigentumswohnung in Minsk zu verkaufen. Allerdings gibt es ein neues Gesetz, laut dem man dazu entweder persönlich anwesend sein oder jemandem eine Generalvollmacht ausstellen muss, die man jedoch auch nur in Belarus bekommt. Viktoria und ihr Mann beschlossen also, dass einer von ihnen fahren müsse und die Reise für Viktoria weniger riskant sei.
„Wir hatten uns schon gefreut, alle Verbindungen zu kappen, hatten sogar einen Käufer gefunden und wollten in Polen zum Notar gehen, um die Vollmachten aufzusetzen, da kam auf einmal dieser Erlass und machte uns einen Strich durch die Rechnung. Das soll uns alles nur das Leben erschweren. Die Regierung ist schlau, aber wir sind schlauer“, scherzt unsere Gesprächspartnerin. „Immerhin steht viel auf dem Spiel – ich rechne damit, dass sie die Ausgewanderten früher oder später überhaupt enteignen werden. Wir alle wollten nur für ein, zwei Jahre weggehen, aber dann wird einem klar, dass man sich im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat und hier alles findet, was man zum Leben braucht.
Einen Monat lang haben wir überlegt, dann fiel die Entscheidung. Wir planten jeden Schritt gründlich. Bekannte von uns sind schon seit einem halben Jahr in Polen, und jedes Mal, wenn sie nach Belarus fahren, fragt man ihnen an der Grenze Löcher in den Bauch – wieso sie schon so lange im Ausland leben und wieso sie jetzt zurückkommen würden. Daher wollte ich alle direkten Kontakte vermeiden, zumal ich ein humanitäres Visum habe.“
Im Dezember 2023 flog die Belarussin nach Hause. Über Georgien und Russland in die nächstgelegene belarussische Großstadt – sie entschied sich für Orscha. Diese Reise für ein einziges Dokument kostete sie hin und zurück insgesamt eine Woche.
„Den Flug zu buchen war ein Hindernislauf, die ersten Tickets stornierten wir wieder. Einerseits aus Vorsicht, denn wenn man ein Ticket für eine russische Fluglinie kauft, taucht man sofort im System auf. Sie sehen, dass man fliegen will. Also stornierten wir und kauften andere Tickets. Vielleicht wäre dieser Aufwand gar nicht nötig gewesen, aber wir wollten alles tun, damit die Reise möglichst ungefährlich ist. Ich nahm keine belarussische SIM-Karte mit, aber dann stellte sich heraus, dass man in Russland seine Seele verkaufen muss, um sich mit dem WLAN zu verbinden!“, lacht Viktoria.
Sie erzählt, dass auf dem Moskauer Flughafen eine Belarussin mit einem kleinen Kind so lange verhört wurde, dass sie ihren Anschlussflug verpasste. Viktoria traf sie erst auf der Heimreise wieder.
„Am meisten Misstrauen kommt von russischer Seite. Da werden die Pässe gescannt und Fragen gestellt – zehn bis fünfzehn waren es bei mir: Wohin ich fahre, zu welchem Zweck, wie es danach weitergeht, wieso ich kein Visum habe (weil ich einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Polen habe). Wobei viele dieser Fragen ziemlich seltsam waren: Wie viele Passagiere an Bord waren, welche Farbe die Flugzeugtriebwerke hatten, wie hoch die Lufttemperatur in Georgien war, wie viel Gepäck ich dabei hatte. Keine Ahnung, was sie mit all diesen Infos wollten.“
Als dieses Stück geschafft war und Russland keine weiteren Fragen mehr hatte, erwartete Viktoria eine nicht minder schwierige Etappe: Sie musste in das Land einreisen, dessen Silowiki sie im Visier hatten, und so schnell wie möglich die Dokumente holen. Sie reiste noch am selben Tag wieder aus.
„Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, der dich sicher durch Belarus bringt. Wir wurden von den Marschrutka-Fahrern gut instruiert, was wir sagen sollten, um keine Fragen zu provozieren. Ab da ging es leicht. Wir hatten im Voraus einen Notar in Orscha gebucht, einen privaten, den uns Bekannte empfohlen hatten. Der Termin war am Abend, weil man sehr schnell in den Datenbanken auftaucht und es jetzt Listen gibt. Ich wusste, wenn ich auf einer Liste stehe, kann mir mindestens die Ausstellung einer Vollmacht verweigert werden. Na, und schlimmstenfalls kommt die Maskenshow direkt zum Notar, egal, in welcher Stadt – angeblich sind die blitzschnell da. Davor haben uns die Immobilienmakler gewarnt. Aber wir haben uns abgesichert und kamen extra am Ende des Arbeitstages, damit ich am nächsten Morgen, wenn meine Daten im System auftauchen, schon außer Landes bin.“
Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich hab’ mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!
Ihre Heimatstadt Minsk besuchte Viktoria nicht. Erst im letzten Moment, bevor sie wieder über die Grenze nach Russland reiste, gab sie ihren betagten Eltern und engsten Freunden Bescheid, die nach Orscha kamen, um sie zu sehen. Sie traf ihre Nächsten zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren.
„Meine Eltern sagten später, dass sei alles so hektisch gewesen. Aber so herzlich! Wenn du deine Angehörigen umarmst und sagst: ‚Du hast dich gar nicht verändert.‘ Da muss man schon eine Träne verdrücken. Das war das Wertvollste an der ganzen Reise!“, meint Viktoria. „Aber dass ich gespürt hätte, dass ich mein Heimatland furchtbar vermisse, das kann ich nicht behaupten. Alles war grau, in Russland und Belarus fiel dichter Schnee und es stürmte, daher sah ich nicht viel von draußen, von der Stadt. Heimat, das sind für mich heute die Menschen, die mich dort umgaben. Alles, was ich dort hatte, lasse ich gern hinter mir, nur nicht die Menschen.“
Obwohl alles schnell und problemlos vonstatten ging, erzählt Viktoria von einem Ansturm verschiedenster Emotionen, darunter natürlich die Sorge, die Angst, dass etwas schiefgeht und sie den Silowiki in die Hände fällt, wie so viele Belarussen vor ihr:
„Der Gipfel der Angst ist die Grenze, wenn dir ein Uniformierter in die Augen schaut, deinen ganzen Pass abfotografiert, anfängt zu notieren, zu telefonieren, weiterzuleiten. Und als würde dir nicht sowieso schon das Herz in die Hose rutschen, führen sie auch noch vor deinen Augen jemanden zum Verhör ab. Und du denkst, das kann dir genauso passieren. Ich wurde Gott sei Dank verschont, aber die Etappe in Russland war emotional am schlimmsten. Obwohl wir auf dem Rückweg nicht einmal im Stau standen und unsere Pässe gar nicht kontrolliert wurden. Wenn wir auf irgendwelchen ‚Terroristenlisten‘ gestanden hätten, wäre ich wohl nicht so einfach durchgekommen. Vielleicht half uns auch, dass in unserem Auto lauter Frauen saßen. Na, und als ich in die EU einreiste, auch auf Umwegen, machte ich mir dann Sorgen wegen meines russischen Stempels im Pass. Wir hatten alles durchgeplant – theoretisch hätte nichts passieren dürfen, aber trotzdem stand ich unter Stress. Am Ende bin ich sogar am Schnellsten durchgekommen.“
Nach der letzten Passkontrolle auf EU-Territorium konnte sich die Belarussin wieder entspannen, sie besuchte noch Freunde und fuhr dann nach Hause nach Polen. Aber was sie da eigentlich erlebt hatte, wurde ihr erst später bewusst, räumt sie ein.
„Die Emotionen holten mich erst ein, als ich schon zwei oder drei Tage zu Hause war – ich brach körperlich zusammen, meine Psyche forderte Ruhe, ich musste das alles verarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber mittendrin war ich konzentriert, dachte kritisch, machte alles, was nötig war. Während ich unterwegs war, waren alle nervös, aber die größten Sorgen machten sich meine Eltern. Sie sagten: ‚Der liebe Gott hat dich beschützt.‘ Ich dachte: ‚Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich habe mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!‘ (Sie lacht.) Mein Mann war am ersten Tag extrem kühl. Er begrüßte mich natürlich, umarmte und küsste mich, das schon, aber er war reserviert. Als mir dann am zweiten Tag zu dämmern begann, dass alles gut ausgegangen war, dass ich wieder da war, in meinem Bett schlief und nicht Gott weiß wo, da wurde auch er emotional – er hatte sich ja auch Sorgen gemacht, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. So zeigt ein Mann seinen Stolz, dass wir Frauen so zähe Geschöpfe sind! (lacht) Wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt, dann akkumuliert man plötzlich seine ganze Kraft. Meine Tat eröffnet uns hier andere Horizonte. Es war ein nobles Risiko. Oder ein kaufmännisches, ich weiß nicht.
