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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

    „Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

    Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung

    Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.

    Swetlana Tichanowskaja zeigt im Juli 2020 ihre Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin. / Foto © GazetaBY.com
    Swetlana Tichanowskaja zeigt im Juli 2020 ihre Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin. / Foto © GazetaBY.com

    GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert? 

    Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel. 

    Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?  

    Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“. 

    Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule. 

    Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest. 

    Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik? 

    Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine? 

    So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren. 

    Sergei Tichanowski beim Interview im Jahr 2020. / Foto © Tut.by
    Sergei Tichanowski beim Interview im Jahr 2020. / Foto © Tut.by

    Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …     

    Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun. 

    Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“ 

    Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich. 

    In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. 

    Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln. 

    Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte? 

    Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr. 

    In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“ 

    Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal. 

    Und dann klingelt das Telefon … 

    Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. 

    Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder … 

    Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen. 

    Haben Sie damals zu Hause übernachtet? 

    Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden. 

    Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich. 

    Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden. 

    Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?  

    Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme. 

    Von wem stammt die Idee zu dem Trio: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo

    Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden. 

    Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren? 

    Natürlich. 

    Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt? 

    Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit. 

    Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet? 

    Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten. 

    Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse. 

    Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein? 

    In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation! 

    So war die Stimmung damals … 

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  • Belarus und Russland: Propaganda aus einem Guss

    Belarus und Russland: Propaganda aus einem Guss

    Das Lukaschenko-Regime konnte sich im Jahr 2020 gegenüber den Massenprotesten im eigenen Land nur durchsetzen und den westlichen Sanktionen standhalten, weil es von Russland unterstützt wurde. Der Kreml nutzte diese rasant an Fahrt gewinnende Abhängigkeit, um das Nachbarland noch enger an sich zu binden. Dies passiert nicht nur auf wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Ebene. Auch in Bezug auf die Propagandaarbeit beider Regime ist eine Integration zu beobachten, vor allem wenn es darum geht, die Ukraine als Feind darzustellen.  

    Katerina Truchan vom belarussischen Online-Portal Pozirk hat diese Integration der Propaganda-Narrative analysiert.

    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by
    Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml am 13. März 2025. / Foto © president.gov.by

    Seit Beginn der vollumfänglichen militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine kopiert die belarussische Propaganda bereitwillig die Manipulationsmethoden der russischen „Journalisten“. Seit nun gut drei Jahren berichtet die Staatspropaganda über den Krieg in der Ukraine durch die russische Brille, reproduziert die Narrative des Kreml und diskreditiert die Ukraine sowie den Westen. Auch der demokratisch eingestellte Teil der belarussischen Bevölkerung wird zur Zielscheibe. 

    So verwenden die Propagandisten den Kreml-Euphemismus „militärische Spezialoperation“ anstelle von „Krieg“, bestehen darauf, dass Russland sich „gegen die Nato verteidigen“ müsse und wiederholen das Mantra von den „Neonazis“. Die Ukraine wird meist als „Marionette des Westens“ dargestellt und ihre Handlungen als „Provokation gegen Russland und Belarus“. 

    Die Propaganda spielt mit den Emotionen, indem sie die Ukrainer grundlos, aber lautstark beschuldigt, der Nazi-Ideologie ergeben zu sein und die grausamsten Verbrechen zu begehen, oder indem sie Angst vor einem drohenden Krieg schürt („Entweder wir sie oder sie uns“). Die Diffamierungen finden Gehör, brennen sich über kurz oder lang ins Unterbewusstsein der Belarussen ein und zeichnen, ungeachtet aller logischen Anfechtungen, ein negatives Bild von den Nachbarn. 

    Die belarussischen Behörden berichten mit unverhohlener Freude über die Einführung neuer Waffentypen in der Armee und befeuern das Thema der Stationierung russischer Atomwaffen im Land.  

    Die Ukraine wird dämonisiert, indem man ihr den „Beschuss der friedlichen Bevölkerung im Donbass“ und den „Genozid der russischsprachigen Bevölkerung“ vorwirft. Die legitim gewählte ukrainische Regierung wird hartnäckig als „Kiewer Regime“ bezeichnet und Präsident Wolodymyr Selensky als illegitim bezeichnet, weil die ukrainischen Behörden keine Wahlen durchführen wollen, solange der Krieg andauert. Die russischen Machthaber, und in der Folge auch die Medien, nahmen dies zum Anlass zu behaupten, Selensky könne nicht länger die Befugnisse eines Staatoberhauptes haben. Dieses Narrativ wurde auch von den belarussischen Propagandisten aufgegriffen. Dass das derzeitige Verschieben der Wahlen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung steht, verschweigen sie dabei. 

    Vermeintliche Gefahr und echte Einschüchterung 

    Gleichzeitig bedient sich die belarussische Propaganda eines eigenen Narrativs von der Gefahr eines Angriffs von ukrainischem Staatsgebiet aus, wofür sie das Kalinouski-Regiment verantwortlich zeichnen will. Die Propaganda brandmarkt nicht nur die, die in seinen Reihen die Ukraine verteidigen, sondern suggeriert auch, sie würden einen Angriff auf Belarus vorbereiten. Der Einmarsch des ukrainischen Militärs in die russische Oblast Kursk, um die Truppen des Aggressors zu binden, spielte dieser These in die Hände. In dem Propagandafilm Bessy: kak chotjat sachwatit Belarus (dt. Dämonen: Wie Belarus besetzt werden soll), der 2024 an den Start ging, verbreiten die Propagandisten das Narrativ, die „Söldner“ hätten angeblich vor, Belarus vom Staatsgebiet der Ukraine sowie der europäischen Nachbarländer anzugreifen. 

    Der Streifen besteht aus einer Aneinanderreihung von bedrohlichen blutigen Landkarten, auf denen okkupierte belarussische Territorien dargestellt werden, und aus Bildern vom friedlichen belarussischen Leben, sauberen Städten, ordentlichen Straßen und Auftritten von Alexander Lukaschenko, dem es, wenn man den Propagandisten glauben darf, allein zu verdanken ist, dass im Land noch Frieden herrscht. Die Tatsache, dass derselbe Lukaschenko 2022 Russland sein Territorium für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat und die militärische Aggression des „großen Bruders“ gegen einen souveränen Staat bis heute unterstützt, wird natürlich gekonnt umschifft. 

    Um die Kämpfer des Kalinouski-Regiments zu dämonisieren, benutzt die Propaganda sowohl Kämpfer der Einheit als auch ukrainische Militärangehörige. So zum Beispiel den ehemaligen Soldaten des Regiments Wassil Werameitschik, der aus Vietnam ausgeliefert wurde, oder Maksim Ralko, der bei seiner Rückkehr nach Belarus an der polnischen Grenze festgenommen wurde. Letzterer wurde von den Propagandisten mehrfach vor laufender Kamera gezwungen, die angeblichen Pläne des Kalinouski-Regiments „offenzulegen“, dass sie vorhaben ins belarussische Hoheitsgebiet einzudringen (TV-Sender ONT, 20. November 2024); ein anderes Mal musste er sagen, die Belarussen, die aufseiten der Ukraine kämpfen, seien allesamt Drogenabhängige und Kriminelle (ONT-Sendung vom 6. April 2025). 

    Werameitschik, der auf Ersuchen des belarussischen KGB ausgeliefert wurde, wiederholt in einem Beitrag (25. Januar 2025, Belarus 1) die Thesen der Propaganda über die „Strategie zur Befreiung von Belarus‘“, die angeblich mit Unterstützung der Geheimdienste Litauens, Polens und der Ukraine entwickelt wurde: Dabei soll nach einem Einmarsch vom Gebiet der Ukraine aus die bewaffnete Okkupation eines Teils von Belarus bei Brest und Malorita (Oblast Brest) stattfinden. 

    Derartige Aussagen, die vor den laufenden Kameras der Propagandisten gemacht werden, dürfen weder ernst genommen noch als Tatsachenberichte angesehen werden. Sie werden erzwungen; die Gefangenen befinden sich in einer ausweglosen Lage und sind in der Gefangenschaft nicht nur Druck, sondern auch Folter ausgesetzt. 

    Beispiele von Manipulation und offenkundigen Fakes 

    Bei der Auswahl der Themen für die Manipulation fällt eine gewisse Wahllosigkeit der belarussischen Propaganda auf. Wenn sie die Beiträge ihrer russischen Kollegen reproduziert, gibt sie oft nicht nur zweifelhafte Daten, sondern regelrechte Lügen wieder. 

    Pozirk hat zahlreiche Fakten gesammelt, wie das Ukraine-Thema eingesetzt wird, bei der die belarussische Propaganda zum Sprachrohr für die Verbreitung unverhohlener Lügen der russischen Medien wurde. Oft dienen die Themen dazu, die Ukraine lächerlich zu machen oder in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. 

    Im November 2024 berichtete die lokale Propaganda, dass Donald Trump aus der ukrainischen Datenbank Myrotworez (dt. Friedensstifter) entfernt worden sei. Die Nachricht, die zunächst von der offiziellen Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa verbreitet wurde, gelangte schließlich auch in die belarussischen Staatsmedien. 

    „Trump hatte versprochen, das Ukraine-Problem innerhalb von 24 Stunden zu lösen: ‚Ich werde anrufen und einen Deal aushandeln.‘ Etwas zu versprechen ist natürlich das Eine. Man kann es Kyjiw befehlen, zumal sie dort Trump bereits eilig von der Liste der Friedensstifter gestrichen haben, auf der die Feinde der Ukraine geführt werden“, sagte Anatoli Sankowitsch von ONT in der Sendung Kontury. Allerdings wurde die Nachricht über Trumps Aufnahme in die Datenbank bereits 2018 von denselben russischen Propagandamedien verbreitet. Das Projekt Myrotworez selbst dementierte das damals, und es konnten keine Spuren eines Eintrags zum amerikanischen Politiker gefunden werden. 

    Die Propaganda versucht, aus der Ukraine einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen. 

    Im Dezember letzten Jahres erklärte die belarussische Propaganda, die Ukraine plane eine Ausweitung der Mobilmachung. Zuvor hatten die russischen Propagandamedien darüber berichtet. „Es ist bereits bekannt, dass die Ukraine einen neuen, ausgeweiteten Mobilisierungsplan für 2025 verabschiedet hat. Offenbar will Selensky den Krieg unter Trump fortsetzen, solange genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Oder er will Trump dazu bringen, ihn in die NATO aufzunehmen, um den Krieg schnell zu beenden und als ‚Sieger über Russland‘ in die Wahlen zu gehen“, sagte die Moderatorin der Sendung Nedelja (dt. Woche) Olga Korschun auf CTV

    Dabei wurde die Mobilmachung und das Kriegsrecht in der Ukraine bereits am 10. November 2024 routinemäßig um weitere 90 Tage bis zum 7. Februar 2025 verlängert. Gleichzeitig wurde im Land über die Möglichkeit einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters diskutiert. 

    Die Verunglimpfung der Ukraine, aus der die Propaganda einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen versucht, äußerte sich auch darin, dass die belarussischen Staatsmedien, den russischen auf dem Fuße folgend, eine ukrainische Spur beim Absturz des aserbaidschanischen Flugzeugs am 25. Dezember 2024 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau ausmachten (an Bord der Passagiermaschine Embraer-190 der Azerbaijan Airlines, die von Baku nach Grosny unterwegs war, befanden sich 67 Menschen, 38 von ihnen starben). 

    „Der Rumpf der Embraer-190-Maschine von Azerbaijan Airlines weist Einschlagspuren auf. Diese Tatsache macht die Version eines Angriffs durch ukrainische Drohnen wahrscheinlich. Laut Medienberichten war Grosny am selben Morgen von mehreren Drohnen angegriffen worden“, sagte Igor Posnjak, Moderator der Sendung Nowosti. 24 Tschasa (dt. Nachrichten. 24 Stunden) auf CTV

    Wladimir Putin entschuldigte sich zwar bei der aserbaidschanischen Seite, ohne allerdings einzuräumen, dass das Flugzeug von der russischen Luftabwehr getroffen wurde. Unabhängige Experten, deren Stellungnahmen von liberalen russischen Medien veröffentlicht werden, sind sich einig, dass das Flugzeug wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete getroffen wurde und eine Schuld der Ukraine somit praktisch ausgeschlossen ist. 

    Im Januar sagte die belarussische Propaganda ernste Probleme für Europa voraus, wenn der russische Gastransit durch die Ukraine gestoppt würde. Diese Botschaft wird häufig auch von den russischen Medien verbreitet, die davon überzeugt sind, dass ganz Europa ohne russisches Gas einfrieren wird. „Bald wird sich nicht nur das nicht anerkannte Transnistrien, sondern auch die hochentwickelten europäischen Wirtschaften entscheiden müssen, ob sie zu viel bezahlen, mit Holz heizen oder frieren wollen“, behauptete Swetlana Karulskaja, eine russische Mitarbeiterin von ONT

    Es sei angemerkt, dass die Gaspreise wirklich über denen der Vorkriegszeiten liegen, was Europas Wirtschaft belastet, während die Einnahmen der Ukraine geschrumpft sind. Kein einziges Land in Europa ist jedoch ohne Gas geblieben, nachdem der Transit eingestellt worden ist. Die EU hat sich faktisch vom russischen Gas verabschiedet: Während der Anteil 2021 noch bei 40 Prozent gelegen hatte, betrug er 2023 nur noch acht Prozent und 2025 noch fünf. Das russische Unternehmen Gazprom leidet unter dem Verlust des hochprofitablen europäischen Marktes; 2024 schrieb es rote Zahlen, es sind Entlassungen im Gange. 

    Am 19. Februar verbreitete die Staatspropaganda Falschnachrichten über den Ausverkauf von ukrainischen Ländereien weiter. „Rund 30 Prozent des ukrainischen Territoriums gehört nicht mehr Kiew. Es wurde verkauft“, erklärte Olga Dawydowitsch von Perwy informazionny (dt. Erster Informationskanal). Damit reproduzierte sie ein Fake, das 2024 in Russland erfunden wurde: Demnach würden Ausländer massenweise Land in der Ukraine aufkaufen. In Wirklichkeit ist in der Ukraine der Verkauf von Landwirtschaftsflächen an ausländische Investoren per Gesetz verboten. Zu den zehn größten Eigentümern gehören ausschließlich ukrainische Unternehmen. Später im selben Monat beschloss die belarussische Propaganda, über etwaige „kommerzielle Interessen“ der EU in der Ukraine zu berichten und nannte als Quelle für diese Erkenntnisse „ukrainische Telegram-Kanäle“. Doch auch das erwies sich als Fake. 

    Kreml-Drahtzieher hinter „ukrainischen“ Kanälen 

    „Europa, das gerade darüber diskutiert, ob es 30.000 Friedensstifter in die Ukraine schicken soll, verteidigt nicht die Ukraine, sondern seine eigenen kommerziellen Interessen. Als Bezahlung für seine Dienste wird es einen Anteil an ukrainischen Aktiva fordern, wie ukrainische Telegram-Kanäle berichten“, meldete Jekaterina Tichomirowa von Perwy informazionny

    Als Quelle führte sie einen Screenshot aus dem Telegram-Kanal Legitimny (dt. Legitim) an. Noch 2021 hatte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU allerdings ein Netz von Kanälen aufgedeckt, hinter denen der russische Geheimdienst steckt. Darunter war auch der besagte Kanal Legitimny, dessen Administratoren zu diesem Zeitpunkt in der selbsternannten Republik Transnistrien saßen. 

    Ende Februar warf die Staatspropaganda Wolodymyr Selensky vor, die Verhandlungen zwischen den USA und Russland mithilfe der „belarussischen Bedrohung“ zu unterminieren. „Die dritte und bizarrste Möglichkeit, die Gespräche scheitern zu lassen, ist der Versuch, Trump davon zu überzeugen, dass Belarus eine potenzielle Bedrohung darstellt“, sagte CTV-Mitarbeiter Andrej Lasutkin. Er argumentierte unter anderem, dass die Ukrainer nach einem Drohnenangriff auf den Sarkophag von Tschernobyl Russland und Belarus beschuldigt, dann ein Fake-News-Video dreht und Selensky ausgerechnet mit dieser Nachricht seine Rede in München beginnen lässt. 

    Es stellte sich allerdings heraus, dass Lasutkin die Version der russischen Propaganda wiederholte, die gleich nach dem Angriff auf das Kernkraftwerk kursiert hatte. Mit einer Nuance: Nicht einmal in den russischen Quellen wird Belarus als verantwortliche oder irgendwie betroffene Partei genannt. Nach Angaben der Ukraine, die sie mit Bildmaterial bestätigt, wurde der Angriff von einer russischen Drohne ausgeführt. Die Löscharbeiten im Kernkraftwerk von Tschernobyl dauerten drei Wochen lang. So verbreiteten belarussische Propagandisten anschließend in wöchentlichen Nachrichtensendungen im ganzen Land glatte Lügen, die in Russland erfunden wurden, um die Wahrnehmung der Menschen von der Ukraine zu manipulieren. 

    Die Ukraine in Dauerschleife 

    In einem Ende 2024 veröffentlichten Bericht (Mapping Belarusian Propaganda, erstellt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung) konnten die Autoren Marat Lesnov und Lesya Rudnik zeigen, dass fast die Hälfte des Contents staatsnaher Informationsquellen der Ukraine gewidmet ist. 

    Wie eine Analyse von Pozirk zeigt, wurde die Ukraine auf dem Telegram-Kanal des größten regierungsloyalen Mediums, der Zeitung SB. Belarus Today 10.300 Mal, das „brüderliche“ – so die offizielle Rhetorik in Minsk – Russland etwas mehr als 11.000 Mal, Lukaschenko nur knapp häufiger, nämlich 12.200 Mal, und Belarus 33.200 Mal erwähnt. Für ein Medium, das, wie man meinen würde, vor allem die Innenpolitik im Blick haben sollte, ist die „ukrainische Frage“ ziemlich beliebt. Allein zwischen dem 1. und dem 10. April kam das Thema Ukraine im besagten Telegram-Kanal mehr als 40 Mal auf. 

    Selbst bei Wirtschaftsthemen bleiben Verdrehungen und glatte Lügen nicht aus. So berichtete die SB am 9. April: „Die Ukraine stiehlt belarussisches Eigentum. Aber eines Tages wird sie dafür bezahlen müssen … An fremden Früchten kann man auch ersticken … Erst neulich hat die Ukraine wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Eine Partie beschlagnahmter Düngemittel von Belaruskali wurde im Wert von etwa einer Million Dollar verkauft.“ 

    Dabei war bereits am 6. Februar 2023 bekannt geworden, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 170 Eisenbahnwaggons mit Mineraldünger im Wert von rund 100 Millionen Hrywnja (zu diesem Zeitpunkt über 2,7 Millionen US-Dollar) beschlagnahmt hatte. Es wurde gesagt, dass die Ladung von Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali stammte. Weiterhin hieß es, dass die belarussischen und russischen Kalisalze „in Drittländer transportiert werden sollten, um mit dem Verkauf Millionengewinne zu erzielen“, wobei ein Teil des Erlöses „in Form von Steuern zur Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine“ fließen sollte. Später wurde erklärt, dass die Düngemittel verkauft und das Geld zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft und Verteidigung verwendet werden würde. 

    Von ukrainischer Seite war wiederholt festgestellt worden, dass das belarussische Unternehmen mit seinen Aktivitäten „den Krieg gegen die Ukraine durch finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zu Rüstungsunternehmen der Russischen Föderation und den Besatzungsverwaltungen der selbsternannten DNR und LNR befördern“ würde. Diese Tatsachen verschweigt die belarussische Propaganda, wenn sie über das „wahre Gesicht“ der Ukraine schreibt. 

    Für Lukaschenkos Medien ist die Ukraine insgesamt zu einem der wichtigsten Nachrichtenanlässe geworden. Die Themen Krieg, Korruption, Waffenlieferungen, der Wahlsieg Trumps und seine Äußerungen zur Ukraine helfen der Propaganda, Content zu erzeugen, der Zwietracht, Feindseligkeit und Hass gegenüber dem Nachbarland und seiner Bevölkerung schürt. Das geschieht in Analogie zu den russischen Medien, die schon viel früher mit „Entmenschlichung“ der Ukrainer begonnen haben – noch vor der Krim-Annexion 2014. 

    Um das gewünschte Feindbild einer schwachen, vom Westen abhängigen Ukraine zu schaffen, bedient sich die Propaganda auch der Hilfe von „Experten“, die entweder die Thesen ihrer russischen „Kollegen“ wiederholen oder einfach schlicht russische „Analytiker“ sind. Ihre Arbeit besteht dabei darin, die Situation einseitig zu „analysieren“ und Fakes zu reproduzieren. Auf diese Weise wird das Thema Ukraine in Belarus, in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt und man für „unbequeme“ Themen ins Gefängnis wandern kann, extrem einseitig beleuchtet. Gleichzeitig ist es für Belarussen buchstäblich physisch gefährlich, die Ukraine zu unterstützen. 