Ich erinnere mich, wie wir in Orscha an einer Ampel standen und neben uns ein Polizeiauto hielt – und wie ich zusammenzuckte. Überhaupt frage ich mich, wie Leute, die irgendeine Vorgeschichte haben, einfach über die belarussische Grenze fahren. Ich bin eine Woche lang mit Bussen und Marschrutkas herumgegondelt, putzte mir die Zähne bei McDonald’s, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Ja, ich war erfolgreich, aber vielleicht war es einfach Glück? Ich will diese Vorgangsweise niemandem empfehlen. Ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich diesen Trip wiederhole – das war physisch und psychisch sehr anstrengend“, sagt Viktoria.
Alle sagten, ich sei leichtsinnig … aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen
Igor kommt ebenfalls aus Minsk, im Winter 2023 waren es knapp drei Jahre, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Ende November fuhr er für zehn Tage nach Belarus – so lange dauert es, einen neuen Pass zu bekommen. „Mein Risiko war dasselbe wie für alle Belarussen – man weiß nie, was passiert. Ich war auf allen Demos, habe an Protestveranstaltungen in Hinterhöfen teilgenommen, ungefähr bis Februar“, erklärt er. „Aber ich dachte, lieber gleich fahren, weil die Repressionen später nur noch stärker werden. Die Gefahr, festgenommen zu werden, würde nur steigen. Trotzdem versuchten alle, mir das auszureden, sagten, ich sei leichtsinnig. Fand ich ja auch, aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen. Als es ein paar Wochen vor meinem Flug hieß, dass Leute bei der Zwischenlandung in Moskau auf einmal mit einem Ausreiseverbot konfrontiert wurden – manche hatten das Glück, das schon vor dem Flug zu erfahren –, da bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
Igor wollte sich ebenfalls absichern und flog über die russische Hauptstadt. Dort setzte er sich in den Zug nach Smolensk, wo ihn Freunde aus Minsk mit dem Auto abholten.
„Bei der Passkontrolle auf dem Flughafen bekamen Staatsbürger Tadschikistans und der RF nur ein paar Fragen gestellt und wurden schnell durchgelassen. Als Belarusse musste ich deutlich mehr beantworten: Wohin, wozu, warum, wo ich arbeite, wann ich das Land verlassen habe, warum ich über Moskau fliege, warum ich ein litauisches Visum habe und was ich dort gemacht habe“, erzählt Igor. „Einer meiner Bekannten sagte irgendwas Dummes, da nahmen sie ihn sofort beiseite, holten ihren Vorgesetzten und verhörten ihn regelrecht. Aber sie verzichteten darauf, sein Handy zu durchsuchen, und ließen ihn nach zehn Minuten wieder laufen. Ich hatte Angst, ich könnte, ohne es zu wissen, in irgendwelchen Datenbanken auftauchen und festgenommen werden. Aber das war der einzige Moment, in dem ich mit einer Festnahme rechnete.“
Den Pass beantragte Igor in Minsk, wo er sicherheitshalber weder an seiner Meldeadresse noch bei Verwandten übernachtete. Er war darauf gefasst, auf dem Meldeamt gefragt zu werden, warum er schon so lange im Ausland lebe, doch keiner interessierte sich für ihn, und nach sieben Tagen bekam er im Schnellverfahren seinen Pass.
„Ich hatte Freunde gebeten, mir eine neue SIM-Karte zu besorgen, und benutzte sie mit einem fremden Handy, mein eigenes ließ ich ausgeschaltet. Ich entspannte mich: Niemand fragte nach mir, niemand suchte mich. Vielleicht täuschte das Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren kann. Ich wunderte mich jedenfalls, dass ich während der ganzen Zeit fast keine Polizei auf der Straße sah, dabei hatte ich Flashbacks von 2020 befürchtet, von diesen Kleinbussen mit Uniformierten.“
Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen!