    Laut einer Erhebung der Menschenrechtsorganisation Wjasna, die nicht als erschöpfend gelten kann, wurden in Belarus bis zum 24. Februar 2025, also in den drei Jahren der anhaltenden Aggression, insgesamt mindestens 209 Personen, darunter 38 Frauen, wegen Unterstützung der Ukraine verurteilt: 41 Personen aufgrund von Spenden, mindestens 30 – weil sie auf Seiten der Ukraine kämpfen wollten. 

    Media IQ über die Verschmelzung von belarussischer und russischer Propaganda 

    Pawljuk Bykowski, leitender Wissenschaftler des Projekts Media IQ, bezieht sich bei seinem Kommentar gegenüber Pozirk auf die Monitoring-Berichte von Media IQ und seinen Beitrag „A Loss of Media Sovereignty: Synchronisation of Belarusian and Russian Propaganda after 2020“ zur Monographie Russian Policy towards Belarus after 2020: At a Turning Point? 

    „Die Beobachtungen, die Pozirk in seiner Analyse macht, bestätigen weitgehend unsere eigenen“, sagt Bykowski. „2022 verzeichneten wir bei Media IQ eine stetige Synchronisierung der belarussischen und russischen Propagandamaschinen. Wir können aber nicht sagen, dass sich die eine der anderen direkt unterordnet. Es ist eher wie bei einem Trittbrettfahrer: Wenn die Interessen übereinstimmen oder zumindest nicht im Widerspruch zueinander stehen, springt das belarussische Regime bereitwillig auf die Narrative des Kreml auf und verbreitet sie weiter, vor allem im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine.“ 

    „Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden Massenprotesten hat sich das offizielle Minsk von dem früher deklarierten Kurs auf Informationsneutralität verabschiedet und ist dazu übergegangen, sich verstärkt in das russische Informationsfeld zu integrieren. Besonders deutlich zeigte sich das in der Berichterstattung zu der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022. Die belarussischen Staatsmedien haben faktisch der Neutralität den Rücken gekehrt und angefangen, sich der Rhetorik und den Methoden der russischen Propaganda zu bedienen, was aus unserer Sicht eines der Kriterien für Informationssouveränität ist“, betont der Experte. 

    „Nichtsdestotrotz demonstrierte die belarussische Propaganda in einer Reihe von Fällen eine vorsichtige Distanz zum militärischen Bereich, indem sie die Akzente zum Beispiel auf humanitäre Themen setzte oder der Tatsache, dass sich die belarussische Armee nicht an den Kriegshandlungen beteiligt“, merkt er zugleich an. „Das zeigt, dass die belarussische Seite selbst im Rahmen der Synchronisation einzelne eigene Linien verfolgt, die ihren eigenen taktischen Interessen entsprechen.“ 

    „Äußerst wichtig bleibt dabei, wer die Wahrnehmung des Krieges in der Öffentlichkeit prägt. Nach Angaben von Chatham House und iSANS lehnen 94 Prozent der Konsumenten unabhängiger Medien den Krieg ab, während 61 Prozent der Konsumenten staatlicher Medien die russische Aggression unterstützen. Dieser Kontrast zeigt, wie sehr die Informationsquellen zum entscheidenden Faktor für die Einstellung zu Fragen von Frieden und Sicherheit werden“, betont Bykowski.    

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    Selbst wenn es zu einem dauerhaften Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommen sollte, werden die Spannungen zwischen dem Kreml und den Ländern der EU bleiben. Damit komme Belarus, schreibt Artyom Shraibman in seiner Analyse für Carnegie, eine besondere Rolle zu. Putin könnte das Lukaschenko-Regime für weitere Eskalationen jenseits der ukrainischen Front nutzen. Deswegen sei es für die EU wichtig, die Interessen des belarussischen Machthabers zu verstehen, um „Moskau zusätzliche Hindernisse in den Weg zu legen. Und je mehr es davon gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein neuer großer Krieg beginnt.“ Shraibman zeigt auf, wie solche Hindernisse aussehen könnten. 

    Alexander Lukaschenko am Tag seiner Inauguration am 25. März 2025 im Kreise von Kadetten und Kadettinnen in Minsk. / Foto © IMAGO / ITAR-TASS 

    Logik der Beteiligung 

    Belarus ist mittlerweile aufgrund seiner geografischen Lage und seiner zunehmenden Abhängigkeit von Russland ein permanenter Risikofaktor für seine Nachbarländer. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern, solange in Belarus ein Regime herrscht, das seine Macht der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung aus Moskau zu verdanken hat. Das Problem ist nicht nur die alte Feindschaft zwischen Alexander Lukaschenko und Polen oder Litauen, sondern auch das Beziehungsmodell, wie es sich in den letzten fünf Jahren zwischen Minsk und Moskau entwickelt hat.  

    Bis 2020 hielt Lukaschenko immer die Balance zwischen dem Westen und Russland, in der Erwartung, von beiden Seiten dafür belohnt zu werden, dass er sich nicht auf die jeweils andere Seite schlägt. Die Bedingung für dieses Manövrieren war die Möglichkeit, sich wie ein Pendel mal an Russland anzunähern, mal sich zu entfernen. Der Bruch mit dem Westen nach den Protesten in Belarus 2020 stoppte dieses Pendel und fixierte es im Kontrollbereich Russlands.  

    In der Folge verlor der Westen das Interesse an den Signalen Lukaschenkos, der verbal weiterhin versuchte, seine Eigenständigkeit zu betonen. Gleich zu Beginn der vollumfassenden Invasion in der Ukraine rief er zu sofortigen Verhandlungen auf und bot sich als Mittelsmann zwischen Kyjiw und Moskau an. Doch diese Rhetorik überzeugte die Adressaten nicht mehr, der Spielraum für seine Manöver war verschwunden. Also warb Lukaschenko mit einer neuen Taktik um die Gunst und Ressourcen aus Russland: Er leistete militärische Dienste, wie Wladimir Putin sie im jeweiligen Moment am dringendsten brauchte.  

    Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren. 

    Lukaschenko versorgte die russische Armee und die Rüstungsindustrie nicht nur mit allem, was Belarus zu bieten hatte. Während der Mobilmachung im Herbst 2022 stellte er auch belarussisches Territorium für die Ausbildung russischer Soldaten zur Verfügung. Als Jewgeni Prigoshin im Juni 2023 den Aufstand probte, trat Lukaschenko als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auf und gestattete den Mitgliedern der zerschlagenen Söldnertruppe Wagner den Aufenthalt in Belarus, bis sie der Kreml unter seine Kontrolle nahm. Und als im Sommer 2024 die ukrainische Militäroperation in der Oblast Kursk begann, verschob er die belarussischen Truppen demonstrativ an die südliche Grenze, um Moskau seine Bereitschaft zu bekunden, die ukrainischen Streitkräfte von der Hauptfront abzulenken.  

    Außerdem verkündeten Mitte 2023 Moskau und Minsk die Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus, ein Jahr darauf führten sie Übungen zu ihrer Anwendung durch. Im Dezember 2024 machten die beiden ihre Pläne bekannt, in Belarus die neuen russischen Oreschnik-Mittelstreckenraketen aufzustellen. Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren, und Minsk spielte willig als Partner mit.  

    Manche Aktionen waren eher symbolischer Natur. Etwa das bilaterale Abkommen über Sicherheitsgarantien, das im Dezember 2024 geschlossen wurde. Es berechtigt Russland, im Fall einer Bedrohung von außen Truppen und militärische Anlagen in Belarus zu stationieren, und spannt den Nuklearschirm der Russischen Föderation auch über das Nachbarland. Dieses Dokument brachte weder de jure noch de facto eine Veränderung, weil das alles auch vorher schon möglich war. Doch derartige symbolische Akte erzeugen das Bild einer erstarkenden Sicherheitszone rund um Russland und sind deshalb wichtig für Putin.  

    Indem er sich da, wo es dem Kreml jetzt am wichtigsten ist, nützlich und loyal gibt, sorgt Lukaschenko für die fortgesetzte wirtschaftliche und sonstige Unterstützung seines Regimes. Moskau hält die günstigen Bedingungen für die Lieferung von Energiereserven nach Belarus aufrecht, verlängert Zahlungsfristen alter Kredite, stellt seine Infrastruktur für den Export sanktionierter belarussischer Produkte wie etwa Kalidünger zur Verfügung. Hierbei verlangt Putin von Lukaschenko keine unbequemen Zugeständnisse wie etwa einen Einsatz der belarussischen Armee an der Front oder, wie Moskau 2020 noch vorschlug, die Schaffung supranationaler Behörden im Staatenbund.  

    Dieses Verhältnis zu Russland kommt dem belarussischen Regime gelegen. Zumal es in absehbarer Zeit alternativlos ist. Wenn es Moskau also das nächste Mal einfällt, für eine regionale Eskalation belarussisches Territorium zu nutzen, wird sich weder Lukaschenko noch sein Nachfolger schwer entziehen können. Wahrscheinlicher ist, dass die belarussische Führung sich ausrechnet: Durch demonstrative Loyalität in einem kritischen Moment können wir uns das Recht ausbedingen, eine aktive Teilnahme an einem neuen, von Moskau angezettelten Krieg abzulehnen.  

    (Un)glaubwürdige Leugnung 

    Im Fall einer neuerlichen Eskalation wird der Kreml bestimmt seine mehrmals erprobte Taktik anwenden und versuchen, sein aggressives Vorgehen als Reaktion auf die Bitte eines Bündnispartners oder seiner Schützlinge darzustellen.  

    Ob aufgrund seiner eisernen Gesetzestreue oder weil er vor seinen Anhängern nicht als Aggressor dastehen will, Putin sorgt nach Möglichkeit immer dafür, dass der Eskalation eine „Bitte von unten“ vorausgeht. Das war bei der Krim so und beim Beginn des Großangriffs auf die Ukraine sowie bei der Annexion von vier weiteren ukrainischen Regionen. Trotz der immer geringeren Überzeugungskraft solcher Gesten will der Kreml jedes Mal den Anschein erwecken, Einheimische oder regionale Eliten hätten ihn um Hilfe gebeten.  

    Derselben Logik folgt Moskau auch bei weniger schicksalsschweren Entscheidungen, die Russland und Belarus betreffen. Formal war es Anfang 2022 Lukaschenko gewesen, der russische Truppen zu den Militärmanövern eingeladen hatte, nach denen sie in die Ukraine einmarschierten. Im Herbst desselben Jahres bat er Putin darum, in Belarus eine „Regionaltruppe“ aufzubauen, de facto ein Deckmantel für die Ausbildung der frisch mobilisierten russischen Soldaten und ein Ablenkungsmanöver von der ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson. Es war auch Lukaschenko selbst, der die übriggebliebenen Wagner-Söldner nach Belarus einlud und um die Aufstellung russischer Kernwaffen und des Raketensystems Oreschnik in seinem Land bat.  

    Moskau delegiert an Minsk die Rolle des Initiators, um seinen Partner nicht mit der willkürlichen Nutzung seines Territoriums zu demütigen. Damit glaubt Putins heimische Anhängerschaft und vielleicht auch so mancher Putinversteher im Ausland eine Weile lang, dass Moskau nur auf Bitten von Freunden reagiert und nicht selbst die Eskalation provoziert.  

    Der Status von Belarus als souveränem Staat liefert eine praktische Ausrede, ermöglicht es, die Mitwirkung am ersten Schuss zu leugnen (plausible deniability). Den Gegner überzeugt das natürlich keineswegs, aber die loyale Öffentlichkeit findet das durchaus glaubwürdig.  

    Verschärfungsszenarien 

    Überlegungen zu möglichen Szenarien einer neuerlichen militärischen Krise in Osteuropa sind spekulative Gedankenspiele. Einzeln betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien Realität wird, nicht so groß. Doch kann man anhand solcher Erwägungen gut sehen, wie Belarus in diesem Prozess benutzt wird, und es können Wege zur Risikosenkung eingeschätzt werden.  

    Die geografische Lage von Belarus eröffnet Russland zwei Richtungen für ein aggressives Vorgehen: südlich gegen die Ukraine und westlich gegen die Ostflanke der Nato (Polen, Litauen, Lettland). Jedes Szenario eines ernsthaften Konfliktes erfordert die Beteiligung der russischen Armee, denn den belarussischen Streitkräften mangelt es, vor allem ohne vorangehende Mobilmachung, an Personal, an Erfahrung und an Ausrüstung, um im Alleingang und auf Dauer die Wehrhaftigkeit seiner Nachbarn zu durchbrechen. 

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU. 

    Das heißt jedoch nicht, dass Russland das Szenario von Anfang 2022 wiederholen wird – also wieder ein paar Wochen vor der Eskalation mit dem Vorwand von Militärübungen ein riesiges Truppenkontingent in Belarus stationieren wird. Hundertprozentig kann dieses Manöver zwar nicht ausgeschlossen werden, aber seit 2022 ist es so erwartbar, dass Moskau bei jedem Versuch, es zu wiederholen, den Überraschungseffekt verlieren würde.  

    Jede Überführung Tausender und erst recht Zigtausender russischer Soldaten nach Belarus würde sofort die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der Nato-Länder erregen. Die Bündnispartner würden Reaktionen auf Provokationen vorbereiten. Und wenn eine solches Kontingent wie im Januar 2022, noch dazu mit Kriegs- und Pioniertechnik, nach Belarus ziehen würde, dann würde keines der Nachbarländer mehr darauf hoffen, dass der Kreml blufft oder nur mit den Säbeln rasselt.  

    Bei weniger geradlinigen Eskalationsszenarien geht es um die Einbeziehung russischer Soldaten in ein Geschehen, mit dem man auf angeblich bereits erfolgte Provokationen reagiert. Zum Beispiel auf eine akute Verschärfung der Migrationskrise, die die belarussischen Behörden bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Intensität als Druckmittel auf die Nachbarn einsetzen.  

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU, als Retourkutsche für deren Sanktionen. Lukaschenko hat schon oft erklärt, dass die russischen Grenzbeamten die Migranten durchwinken werden, solange die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ändert sich je nach Jahreszeit und wird manchmal von Minsk direkt beeinflusst. Zu Spitzenzeiten wurden monatlich mehrere Tausend versuchte Übertritte gezählt, während es in den Wintermonaten jeweils nur ein paar Hundert sind. 

    Im Jahr 2022 strichen einige Fluglinien auf Druck der EU Flugverbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und Minsk. Danach versuchten viele Migranten, über Russland die belarussische Grenze zur EU zu erreichen. Das bedeutet, dass russische Geheimdienste wohl an der Koordinierung dieser mehrjährigen Operation beteiligt sind. Das ist wenig überraschend, bedenkt man das ähnliche Vorgehen Russlands in den letzten Jahren an den Grenzen zu Finnland und Norwegen. 

    Die Sicherheitsbehörden der Nachbarländer von Belarus, vor allem die in Polen, stellen seit den ersten Monaten der Krise fest, dass die Migranten auf jede erdenkliche Weise von belarussischen Sicherheitsbehörden unterstützt werden. Sie wurden zur Grenze gebracht und mit Leitern ausgestattet sowie mit Werkzeugen, um die Grenzbefestigung zu demontieren. Man gab ihnen auch Pflastersteine und Steinschleudern, um europäische Grenzbeamte anzugreifen. Im Mai 2024 kam bei derartigen Zusammenstößen ein polnischer Soldat ums Leben. Daraufhin sorgte Minsk umgehend einige Monate lang für eine Reduzierung des Migrantenstroms. 

    Russland könnte Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. 

    In einem Szenario, wenn ein bewaffneter Konflikt provoziert wird, könnten Migranten mit gefährlicheren Waffen ausgestattet werden als nur mit Steinschleudern. So könnten, als Migranten getarnt, Söldner oder Sicherheitskräfte versuchen, die Grenze zu überqueren. Ein daraufhin als Reaktion folgender Einsatz tödlicher Waffen durch das polnische, litauische oder lettische Militär könnte zu Zusammenstößen mit den belarussischen Grenztruppen führen. Eine solche Eskalation könnte wiederum formal als Vorwand dienen, die Nato-Staaten einer Aggression zu beschuldigen und russisches Militär hinzuzuziehen, um „die gemeinsame Grenze des Unionsstaates zu verteidigen“. 

    Dabei wäre es möglich, dass Minsk vorab nicht über die russischen Pläne informiert wird. In dem Wissen, dass die belarussische Führung sich nicht proaktiv in einen Krieg verwickelt werden will, könnte der Kreml eine Situation schaffen, in der es für Lukaschenko schwierig wäre, sich nicht für Hilfe an Moskau zu wenden. Ein solcher Einsatz von Migranten ist nicht das einzig denkbare Szenario. Zum Beispiel könnte man als ersten Schritt von Litauen fordern, einen breiteren, durch Belarus führenden Festlandskorridor zur Oblast Kaliningrad zu schaffen, falls der Schiffsverkehr über die Ostsee beschränkt würde. Darüber hinaus könnte Russland Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. Das wäre sehr viel einfacher, als einen Zusammenstoß mit der Nato zu provozieren. 

    Bei diesem Szenario könnte Russland zunächst seine Luftwaffe und seine Raketensysteme nach Belarus zurückverlegen, die 2023/24 abgezogen wurden. Dann könnte der Beschuss der Ukraine von belarussischen Stützpunkten und Fliegerhorsten wieder aufgenommen werden. Diese Angriffe waren im Herbst 2022 eingestellt worden. Kyjiw hat jedoch in letzter Zeit erhebliche Fortschritte bei der Produktion von Raketen und Drohnen mit großer Reichweite gemacht. Dadurch wären belarussische Militärobjekte als Ziel nicht nur rechtens, sondern auch recht einfach zu treffen, verglichen mit den weiter entfernten und besser von der Luftabwehr geschützten Objekten in Zentralrussland. 

    Im Falle eines systematischen Beschusses aus Belarus, könnte für die ukrainische Führung die Versuchung, diese Gefahr zu beseitigen größer sein als der Wunsch, Belarus nicht in den Krieg hineinzuziehen. Die als Reaktion folgenden ukrainischen Schläge gegen Belarus könnten wiederum Russland mehr Gründe liefern, von Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Streitkräfte zu fordern. Das Ziel wäre, den Kriegsschauplatz auf das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet auszuweiten und dadurch die Reserven der ukrainischen Streitkräfte auf eine weit längere Front zu verteilen. 

    Risikomanagement 

    Schon jetzt ergreifen europäische Länder, insbesondere geografisch Russland nahe gelegene, Maßnahmen, um eine Eskalation unwahrscheinlicher zu machen. Unter anderem erhöhen sie ihre Investitionen in die Rüstungsindustrie, stocken die Personalstärke ihrer Streitkräfte auf, führen wieder Elemente einer Wehrpflicht ein und treffen allgemeine Kriegsvorbereitungen. Sie stationieren in der Nähe der potenziellen Frontgebiete zusätzliche Truppen und befestigen und verminen ihre Grenzen zu Belarus und Russland.  

    All diese Schritte kommen oft zu spät, sind aber zweifellos notwendig. Sie zielen allerdings nur auf eine Einhegung Russlands ab und vernachlässigen den Faktor Belarus. Eine Wahrnehmung von Belarus, die das Land lediglich als ein Instrument des Kreml ohne eigenen Willen sieht, ist kurzsichtig. Selbstverständlich hat Lukaschenko einigen Anteil daran, dass sein Regime so wahrgenommen wird. Allerdings würde eine Vorstellung, in der sich die Handlungsfähigkeit von Belarus völlig im Willen des Kreml auflöst, das Bild zu sehr vereinfachen. Derzeit denkt kaum jemand über Methoden nach, wie Einfluss auf Minsk genommen werden könnte. Dabei könnte doch das Verhalten von Belarus in einem kritischen Moment eine Krise entweder verschärfen oder aber ein Hindernis für Moskaus Pläne darstellen. 

    Der Westen sollte auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte. 

    Das Regime in Belarus wird zurecht als Satellit Russlands betrachtet. Es bewahrt sich aber gleichwohl einen eigenen Willen und weiß um seine Interessen. Ein Krieg mit der Nato oder eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das Territorium von Belarus stehen diesen Interessen klar entgegen. Seit dem Kriegsbeginn 2022 zeigen alle Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Beteiligung an den Kampfhandlungen ist. Eine Entsendung belarussischer Soldaten an die Front in der Ukraine wird von nur drei bis zehn Prozent der Befragten befürwortet. Lukaschenko muss das berücksichtigen, wenn er die innenpolitischen Risiken seiner Entscheidungen abwägt. Selbst für ein autoritäres Regime ist es schwierig, sich an einem Krieg zu beteiligen, wenn die Gesellschaft das kategorisch ablehnt. 