Abgesehen davon registrierte unser Gesprächspartner eine andere Stimmung bei den Leuten auf der Straße. Er habe sich gefreut, vorübergehend zurück zu sein und seine Nächsten zu sehen, erzählt er, aber er habe gespürt, dass sich seine Beziehung zu Minsk verändert hätte:
„Ich traf Freunde und Verwandte, wobei ich maximal darauf achtete, nicht aufzufallen und mich abzusichern, wo es ging. Ich aß, was ich am meisten vermisst hatte, spazierte durch die Stadt. Es war kalt, daher war ich immer ganz eingemummt in Jacke und Schal. Keine Ahnung, vielleicht war es ein Placebo-Effekt, und sie hätten mich auch so gefunden, wenn sie gewollt hätten.
Insgesamt hat mir die Reise gut getan – endlich ließ das Heimweh nach, das mich in der Emigration so geplagt hatte. Da glaubt man, zu Hause ist das Gras grüner und alles ist schöner. Aber nach dem sonnigen Georgien sah ich diese ganze Düsternis hier, die unglücklichen, freudlosen Gesichter, die nie lächeln. Die Resignation, als wüssten alle, dass sie in einem Konzentrationslager leben und keine Perspektive haben. Diese Hoffnungslosigkeit, die in der Luft hängt …
Danach ging es mir besser, ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht: dass ich weggegangen war und nicht mehr heim fuhr. Ich werde wohl die nächsten Jahre nicht mehr nach Belarus fahren. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass mir alles fremd geworden ist. Nicht mehr das, was ich früher geliebt hatte – das ist alles zerstört. Wobei, wisst ihr, zuerst sah es aus, als hätten sie alles zerstört, als wäre alles verschwunden. Aber dann rief ich ein Taxi zum Meldeamt, und der Fahrer hörte Brutto. Leise, aber dennoch. Da dachte ich: Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen! Ja, sie haben Angst, aber auch Hoffnung.”
Zurück reiste unser Gesprächspartner ebenfalls über Smolensk und Moskau. Die Grenzpolizei auf dem Flughafen stellte kaum Fragen, und die Zone der internationalen Abflüge war halbleer.
„Als ich nach Georgien zurückkam, war ich sehr erleichtert und froh, ich fühlte mich sicher, obwohl ich auch in Minsk nicht wirklich Angst gehabt hatte. Ich begriff, dass ich mich hier schon mehr zu Hause fühle als in Belarus“, berichtet er. „Ich war froh, in mein gewohntes Leben zurückzukehren. Aber ich träume davon, am Tag des großen Staus (wenn die Repressionen vorbei sind und es eine neue Regierung gibt – Anm. Zerkalo) nach Belarus zurückzugehen. Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird und Minsk wieder aufblühen kann.“
Außerdem ist Igor froh, dass seine Reise glimpflich verlaufen ist und er jetzt einen neuen Pass in Händen hält, der zehn Jahre lang gültig ist. Aber er würde niemandem empfehlen, so vorzugehen wie er, sagt er.
„Objektiv betrachtet war das belarussisches Roulette. Jetzt, wo alles gut gegangen ist, kann ich natürlich sagen: Toll, das war es wert! Mit meinem neuen Pass kann ich beruhigt weiterleben und mich sicher fühlen“, sagt er. „Aber wenn es anders ausgegangen wäre, dann wären die Konsequenzen tragisch. Rein rational war es falsch und unvernünftig, was ich gemacht habe. Und das Schlimmste ist, dass meine Freunde und Bekannten, die Verwaltungsstrafen haben und unter Beobachtung stehen, von meiner Reise inspiriert ebenfalls nach Belarus fahren wollen. Es kostet mich enorm viel Mühe, ihnen klarzumachen, dass das gefährlich ist und sie es bleiben lassen sollen. Ich mache mir große Sorgen, jemand könnte meinem Beispiel folgen und in die Falle tappen. Es kommt oft vor, dass Leute fahren und nicht wissen, dass sie in der Datenbank erfasst sind, und dann werden sie festgenommen.”
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Geschäfte und Geopolitik in Afrika
Seit dem vergangenen Jahr spricht Putin in seinen Reden so häufig wie nie zuvor über Afrika. Woher kommt das gesteigerte Interesse? Der Ökonom Wladislaw Inosemzew beleuchtet auf Riddle die Geschäfte russischer Militärunternehmen, antikoloniale Rhetorik und geopolitische Ambitionen des Kreml auf dem Kontinent.