    Jedes Szenario einer Eskalation, an der Belarus beteiligt ist, würde bedeuten, dass je länger oder beharrlicher Minsk die russischen Anstrengungen sabotiert oder sich weigert, in den Krieg einzutreten, dies stärker den Interessen der regionalen Sicherheit dient. Daher sollte der Westen – ergänzend zu den Maßnahmen zur Einhegung Russlands – auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte, damit Belarus in einem kritischen Augenblick sich dennoch als eigenständig handelndes Subjekt erweist. 

    Zum einen müssen dazu die Kommunikationskanäle nach Minsk erhalten und neue aufgebaut werden, auch zur militärischen Führung des Landes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Seite diese Kanäle aktiviert, um früh vor einer geplanten Provokation oder Eskalation zu warnen. Schließlich besteht der Staatsapparat in Minsk nicht ausschließlich nur aus prorussischen Falken, die ihr Land an einem neuen Kriegsabenteuer des Kreml beteiligen wollen. 

    Zweitens können die bestehenden diplomatischen Kommunikationskanäle genutzt werden, um Belarus die Konsequenzen klarzumachen, falls Minsk sich voll an einem Krieg gegen die Nato oder die Ukraine beteiligen sollte. Je deutlicher der belarussischen Führung das Risiko einer Zerstörung militärischer oder anderer Objekte – eben nicht nur russischer Truppen oder Anlagen auf belarussischem Territorium – bewusst wird, desto größer ist die Chance, dass Minsk sich einem solchen Szenario widersetzt. 

    Mit einer Verschärfung der Sanktionen zu drohen, wäre wenig sinnvoll. Das Potenzial des Westens für wirtschaftlichen Druck auf Belarus ist nahezu ausgeschöpft. Eine komplette Handelsblockade an der belarussischen Westgrenze, die auch den Transithandel unterbindet, würde Lukaschenko natürlich empfindlich treffen. Allerdings hat Minsk seine Exporte und Lieferketten in beträchtlichem Maße nach Russland umgeleitet, weswegen eine solche Drohung nicht allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte. Insbesondere, wenn die militärischen Forderungen seines wichtigsten Verbündeten dem entgegenstehen. 

    Drittens ist es wichtig, Belarus nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die Verhandlungen über eine Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges einen Punkt erreichen, an dem über Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen jenseits der Front gesprochen wird. Hier geht es nicht darum, dass Lukaschenko einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Diese Frage ist sehr viel weniger wichtig als die Übereinkommen, die die beiden Seiten in Bezug auf das belarussische Territorium erzielen könnten. 

    Die unabhängigen belarussischen Medien halten die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. 

    Bedenkt man die strategisch wichtige Lage von Belarus und den Umstand, dass Russland sie seit 2022 genutzt hat, könnten bei den Verhandlungen Beschränkungen für die Stationierung von ausländischen Truppen, Atomwaffen, weitreichenden Waffensystemen und Militärstützpunkten erörtert werden. Dann sollte man auch die Frage des Umfangs und der Häufigkeit von Manövern ansprechen. Ebenso könnte man sich auf Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Vereinbarungen einigen. Neben ihrer Hauptfunktion könnten diese Vereinbarungen für Minsk bedeuten, dass sich zukünftig sein Bewegungsspielraum erweitert. Sie würden Minsk Argumente liefern, um sich Versuchen des Kreml zu entziehen – soweit das möglich ist –, bei einer Verletzung eines zukünftigen Friedensabkommens belarussisches Territorium zu nutzen. 

    Viertens hat die Unterstützung durch unabhängige belarussische Medien eine militärpolitische Bedeutung. Sie befinden sich zwar im Exil, halten aber die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirken sie der Kriegspropaganda des Kreml entgegen. Sollten also die unabhängigen belarussischen Medien die Phase der globalen Einsparungen bei der internationalen Medienförderung nicht überleben, würde dies es dem Kreml erleichtern, Minsk in einen Krieg hineinzuziehen. 

    Die genannten Maßnahmen sind keine Garantie dafür, dass Russland es nicht dennoch gelingt, Belarus in eine erneute militärische Eskalation hineinzuziehen. Diplomatische Signale oder Gelder für eine Bekämpfung der russischen Propaganda in Belarus befreien die europäischen Länder nicht von der Notwendigkeit, in die eigene Verteidigung zu investieren, ihre Grenzen zu befestigen und sich auf die verschiedenen Konfliktszenarien einzustellen. 

    Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Minsk seine eigenen Interessen verfolgt, die sich von den russischen unterscheiden. Wenn der Westen das ignoriert, verpasst er die Chance, für Moskau zusätzliche Barrieren zu schaffen. Je mehr Barrieren es gibt, desto unwahrscheinlicher wird der Beginn eines neuen großen Krieges. 

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    Der Zielaufklärer

    Die russische Oblast Belgorod ist ein zentraler Umschlagplatz für Waffen und Truppen auf ihrem Weg in den Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Die Region ist gut an Rest-Russland angebunden und hat sich schon im Vorfeld des russischen Überfalls zu einem logistischen Knotenpunkt und einer wichtigen Nachschubbasis für die Invasion entwickelt.  

    Die Zerstörung der russischen Nachschub- und Logistikinfrastruktur gehört zu den verteidigungsstrategischen Prioritäten der ukrainischen Streitkräfte: Der Gegner ist zahlen- und waffenmäßig überlegen und scheut keine Verluste, Angriffe auf Nachschubstrukturen helfen der Ukraine, sich dieser Übermacht zu erwehren. Hinzu kommt, dass die russischen Truppen in der Region systematisch ukrainische Städte beschießen, vorwiegend in der Oblast Charkiw. Vor allem aus diesen Gründen ist die Region Belgorod zu einer wichtigen Zielscheibe ukrainischer Gegenangriffe geworden. Satelliten und Drohnen können dabei die Koordinaten liefern, aber auch (pro-)ukrainische Partisanen vor Ort betreiben Zielaufklärung.

    Einen solchen Zielaufklärer hat Viktoria Litwin zufällig kennengelernt. Für die Novaya Gazeta Europe hat sie mit ihm darüber gesprochen, wie er den Krieg dorthin zurückbringt, wo er herkommt – und wie er mit zivilen Opfern auf dem Gewissen umgeht. 

    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Die Folgen des Beschusses eines Öldepots in Belgorod, 1. April 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Nahe der russischen Botschaft in Warschau ist ein Nawalny-Denkmal errichtet. Ich gehe mit einer Freundin hin, von dem Foto schaut uns ein lachender Alexej an. Das Wetter ist feucht, manchmal fällt Schnee und taut gleich wieder. Ich bin aus Belgorod, meine Freundin aus Moskau, sie ist Aktivistin. 

    „Weißt du, bei uns in Belgorod hat der Bürgermeister nach Nawalnys Verhaftung mal zu einem Journalisten gesagt, es sei nichts gegen oppositionelle Demos einzuwenden. Das kann man sich jetzt kaum noch vorstellen.“ 

    Etwas abseits bemerke ich einen großgewachsenen Typen in Springerstiefeln und khakifarbenen Hosen. Er scheint schon eine Weile hier zu stehen und als er mich hört, dreht er sich erstaunt um. 

    „Du bist auch aus Belgorod?“, fragt er mich. Ich nicke. 

    „Hier, schau mal“, sagt er und holt etwas aus seiner Hosentasche. Es entpuppt sich als eine Flagge der „Volksrepublik Belgorod“ – so wird die Oblast Belgorod scherzhaft von Aktivisten genannt, in Anlehnung an die „Volksrepublik Donezk“. Viele meiner Bekannten in Belgorod machen Witze über die BNR, obwohl natürlich niemand von ihnen von einer „Dekolonisierung“ träumt oder Flaggen druckt. 

    Wir stellen uns vor. Finden schnell heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Auf einmal verkündet er: „Weißt du, fast alles, was jetzt in der Oblast Belgorod einschlägt, geht auf meine Kappe.“ Ich war bei vielen Einschlägen, von denen er erzählt, vor Ort und habe fast über alle geschrieben. Und jetzt steht ein Typ vor mir, der mir ohne Umschweife erklärt, dass das sein Verdienst ist – Brände, eingeschlagene Fenster, niedergebrannte Häuser und ihre toten Bewohner. 

    Ich vereinbare einen Interviewtermin. 

    Als wir uns treffen, bestellt er im nahegelegenen Café einen Cappuccino und ein süßes  Brötchen. 

    „Wie bist du dazu gekommen?“ 

    Er nippt an seinem Kaffee, beißt vom Brötchen ab und setzt zu seinem vierstündigen Bericht an. 

    Aktivist 

    „Als ich in die Politik gegangen bin – das war 2011 – war ich noch in der Schule. Ich habe einen Auftritt von Udalzow gesehen. Damals hat er auf der Bühne ein Porträt von Putin zerrissen. Ich wusste, dass Putin ein Arsch ist, weil er an der Militäroperation in Georgien beteiligt war. Ich kannte ein paar Georgier, und mir war schon damals klar, dass Russland der Besatzer ist. Und hier steht einer, der das Porträt von diesem allgegenwärtigen, allmächtigen Putin zerreißt. Das hat mich sehr beeindruckt. 

    Dann begann der Maidan. Ich schrieb im Gruppenchat an meine Freunde, die politisch ähnlich tickten: ‚Seht euch mal den ukrainischen Maidan an, das ist auch für Russland eine Chance.‘ Und die schrieben zurück: ‚Das sind doch alles Banderowzy, Nazis, die hassen uns Russen.‘ 

    Einer meiner Bekannten ist sogar in den Donbas kämpfen gegangen, noch 2014. Ich war schockiert, ich dachte bis dahin, er wäre vernünftig. 

    Ich habe mich von diesen Leuten distanziert, bin fast ganz raus aus dem politischen Aktivismus in Russland. 

    Ich habe die Ukraine immer geliebt, war oft in Charkiw. Das war wie eine zweite Heimat für mich. Aber die meisten meiner Bekannten erzählten, dass die Ukraine Gas stehlen würde, dass sie kein richtiger Staat sei, sondern ein erfundenes Konstrukt, und die ukrainische Sprache nur ein verunstaltetes Russisch. So was sagten sie …“ 

    Allmählich nähert sich seine Erzählung dem Jahr 2022 – und da bekomme ich eine filmreife Geschichte darüber zu hören, wie er anfing, mit den ukrainischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. 

    Mein Gesprächspartner hatte unmittelbar vor dem Krieg als Taxifahrer und Verkaufsvertreter gearbeitet. Als 2022 in den Grenzgebieten Truppen zusammengezogen wurden, beschloss er, Informationen darüber zu sammeln und sie den ukrainischen Geheimdiensten zuzuspielen. Dann brauchte ein russischer Hauptmann ein Taxi nach Belgorod, der fragte wiederum, ob er mal „ein paar Jungs anrufen könne“, und so ging es los. 

    Mein Gesprächspartner erzählt detailliert, wie er betrunkene Militärs in die Sauna fuhr, wie er ihre Gespräche heimlich mitschrieb und einen Haufen Geheiminformationen bekam. 

    „Es war vor allem dieser Hauptmann, der mir diese ganzen Jungs vermittelt hat: Wenn der bei mir im Auto saß, faselte er über Gott und die Welt! Ich schaltete manchmal sogar das Diktiergerät ein, und er merkte es gar nicht …“ 

    Für die beschafften Informationen wurde mein Gesprächspartner nach eigener Aussage von den Ukrainern bezahlt. Sein „Honorar“ – tausend Dollar – hätten sie auf russischer Seite nahe der Grenze vergraben und ihm dann die Koordinaten mitgeteilt. 

    „Dann habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin weg“, setzt er seinen Bericht fort. „Ich hatte eine Abmachung mit den ukrainischen Jungs, denen ich half. Am 18. Februar hörte ich, dass in der DNR und LNR eine Massenevakuierung und Mobilmachung ausgerufen wurde. Da beschloss ich zu fliehen.“ 

    Die Redaktion konnte die Aussagen nicht überprüfen. Unser Gesprächspartner erklärte, er habe beim Grenzübertritt fast alle Daten von seinem Handy gelöscht und könne uns deshalb weder die Chats noch die Diktieraufnahmen zeigen. Das erscheint durchaus plausibel. 

    Uns wurde allerdings bestätigt, dass er wirklich in Belgorod als Taxifahrer gearbeitet und in jenen Tagen mindestens ein Video aus einer Grenzsiedlung in den sozialen Netzwerken gepostet hat. Er konnte uns auch den Nachnamen eines der Militärs nennen, der damals nach Belgorod versetzt wurde – und wir haben dessen Account in den sozialen Netzwerken gefunden. Außerdem kannte er Koordinaten von Militärstützpunkten. 

    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Rauch nach dem Beschuss des Umspannwerks „Lutsch“ 14. Oktober 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wahr ist sicher auch, dass er nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion die Koordinaten der russischen Objekte den Ukrainern zuspielte. 

    Und da ist noch eine Tatsache, die ich nicht anzweifle: Mein Gesprächspartner hat ein enormes Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich möchte meinerseits verstehen, wie und warum man bei Beschüssen von Zivilisten mitmachen will. 

    Schuss und Treffer 

    „Am 24. Februar erklärte Putin den Krieg, sie gingen auf Charkiw los“, setzt der Spitzel fort. „Eine Flut von Videos, Mitschnitten. Und da begann dann meine Arbeit mit OSINT. Ich ermittelte anhand von Karten, zufälligen Videos und aus dem Gedächtnis, wo die Technik steht. Diese Information übermittelte ich den ukrainischen Geheimdiensten.“ 

    Er zählt eine lange Liste von Attacken auf, an denen er beteiligt gewesen sein will. Zum Beweis zeigt er mir Chats mit seinen ukrainischen Kontaktmännern, in denen er die Koordinaten teilt, die später beschossen werden würden. 

    „Ich glaube, dass genau dadurch [durch den Beschuss eines Erdöllagers, der dazu führte, dass der Armee der Treibstoff ausging – NG] die Offensive auf Charkiw vereitelt wurde“, sagt er. „Dort befanden sich alle Vorräte. Ich habe ihnen [den Ukrainern – NG] alles praktisch bis auf den Meter genau beschrieben: was, wo, wie.“ 

    Besonders ausführlich beschreibt er, wie genau er in der Oblast Belgorod Informationen sammelt, die er an die ukrainischen Sicherheitsdienste weitergibt. Er erinnert sich zum Beispiel an ein TikTok-Video, das Kolonnen von russischer Kriegstechnik an einem gut erkennbaren Ort zeigte. Dieses Video hatte ein Taxifahrer gedreht: „Er wusste nicht, dass es Leute gibt, die alle Punkte in der Region Belgorod zuordnen können.“ 

    „… Auch eine Operation, die unmittelbar auf uns zurückgeht: Als russische Reporter in Schurawlewka-Nechotejewka filmten, konnte man sehen, wo die Russen stationiert waren. Viele russische Stellungen wurden also von russischen Journalisten und Reportern selbst verraten.“ 

    Während er diese endlose Liste von Angriffen auf die Oblast Belgorod aufzählt, sagt er plötzlich: „Wir erstellten eine eigene ‚Schindlers Liste‘. Das war so ein Witz. Schindler hat ja alle gerettet, aber wir knallten alle ab. Das fanden wir lustig. Auf dieser Liste standen alle Erdöllager, sämtliche Umspannwerke, Fernsehmaste. Plus, wir wussten, dass der Gouverneur der Oblast Belgorod im Dorf Nishni Olschanez wohnt. Dieser Gladkow ist der letzte Vollidiot, er postet oft Videos, wie er morgens seine Joggingrunde dreht. Dann haben wir auch noch die Seiten von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Da beschlossen wir also, Gladkow ins Visier zu nehmen, der ist nämlich ein echter Gauleiter, ein Nazi. Und das haben wir gemacht.“ 

    Ich bestätige: Im November 2022 wurde Nishni Olschanez tatsächlich beschossen. Zwei Menschen wurden verletzt. Gladkow war nicht dabei. 

    Oskol 

    „… Ich habe eine Operation entwickelt, um das Stahlwerk in Oskol lahmzulegen. Es ist eines der größten Werke in Russland zur Herstellung von legiertem Stahl – hochwertigem Stahl, der vom Militär verwendet wird. 

    Die Informationen zu diesem Werk stammen aus dem Open Source: Ein Student hat dort ein Praktikum absolviert und eine umfangreiche Hausarbeit über den Aufbau der Anlage geschrieben, das war noch vor dem Krieg. Wie das Werk funktioniert, über alle Systeme, wo sich was befindet. Es gab eine Menge solcher Fakten, die sehr hilfreich waren. 

    Unsere Idee war, den Strom zu kappen, damit der Stahl in den Öfen aushärtet und diese dadurch unbrauchbar werden. Die Wiederherstellung kostet sehr viel Zeit.” 

    Der Zielaufklärer entsperrt wieder sein Handy, das auf dem Tisch liegt, und sucht in seinen „Rapports“ – so nennt er seine Meldungen – nach diesem Plan. Er findet den richtigen Chat und zeigt ihn mir. Der Text ist auf Ukrainisch, ich überfliege ihn und verstehe, dass es wirklich um diesen Angriff geht. Flächenangaben, lauter Koordinaten, ein paar Karten mit bunten Markierungen und das Datum, an dem die Nachricht gesendet wurde: 26. Januar 2024. Der Angriff selbst wird am 23. März 2024 stattfinden. „… Außerdem fand der Militärnachrichtendienst Saboteure, die auf dem Gelände der Nebenstellen Sprengsätze auslegten. Es war ein kombinierter Angriff, sozusagen. Wir haben die Fabrik neutralisiert, aber leider keine Ahnung, für wie lange.“ 

    „Augen“ 

    „Sogenannte Augen werden an Ort und Stelle bezahlt, ja. Obwohl es auch Freiwillige gibt, die sich unentgeltlich engagieren. Die sagen, sie wollen nichts verdienen, sie nehmen nur die Fahrtkosten, also Benzingeld, mehr nicht. Ich bekomme momentan auch nichts bezahlt. 

    Alle unsere Freiwilligen wissen, für wen sie arbeiten. Alle wissen das, es ist kein Geheimnis …“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Im Laufe unseres Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die ukrainischen Geheimdienste auf dem Gebiet der Oblast Belgorod sehr breit aufgestellt sind. Das wundert mich, denn seit den ersten Kriegstagen spüren die Bewohner der Grenzregion unter ihren Bekannten und Nachbarn „Verräter“ auf. So war es sogar für Journalisten schwierig, in die grenznahen Dörfer zu gelangen: Die Einheimischen, die „schon immer hier leben und alle persönlich kennen“, melden jeden mit einer Kamera sofort den Behörden oder gleich dem FSB. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine haben kein leichtes Spiel. Insofern ist es eigentlich sehr gefährlich, in der Oblast Belgorod als Partisan zu agieren. 

    Doch mein Gegenüber breitet ein ganzes Panorama einer riesigen Partisanenbewegung vor mir aus.  

    „Wir haben auch für Anschläge auf den FSB unterstützt, dabei wurden sogar dessen Mitarbeiter verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sie gerade eine Lagebesprechung zur Oblast Belgorod: Es war Ende Mai 2023, das Russische Freiwilligenkorps und die Legion stießen in [die russische Grenzstadt – dek] Grajworon vor. Und die FSB-ler, diese Deppen, luden zu einer Besprechung direkt in ihr Büro. Wo sie dann auch ein schöner Gruß aus der Luft erreichte. Unsere Männer behielten damals das Gebäude im Visier und sahen, wie mehrere Krankenwagen von da losfuhren. Ja, und auch wenn das den FSB-lern überhaupt nicht schmeckt, es gibt unter ihnen einfach welche, die uns zuarbeiten. Manche haben eben echt Mitleid mit der Ukraine und wollen helfen.  

    Das mit dem 30. Dezember und dem Beschuss von Belgorod ist sowieso interessant“, setzt er fort. Er meint einen tragischen Vorfall im Jahr 2023 mit 25 Toten und über hundert Verletzten. „Unsere Partisanen hatten herausgefunden, dass über einen lokalen Flughafen S-300-Raketen in die Oblast Belgorod gebracht werden, nämlich mit regulären Flügen aus anderen Regionen. Wir wussten außerdem, dass sich die Abschussrampen direkt neben dem Flugplatz befinden, außerhalb von Belgorod nahe Schopino und Nowosadowo. Dementsprechend wollten wir auf diese Ziele feuern: Die Ukraine versuchte, mit Raketenwerfern den Flughafen und die Abschussrampen zu zerstören. Südlich von Belgorod flogen dann Panzir-Abwehrraketen (der russischen Armee) hoch, um diese Raketen abzufangen. Der Panzir ist so ein System, das nicht die Rakete selbst zerstört, sondern auf ihren Antrieb zielt. Das heißt, die Raketen fliegen über Belgorod, der Panzir zerschießt ihnen den Antrieb, und sie fallen den Belgorodern auf die Köpfe.“  

    Während ich mit ihm spreche, erinnere ich mich, wie ich an jenem schrecklichen 30. Dezember langgezogenes Tuten im Telefon hörte. Auf meinem Display stand „Mama“, außerdem war da ein Foto mit einem Geschoss vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete.  

    Meine Mama hob ab, sie hatte an dem Tag frei. Ich kenne aber auch Leute, deren Angehörige nicht mehr abhoben. 

    Der Zielaufklärer spricht weiter: 

    „So hat sich Putins Armee hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wenn du mich fragst, ist das ein Verbrechen. Wenn die Ukrainer es auf die Zivilisten abgesehen hätten, dann hätten sie doch flächendeckend Dubowoje beschossen, da wohnen die reichsten Leute der Oblast Belgorod, und die Bevölkerungsdichte ist ziemlich hoch.“  

    Oblast verlassen 

    Am 1. Juni 2023 war ich in Schebekino und schrieb an einer Reportage. Später meldeten die Behörden der Oblast Belgorod, dass an jenem Tag 850 Geschosse auf das Stadtgebiet gefallen seien: Ich erinnere mich, wie mich ein Einheimischer ins Stadtzentrum mitnahm, wo ich zerstörte Häuser fotografierte. Es kamen drei Raketen angeflogen, dann war da ein Sausen und Pfeifen, und ein paar Sekunden später lagen Grad-Geschosse zwanzig Meter von uns entfernt verstreut. Weiter erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Ich laufe die Straße entlang, überall Glasscherben und Mauerschutt. Am Horizont steigen Rauchsäulen in die Höhe.  

    Als ich den Zielaufklärer nach Schebekino frage, setzt er genauso sachlich fort: „An Schebekino haben wir lange herumgedacht, weil wir wussten, dass die russische Armee im Maschinenbauwerk ihr Kriegsgerät reparierte. Das Krasseste war aber, wie Schebekino Ende 2022 mit Granaten beschossen wurde und die Schäden eindeutig darauf hinwiesen, dass sich da die russischen Truppen selber beschossen hatten.“ 

    Ich glaube ihm das nicht. Er überschüttet mich mit den technischen Spezifikationen der Geschütze, weiß noch auswendig, wie weit sie flogen und wie viel Zerstörungskraft jede einzelne hatte. Wir scrollen durch Fotos der Ortschaft, ich öffne ein Onlinemedium von Schebekino und folge der Timeline zurück bis zum Juni 2023. 

    Das erste Bild, das uns unterkommt, ist eine Rakete, die vor dem Gerichtsgebäude im Asphalt steckt. Er öffnet eine Karten-App und findet die Stelle sofort. Der Schwanz der Rakete zeigt eindeutig in Richtung Ukraine. Doch der Informant besteht darauf, dass alles auf einen Angriff vonseiten Russlands hinweise – etwa, wie die Erde rund um die Einschlagstelle weggeflogen sei. Er versucht, mich mithilfe eines Zuckerpäckchens zu überzeugen. Er nimmt es und beschreibt damit eine Flugbahn durch die Luft. Als die improvisierte Rakete auf dem Tablett aufschlägt, schleudert es den Zucker über die Tischplatte und das Tablett. Enthusiastisch demonstriert mein Gesprächspartner, wie der Zucker verstreut liegt – genau wie die Erde rund um die Rakete in Schebekino. Seiner Meinung nach ist das ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Russland im Sommer 2023 Schebekino selbst beschossen hat: 

    „Wir waren natürlich geschockt, das war regelrechter Terror vonseiten Russlands gegen die Bewohner von Schebekino!“, sagt er. „Soweit ich weiß, ist die ukrainische Armee ganz streng, wenn es um zivile Opfer geht, es gibt einen Befehl, die Bevölkerung in Ruhe zu lassen. 

    Ansonsten glaube ich, Belgorod hat noch so einiges vor sich. Schindlers Liste wird weiter abgearbeitet. Belgorod ist beinahe mehr Ukraine als Russland. Vom Verhalten her, der Mentalität, ich habe ja den direkten Vergleich. Ich kenne die Belgoroder Mentalität und die Mentalität im Norden, in Twer, Orjol, Kaluga – die sind ganz anders als wir. Faule Säcke, rühren freiwillig keinen Finger.“  

    Am Ende unseres Gesprächs scrollt er einfach nur noch durch die Fotos auf seinem Handy und kommentiert immer mal wieder, manchmal lachend. Ich stelle ihm kaum mehr Fragen.  

    „Praktisch bei allem, was auf dem Gebiet der Oblast Belgorod zerstört wird, haben wir irgendwo die Finger drin. Ich würde sowieso allen anständigen Belgorodern empfehlen wegzugehen, auch die Oblast zu verlassen. Sie sollten lieber wegziehen, wenn sie eine Möglichkeit haben. Weil es weiterhin Angriffe geben wird und solange sich die russischen Soldaten hinter den Belgorodern verstecken, kann man nichts machen. Auch wenn wir zu den Beschüssen beitragen, auch wenn es die Gegend trifft, in der wir zu Hause sind, wir behalten trotzdem einen kühlen, klaren Kopf – wir wissen, dass Putin schuld ist. Die russische Gesellschaft, die Putin unterstützt, die russische Armee. Die Ukraine kann nichts dafür. 

    Klar haben viele ihre Häuser und Wohnungen verloren, ihre vertraute Umgebung, und es gibt Todesopfer, Kinder und Erwachsene. Das versteht sich von selbst. Das ist schlimm.“ 

    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin
    Zerstörte Fenster, eine Folge des Beschusses in Belgorod, 3. Juli 2022. Foto © Viktoria Litwin

    Wieder habe ich ein Bild aus einer meiner Reportagen vor Augen. Schebekino, auch wieder 2023. Der kleine Sohn meiner Hauptfigur, der Splitter von Geschossen sammelt, die rund um sein Haus explodiert sind, steigt mit seiner Oma und einer Plastiktasche voller Sachen – alles, was er in der Eile zusammenpacken konnte – in ein Auto. Der Junge reist mit mir ab, während seine Eltern im Bombenhagel in Schebekino bleiben – sie haben einfach kein Geld, um ihr Kind zu begleiten. Zum Abschied sagt die Mutter leise zu mir: „Stell dir vor, du kommst an, und da ist kein Krieg.“ 

    Wieder reißt mich der Zielaufklärer aus meinen Gedanken:  

    „… Mein Haus wurde 2022 zerstört. Ich weiß, wie es passiert ist, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Nur eines will ich sagen: Für die Zerstörung der grenznahen Dörfer in der Oblast Belgorod ist vor allem die russische Armee verantwortlich. Sie hat sich immer hinter einem Dorf positioniert und von da aus ukrainisches Territorium beschossen. Die Ukrainer haben zurückgefeuert. Manchmal mit Grad-Raketen. Und so wurden unsere Dörfer zerstört. Na ja, damals hatten die Behörden der RF diese Gegend bereits für unbewohnbar erklärt. Aber die Einheimischen …  

    Widerstand leisten 

    Wie viele von den zivilen Todesopfern in Belgorod ich persönlich gekannt habe? Ungefähr zehn mindestens. Alle waren für diesen Krieg, leider. Nur eine der Getöteten war dagegen. Kürzlich kam bei einem Beschuss das Kind eines Bekannten ums Leben. Dieser Bekannte war für den Krieg. War wohl Karma. 

    Ich weiß, auch wenn ich dieses Interview anonym gebe, können sie mich nach solchen Äußerungen ausfindig machen und umbringen. Aber die Menschen sollen wissen, dass der Kampf lebt, dass das ein heiliger Krieg ist. Natürlich geht es mir nicht darum, berühmt zu sein und angehimmelt zu werden, sondern darum, dass die Menschen begreifen, dass man immer, in jeder Situation Widerstand leisten kann. Und auch muss, weil diese Welt auf unseren Schultern lastet, auf den Schultern jener, die sich wehren und kämpfen.“ 

    Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Bahnhof. Auf dem Weg frage ich ihn, ob er keine Angst hat. Russen, die der ukrainischen Armee helfen, werden manchmal sogar in Europa ermordet.  

    „Ich glaub nicht, dass sie mich umlegen, guck mal meine Lebenslinie.“ Er fährt mit einer Fingerspitze quer über seine Handfläche. 

    „Willst du nach dem Krieg zurück nach Russland?“ 

    „Nein.“ 

    „Auch nicht zu Besuch?“ 

    „Nein.“  

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  • Odessa 2014: Die Proteste, das Feuer und die Schuldfrage

    Odessa 2014: Die Proteste, das Feuer und die Schuldfrage

    Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa im Mai 2014 war ein Schlüsselereignis: Auf die Euromaidan-Revolution war Russlands Annexion der Krym und die pro-russische Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Donbas gefolgt. Dann stand die Frage im Raum, ob weitere Orte im Osten oder Süden der Ukraine folgen würden. In diesem Moment kam es in Odessa zu Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Gruppen: Die einen unterstützten den Euromaidan, die anderen formierten den pro-russischen, sogenannten Antimaidan.  

    Bei Straßenschlachten und einem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 starben insgesamt 48 Menschen. Viele der Opfer waren Vertreter des Antimaidan. Die russische Propaganda nutzte die Tragödie sogleich, um den angeblich faschistischen Charakter der Kyjiwer Regierung zu untermauern. 

    Fast elf Jahre nach dem Brand hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) am 13. März 2025 sein Urteil zu den Ereignissen gesprochen. Es unterstützt weder die russische Version, noch entlässt es den ukrainischen Staat aus seiner Verantwortung.

    Der EGMR befand, dass die ukrainischen Behörden – damals noch die Regierung des bereits nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch – unzureichende Anstrengungen unternommen haben, um während der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa für Recht und Ordnung zu sorgen und eine Eskalation zu verhindern. Sie verzögerten die Brandbekämpfung und die Rettung von Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und versäumten es im Nachhinein, die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen zu ermitteln.

    Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es auch die Interventionen Russlands berücksichtig habe, die die Zusammenstöße zwischen den Protestlagern provozierten und anschließend versuchten, die Tragödie von Odessa als Rechtfertigung für den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine sowie später auch für die vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu missbrauchen. Die Urteilsbegründung erwähnte auch jene damals verantwortlichen lokalen Amtsträger, die heute in Russland leben und dort Karriere machen: zum Beispiel den damaligen Leiter des regionalen Katastrophenschutzes, der mittlerweile Vize-Chef der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ist.

    Einen Tag nach der Veröffentlichung des EGMR-Urteils, am 14. März 2025, ist der damalige Euromaidan-Aktivist, später auch Mitglied des rechtsextremen Prawy Sektor, Demjan Hanul, im Zentrum von Odessa auf offener Straße erschossen worden. Hanul war früher schon angegriffen worden, laut seiner Ehefrau soll er in den Wochen vor seinem Tod erneut „pro-russische Verfolger“ erwähnt haben. Mutmaßlicher Täter ist ein ukrainischer Soldat, der sich unerlaubt seit längerer Zeit von seiner Einheit entfernt hat. Das Verfahren läuft noch, nach ersten Berichten soll er im nicht öffentlichen Prozess seine Schuld eingestanden haben. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty, das sich seit Jahren auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert, hat das EGMR-Gerichtsurteil und seine Begründung untersucht und durch eine detaillierte Chronik der eskalierten Proteste eingeordnet. Es berichtet auch über den Prozess zur Ermordung von Hanul.

    Am 2. Mai 2014 starben bei eskalierten Protestaktionen vor und im Gewerkschaftshaus im südukrainischen Odessa 48 Menschen. / Foto © Denis Petrov/ SNA/ Imago

    Am 13. März verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil in der Rechtssache Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine. Der Gerichtshof fasste sieben verschiedene Klagen von insgesamt 28 Personen zusammen, die 2016 und 2017 im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Mai 2014 in Odessa eingereicht wurden. Sie alle betrafen die gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Hrezka-Platz und dem Kulykowe-Feld sowie den Brand im Gewerkschaftshaus.

    Das Gericht verurteilte die Ukraine zu Entschädigungszahlungen zwischen je 12.000 bis 17.000 Euro an die Kläger.

    Bei der Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Tragödie von Odessa stützte sich der EGMR nicht nur auf die offiziellen ukrainischen Ermittlungen und Gerichtsentscheidungen, sondern insbesondere auch auf die Berichte der UN-Beobachtungsmission, des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des ukrainischen Ombudsmanns sowie eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, als auch auf die Ergebnisse der unabhängigen Recherchen durch die Nichtregierungsorganisation Gruppe des 2. Mai und auf Zeugenaussagen der Geschädigten. Von diesen waren drei direkt an den Ereignissen in Odessa beteiligt, die übrigen waren Hinterbliebene, deren Angehörige an jenem Tag unter verschiedenen Umständen ums Leben kamen.

    Die Kläger zogen es vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen

    „Unter den Hinterbliebenen der Opfer, die an diesem Tag starben, befanden sich sowohl Anhänger als auch Gegner des Maidan sowie unbeteiligte Dritte. Die Kläger zogen es oft vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen“, schreibt das Gericht in seinem Urteil.

    Der EGMR wies in seinem Urteil außerdem auf die Hintergründe und den Kontext der Ereignisse hin: Nach dem Euromaidan und der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch aus der Ukraine im Februar 2014 kam es zu pro-russischen Protesten im Osten und Süden des Landes, oft unter Anwendung von Gewalt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Annexion der Krym und der Einsatz des Militärs durch Russland sowie die Schaffung der selbsternannten Volksrepubliken „DNR“ und „LNR“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk und der Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.

     

    Chronologie der Konfrontationen

    Anfang 2014 bildeten Protestierende in Odessa sogenannte Selbstverteidigungseinheiten: sowohl auf Seiten des Euromaidan als auch des Antimaidan. Letzterer war pro-russisch eingestellt und errichtete im März 2014 eine Zeltstadt auf dem Kulykowe-Feld (vor dem Gewerkschaftshaus – dek). Auf einem großen Bildschirm wurden Nachrichtensendungen des russischen Staatsfernsehens gezeigt und aus Lautsprechern ertönten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, die zum Kampf gegen den Faschismus aufriefen.

    „Wie aus den Videoaufnahmen des Zeltlagers auf dem Kulykowo-Feld und verschiedenen von den Aktivisten organisierten Veranstaltungen hervorgeht, zeigten die Anhänger der Bewegung häufig Flaggen der Russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion, skandierten oder zeigten Parolen, in denen sie die neue (Kyjiwer – dek) Regierung als ‚faschistische Junta‘ darstellten und ein Referendum und die Föderalisierung der Ukraine in halbautonome Regionen forderten. Einige Menschen zeigten Plakate, auf denen sie ihre Hoffnung auf eine Wiederholung des Krym-Szenarios in Odessa zum Ausdruck brachten und die Russische Föderation dazu aufforderten, auch ihre Stadt aufzunehmen“, so der EGMR in seinem Urteil.

    Am 2. März fand in Odessa eine Kundgebung zur Unterstützung der Einheit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krym statt, an der 7000 bis 10.000 Menschen teilnahmen. Am nächsten Tag versuchten pro-russische Demonstranten das Regionalparlament von Odessa in einer Dringlichkeitssitzung zu stürmen. Dem Gericht zufolge konnten gewalttätige Zusammenstöße mit proukrainischen Aktivisten vermieden werden, da Ordnungskräfte beide Lager voneinander trennten. Im März und April folgten wöchentlich friedliche Kundgebungen beider Gruppen.

    Im April richtete die Regionaldirektion des ukrainischen Innenministeriums in Odessa einen Operationsstab ein, um die Situation in der Stadt zu kontrollieren.

    Geheimdienst meldet Regionalbehörden Ende April erhöhtes Gefahrenpotenzial für den 2. Mai

    Ende April kündigten Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw für den 2. Mai vor dem Spiel ihrer Mannschaften eine Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ an. Dies löste heftige Reaktionen bei Antimaidan-Anhängern aus, die in sozialen Medien zum Protest gegen den „Naziaufmarsch“ aufriefen.

    Den vom EGMR zitierten Informationen zufolge meldete der SBU dem Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, am 30. April ein erhöhtes Risiko von Zusammenstößen und Ausschreitungen am 2. Mai. Am selben Tag informierte die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Hauptdirektion des Innenministeriums den Operationsstab über Pläne „subversiver Gruppen“, die Lage in der Region Odessa während der bevorstehenden Maifeiertage destabilisieren zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die Abteilung zur Bekämpfung von Cyberkriminalität des Innenministeriums über Posts in Sozialen Netzwerken durch Antimaidan-Anhänger, in denen die Möglichkeit von gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 erwähnt wurde.

    Luziuk und sein Stellvertreter Dmytro Futschedshi ordneten daraufhin an, Pläne zur Gewährleistung von Recht und Ordnung an jenem Tag in der Stadt zu erstellen. Laut Gericht enthielten diese jedoch nur Routinemaßnahmen bei Fußballspielen und berücksichtigten nicht die Warnungen des Geheimdienstes und anderer Strafverfolgungsbehörden.

    Am Morgen des 2. Mai waren etwa hundert Polizisten im Stadtzentrum von Odessa und mehr als zweihundert weitere rund um das Stadion im Einsatz.

    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder
    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder

     

    13:30 Uhr: Antimaidan-Anhänger versammeln sich auf der Olexandriwsky-Allee (mittlerweile Allee der Ukrainischen Helden – dek), etwa 450 Meter vom Treffpunkt der proukrainischen Aktivisten (am Soborna-Platz – dek) entfernt. Sie haben Schilde und Äxte sowie Holz- und Metallstöcke bei sich, einige tragen Schusswaffen. Sie erklären, dass sie einen Überfall auf ihr Zeltlager auf dem Kulykowe-Feld Platz verhindern wollen.

    Die Polizei verlegt rund 150 Beamte vom Stadion ins Stadtzentrum, verfügt Berichten zufolge aber über keinerlei Mittel, um sich im Falle einer Eskalation selbst schützen oder einschreiten zu können.

    15 Uhr: Antimaidan-Anhänger stürmen das Büro des Vereins Rat für öffentliche Sicherheit, weil sie hier und in einem davor geparkten Wagen angeblich Waffen vermuten, was sich jedoch nicht bestätigt. Einige proukrainische Aktivisten versperren den Zugang zum Gebäude. Als eine Polizeieinheit vor Ort eintrifft, umstellt sie das Gebäude, ergreift aber keine Maßnahmen.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Polizeibeamte das Gebäude umstellen, in dem sich auch der Verein Rat für öffentliche Sicherheit befand. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Gegen 15:15 Uhr: Antimaidan-Anhänger setzen sich in Richtung des Marsches „Für die Einheit der Ukraine“ in Bewegung und werden dabei von dreißig Beamten der Streifenpolizei und zehn weiteren Polizisten begleitet. An der Spitze dieser Kolonne gehen neben den Anführern des Antimaidan auch der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Dmytro Futschedshi, sowie der Gruppenführer der Einsatzhundertschaft, Wadym Knyschow.

    15:30 Uhr: Zu den ersten Zusammenstößen kommt es in der Nähe des Hrezka-Platzes. Nach vorliegenden Informationen greifen die Antimaidan-Anhänger die proukrainische Demonstration auf dem Weg vom Soborna-Platz zum Tschornomorez-Stadion an. Es werden Schüsse abgegeben und beide Seiten bewerfen sich mit Steinen, Pyrotechnik und Molotow-Cocktails.

    Gegen 15:50 Uhr: Der Polizei gelingt es, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, wobei sie den Antimaidan-Anhängern den Rücken zukehrt. Die Gruppe des 2. Mai bestätigt später mit Verweis auf Videoaufnahmen, dass einige Polizeibeamte und pro-russische Demonstranten rotes Klebeband am Arm und damit gleiche Erkennungszeichen trugen.

    16:10 Uhr: Ihor Iwanow wird das erste Todesopfer der Proteste sein. Der Teilnehmer der proukrainischen Demonstration wird mit einer Schussverletzung im Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und verstirbt dort während der Operation.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Protestierende einen Verletzten, laut Beschreibung Ihor Iwanow, aus der Kampfzone heraustragen. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der EGMR wertete Videoaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie mit Sturmhauben maskierte pro-russische Aktivisten hinter dem Rücken der untätigen Sicherheitskräfte, auf ihre Gegner schossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt der EGMR:

    „Laut dem Gutachten eines Sachverständigen für Ballistik der Gruppe des 2. Mai schoss der pro-russische Aktivist, der von der NGO als Herr Budko identifiziert wurde, mit scharfer Munition aus einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow (AKS-74U). Der Experte vertritt die Auffassung, dass die tödlichen Verletzungen von Herrn Iwanow durch denselben Waffentyp verursacht wurden.

    Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten der Zugang zum Krankenwagen verweigert

    Der Sachverständige verwies auch auf im Internet kursierende Videoaufnahmen, denen zufolge Patronenhülsen dieses Modells am Ort der Zusammenstöße gefunden wurden. Die Regierung gab in ihrer Zusammenfassung des Sachverhalts außerdem an, dass ‚Herr B.‘ mehrere Schüsse in Richtung der Maidan-Unterstützer aus einer Waffe abgefeuert hatte, bei der es sich offenbar um ein AKS-74U-Sturmgewehr handelte.

    Auf einem anderen veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Herr Futschedshi, der eine leichte Verletzung am Arm erlitten hatte, in einen Krankenwagen stieg, in dem Herr Budko saß, der offenbar unverletzt war. Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten, der von zwei weiteren Beamten gestützt wurde, offenbar der Zugang zu diesem Krankenwagen verweigert, der daraufhin wegfuhr.“

    Den Berichten zufolge durchbrechen Antimaidan-Anhänger zehn Minuten später die Polizeikette. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird Andrii Birjukow, ein weiterer Aktivist des Euromaidan, tödlich verwundet.

    Gegen 17:30 Uhr: Pro-ukrainische Demonstranten übernehmen ein Feuerwehrauto, dass sie unter falschem Vorwand ins Stadtzentrum gerufen hatten, um damit die Barrikaden der Antimaidan-Anhänger zu durchbrechen.

    Zur selben Zeit werden Schüsse aus einem Jagdgewehr in Richtung der pro-russischen Demonstranten und der Polizeikette abgegeben. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Personen aus beiden Lagern getötet und 47 Personen festgenommen worden.

    Schlussendlich gewinnen die wütenden pro-ukrainischen Demonstranten allmählich die Oberhand und ziehen zum Zeltlager der Antimaidan-Anhänger auf dem Kulykowe-Feld. Einige der dort Protestierenden beschließen, sich im nahen Gewerkschaftshaus zu verbarrikadieren.

     

    Eskalation am Gewerkschaftshaus

    Gegen 19:20 Uhr: Pro-ukrainische Aktivisten erreichen das Kulykowe-Feld und beginnen, die Zelte niederzureißen und anzuzünden. Währenddessen werden sie von Antimaidan-Anhängern vom Dach des Gewerkschaftshauses mit Molotow-Cocktails beworfen. Nach Angaben der Gruppe des 2. Mai wird außerdem vom Dach und aus den Fenstern des Gebäudes auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen.

    19:30 Uhr: Dem ukrainischen Katastrophenschutz DSNS wird ein Brand gemeldet. Laut dem Mitarbeiter der Leitstelle bestehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Der Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, ist vor Ort und weist seine Mitarbeiter an, nicht ohne seine Anweisung zu reagieren.

    Bodelan erklärt später bei einer internen Untersuchung, dass er diese Entscheidung „vor dem Hintergrund der Entwendung eines Löschfahrzeugs einige Stunden zuvor und zur Verhinderung eines ähnlichen Szenarios sowie zur Gefahrenvermeidung für das Leben der Feuerwehrleute“ getroffen habe.

    19:45 Uhr: Im Gewerkschaftshaus breitet sich das Feuer aus. Zehn Minuten später springen eingeschlossene Antimaidan-Anhänger verzweifelt aus den Fenstern der oberen Stockwerke, unter ihnen auch Angehörige der Kläger. Das Gericht stellte fest, dass es sowohl Fälle von Angriffen pro-ukrainischer Aktivisten auf die sich rettenden Antimaidan-Anhänger gab, als auch solche, in denen geholfen wurde.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie jemand aus der Gruppe der pro-ukrainischen Protestierenden draußen den in den Flammen im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen ein weißes Seil zuwirft, mit dem sie sich versuchen hinauszuretten. Andere schlagen die sich rettenden Personen. Wieder andere schießen vom Dach. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    20:09 Uhr: Auf Anweisung von Bodelan treffen die ersten Feuerwehrleute ein.

    20:50 Uhr: Der DSNS meldet, dass das Feuer gelöscht sei. Später stellt sich heraus, dass insgesamt 42 Menschen im Gebäude ums Leben gekommen sind. Viele Menschen erlitten außerdem Verbrennungen und Verletzungen, als sie sich durch Sprünge aus den Fenstern retteten.

    Die Polizei hat 63 Antimaidan-Anhänger festgenommen, die sich im Gebäude oder auf dem Dach befanden.

    Am nächsten Tag stürmen pro-russische Anhänger das Polizeirevier, in dem die Verhafteten festgehalten wurden. Auf mündliche Anordnung von Futschedshi wurden diese schließlich ohne Status als Verfahrensbeteiligte freigelassen. 

     

    Ukrainische Ermittlungen und Gerichtsverfahren

    Der EGMR stellte fest, dass die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden auf die Ereignisse in Odessa mit der Einleitung zahlreicher miteinander verbundener Strafverfahren reagierten, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:

    • Verfahren wegen Handlungen von Privatpersonen
    • Verfahren bezüglich des Handelns von Strafverfolgungsbeamten und
    • Verfahren zum Handeln des DSNS

    Laut Beobachtungen der Gruppe des 2. Mai wurde der betreffende Bereich des Kulykowe-Felds nicht zur Beweissicherung gesperrt. Stattdessen wurden in der Nacht zum 3. Mai Arbeiter der kommunalen Straßenreinigung geschickt, um den Bereich aufzuräumen. Die erste Inspektion des Platzes fand erst am 15. Mai statt.

    Forensische Experten begannen ihre Arbeit im Gewerkschaftshaus zwar noch in der Nacht des 2. Mai, wurden jedoch mehrmals durch Antimaidan-Anhänger gestört, die sich noch im Gebäude aufhielten. Vom 4. bis 20. Mai blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit frei zugänglich.

    Die Kugel aus dem Körper des verstorbenen Ihor Iwanow wurde nicht aufbewahrt

    Kugeln und Splitter, die aus den Körpern der Opfer geborgen wurden, konnten durch die Experten nicht eindeutig identifiziert und keiner Waffe zugeordnet werden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kugel, welche die Chirurgen aus dem Körper des verwundeten und später verstorbenen Ihor Iwanow entfernt hatten, nicht aufbewahrt worden war und deshalb nicht im Rahmen der Ermittlungen untersucht werden konnte.

    Experten stellten fest, dass die Menschen im Treppenhaus und in den unteren Stockwerken des Gewerkschaftshauses an Verbrennungen und Vergiftung durch Kohlenmonoxid und andere durch den Brand erzeugte, nicht identifizierte Gase und toxische Substanzen starben. Ein absichtlicher Einsatz von giftigen Stoffen wurde sowohl durch die offiziellen als auch durch die unabhängigen Untersuchungen ausgeschlossen.

    Am 18. Mai 2014 verhaftete die Polizei Serhii Chodijak, der an der Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ teilgenommen hatte. Er wurde des Mordes an einem Antimaidan-Aktivisten und des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt. Mehr als zehn Jahre später ist dieses Gerichtsverfahren gegen Chodijak immer noch am Malyniwsky-Bezirksgericht in Odessa anhängig.

    Am 26. Mai 2014 wurde Mykola Wolkow, ein Anhänger des Euromaidan in Odessa, unter dem Verdacht festgenommen, mit einer Waffe in Richtung Gewerkschaftshaus gefeuert zu haben. Im Februar 2015 war das Verfahren gegen Wolkow eingestellt worden, weil dieser verstorben sei. Das EGMR-Urteil hält jedoch fest, dass das Verfahren nach Einspruch eines der Opfer wieder aufgenommen wurde, da angeblich keine Todesnachweise vorlagen. Die weiteren Entwicklungen und der Stand der Ermittlungen sind dem EGMR nicht bekannt.

    Der Euromaidan-Aktivist Wsewolod Hontscharewsky wurde beschuldigt, Antimaidan-Anhänger, die aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, mit einem Holzknüppel geschlagen zu haben. Im Februar 2015 wurde das Verfahren gegen ihn zunächst eingestellt, im Juli desselben Jahres nach Einspruch der Geschädigten wieder aufgenommen. Sie forderten die Ermittler auf, Videoaufnahmen im Verfahren zu beachten, die angeblich Hontscharewskys Beteiligung an den Taten beweisen. Nach Angaben des EGMR wurden die Videos jedoch nicht untersucht.

    Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft reichte des weiteren Anklage gegen 19 Antimaidan-Anhänger wegen der Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen mit Körperverletzung und Todesfolge ein. Am 18. September 2017 sprach das Stadtgericht in Illitschiwsk (heute Tschornomorsk – dek) schließlich alle 19 Angeklagten frei und begründete dies mit verschiedenen Verfahrensfehlern während der Ermittlungen sowie unzureichenden Beweisen, um eine Schuld festzustellen.

    Das Gericht kritisiert, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen so unvollständig und mangelhaft waren, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten

    Insbesondere merkte das Illitschiwsk-Gericht damals an, dass viele der Untersuchungen von Ermittlern durchgeführt wurden, die nicht zur ernannten Ermittlungskommission gehörten. Die von ihnen gesammelten Beweise und erstellten Protokolle wurden für unzulässig erklärt. Darüber hinaus bemängelte man, dass die erste Inspektion vor Ort mit einer unerklärlichen Verzögerung von fast zwei Wochen stattgefunden hatte, sodass in dieser Zeit alle Beweismittel verloren gingen.

    Es wurde auch festgestellt, dass dem Gericht trotz zahlreicher Anordnungen keine Foto- oder Videobeweise vorgelegt wurden. Laut dem Gericht hatte die Staatsanwaltschaft nur einen Polizisten und keine der an den Ereignissen vom 2. Mai 2014 beteiligten Fußballfans befragt. In den Akten sei auch keine ballistische Expertise über Kugeln und Splitter aus den Körpern der Opfer enthalten gewesen. Insgesamt kritisierte das Gericht die vorgerichtlichen Ermittlungen als so unvollständig und mangelhaft, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten.

    Aktuell verhandelt das Berufungsgericht im Gebiet Mykolajiw über den Fall.

    Dem EGMR liegen Daten vor, wonach der oben erwähnte pro-russische Aktivist Witalii Budko seit dem 4. Juli 2016 als Verdächtiger im Mordfall Ihor Iwanow geführt wird. Da jedoch keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, tauchte Budko unter. Laut Gericht ist er weiter zur Fahndung ausgeschrieben.

     

    Doku der unabhängigen Recherchegruppe Gruppe des 2. Mai mit deutscher Synchronisation / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der einzige Verurteilte versteckt sich in Russland

    Die Ermittlungen zum Vorgehen der Polizei in Odessa wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft und seit 2020 vom Staatlichen Ermittlungsbüro geführt.

    Einen Tag nach der Tragödie, am 3. Mai 2014, wurde der Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, suspendiert und seinem Stellvertreter, Dmytro Futschedshi, die Leitung übertragen. Doch bereits am 6. Mai floh Futschedshi aus der Ukraine in die Republik Moldau und von dort weiter nach Russland. Am 13. Mai erschien ein Dokument, das ihn der Dienstpflichtverletzung in Verbindung mit den gewaltsamen Ausschreitungen und des Machtmissbrauchs verdächtigte, weil er am 4. Mai die Freilassung der inhaftierten Antimaidan-Anhänger angeordnet hatte.

    Am 15. Mai wurde Futschedshi zur Fahndung ausgeschrieben. 2017 beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft die Auslieferung von Futschedshi bei der Russischen Föderation, wo sich dieser vor der Justiz versteckt hielt. Laut der Antwort der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei Herr Futschedshi russischer Staatsbürger und deshalb keine Auslieferung möglich. Die Ukraine beschloss, den Flüchtigen in Abwesenheit zu verurteilen.

    Am 18. April 2023 befand das Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa Futschedshi der Mittäterschaft bei der Organisation von schweren Massenunruhen, des Amts- und Machtmissbrauchs in besonders schwerem Fall, der Beihilfe zur Besetzung staatlicher Gebäude und der Behinderung von Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten für schuldig. Er wurde zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe und einem dreijährigen Berufsverbot in den Strafverfolgungsbehörden, einer Geldstrafe sowie der Aberkennung seines Ranges als Obert verurteilt.

    In der Zwischenzeit war Petro Luziuk bereits wegen Verletzung seiner Dienstpflichten am 30. April 2014 angezeigt worden. Später kam der Vorwurf der Urkundenfälschung hinzu, nachdem am 17. Juni 2015 eine interne Untersuchung festgestellt hatte, dass nach seiner Anweisung der offizielle Bericht über die Umsetzung des Einsatzplans gefälscht worden war. 

    Die ukrainischen Behörden teilten dem EGMR mit, dass das Prymorsky-Bezirskgericht in Odessa das Verfahren gegen Petro Luziuk am 14. Juni 2024 nach Ablauf der Verjährungsfrist eingestellt habe.

    Des weiteren läuft seit 2018 ein Verfahren gegen den damaligen Chef der städtischen Polizei von Odessa und zwei Einsatzbeamte wegen Amtsmissbrauchs sowie seit 2021 zwei weitere Verfahren gegen einen damaligen stellvertretenden Abteilungsleiter und den stellvertretenden Gruppenführer der 2. Einsatzhundertschaft der Hauptdirektion des ukrainischen Innenministeriums in der Stadt Odessa.

     

    Katastrophenschützer nicht zur Verantwortung gezogen

    Am 1. Mai 2016 wurden gegen den damaligen Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, sowie seine Kollegen Jurii Schwydenko und Switlana Kojewa Ermittlungen eingeleitet, weil sie während der Ereignisse in Odessa Bürger in Gefahr gebracht hätten. Am folgenden Tag wurden diese Anschuldigungen auch auf Bodelans Stellvertreter Wiktor Hubaj ausgeweitet.

    Wie sich jedoch herausstellte, hatte Wolodymyr Bodelan zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen, nach ihm wird weiter gefahndet. Das Verfahren gegen die anderen drei wurde zunächst vor dem Prymorsky- und später vor dem Kyjiwsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 1. August 2022 wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sich die Anwälte der Angeklagten der Armee anschlossen.

    Am 11. April 2016 wurde gegen Ruslan Welyky, den stellvertretenden Leiter der DSNS- Regionaldirektion Odessa, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 20. Juni 2022 wurde das Verfahren wegen der Einberufung des Beschuldigten in die Armee ausgesetzt, später wurden die Verhandlung wieder aufgenommen. Am 27. Juni 2023 forderte das Prymorsky-Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft sowie den Angeklagten auf, bis zum 29. Dezember 2023 Beweise vorzulegen. Des weiteren erklärte es, dass die Verjährungsfrist in diesem Fall im Mai 2024 ablaufen würde. Dem EGMR ist nichts über den weiteren Status des Verfahrens bekannt.

     

    Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

    Der EGMR stellte die Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Ukraine fest: das Recht auf Leben. Der beklagte Staat (die Ukraine – dek) hat nicht alles Vertretbare und in seiner Macht Stehende getan, um die Gewalt in Odessa am 2. Mai 2014 zu verhindern oder diese zu beenden, und nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um jene zu retten, die vom Brand im Gewerkschaftshaus betroffen waren.

    Dabei berücksichtigte der EGMR auch die erhebliche Beteiligung der Russischen Föderation an den Ereignissen rund um das sogenannte „Referendum“ auf der Krym, die russische Unterstützung für separatistische Vereinigungen im Osten der Ukraine und Versuche, die südlichen Regionen zu destabilisieren. In seinem Urteil verwies das Gericht explizit auf den Einsatz russischer Propaganda bei den Antimaidan-Kundgebungen in Odessa:

    „Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die Prüfung der internationalen Verantwortlichkeit der Ukraine, ungeachtet der Tatsache, dass einige der Verfehlungen, für welche die ukrainische Regierung nach der Konvention verantwortlich gemacht wird, ihren ehemaligen lokalen Amtsträgern zuzuschreiben sind, die in der Zwischenzeit aus der Ukraine in die Russische Föderation geflohen sind, die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben oder wie im Fall von Herrn Bodelan (dem ehemaligen Leiter des DSNS in der Region Odessa), dort Karriere im Kontext der russischen Vollinvasion gemacht haben.“

    Wolodymyr Bodelan wurde nämlich inzwischen zum stellvertretenden Leiter der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ernannt.

    Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt

    Der EGMR merkte ebenso Probleme bei der Untersuchung der am 2. Mai begangenen Verbrechen an, insbesondere während der Sicherstellung von Beweisen, da der Tatort sofort gereinigt und das Gewerkschaftshaus nicht für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Darüber hinaus wies das Gericht auf die Verzögerungen hin, die dazu führten, dass Verdächtige entkommen konnten oder sich auf andere Weise der Verantwortung für ihre Taten entzogen.

    „Trotz öffentlich zugänglicher Foto- und Videoaufnahmen, die zeigen, dass ein Antimaidan-Aktivist, der Herrn Budko ähnelt, mit einem Sturmgewehr in Richtung der Demonstranten schießt, während er direkt neben der Polizei steht, die in keiner Weise darauf reagiert, haben die nationalen Behörden mehr als zwei Jahre gebraucht, um strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Budko einzuleiten, und mehr als sieben Jahre, um ein Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko, einen der betroffenen Polizeibeamten, zu eröffnen“, kritisierte der EGMR. „Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt. Da Herr Budko untertauchen konnte, wurden die Ermittlungen im Oktober 2016 eingestellt. Das Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko endete mit seiner Entbindung von der strafrechtlichen Verantwortung aufgrund des Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist.“

    Angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zahl der Todesopfer, der Beteiligung von Anhängern zweier verfeindeter politischer Lager im Kontext erheblicher sozialer und politischer Spannungen sowie der Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Lage waren die Behörden nach Ansicht des EGMR dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Transparenz und eine umfassende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewährleisten. Stattdessen konnten, ohne wirksame Kommunikation, Falschinformationen über die Ereignisse in Odessa zu einem russischen Propagandainstrument im Rahmen der russischen Vollinvasion im Februar 2022 gegen die Ukraine werden.

     

    Der einbehaltene Leichnam

    Das Gericht befasste sich auch mit der Beschwerde der Stieftochter des im Gewerkschaftshaus getöteten Mychail Wjatscheslawow, Olena, welche anderthalb Jahre auf die Herausgabe des Leichnams ihres Vaters warten musste. Am 12. Mai 2014 gab sie eine Vermisstenanzeige auf. Am 30. Mai identifizierte sie ihn schließlich als eine von zwei unbekannten Leichen.

    Am 10. Juni wurde eine Autopsie und am nächsten Tag eine DNA-Untersuchung durchgeführt, die jedoch keine Beziehung zwischen dem Verstorbenen und Wjatscheslawowa nachweisen konnte. Später stellte sich heraus, dass Mychail ihr Adoptivvater und nicht ihr leiblicher Vater gewesen war. Die Ermittler gingen weiter davon aus, dass die Identifizierung nicht abgeschlossen war.

    Im Juni 2015 kamen Wjatscheslawowa, ihre Mutter und ein weiterer Verwandter erneut und identifizierten den Verstorbenen als Mychail Wjatscheslawow. Am 30. Juni wurde der Familie die Sterbeurkunde ausgestellt, jedoch nicht die Leiche zurückgegeben. Am 31. August untersuchten Experten den Schädel des Verstorbenen und kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um die angegebene Person handelte.

    Zwischen Juni und Oktober stellte die Tochter von Mychail Wjatscheslawow mehr als vier Anträge auf Herausgabe des Leichnams ihres Vaters, die jedoch abgelehnt wurden, bis sich der Leiter der UN-Beobachtungsmission im Dezember an die Staatsanwaltschaft wandte.

    Am 29. Dezember 2015 wurde der Familie der Leichnam von Mychail Wjatscheslawow übergeben und noch am selben Tag beigesetzt.

    Der EGMR kam zu der Bewertung, dass die Einbehaltung des Leichnams von Mychail Wjatscheslawow mindestens ab dem 31. August, als die letzte Untersuchung stattfand, bis Ende Dezember nicht rechtmäßig war.

     

    „Das Wichtigste ist die ordnungsgemäße Untersuchung aller Todesfälle“

    Es sei nun sehr wichtig, dass die Ukraine diesem EGMR-Urteil nachkommt, die angeordneten Entschädigungen zahlt und angemessene Maßnahmen ergreift, sagt Oleksandr Pawlitschenko, der Vorsitzende der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe, gegenüber Graty. Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation hatten die Eingabe an den EGMR im Namen mehrerer Kläger zum Fall „Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine“ vorbereitet.