Wladimir Putin empfängt im September 2023 seinen südsudanesischen Amtskollegen Salva Kiir Mayardit im Kreml. Russland hatte dessen Armee an einem UN-Embargo vorbei mit Waffen versorgt. / Foto © IMAGO, ITAR-TASS
Vor 30 Jahren gab Wladimir Shirinowski, ein mittlerweile verstorbener russischer Politiker, der damals große Hoffnungen weckte, ein Buch heraus. Er drängte dort auf ein Ausgreifen Russlands in eine Richtung, die heute als „globaler Süden“ bezeichnet wird. Und schrieb von der Hoffnung, dass russische Soldaten einst ihre Stiefel im Indischen Ozean säubern würden. Seitdem haben die Bestrebungen, im Raum zwischen der Türkei und Indien, zwischen dem Persischen Golf und China einen Krieg zu führen, bei vielen abgenommen. Die Interessen der Großmächte haben sich Richtung Afrika verschoben. Auch Russland wurde in dieser Region aktiv und ist es immer noch, und zwar auf die ihm eigene, spezifische Weise.
Militärunternehmen mischen sich in die inneren Angelegenheiten der Länder ein
Präsident Putin hatte sich in den 2000er Jahren noch hauptsächlich mit der Wiederherstellung der Verbindungen zu den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion befasst. Dazu gehörte, dass die Schulden recht erfolgreicher afrikanischer Staaten abgeschrieben wurden (bis 2008 wurden Schulden von über 14,5 Milliarden US-Dollar erlassen, unter anderem die von Libyen und Algerien). Ab 2012 verschoben sich die Akzente jedoch beträchtlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml und seiner Stellvertreter gerieten nun die tyrannischsten Staaten des Kontinents, die von inneren Konflikten zerrissen und reich an wertvollen Bodenschätzen sind: der Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und eine Reihe anderer Staaten. Die RAND Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, hat jüngst in einer Studie 34 Fälle aufgeführt, in denen sich Russland seit 2005 in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingemischt hat. Dieses Vorgehen erfolgte zum Großteil nicht durch offizielle Stellen Russlands, sondern durch private Militärunternehmen und diverse Berater.
Hier ist anzumerken, dass sich insbesondere nach 2012, nach Putins Rückkehr in den Kreml, dieses gesteigerte Interesse Russlands auf Nord- und Zentralafrika konzentrierte: Russland unterstützte die ihm nahestehenden Kräfte im Bürgerkrieg in Libyen. Und es versuchte, im Sudan Präsident Umar al-Baschir beim Machterhalt zu helfen. Gleichzeitig hat Russland die Armee des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit bewaffnet, wobei das von der UNO verhängte Embargo auf Waffenlieferungen nach Südsudan umgangen wurde. Nachdem der Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik 2016 einigermaßen beendet war, schickte Russland erstmals offiziell Waffen und Militärausbilder in das Land (meist Angehörige privater Militärstrukturen). Zuvor hatten sich die europäischen Staaten und vor allem Frankreich unfähig gezeigt, diesen Konflikt zu schlichten: Sie zogen den größten Teil ihrer Kontingente ab; die letzten französischen Soldaten verließen das Land 2022. Die Gewinne der Wagner-Gruppe in dieser Region beliefen sich bald schon auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar. In Russland kamen Gerüchte auf, dass die Zentralafrikanische Republik quasi als „Tresor“ für Vermögen diene, die die russische politische Elite zusammengeraubt hatte. Die russische Expansion ging aber weiter: 2021 beteiligten sich kremlfreundliche Kräfte am Putschversuch im Tschad, indem sie die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden Libyens trainierten. Dann wurden Wagner-Leute in Mali gesichtet, wo sie auf Seiten der Regierungstruppen kämpften und in massenhafte Repressionen gegen Zivilisten verwickelt waren. Und im vergangenen Jahr wurden in Niger überall russische Flaggen geschwenkt, um Jewgeni Prigoshin zu grüßen, der gerade seine letzten Tage verlebte – zuvor hatten dort Militärs den rechtmäßigen Präsidenten Mohamed Bazoum durch einen Putsch gestürzt.