    „Die Summe der Entschädigungen ist ziemlich hoch, mehr als 300 000 Euro. Die größte Herausforderung besteht jedoch bei den allgemeinen Maßnahmen, nämlich der Organisation einer ordnungsgemäßen Untersuchung aller Todesfälle. Darauf müssen wir achten,“ sagte Pawlitschenko. „Positiv ist jedoch, dass es nach 2014 anscheinend keine ähnlichen Situationen bei Ermittlungen gab. Obwohl ich sagen kann, dass wir auch Beschwerden verfahrensrechtlicher Art in Bezug auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, welche unterlassene oder nicht ordnungsgemäße Untersuchung von Todesfällen unter der Zivilbevölkerung nach dem Beginn der russischen Vollinvasion betreffen. Dieses Problem wird in diesem Zusammenhang auch zur Sprache kommen.“

     

    Reaktion der ukrainischen Regierung

    Direkt am 13. März 2025 erklärte das ukrainische Justizministerium, das EGMR-Urteil prüfen und einen Plan für dessen Umsetzung ausarbeiten zu wollen

    „Die Tragödie von Odessa ereignete sich drei Monate nach der Revolution der Würde, als das Land in seinen Strukturen, insbesondere dem Strafverfolgungssystem, noch durch das institutionelle Erbe des Janukowytsch-Regimes geprägt war „, heißt es in der Erklärung. „Die vom EGMR festgestellten Unzulänglichkeiten im Vorgehen der Polizei und Feuerwehr deuten auf systemische Probleme hin, die sich über viele Jahre hinweg unter der Vorgängerregierung herausgebildet haben.“

    Gleichzeitig begrüßte das Justizministerium die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutende Rolle der russischen Desinformation und Propaganda bei der Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten vor den tragischen Ereignissen anerkannt habe.

    Russland war nicht an dem Verfahren beteiligt. Im Frühjahr 2022 hatte es den Europarat verlassen und verweigerte damit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.

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  • „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben”

    „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben”

    Die Stirn ist blutverschmiert, Blut läuft aus einer Wunde am Ohr den Hals herab. „Was ist passiert, was mache ich hier“, scheint der Blick der jungen Frau zu sagen. Am ersten Tag der Massenproteste von 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Splitter einer Blendgranate getroffen, die das belarussische OMON gegen die Demonstranten einsetzte. Das Foto von der verletzten Maryja wurde zum Symbol für die Proteste in Belarus. Dieser Tag veränderte das Leben der jungen Studentin so sehr, dass sie sich schließlich auch dem Kampf der Ukraine anschloss. Anfang 2025 verlor sie ihr Leben. 

    Was bringt eine junge Frau dazu, in den Krieg zu ziehen und letztlich ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Die Redaktion des TV-Senders Nastojaschtscheje Wremja erzählt die Geschichte von Maryja Saizawa, deren Schicksal Belarussen und Ukrainer gleichermaßen bewegt.  

    Am 9. August 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Gummigeschosse und Splitter einer Blendgranate verletzt. Sie war nach Minsk gekommen, um zu protestieren. Das Foto der jungen Frau ging durch zahlreiche belarussische und internationale Medien. 

    „Ich bereue nicht, dass ich zu den Protesten nach Minsk gefahren bin, wenigstens habe ich versucht, etwas zu tun. Und ich hoffe sehr, dass alle erbrachten Opfer – meine und die der anderen – nicht umsonst waren. Was da auf den Straßen passiert, hilft mir wirklich, nicht den Kampfgeist zu verlieren“, sagte Saizawa in einem Interview, das sie der belarussischen Redaktion von Radio Svaboda noch im Krankenhaus gab. 

    Unter anderem wurde bei ihr ein gerissenes Trommelfell, eine Dislokation des Innenohrs und eine Fraktur des seitlichen Stirnbeins diagnostiziert. Noch in Belarus wurde Maryja mehrfach operiert, bevor sie mithilfe des medizinischen Hilfsprogramms Medevac nach Tschechien überführt werden konnte. 

    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    „Bis zu unserem Treffen in Tschechien wusste ich nicht, dass Maryja das Mädchen auf dem Foto war“, erzählt die Koordinatorin des Programms und Leiterin des Büros der belarussischen demokratischen Kräfte in Tschechien, Kryszina Schyjanok. Im Laufe der Behandlung freundeten sich die beiden Frauen an. „Trotz Maryjas Alter – damals war sie 20 – nahm ich den Altersunterschied kaum wahr. Sie war eine sehr reife Persönlichkeit“, berichtet Schyjanok. 

    In ihrem Antrag auf Hilfe zählte Maryja eine lange Liste von Verletzungen auf und schrieb, dass sie eine weitere Operation am Ohr benötige. Leider konnte ihr Gehör jedoch nicht mehr wiederhergestellt werden. Maryja blieb auf ihrem rechten Ohr fast taub. 

    „Es war frustrierend, dass die Ärzte mein Ohr nicht retten konnten, obwohl sie es versprochen hatten. Ich musste einsehen, dass ich etwas geopfert hatte, das ich nie mehr zurückbekommen würde. Jetzt habe ich gelernt, damit zu leben. Ich habe nie ein Hörgerät bekommen. Ich wollte wissen, wie sich mein Ohr erholt. Sehr tiefe oder sehr hohe Töne kann ich hören“, erzählte Maryja. 

    Ihre Angehörigen erinnern sich, wie schlimm der Verlust des Gehörs für Maryja war: „Musik war ein wichtiger Teil von Maschas Leben“, sagt Lana, eine enge Freundin. „Es ist den Wenigsten aufgefallen, aber auf dem Foto von den Protesten trägt Mascha ein T-Shirt von Guns N’ Roses. Später hat ihr ein junger Mann aus der Slowakei, der die Belarussen 2020 aktiv unterstützte, ein Ticket für ein Konzert von ihnen geschenkt. Er wollte Mascha einfach irgendwie helfen“, erzählt Kryszina. „Leider konnten sie sich nicht mehr kennenlernen.“ 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment 

    Nach der Überführung aus Belarus blieb Maryja Saizawa in Tschechien, wo sie Sprachkurse besuchte und sich auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität vorbereitete. Parallel gab sie Interviews und erzählte Journalisten ihre Geschichte. „Das Thema Belarus war in aller Munde, und sie wollte der Sache dienen, so gut sie konnte“, erinnert sich Lana. „Aber irgendwann war sie es leid, alles zum millionsten Mal zu erzählen. Zumal sie kein Ergebnis sehen konnte.“ 

    Nach der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine 2022 verschrieb sich Maryja mit Haut und Haar der Flüchtlingshilfe in Tschechien. Aber es war hart, mit den Ereignissen fertigzuwerden: Einige ihrer Freunde, die ebenfalls von Belarus nach Tschechien gekommen waren, entschlossen sich, an die Front zu gehen. 

    Einer von ihnen war Timur Mizkewitsch. Der damals 16-jährige Timur war 2020 nach Tschechien gebracht worden, nachdem er während der Massenproteste von den Silowiki geschlagen und gefoltert worden war. Seine Verletzungen waren so gravierend, dass er ins Koma fiel. Während er im Koma lag, starb seine Mutter, und Timur blieb als Waise zurück. Kurz nach seinem 18. Geburtstag beschloss Timur, sich der ukrainischen Armee anzuschließen. 

    „Ich weiß noch, wie Mascha und ich bei Timur zu Hause sitzen, und er fängt an, seine Sachen zu packen. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Aber als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass ihn nichts und niemand davon abbringen würde. Hier gab es nichts, was ihn hielt“, erinnert sich Lana. 

    Kurz nach Timurs Abreise fasste auch Maryja den Entschluss, an die Front zu gehen. Sie wollte etwas tun, dass sie einer Rückkehr nach Belarus näherbringen würde. Ihren Freunden zufolge hatte Maryja sich zwar gut in die tschechische Gesellschaft integriert, aber wirklich zugehörig habe sie sich nie gefühlt. Die Freiheit ihres Landes war für sie verbunden mit der Freiheit der Ukraine. „Auf Seiten der Ukrainischen Armee zu kämpfen war für Mascha ein Weg, für ein unabhängiges Belarus zu kämpfen“, sagt Schyjanok. 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment, in dem Belarussen auf der Seite der Ukrainischen Armee kämpfen. Einige Zeit später wurde sie aufgenommen. „Ich flehte sie an, nicht zu gehen, ich bekniete sie buchstäblich. Ich aktivierte ihre Freunde, wir versuchten alle, sie davon abzubringen“, sagt Lana. Aber alle Versuche liefen ins Leere. Im Frühjahr 2023 verabschiedeten ihre Freunde Maryja an die Front. 

    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits
    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte” 

    Bei ihrer Ankunft in der Ukraine wurde Maryja Saizawa der 2. Internationalen Legion der Territorialverteidigung zugeteilt. Noch in Belarus hatte Maryja Vetrinärmedizin studiert. Aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse schickten ihre Vorgesetzten sie zunächst zum Dienst in eine Sanitätsstation. Später war sie für die Evakuierung von Kämpfern von der Frontlinie zuständig. Wie einer der Kommandeure dem belarussischen Radio Svaboda erzählte, übersetzte Maryja auch für andere ausländische Soldaten. 

    Während erbitterter Kämpfe, wenn es an der Frontlinie an medizinischem Personal mangelte, leistete sie freiwillig Hilfe in den Schützengräben, berichten Maryjas Dienstgenossen. Ruslan Miroschnytschenko, der ehemalige Kommandeur der Einheit, in der Saizawa gedient hatte, erinnert sich, dass es sie immer dorthin zog, wo „es brennt”. „Sie hat so manches Leben gerettet“, sagt Miroschnytschenko. 

    Ein anderer Kommandeur, Maryjas Mitstreiter Ruslan Romaschnytschenko, erinnerte sich in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass sie trotz ihres jungen Alters und der gefährlichen Lage auf dem Schlachtfeld immer die Ruhe bewahrte. „Was mich erstaunte, war ihre Entschlossenheit und ihr Fokus bei der Arbeit, ihr Wissensdurst, ihr ausgeglichener Charakter. Äußerlich wirkte sie wie ein Fels: ruhig, kühl. Gleichzeitig war sie ein sehr offener und wohlmeinender Mensch“, erzählt er. 

    Dann wurde sie verletzt: Eine Leuchtrakete explodierte in ihrer linken Hand. Sie erlitt schwere Verbrennungen, mehrere Knochen in ihrem Handgelenk waren zertrümmert. Aufgrund der Verwundung kehrte Maryja Saizawa zur Behandlung und Reha nach Tschechien zurück. Aber sie wollte nicht zurück in ihr altes Leben, erinnern sich ihre Freunde. Bald erklärte sie, dass sie wieder an die Front will. Kryszina Schyjanok versuchte mit allen Kräften, ihre Freundin davon abzuhalten: Sie vermittelte ihr eine Arbeitsstelle in Prag, die ihr erlaubt hätte, die Ukraine weiterhin aus der Ferne zu unterstützen. Aber Maryja wollte nichts davon wissen. 

    „Sie schrieb mir: ‚Was sollen sie ohne mich? Man wird sie alle erschießen.‘ Ich versuchte ihr zu erklären: ‚Du kannst diese Verantwortung nicht auf dich nehmen‘“, erinnert sich Kryszina. „Sie litt seit Belarus eindeutig unter PTBS, jetzt kam noch das Trauma aus der Ukraine hinzu. Du fährst weg vom Krieg und nimmst den Krieg mit. Hier muss man sich auch fragen, ob sie ohne die traumatische Erfahrung in Belarus überhaupt an die Front gegangen wäre.“ 

    Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘ 

    Als Maryja Saizawa sich 2020 an die Evakuierungsorganisation Medevac wandte, lehnte sie jede psychologische Hilfe ab. Dabei erwähnte sie in einem Interview gegenüber Schtosden einmal, dass sie mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kämpft. „Wir können niemanden dazu zwingen, mit einem Psychologen zu arbeiten. Aber meine Schuldgefühle blieben: Ich hatte sie hergebracht, also hätte ich sie beschützen müssen“, sagt Schyjanok. „Der Verstand sagt: ‚Es war ihre freie Entscheidung, in die Ukraine zu fahren, du kannst nicht die Verantwortung für anderer Leute Entscheidungen übernehmen.‘ Und trotzdem bleibt das Gefühl zurück, dass ich nicht ernst genug genommen habe, wie labil sie war.“ 

    Nach der Reha kehrte Maryja in die Ukraine zurück. Trotz der Einwände ihrer Vorgesetzten und aller Versuche, sie davon abzubringen, beharrte die junge Frau fest auf ihrer Entscheidung, sich erneut dem Kampf anzuschließen. Ihren Kampfgenossen zufolge hatte ihr Wunsch, an die Front zurückzukehren – diesmal als Soldatin –, mit dem Verlust von Kameraden zu tun, die im Kampf gefallen waren. Im Sommer 2023 hatte sie ihren Freund mit dem Kampfnamen „Minsk“ verloren. Nach mehreren Monaten im Ausbildungslager wurde sie im November 2024 als Scharfschützin an die Front in der Oblast Donezk geschickt. 

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘“, sagt [ein Kamerad mit dem Kampfnamen] „Santa“. Ihren letzten Geburtstag feierte Maryja an der Front: Am 16. Januar 2025 wurde sie 24 Jahre alt. Am Tag darauf fiel sie im Kampf gegen die russische Armee. „In jener Nacht bei Pokrowsk hat sie hervorragende Arbeit geleistet. Aber die Artillerie tut ihr Werk“, erinnert sich „Santa“. 

    „Mascha hatte die Fähigkeit, andere zu inspirieren” 

    Die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit spielte eine große Rolle in Maryjas Selbstwahrnehmung und bei den Zielen, die sie sich steckte, meinen ihr nahestehende Menschen. „Wenn die Medien ständig über dich als Opfer des Regimes schreiben, wächst der Wunsch, allen zu beweisen, dass du kein Opfer bist, sondern ein Subjekt, dass du etwas bewegen kannst“, sagt Schyjanok. „Wir hatten ja auch Menschen bei uns im Programm, die verletzt waren, auf denen aber nicht die Last der Öffentlichkeit lag. Sie können weiterhin ihr Leben leben, sonntags auf den Bauernmarkt gehen und montags bis freitags zu ihrer Arbeit, Geld verdienen. Aber bei Mascha war es anders. Sie fragte sich, was man über sie schreiben und wie lange sie noch als Opfer gelten würde.“ 

    Der Wunsch, aktiv zu sein und anderen zu helfen, war ein Leitmotiv für alles, was Maryja tat. Ihre Bewerbungen begann sie nicht mit ihren Arbeitserfahrungen und Qualifikationen, sondern mit den Worten, dass sie eine Arbeit sucht, die „der Gesellschaft echten Nutzen bringt und die Chance bietet, Menschen in Not zu helfen“. 

    Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten 

    „Wenn jemand gezwungen ist, in der Emigration zu leben, sucht er normalerweise nach jeder Art von Arbeit. Aber für sie war es wichtig, dass die Arbeit sinnstiftend und nützlich für die tschechische Gesellschaft war“, erklärt Schyjanok. Maryjas Freunde erwähnen ihre vielfältigen Interessen. Sie sprach nicht nur sechs Sprachen, sie malte auch, spielte Football und begeisterte sich fürs Fechten. 

    Seit den Protesten 2020 nahm die belarussische Identität einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Auch in der Emigration nahm sie weiter an Protesten gegen Lukaschenkos Regime teil. Sie thematisierte das oft im Freundeskreis und gegenüber Journalisten. „Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten. Wenn nicht Belarus, was dann? Ich habe immerhin meine Gesundheit dafür geopfert. Und ich habe wirklich an unsere Idee geglaubt, ich will unbedingt, dass mein Land das schafft. Ich will das sehen und dorthin zurückkehren“, sagte Saizawa in einem Interview. 

    Ihre Freunde erinnern sich, wie sie in ihrer Zeit in Prag traditionelle belarussische Gerichte und Getränke für sich entdeckte, wie Draniki und Krambambulja. Irgendwann entschied sie sich, nur noch Belarussisch zu sprechen. „Nach ihrem Tod zeigte man mir ihre Nachrichten in den Kriegs-Chats: Sie schrieb in Taraschkewiza [das ist die klassische belarussische Rechtschreibung]“, erzählt Schyjanok. 

    Ihre Freunde heben Maryjas moralische Standhaftigkeit, ihre Prinzipientreue und innere Freiheit hervor. Besonders ehrfürchtig erinnern sie sich an die Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit, mit denen sie sich ihrer Umwelt mitteilte. „Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand Fehler machte oder sein Wort nicht hielt. Weil sie selbst mit dem besten Beispiel voranging, wie man sein sollte“, sagt Lana. „Das führte dazu, dass sie oft enttäuscht wurde und sich einsam fühlte. Nach außen hin strahlte sie stets Wärme und Licht aus, aber deshalb blieb vieles in ihrem Inneren verborgen.“ 

    An dem Tag, als die Nachricht von Maryjas Tod kam, begannen viele spontan, Erinnerungen daran zu teilen, wie sie ihre Leben beeinflusst hatte. „Mascha hatte die Fähigkeit andere zu inspirieren. Sie veränderte die Menschen um sich herum zum Besseren, als würde sie ihre innere Stärke auf sie übertragen“, erzählt Schyjanok. Und ihre Freundin Lana ergänzt: „Mascha lebt in den Herzen der Menschen weiter.“ 

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen 

    Maryja war die erste belarussische Freiwillige, die im Kampf für die Ukraine gefallen ist. Die Trauerfeier fand am 4. Februar 2025 statt. Maryja hatte ihre Vorstellungen von der Bestattung in schriftlicher Form Kryszina Schyjanok hinterlassen – ihrem Notfallkontakt. Diese reiste in die Ukraine, um sich von Maryja zu verabschieden und bei der Ausrichtung der Zeremonie zu helfen. Ihr zufolge habe die Militärkommandantur die Entscheidung über die Feuerbestattung getroffen. Erst wenige Stunden vor der Einäscherung erfuhr Schyjanok davon und schritt ein – denn Maryja hatte sich gewünscht, dass ihr Körper nicht verbrannt würde. Sie wollte neben ihrem Feund „Minsk“ beerdigt werden, in dem Teil des Kyjiwer Friedhofs, in dem die belarussischen Soldaten ruhen. 

    Als Schyjanok von der bevorstehenden Kremierung erfuhr, setzte sie sich sofort mit Swjatlana Zichanouskaja in Verbindung, die sich wiederum an die Verwaltung des Kyjiwer Bürgermeisters Vitali Klitschko wandte. Die Entscheidung, Maryja Saizawa an dem von ihr gewählten Ort beizusetzen, wurde nur wenige Minuten vor der Einäscherung getroffen. 

    „Das war eine dramatische Situation. Wir bekamen die Zustimmung von der Verwaltung genau in dem Moment, als die Trauerfeier vorbei war und der Sarg in den Ofen geschoben werden sollte. Die Zeremonie wurde unterbrochen“, erzählt Schyjanok. „Dank Swjatlana Zichanouskaja konnten wir Maschas letzten Willen erfüllen.“ 

    Maryjas Eltern konnten nicht in die Ukraine kommen, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, aber Kryszina Schyjanok sagt, sie sei ihren Wünschen nachgekommen. „Mascha war Atheistin und wollte weder religiöse Rituale noch ein Kreuz auf ihrem Grab. Aber ich wollte gleichzeitig die Wünsche ihrer Eltern erfüllen“, erzählt Schyjanok. „Ihre Mutter bat mich, eine kleine Ikone mit der Jungfrau Maria ins Grab zu legen, nach der ihre Tochter benannt wurde. Der Vater wünschte sich weiße Rosen dazu.“ 

    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen. Später übergaben sie Maryjas persönliche Gegenstände dem Museum Swobodnaja Belarus s Ukrainoi w serdze (dt. Das freie Belarus mit der Ukraine im Herzen, Wanderausstellung in der Ukraine – dek). 

    „Das ganze Bataillon ist in Trauer. Sie war unser Liebling. Maryja war eine der wenigen Veteranen, die erbitterte Kämpfe überstanden und dabeigeblieben waren. Wir haben einen Teil unserer Familie verloren, einen Teil von uns selbst“, sagte der Kommandeur Ruslan Miroschnytschenko in einem Interview mit Radio Svaboda. „Sie ist eine starke Kriegerin“, fügt Miroschnytschenko hinzu. „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben. Für ein freies Belarus und für eine freie Ukraine.“ 

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  • Gegen Putin, aber für wen?

    Der Täter lauerte seinem Opfer vor dessen Haus in Litauens Hauptstadt Vilnius auf: Mit einem Hammer durchschlug er die Scheibe seines Wagens und sprühte ihm Tränengas ins Gesicht. Dann drosch er mit dem Hammer auf Leonid Wolkow ein. Wolkow war lange einer der engsten Mitstreiter von Alexej Nawalny und Vorsitzender von dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Deshalb schien nach dem Attentat im März 2024 klar: Die Hintermänner sitzen im Kreml. Doch im September 2024 veröffentlichte der FBK eine Recherche, wonach der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslin den Überfall in Auftrag gegeben habe. Newslin bestreitet das und behauptet, der russische Geheimdienst versuche, Zwietracht in der russischen Opposition zu stiften, indem er falsche Spuren lege.

    Der nächste Akt begann im Februar 2025, als der Blogger und Nawalny-Rivale Maxim Katz in einem zweistündigen Video dem FBK unterstellte, er habe sich von kriminellen Bankern sponsern lassen und ihnen im Gegenzug geholfen, sich als Opfer des Regimes darzustellen und ihre Reputation im Westen aufzupolieren. Der FBK reagierte seinerseits mit einem anderthalbstündigen Video, in dem er die Vorwürfe abstreitet und Katz der Lüge bezichtigt.

    Alle Akteure in diesem Oppositions-Drama verbindet, dass sie eigentlich einen gemeinsamen Gegner haben: Wladimir Putin. Aber statt ihre Kräfte zu bündeln, bekriegen sie sich gegenseitig. Enttäuscht wenden sich viele ehemalige Anhänger von diesem Spektakel ab. Gleichzeitig bleiben die Aktionen der Opposition im Exil schwach und sie tut sich zunehmend schwer damit, ihre Landsleute in der Heimat zu erreichen.

     

    Wladimir Kara-Mursa, Jewgeni Tschitschwarkin, Ilja Jaschin und Julia Nawalnaya marschieren am 1. März 2025 unter der Losung „Nein zu Putin. Nein zum Krieg“ durch Berlin / Foto © Snapshot/ Imago

    Am 6. Dezember 2023 kam Maxim in Sankt Petersburg von der Arbeit nach Hause, aß zu Abend und wartete dann auf Mitternacht. Er hatte gar nicht vor, ins Bett zu gehen: Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie auf zwei Plakatwänden, die kürzlich von einer neuen, auf dem Markt unbekannten Firma angemietet worden waren, Banner installiert werden.

    Maxim musste ein paar Stunden in der Nähe der Plakatwand auf dem 2. Murinski Prospekt warten. Um nicht direkt im Auto einzuschlafen, trank er Kaffee und schaute eine Sendung mit Ekaterina Schulman.

    Als die Straßenwerbungsarbeiter schließlich kamen, um ein blaues Banner mit einem unauffälligen QR-Code und der Aufschrift „Frohes Neues Jahr, Russland!“ aufzuziehen, grinste Maxim.

    So wurden am Morgen des 7. Dezember – genau 100 Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen (Nawalny war noch am Leben) – in den Nachrichten Banner einer neuen Kampagne des Fonds für Korruptionsbekämpfung gezeigt: Die QR-Codes, die noch in der Nacht zu einer Silvesterlotterie geführt hatten, leiteten die Nutzer nun zu einer Website mit dem Aufruf, wen auch immer zu wählen, nur nicht Putin. Sogar Maxim, der damalige Koordinator der Sankt Petersburger Zentrale für Untergrundaktionen des FBK, empfand damals kaum Genugtuung.

    „Die Banner werden nicht dazu beitragen, Putin zu besiegen und den Krieg zu beenden“, erklärt der Aktivist gegenüber Meduza. Maxim ist immer noch in Russland und hilft dem FBK, aber nicht mehr in der Petersburger Zentrale. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir wenig Einfluss haben. Ok, wenn das System noch wackeln würde, aber der sonnenstrahlende Wladimir Wladimirowitsch hat da was Ultra-Stabiles gebaut. Und es gibt keinerlei Anzeichen, „dass irgendetwas zusammenzubrechen droht.“

    Einige Stunden später am 7. Dezember, rissen Arbeiter unter Aufsicht der Polizei die Banner herunter. Über das Jahr, das seit dieser Aktion vergangen ist, sind Maxims Zweifel am Widerstand gegen Putin gewachsen, auch aufgrund einiger Skandale innerhalb der russischen Opposition im Ausland:

    „Ich weiß nicht, warum Maxim Katz den FBK angegriffen hat. Warum Leonid Newslin den Auftrag gab, Leonid Wolkow mit einem Hammer zusammenzuschlagen – das ist quasi die Pest aus den 1990er Jahren, nur innerhalb der Opposition von heute.“

    „Besser wäre, es gäbe sie gar nicht. Die wissen nicht mal mehr, gegen wen man wirklich kämpfen muss. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, wer mit wem zusammengearbeitet hat, wer zu wessen Verteidigung Briefe unterschrieben hat. Doch es ist, als hätten Chodorkowski, Katz und der FBK schon vorher beschlossen, wer von ihnen das Recht hat, sich Opposition zu nennen.“

    „Nawalny hat uns allein gelassen wie Katzenbabys. Jetzt schreibt nicht mal mehr jemand aus dem Gefängnis Briefe wie: ‚Leute, keine Sorge, ich bin bei euch!‘ Er hat nur ein Vermächtnis hinterlassen: Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann ist es eure Aufgabe, selbst starke Katzen zu werden. Man könnte denken, genau das hat die Opposition nicht geschafft.“

     

    „Entführen. Verprügeln. Anzünden“: In diesem Video verdächtigt der FBK Leonid Newslin, den Überfall auf Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben / Quelle: youtube.com/@NavalnyRu

     

    „Die Menschen wollen damit nicht in Verbindung gebracht werden“

    Interne Konflikte haben die russische Opposition in einen Sumpf aus Trübsal, Verzagen und Ekel gestürzt, so berichten unabhängige Politiker und Aktivisten auf Anfrage von Meduza ihre Sicht auf die Ereignisse von 2024.

    Der Leiter einer Organisation, die russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise unterstützt, „schaffte es eine Woche lang nicht aus dem Bett“, da sich vor dem Hintergrund all der Skandale seine depressiven Symptome heftig verschlimmerten.

    Viele politische Gefangene seien schlicht sauer über die Darstellung der Ereignisse auf Twitter, erzählen Freiwillige des Projekts Peredatschi Siso, das politische Häftlinge unterstützt. „Viele russische Aktivisten wollen sich lieber ganz raushalten, um nicht ihre letzten Kräfte zu verschwenden“, meint etwa Darja Serenko, eine Koordinatorin der Feministischen Antikriegsbewegung FAS. Sie lebt heute in Spanien.

    Shanna Nemzowa, die Leiterin der Boris-Nemzow-Stiftung, ist sich sicher, dass in letzter Zeit ausnahmslos alle russischen Oppositionellen „toxischer geworden sind“ und „die Menschen damit nicht in Verbindung gebracht werden wollen“.

    Im Jahr 2023 war Shanna Nemzowa selbst in den Fokus einer aufsehenerregenden Geschichte geraten, als bekannt wurde, dass ein Agent des Militärgeheimdienstes GRU in ihren engsten Kreis vorgedrungen war. Es handelte sich dabei um den spanisch-russischen Staatsbürger Pablo Gonzalez (alias Pawel Rubzow), der mehrere Jahre unter falscher Identität in Kreisen der Opposition verbracht und als Journalist und Kriegsreporter gearbeitet hatte (Gonzalez war 2022 von polnischen Behörden wegen Spionage-Verdachts festgenommen worden und wurde im August 2024 bei einem internationalen Gefangenenaustausch nach Russland überführt – dek).

    Im Herbst 2024 äußerte sich der Unternehmer und Philanthrop Boris Simin, der viele Jahre den Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK unterstützt hatte, tief enttäuscht über die Anführer der Opposition. Simin kritisierte öffentlich die Leitung des Fonds und verurteilte die Strategie, die die Organisation in den letzten Jahren verfolgt hatte – auch die letzten Projekte des FBK, unter anderem die Newslin-Recherche und die YouTube-Serie Predateli [dt. Verräter], die die Geschichte der 1990er Jahre neu interpretiert.

    „Ich finde es bedauerlich, dass dermaßen große Anstrengungen darauf verwendet werden, um Bedeutung auf einer Plattform zu erlangen, die im Grunde sehr wenig Einfluss hat“, sagte Simin Meduza über den Konflikt des FBK mit Michail Chodorkowski und anderen „Oligarchen der 1990er Jahre“. „Zu gern würde ich die Opposition lieben, doch ihre Bedeutung heute – im Krieg, für die Stabilität des Putin-Regimes und was die Frage der Widerstandskraft der Ukraine angeht – ist sehr, sehr gering.“

    Jewgeni Tschitschwarkin, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit, Unternehmer und Mitglied des Antikriegskomitees Russlands, hat Ende 2024 erklärt, dass er sich ganz aus der Opposition zurückziehen wolle, bis sich deren Anführer wieder „auf den äußeren Feind konzentrieren“.  Gegenüber Meduza wollte er sich dazu nicht genauer äußern.

     

    „Wie man Milliarden stiehlt und sich dann als Oppositioneller ausgibt“: Maxim Katz greift Nawalnys FBK in einem Video an / Quelle: youtube.com/@Max_Katz

    Nur wenige, die von diesen Skandalen direkt betroffen waren, tun so, als würde sie das nicht weiter bekümmern. Michail Chodorkowski, ein enger Freund und Geschäftspartner Newslins – sagte Meduza, die Konflikte würden ihn „kein bisschen deprimieren“. Der Politiker Maxim Katz ist sich sicher, dass seine aufsehenerregende Recherche über die Bänker und den FBK „das Publikum, ganz im Gegenteil, begeistern würde: Menschen möchten lieber, dass Politiker nicht reich, dafür aber ehrlich sind.“ (Vertreter des FBK lehnten es ab, für diese Recherche mit Meduza zu sprechen.)

    Der Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte scheint für die meisten Gesprächspartner von Meduza auf der Hand zu liegen, und sie formulieren ihn alle ähnlich: Die russische Opposition befindet sich in einer Krise und fast niemand glaubt, dass ihre Anführer in nächster Zeit in Russland an die Macht kommen können.

    „Niemand hat eine Idee, wie man Putin aus dem Kreml vertreiben oder den Krieg beenden kann“, sagt Sergej Davidis, Mitarbeiter von Memorial und Leiter des Programms Podderzhka Politsakljutschennych (dt. Unterstützung politischer Häftlinge). „Deswegen beginnen die Leute, Schuldige zu suchen.“

    Die Journalistin Alexandra Garmashapowa formuliert das so: „Es ist leichter, sich untereinander zu bekämpfen, als Putin. Die Menschen agieren einfach ihre Hilflosigkeit aus.“

     

    Du schaust dir jemanden auf YouTube an und denkst: „Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität.“

    Für Politiker im Exil und ihre Anhänger, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, einander zu verstehen. Sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten, jede hat ihre eigenen Probleme. Deswegen wirken Konflikte zwischen oppositionellen Gruppen im Ausland besonders unangebracht, berichten die von Meduza befragten Politiker und Aktivisten.

    Die Kluft zwischen russischen Bürgern und politischen Emigranten „ist riesig – und wird immer weiter wachsen“, ist Shanna Nemzowa überzeugt. Zwei Gesprächspartner aus der russischen Zivilgesellschaft erinnern sich in einem Gespräch mit Meduza an einen der wichtigsten Protestslogans Ende 2011: „Ihr vertretet uns gar nicht.“ Das war damals nach den Wahlen gegen die Duma-Abgeordneten gerichtet, nachdem Wahlbeobachter und Journalisten schockierende Wahlfälschungen festgestellt hatten. „Das Schlimme ist, dass dieser Slogan jetzt nicht mehr nur auf die Herrschenden zutrifft, sondern auch auf die Opposition“, sagt Grigori Swerdlin vom Kriegsdienstverweigerer-Projekt Idite Lessom [dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!].

    „Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben darauf gehofft, dass diejenigen, die ausreisen konnten, sich treu bleiben“, sagt die Journalistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Jekaterina Dunzowa, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 versucht hatte, als Anti-Kriegs-Kandidatin anzutreten und immer noch in Russland lebt. „Stattdessen gab es endlose Querelen. Klar, dass die Menschen schwer enttäuscht sind“, folgert Dunzowa.

    Maxim aus Sankt Peterburg, der den FBK bei der Banner-Aktion unterstützt hat, sieht die Verantwortung für diese Kluft auch bei den Redaktionen unabhängiger Medien, die außerhalb Russlands arbeiten: „Sowohl die Opposition, als auch sie, die Medien, verlieren die Verbindung zu den Geschehnissen in Russland – das Ausmaß, die Narrative … Ich würde mir wünschen, dass die Meinungsführer, die ausgereist sind, mehr Feedback bekämen. Denn manchmal schaust du was auf YouTube und denkst nur: Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität – vielleicht sitzt du da selbst in ‘nem Bunker?“

     

     

    In einem anderthalbstündigen Video verteidigt sich der FBK gegen die Vorwürfe des Bloggers Maxim Katz / Quelle: youtube.com/@NavalnyLiveChannel

    Lew Schlossberg, einer der wenigen Oppositionspolitiker, die weiterhin in Russland leben und öffentlich tätig sind (trotz des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens) erklärt, dass er nicht ein Beispiel kenne, „wo ein Politiker, der gezwungen war, Russland zu verlassen, seine lebendigen und unbefangenen Verbindungen zur Gesellschaft aufrechterhalten hätte: Keine elektronische Kommunikation kann das ersetzen, was ich ‚Gespür für das Land‘ nennen möchte. Die Temperatur eines Krankenhauses kann man nur messen, wenn man in diesem Krankenhaus ist. Alles andere sind Ersatz-Impressionen.“

    Schlossberg hat wiederholt erklärt, dass seiner Meinung nach die Aktivitäten politischer Emigranten „absolut keine Verbindung zu der Zukunft unseres Landes haben“. Im August 2024 löste ein Post von Schlossberg, in dem er Überlegungen über eine „Partei aus fremdem Blut“ anstellte, die hoffe „hinter dem Schutzschild fremder Panzer“ nach Russland zurückzukehren, eine der heftigsten Diskussionen der letzten Zeit aus.

    Es war zu erwarten, dass Schlossberg von denen angegriffen werden würde, die aus dem Land fliehen mussten. Der Wirtschaftswissenschafter Konstantin Sonin (der in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Falschinformationen über die Armee verurteilt wurde) nannte die Äußerungen des Politikers „Ausbrüche von zweifelhaftem Patriotismus“. Der Journalist und Koordinator zivilgesellschaftlicher Projekte, Sergej Parchomenko (in der Russischen Föderation zum „ausländischen Agenten“ erklärt), sagte, „Schlossbergs Jammertirade“ strotze nur so vor „Heuchelei, Demagogie und Geschmacklosigkeit“.

    Auch unter den politischen Emigranten sind viele der Meinung, dass sie von niemandem vertreten werden. Und das, obwohl Anführer der Opposition sich bei europäischen und amerikanischen Politikern für ihre Belange einsetzen (etwa indem sie Vorschläge für Sanktionslisten machen, im EU-Parlament über eine Vision für das Russland der Zukunft sprechen oder für die Rechte russischer Geflüchteter in den USA eintreten). Unter den Putin-Gegnern konnte sich bislang keine Struktur etablieren, die von allen anerkannt wird, als Vertretung der russischen Diaspora fungiert und deren Rechte verteidigt.

    „Es wäre wünschenswert, wenn es eine feste Gruppe geben würde, die sich regelmäßig mit konkreten Anliegen an die europäischen Politiker wendet“, sagt ein Vertreter der Initiative InTransit, die von Berlin aus politisch Verfolgte in Russland unterstützt und ihnen hilft, das Land zu verlassen. „Das sagen wir unseren Politikern immer wieder, denn das hören wir selbst immer wieder von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des Europäischen Parlaments. Einzelinitiativen schaden nur. Die Außenministerien beschweren sich bei uns: Mal kommt der Eine, mal ein Anderer; was sollen wir dann machen? Das, was die Einen sagen oder das, was die Anderen vorschlagen?“

    Dasselbe beobachtet auch Ilja Schumanow, Antikorruptionsexperte und ehemaliger Leiter von Transparency international Russland im Exil: „Ich höre von westlichen Diplomaten, dass es großartig wäre, eine russische Tichanowskaja zu haben, also einen Anführer oder eine Koalition, die die Russen vertritt, so wie Tichanowskaja die Belarussen.

     

    „Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden.“   

    In den drei Jahren seit dem 24. Februar 2022 rufen praktisch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen, in der russischen Opposition schmerzhafte Diskussionen hervor. Doch ein Thema wird besonders kontrovers diskutiert – die Unterstützung der Ukrainischen Armee. Viele ukrainische Aktivisten fordern, dass russische Kriegsgegner Geld an die Ukrainische Armee spenden. Und viele Kriegsgegner aus Russland erwidern, dass sie nicht bereit seien, die Tötung ihrer Landsleute zu finanzieren.

    Rund um diese Frage entspann sich – was absehbar war – eine enorme Anzahl verschiedener Skandale. Im Frühling 2023 postete Anna Weduta – die ehemalige Pressesprecherin Nawalnys und heute Direktorin für strategische Partnerschaften der Free Russia Foundation im Zuge dieser Auseinandersetzung auf X ein Foto, auf dem Granaten zu sehen waren. Auf einer stand geschrieben: „Euer Feind sitzt im Kreml, nicht in der Ukraine!“ Weduta kommentierte: „Bitte sehr, hier ein Screenshot von einer Granate, gekauft mit meinem Geld, mit einem schönen Gruß von mir an unsere Jungs‘.“

    Russische Propagandisten nutzten den Post für Angriffe auf den FBK. Bis heute wird er in Diskussionen in den Sozialen Medien benutzt, um zu veranschaulichen, wie Oppositionelle angeblich den Beschuss des eigenen Landes finanzieren.

    Die Russen wollten aber „eine gesunde patriotische Haltung“, und keine „Loyalität gegenüber dem Westen oder der Ukraine“, sagt Maxim, der ehemalige Aktivist beim FBK: „Man liebäugelt wohl in diese Richtung, auch wenn die Anhänger und potenziellen Wähler hier in Russland leben. Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden. Und wir hier in Russland werden irgendwie ausgeschlossen. Veränderungen werden nicht vom Ausland aus losgetreten – sie beginnen hier, innerhalb des Landes.“   

    Einer der von Meduza befragten Politikwissenschaftler, der sich im Exil befindet, formuliert es so: Ein Teil der russischen Opposition hat begonnen, die Lage mit „ukrainisch-westlichen Augen“ zu sehen. Mit der Darstellung, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind, „lässt es sich im Westen gut und bequem leben – aber sie bietet keinerlei Chancen auf größere Sympathie in Russland“, meint der Experte.

    Anhand folgender Geschichte lässt sich gut nachvollziehen, wie sich die politische Rhetorik verändert, sobald ein Politiker Russland verlässt. Ilja Jaschin, der 2022 für seine Antikriegsaktivität eingesperrt wurde, kam 2024 infolge eines großen Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland frei. Er landete in Europa (obwohl er es kategorisch abgelehnt hatte, seine Heimat zu verlassen). Gleich darauf bezeichnete er die Beendigung des Krieges als Priorität seiner politischen Arbeit. Der Krieg, so erklärte er, sei in eine „blutige Sackgasse“ geraten, beide Seiten sollten sich an den Verhandlungstisch setzen. Diese Worte lösten auf ukrainischer Seite und bei den Befürwortern einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem Sieg der Ukrainischen Armee und der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 heftigen Unmut aus.

    Bereits am dritten Tag nach dem Austausch pflichtete der Politiker seinen Kritikern bei. In einem Video-Stream erklärte er, dass seine Schlussfolgerung letztlich „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden sei und dass nicht ein einziges Stück der Ukraine „Putin überlassen“ werden dürfe (weil der sonst nur „aggressiver“ werde). Jaschin gab auch zu, dass ihm klar geworden worden sei, dass er „seine Worte besser hätte wählen“ sollen, wenn man berücksichtigt, wie viele Ukrainer ihre Liebsten aufgrund der Handlungen Russlands verloren hätten. Die neuen Aussagen riefen wiederum Kritik in einem anderen Teil der Öffentlichkeit hervor – bei denen, die meinen, dass Politiker im Exil in erster Linie die Interessen der Russen vertreten sollen, die sich gegen den Krieg positionieren. (Jaschin lehnte es ab, für diesen Text mit Meduza zu sprechen.)