Lukrative Geschäfte mit afrikanischen Bodenschätzen
All diese Jahre machten Angehörige privater russischer Militärfirmen einträgliche Geschäfte: Sie sicherten die Förderung von Edelsteinen und -metallen, die sie wiederum als Bezahlung für ihre Waffen und Dienste erhalten hatten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einnahmen mit Offiziellen in Moskau geteilt wurden, umso mehr, als Putin 2023 selbst einräumte, dass die Wagner-Gruppe aus Haushaltsmitteln finanziert wurde. Die Beseitigung Prigoshins und die anschließende „Wiederherstellung der alleinigen Befehlsgewalt“ in der russischen Armee führten zu Korrekturen in der russischen Politik in Afrika: Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow war allein in den letzten Monaten auf Staatsbesuchen in Sudan, Libyen und Niger. Seither sollte man von neuen „aussichtsreichen“ Plänen sprechen, die der Kreml ausbrütet.
Je mehr Wagner den russischen Einflussbereich erweiterte, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken
Afrika wurde bislang von Putin und seiner engsten Umgebung als eine Region betrachtet, in der Russland eine gewisse (wenn auch nicht unbedingt sehr große) Präsenz haben sollte. Das Beispiel China mit seinen gigantischen Investitionen erschien attraktiv, für Russland aber kaum realisierbar. Westliche Experten sprechen heute eher davon, dass Russland sein eigenes autoritär-kleptokratisches Modell und nicht die chinesische Variante von Wirtschaftsentwicklung nach Afrika trägt. Je mehr Wagner mit minimalen Ausgaben (und mit Gewinn für sämtliche Nutznießer) den russischen Einflussbereich erweiterte und dadurch zeigte, wie einfach die ehemalige koloniale Präsenz in der Region zu entwurzeln ist, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken.
Ein Korridor bis zum Atlantik
Seit dem Beginn der intensiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan hatte es in der Presse Berichte über eine russische Initiative für einen eigenen Marinestützpunkt am Roten Meer gegeben. Moskau strebte eindeutig nach Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region, wo bislang nur die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen ihr Unwesen treiben. Dieser Plan wurde bislang nicht verwirklicht. Dafür bilden die immer neuen Einflussgebiete Russlands in Afrika allmählich eine Art Korridor, der sich vom Roten Meer in Richtung Atlantik erstreckt, zu dessen Ufern der Kreml sehr gern einen Zugang hätte. Stand heute, nach dem kürzlich erfolgten Umsturz in Burkina Faso, ist es bis zum Ozean nur noch ein kleiner Schritt: In dem Land sind zwar nicht eindeutig prorussische Kräfte an die Macht gekommen (auch wenn der neue Regierungschef als erster auf dem Russland-Afrika-Forum eintraf), aber immerhin antiwestliche.
Werden die Europäer weiter ihre Positionen aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz aufzuhalten?
Westliche Experten verweisen in letzter Zeit auf diese Prozesse, auch wenn sie diese noch nicht direkt mit dem Einfluss Moskaus in Verbindung bringen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Artikel von Comfort Ero und Murithi Mutigi in der neuen Ausgabe von Foreign Affairs. Die Autoren stellen dort einen „Coup-Korridor“ fest, der sich von Ost nach West durch die zentralen Regionen des Kontinents zieht. Allerdings sollte man nicht allein auf die Umstürze verweisen, sondern auch deren Folgen berücksichtigen. Im Fall Guinea arbeitet die neue Regierung etwa an einer Rückkehr zu demokratischen Verfahren und fördert Beziehungen zu europäischen Staaten. Die Frage ist jetzt vielfach die: Werden die Europäer ihre Positionen in Westafrika (wo lange Zeit der französische Einfluss groß war) weiter aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz dort aufzuhalten?
Antikoloniale Rhetorik und bescheidene Wirtschaftshilfen
Moskau setzt jetzt erkennbar eine in der Region populäre antikoloniale Rhetorik ein. Oft werden jene Politiker und Aktivisten unterstützt, die einen Panafrikanismus verfechten, selbst wenn sie in Europa geboren sind und dort ihre Bildung erhielten. Ein Beispiel ist Kémi Séba, der seine Bewegung schwarzer Suprematisten und Antisemiten begründete, nachdem er seine Bildung in Frankreich und den USA erhalten hatte.
Anders als Peking investiert Moskau keine Riesensummen in afrikanische Volkswirtschaften. Russland geht in der Region aber viel härter vor und schreckt auch nicht vor politischer Destabilisierung zurück. Für eine Vollendung eines solchen Korridors, der den afrikanischen Kontinent durchschneidet, muss der Kreml die Kontrolle über sämtliche dieser kleineren, aber eng mit Frankreich verbundenen Länder herstellen. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Senegal und Kamerun, wo sich antikoloniale Stimmungen bemerkbar machen. Diese Länder versuchen aber auch, nachhaltige Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten, weil sie auf Hilfe bei der Lösung interner Probleme hoffen.
Russland erzeugt eine Vielzahl von Problemen und beteiligt sich bei keinem davon an einer Lösung
Vor kurzem noch hatten viele westliche Experten zu der Ansicht geneigt, dass „ohne Russland keines der globalen Probleme gelöst werden“ könne. Jetzt aber muss man sich eingestehen, dass Russland eine Vielzahl von Problemen und Konflikten erzeugt, und sich bei keinem von ihnen an einer Lösung beteiligt. Das ist auch in Afrika zu sehen. Ganz gleich, wohin nun die russischen Interessen durchgedrungen sind: Es ist weder ein stabiler Frieden hergestellt noch eine nennenswerte Prosperität erreicht worden. Afrika ist bekanntlich eine der ärmsten Regionen der Welt. Allerdings sind auch hier Unterschiede zu beachten. Bei einem durchschnittlichen afrikanischen BIP pro Kopf von 2150 US-Dollar ist der russische Einfluss in den ärmsten Ländern am deutlichsten spürbar: in Mali (875 USD), im Tschad (703 USD), in Niger (631 USD), in der Zentralafrikanischen Republik (539 USD) und im Südsudan (417 USD). Allerdings sind jetzt auch die wohlhabenderen Länder Senegal (1637 USD), Elfenbeinküste (1668 USD) und Kamerun (2560 USD) in Gefahr. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen „Influencer“ nicht zum Ozean durchkommen und ein „Einflusskorridor“ den Kontinent niemals zweiteilen wird. Damit das nicht geschieht, muss sich allerdings die Haltung in den europäischen Hauptstädten gegenüber den Problemen in Afrika wandeln – von Gleichgültigkeit zu Interesse.
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Die große Relativierung
Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.
Panzersperren vor der „Mutter Ukraine“ in Kyjiw. Die Statue wurde 1981 in der Sowjetunion als „Mutter Heimat“ errichtet und 2023 umbenannt / Foto: © IMAGO, EST&OST
Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.
Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.
Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.
Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.
Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.
Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte
Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann.
Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab
Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.
Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.
Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.
Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.
Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.
Die Stabilisierung des Bösen
Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.
Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff.
Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.
Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.
Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.
Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.
Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.
Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt?
Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.
Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen
Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.
Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.
Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.
2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr
Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.
Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.
Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen
Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.
In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.
Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.
Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben
Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.
Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.
Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.
Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.
Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.
Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit
Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben.
Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.
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„Das Imperium muss sterben“
Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.
Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.
Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?
1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.
Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.
Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.
In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.
Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?
2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.
Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.
Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.
Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.
Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?
Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?
3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.
Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?
4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.
Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.
Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?
Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen
Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.
Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.
Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek] Atomwirtschaft durchzusetzen.
Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.
Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt
Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.
Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.
Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus
Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.
Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.
Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.
Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.
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Bilder vom Krieg #17
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: DOMINIK BUTZMANN
dekoder: Diese Fotos sind während des Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky im September entstanden. Aber der Moment, der Ihnen von dieser Reise am stärksten in Erinnerung geblieben ist, den haben Sie nicht fotografiert. Was war das?
Dominik Butzmann: Wenn man mit einer ausländischen Delegation den Präsidentenpalast in Kyjiw besuchen will, durchläuft man mehrere Sicherheitskontrollen. Alle Aufgänge sind mit Sandsäcken gesichert, es ist dunkel, nur im Innersten des Palastes brennt Licht. Bei einer der Kontrollen hatte ich meine Kamera gerade in eine dieser Plastikwannen gelegt, in denen sie durch den Scanner fährt. Da fiel mir ein Sicherheitsmann auf, der neben dem Gerät stand: vielleicht 50 Jahre alt, grüne Uniform, helle, sehr klare Augen. Er musterte die Besucher und ich musterte ihn. Ich gucke ja die ganze Zeit, auch wenn ich gerade nicht fotografiere. Ich stelle meine Antennen auf, um zu merken, wenn irgendwo etwas passiert oder die Atmosphäre sich verändert. Wenn ich im Blick habe, welche Gefühle im Raum sind, kann ich reagieren und gegebenenfalls eine andere Perspektive wählen oder eben ganz schnell ein Bild machen. Also scannte ich die Leute und er scannte die Leute. Und dann guckte er so beiläufig auf sein Telefon und zuckte plötzlich zusammen wie unter einem Krampf. Offenbar hatte er die Vorschau einer SMS gelesen. Sein Gesicht wurde bleich, er schüttelte den Kopf und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Er muss irgendetwas Schreckliches gelesen haben.
Wie haben die Umstehenden reagiert?
Die anderen Uniformierten haben ihn angeguckt und in ihren Gesichtern konnte man sehen: Die wissen, was ihm gerade passiert. Die haben tief eingeatmet und dann weiter ihre Arbeit gemacht. Aber es war deutlich, dass die alle solche Momente kennen. Weil im Krieg jeder jederzeit mit schlimmen Nachrichten rechnet. Solche Momente passieren wahrscheinlich täglich hundertfach in ukrainischen Familien, aber hier war ich auf einmal ganz unerwartet Zeuge.
Hätten Sie diesen Moment gern fotografiert?
Nein, auf keinen Fall.
Aus Pietät?
Ja, natürlich. Aus Pietät. Ich bin kein Kriegsfotograf. Ich habe wenig Erfahrung damit, welche Rolle Pietät spielen sollte in Situationen, in denen Menschen sterben oder in denen Angst vor dem Tod auftritt. Ich mache Politikfotografie, da erlebt man auch viele Dramen und viel Stress und Menschen, die unter Druck stehen. Aber das ist nicht vergleichbar. Außerdem lag meine Kamera ja in dieser Schale vor diesem Menschen. Wenn ich die rausgenommen und fotografiert hätte, hätte ich mehrere Regeln gleichzeitig gebrochen: Erstens fotografiert man Sicherheitsstrecken grundsätzlich nicht. Und wenn ich dann die Kamera hochnehme und fotografiere, könnte das als aggressiver Akt empfunden werden. Erst recht, wenn die Person in einer emotional offensichtlich belastenden Situation ist. Das wäre eine Grenze, die ich auf keinen Fall überschritten hätte.
Ist Ihnen auch an den Personen, die sie fotografieren, aufgefallen, wie der Krieg sie verändert hat?
Im April war ich dabei, als Robert Habeck zusammen mit Wolodymyr Selensky den Keller einer Schule besichtigt hat, in dem sich in der ersten Phase des Krieges Kinder über lange Wochen versteckt hatten. Während Habeck und Selensky sich die Zeichnungen ansahen, die die Kinder in dieser Zeit an die Kellerwände gemalt hatten, habe ich Selenskys Gesicht fotografiert. Da sieht man, wie unfassbar müde er ist und dass er schon gar nicht mehr weiß, was er fühlen soll. Er wirkt wie versteinert. Robert Habeck sah auch verändert aus, als er aus diesem Keller kam. Mich beschäftigen diese stillen Zeugnisse der Gewalt bis heute.
Lassen sich solche Emotionen überhaupt in Bilder fassen?
Ja. Ich glaube, es sind tausende solcher Geschichten wie die von dem Mann, der eine schlimme Nachricht erhält, die so einen Krieg ausmachen. Tausende kleiner Situationen, die als innere Bewegung stattfinden und erst später äußerlich sichtbar werden. Bei meinen Portraits, also in konzentrierten, bilateralen Situationen, sehe ich es als größte Herausforderung, diese inneren Bewegungen abzubilden. Um so einen Krieg in Bilder zu fassen, muss man, denke ich, immer mit den Menschen sprechen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass schreibende Journalisten und Fotografen als Team losgehen.
Fotos: Dominik Butzmann / Photothek Media Lab
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht: 05.01.2024Weitere Themen
Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht
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Gaunersprache im Kreml
Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.
Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.
Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.
Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen
Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt.
Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.
Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.
Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.
Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand
Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.
Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.
Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel.
Angegriffen werden nur Schwächere
Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen.
Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.
Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde.
Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren
Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten.
Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht.
Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.
Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren.
Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden
Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.
Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.
Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene.
Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.
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