    Die Berliner Kundgebung am 17. November, zu der Julia Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten, war im Jahr 2024 eine der wenigen Einheit stiftenden Ereignisse für die russische Opposition – ungeachtet dessen, dass sie für veraltete Losungen kritisiert wurde. Doch auch im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung gab es Ärger: Im Anschluss an die Demonstration kam es zu einem riesigen Skandal wegen einer russischen Flagge, die ein Teilnehmer zu dem Berliner Protestmarsch mitgebracht hatte.

     

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen Followern verwandelt“

    Da sie keine Möglichkeit haben, real um politische Macht zu kämpfen oder zumindest innerhalb des Landes Aktionen durchzuführen (Proteste sind in Russland verboten und werden brutal unterdrückt), haben sich Oppositionelle auf mediale Instrumente fokussiert. In Bezug auf Nachrichten-Produktion konkurrieren sie mit den unabhängigen Medien und versuchen, staatliche Propaganda zu bekämpfen.

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen von Followern verwandelt“, meint Alexandra Garmashapowa. „Man hat das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Versammlung des Antikriegskomitees im Frühling des Jahres 2023 anfingen, die Zahl ihrer Abonnenten auf YouTube zu vergleichen. Das wirkte wirklich jämmerlich. Wir alle sitzen in einem sinkenden Schiff, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Und jetzt sollen wir ernsthaft klären, wer wie viele Abonnenten hat?“

    „Ja, Politiker verwandeln sich in Medien“, räumt Maxim Katz ein, der immer noch häufiger als „Blogger“ denn als „Politiker“ bezeichnet wird. „Ich versuche, nicht abzuheben. Wir müssen den Russen zu verstehen geben, dass man auf Russisch immer noch Dinge sagen kann, die sich von Propaganda unterscheiden. Damit man im richtigen Moment, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, legal in die russische Politik eingreifen kann, sollte man schnell eine politische Partei gründen.“

    Wobei politische Blogger und Medien praktisch keine eigene Agenda setzen würden, so beklagen einige Gesprächspartner von Meduza aus der Szene: „Sie sind völlig reaktiv: In Russland passiert etwas und hier wird reagiert“, sagt der Politologe Iwan Preobrashenski. Eine Ausnahme ist der FBK, der sowohl Serien wie Verräter als auch investigative Filme veröffentlich, wie sie der FBK früher produzierte. Zum Beispiel über das Gehalt von Rosneft-Chef Igor Setschin.


    „Einige Leute sind bereit, ihre Reputation zu Markte zu tragen“

    Einige Aktivisten, mit denen Meduza gesprochen hat, räumen ein, dass sie sich erst nach den Konflikten innerhalb der Opposition im Jahr 2024 zu fragen begannen, wie sich die politischen Organisationen, Menschenrechts-Projekte und Medien in der Emigration eigentlich finanzieren.

    So erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel erst durch die Recherchen des FBK zum Überfall auf Leonid Wolkow davon, dass Leonid Newslin eine ganze Reihe von Medien-Projekten finanziert hatte (etwa den oppositionellen Kanal Sota, der seine Nachrichten vor allem auf Telegram und in anderen Sozialen Netzwerken veröffentlicht oder sogar den YouTube-Kanal Nawalny Live). Der Film von Maxim Katz über die Bankiers führte zu einer Diskussion darüber, ob es für politische Organisationen wie den FBK überhaupt zulässig ist, Geld von Unternehmern mit zweifelhaftem Ruf anzunehmen.

    Politische Bewegungen und Projekte zum Schutz der Menschenrechtsorganisationen existieren nicht alleine dank privater Spender. Sie bekommen auch Unterstützung aus der EU und den USA. Finanzierung aus dem Ausland ist für die meisten Empfänger in doppelter Hinsicht heikel: zum einen was ihre Sicherheit, aber auch was ihre Reputation betrifft. Deshalb dringt wenig darüber an die Öffentlichkeit, welche Organisationen über welche Strukturen finanziert werden.

    Nach Einschätzung von Personen, mit denen Meduza sprechen konnte, spielte in den vergangenen Jahren die Free Russia Foundation (FRF) eine zentrale Rolle dabei, die amerikanischen Gelder zu verteilen. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 2014 von russischen Emigranten in den USA gegründet. Sie unterstützt politische Häftlinge und Menschen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Und sie „kämpft gegen Propaganda“. 2019 wurde die FRF vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. 2024 stufte das Justizministerium die Stiftung als „extremistisch“ ein). „Sie haben große Summen von Stiftungen bekommen, vor allem aus Amerika. In der Folge wurden sie zu einer einflussreichen Institution, einfach nur, weil sie Geld hatten“, erklärt einer, der sich mit dem System der Verteilung dieser Gelder auskennt im Gespräch mit Meduza.

    Gleichzeitig wird die Free Russia Foundation ständig von Medien und Bloggern in die Mangel genommen, die mit Leonid Newslin in Verbindung stehen. Das Portal Agenstwo zählte in Medien, die Newslin nahestehen, mehrere Dutzende Artikel, die die FRF kritisieren.

    Im Dezember gab Natalia Arno, die Chefin der FRF, bekannt, sie sei in London Opfer eines Überfalls geworden: Ein Unbekannter sei mit einem Scooter auf sie zugefahren, habe ihr das Handy aus der Hand gerissen und gerufen: „Viele Grüße von Newslin!“ Der Zwischenfall ereignete sich wenige Minuten nach einem Treffen zwischen Arno und Michail Chodorkowski. Newslin lehnte einen Kommentar zu diesen Vorwürfen ab.

    Der Stopp der Unterstützung durch die Agentur USAID Anfang 2025 war ein schwerer Schlag für alle Organisationen, die auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind – offenbar auch für die Free Russia Foundation. Wie groß die Mittel genau waren, die USAID für Projekte im Zusammenhang mit Russland ausgegeben hat, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiss ist, ob es gelingt, die nun entstandenen Lücken mit europäischer Hilfe zu schließen.

    Allerdings begannen die finanziellen Probleme der russischen Opposition im Ausland bereits vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Und einer der Gründe für den sogenannten „Zweiten Krieg um die Fördertöpfe“, wie der Kampf um die Ressourcen bisweilen sarkastisch genannt wird, waren wiederum interne Konflikte.

    „Wir dachten, ihr seid Kämpfer für die Menschenrechte und grundsätzlich anders als Putin. Aber wenn ihr mit Hämmern aufeinander einschlagt, dann stellt das alle in ein schlechtes Licht“, gibt Davidis von Memorial die Reaktion eines westlichen Politikers auf die Vorwürfe gegen Newslin wieder.

    Einige Stiftungen hätten daraus den Schluss gezogen, dass sie die russischen Empfänger künftig noch sorgfältiger überprüfen sollten. So berichtete es der ehemalige Vorsitzende von Transparency International – Russland im Exil, Ilja Schumanow.

    Am stärksten würden darunter kleine Initiativen leiden, glaubt der Politikwissenschaftler Preobrashenski: „Die Bürokraten im Westen werden weiter mit denen zusammenarbeiten, die sie bereits kennen. Aber alle Graswurzel-Bewegungen stehen jetzt unter Verdacht, sie hätten solch ‚dubiose Sponsoren wie der FBK‘, und alle bisherigen Unterstützer werden ganz genau unter die Lupe genommen.“

    Private Gelder, die in die Zivilgesellschaft fließen, werden häufig nach dem Prinzip „Vitamin B“ verteilt, sagt Shanna Nemzowa. „Das führt dazu, dass die Spender häufig versuchen, sich Loyalität zu erkaufen.“ Grigori Swerdlin pflichtet ihr bei: „Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Reputation geradezu zu Geld zu machen.“ Die russische Diaspora und viele ihrer intellektuellen Projekte seien „schlichtweg ein Netzwerk von Dienstleistern, die alle Interessen von irgendjemandem bedienen“, sagt Preobrashenski über die privaten Spender russischer Abstammung. „Es gibt sehr wenige unabhängige Leute.“

     

    „Ich kann keine Kraft mehr aufbringen. Und ich weiß auch nicht, wozu“

    Seit dem 24. Februar leben Aktivisten innerhalb und außerhalb von Russland in verschiedenen Welten. Diese Diskrepanz vertieft die große Spaltung in der russischen Zivilgesellschaft.

    Ein Mittel, um diesen Graben zu überwinden, wäre „damit auzuhören, den Menschen ständig mit Prügelstrafe zu drohen“, glaubt Sergej Dawidis von Memorial. Seiner Meinung nach könnte das auch dazu beitragen, die soziale Basis des Widerstands gegen Putin zu verbreitern und auch Russen anzuziehen, die noch unentschieden sind. Alexandra Garmashapowa stimmt dieser Ansicht zu: „Die Opposition macht einen Fehler, wenn sie diese Unentschiedenen und sogar die Kriegsbefürworter von vornherein für dumm erklärt“, sagt die Journalistin. „Wenn du die Leute, die dir nicht gefallen, einfach ignorierst, verschwinden sie deshalb nicht.“

    Die Politikwissenschaftlerin Margarita Sawadskaja weist im Gespräch mit Meduza darauf hin, dass sich die Oppositionellen, die ins Ausland geflohen sind, schwer damit tun, Themen aufzugreifen, die für die Menschen in Russland relevant sind, und gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen aufzubauen. Dies sei ein „schwieriges Unterfangen“, findet Sawadskaja: „Die Hauptaufgabe besteht gar nicht so sehr darin, die Beziehungen zueinander am Leben zu halten, sondern das Ansehen im Westen zu wahren. Man muss sehr darauf achten, eine Linie zu finden, die von den Partnern im Westen mitgetragen werden kann.“

    Derweil sind die Erwartungen der westlichen Staaten, die nach wie vor die russische Opposition unterstützen, allem Anschein nach bescheiden: Trotz aller Konflikte setzen sie nach wie vor darauf, dass die unterschiedlichen politischen Gruppierungen lernen, miteinander zu kooperieren und gemeinsame Aktionen durchzuführen, erzählt ein Gesprächspartner von Meduza.

    Iwan Preobrashenski glaubt, der Westen sähe es nicht gerne, wenn die Opposition ihre Agenda radikalisieren würde: „Zum Beispiel will niemand Geld für echte Anti-Kriegs-Aktionen geben, auch nicht für subversive. 2023 war ich auf einer Veranstaltung, an der auch europäische Politiker teilgenommen haben. Die haben von den russischen Veranstaltern verlangt, dass noch nicht einmal das Wort ‚Kampf‘ benutzt werden darf: ‚Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass wir direkte Aktionen in Russland unterstützen.‘“ 

    Nachdem Chodorkowski [im Juni 2023] seine Unterstützung für den Prigoshin-Aufstand bekundet hatte, hätten die US-Stiftungen ihren Geldempfängern, die mit Chodorkowski zusammenarbeiteten, klargemacht, dass sie „keine Anträge mehr zu stellen bräuchten“, so erzählt es Preobrashenski. Chodorkowski selbst bestätigte diese Aussage im Gespräch mit Meduza, ging aber nicht darauf ein, um welche Stiftungen es sich genau handelte:

    „Zum Umsturzversuch von Prigoshin hatte ich einen sehr konfrontativen Auftritt vor Russland-Experten im US-Außenministerium“, erinnert sich Chodorkowski. „Die verstehen alle sehr gut, dass erst eine Spaltung in der Elite zu einem Regimewechsel in Russland führen kann. Aber ein ausgewachsenes totalitäres Regime spaltet sich nicht in die Guten und die Bösen. Es spaltet sich in Böse und Böse. Das ist allen klar! Aber der Begriff ‚Regime Change‘ ist in Washington tabu.“

    Aktivisten und junge Politiker, die ihre Aktivitäten in den Untergrund verlegt haben, blicken skeptisch auf ihre eigenen Erfolgschancen. „Viele von uns werden die Ergebnisse ihrer Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr erleben“, ist [die feministische Künstlerin] Darja Serenko überzeugt. „Sich damit abzufinden, ist sehr schwer. Du hast das Gefühl, du arbeitest ins Leere, im Nebel, ins Nichts.“

    Etwa jeder Dritte der Aktivisten und Politiker, mit denen Meduza für diese Recherche gesprochen hat, war der Ansicht, dass der Opposition nichts anderes übrigbleibe als abzuwarten, bis Putins autokratisches Regime von selbst zusammenbricht. Letztlich sei kein Aktivismus in der Lage, diesen Prozess zu beschleunigen. Derweil sei es fraglich, ob überhaupt irgendjemand aus den Reihen der heutigen Oppositionsführer dann einen wichtigen Posten im neuen System einnehmen könne, glaubt Shanna Nemzowa.

    Sowohl politische Beobachter als auch einige Aktivisten gehen davon aus, dass eine neue Generation politischer Anführer in Russland heranwachsen wird. „Das werden ganz neue Leute sein. Junge, die noch keine Enttäuschungen erlebt haben, die wissen, was sie wollen und in was für einem Land sie leben wollen“, ist Alexandra Garmashapowa überzeugt.

    „Alles, was die russische Opposition je getan hat, wurde am 24. Februar zunichte gemacht – das Gute wie das Schlechte“, glaubt der Politologe Iwan Preobrashenski. „Aber sie selbst beginnen erst jetzt langsam, das zu begreifen. Der heftige Aktivismus, den wir derzeit beobachten, ist nichts anderes als der Versuch, sich dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte entgegenzustemmen. Wenn sie nicht ihnen nicht klar wird, dass ihre Rolle jetzt ist, neue Organisationen und neue Anführer zu unterstützen und zu finanzieren, die ein besseres Gespür dafür haben, was gerade passiert, dann schreiben sie sich selbst ab.“

    Sergej Dawidis von Memorial hingegen ist angesichts der jüngsten hitzigen Auseinandersetzungen unterschiedlicher oppositioneller Gruppen „nur von einzelnen Personen enttäuscht“, aber nicht von der oppositionellen Bewegung im Ganzen. „Das ist kein Weltuntergang, es kommen neue Leute. Die Jungen, die keinen formellen Führungsstrukturen angehören, fühlen sich nicht vertreten. Aber nur vorläufig.“

    Die 21-jährige Olessja Kriwzowa ist zum Beispiel eine von denen, die sich buchstäblich „nicht vertreten“ fühlen. Sie wurde in der Oblast Belgorod geboren, noch als Teenager begann sie, die Videos von Alexej Nawalny zu schauen. Am 23. Januar 2021 nahm Kriwzowa zum ersten Mal an einer Demonstration teil, um den Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung zu unterstützen [Nawalny war wenige Tage zuvor nach seiner Behandlung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt und noch im Flughafen festgenommen worden war – dek]. Im März 2022 nahm sie zum ersten Mal an einer Demonstration gegen den Krieg teil. Sie verteilte auch Flugblätter des Feministischen Widerstands (FAS). Am Morgen des 26. Dezember 2022 brach die Polizei die Tür zu ihrer Wohnung auf.

    Gegen Kriwzowa wurden zwei Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Postings eingeleitet, die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring trug sie ins Register der Terroristen und Extremisten ein. Im März 2023 gelang Kriwzowa mit Hilfe des Projekts Wywoshuk die Flucht aus dem Hausarrest. Sie verließ ihre Wohnung und schnitt die elektronische Fußfessel ab.

    Heute lebt Kriwzowa in Kirkenes im Norden Norwegens. Neben ihrem Fernstudium an der Universität Vilnius schreibt sie für die Zeitung The Barents Observer Artikel über Russland und den Krieg. Ihren eigenen Worten nach hat sie sich von den Kreisen der russischen Opposition „stark abgegrenzt“: „Ich habe keine Kraft dafür – und ich wüsste auch nicht, welchen Zweck das haben könnte.“

    Kaum war sie mit der Vorgänger-Generation Oppositioneller in Kontakt gekommen, war ihr auch schon die Lust vergangen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren für Olessja gar nicht die Konflikte, sondern dass „eine einflussreiche Person aus der russischen Opposition“ begann, sie zu bedrängen: „Bei einem Treffen begann er plötzlich sehr viel über Sex zu reden, wobei ich darum keineswegs gebeten hatte. Ich bin einfach weggerannt. Später habe ich gehört, dass ich nicht die einzige war, der so etwas passiert ist.“

    „Ich kann gut für mich selbst sprechen“, sagt Olessja Kriwzowa. „Solange wir nicht anständig und sauber werden, kann nichts Gutes dabei herauskommen.“

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  • Folter durch Hunger

    Folter durch Hunger

    In der unabhängigen Ukraine wird jedes Jahr Ende November jenen Millionen Menschen gedacht, die in den sowjetischen 1930er Jahren durch die von Moskau provozierte Hungersnot, den Holodomor, starben. Seit drei Jahren werden diese schmerzhaften historischen Erinnerungswunden wieder aufgerissen durch die Berichte vom Hungern ukrainischer Zivilisten und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Das von Moskau befohlene Aushungern von Ukrainern erscheint als eine systematische Konstante – damals und heute.  

    Mariupol im Frühjahr 2022: Wjatscheslaw Sawalny arbeitete als Mechaniker in der südostukrainischen Großstadt. Nachdem die russische Armee am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel und besonders brutal die russische Besetzung der Stahl- und Hafenstadt Mariupol vorantrieb, versuchte Sawalny, seine Familie – seinen Sohn und seine Frau – in Sicherheit zu bringen. Doch an einem russischen Checkpoint im etwa 120 Kilometer nordwestlich gelegenen Polohy – in der Nachbaroblast Saporishshja, die ebenfalls teilweise in wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt wird – nahmen ihn russische Uniformierte fest. Es folgten zehn lange Monate in Kriegsgefangenschaft an verschiedenen Orten – zusammen mit anderen Ukrainern: Zivilisten wie Soldaten. 

    2023 kommt Wjatscheslaw Sawalny durch einen Gefangenenaustausch frei. 2024 berichtet er ukrainischen Journalisten sowie einer Ukraine-Veranstaltung in Deutschland von seinen Erfahrungen in russischer Gefangenschaft.  

    Das Recherchemedium texty.org.ua hat Sawalnys Bericht dokumentiert und die Rolle des Hungers von Experten einordnen lassen. 

    Wöchentliche Demo für die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern am 23. Februar 2025 in Kyjiw, Foto © Peggy Lohse
    Wöchentliche Demo für die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern am 23. Februar 2025 in Kyjiw, Foto © Peggy Lohse

    Ukrainische Gefangene berichten nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft immer wieder, dass der Hunger eine der schlimmsten Qualen in den russischen Folterkammern war. So auch der Mechaniker Wjatscheslaw Sawalny aus Mariupol, wenn er über seine Folter-Erfahrungen spricht und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, die konkreten Kriegsverbrecher zu identifizieren, die Ukrainer wie ihn in Gefangenschaft foltern und töten. 

    „Wir verloren alle sehr viel Gewicht. Sie folterten uns durch Hunger. Als sie dann etwas Brot ausgaben, ertappte ich mich dabei, wie ich es anstarrte und mir lange vorstellte, es zu essen“, berichtet Wjatscheslaw Sawalny. Vor Hunger habe er kaum schlafen können. „Alle Gespräche in unserer Zelle drehten sich nur ums Essen: Alle waren abgemagert und erschöpft. Die Leute in der Zelle stritten sich und kämpften um Lebensmittel.“  

    Wjatscheslaw Sawalny vor und nach der russischen Kriegsgefangenschaft, Foto-Collage © texty.org
    Wjatscheslaw Sawalny vor und nach der russischen Kriegsgefangenschaft, Foto-Collage © texty.org

    Wie so viele Ukrainer, die durch Russlands Krieges gegen die Ukraine in Gefängnissen der russischen Besatzer landen, hat auch Sawalny keinerlei Gründe für seine Inhaftierung erfahren. Stattdessen habe man ihn gefoltert und gleichzeitig gezwungen, leere Papiere zu unterschreiben. 

    „Sie brachten mich zum Verhör und sagten, dass sie nichts gegen mich in der Hand hätten. Sie überprüften die Social-Media Accounts meiner Tochter, aber fanden auch dort nichts“, erinnert er sich. Also zwang man ihn zweimal, im Abstand von mehreren Monaten, die Geschichte seiner Verhaftung zu erzählen und sich dabei filmen zu lassen. Um die Aussagen vergleichen und Widersprüche finden zu können, vermutet Sawalny. 

    2000 Kniebeugen im Informationsvakuum 

    Doch Rechtsfreiheit und Hunger waren längst nicht die einzigen Erniedrigungsformen: „Die Wärter erlaubten uns nicht zu sitzen. Wir mussten 18 Stunden lang stehen. Die Zelle wurde videoüberwacht. Wenn jemand versuchte, sich hinzusetzen, schlugen sie zu oder zwangen ihn, Kniebeugen zu machen: Kopf nach unten, Hände hinter den Rücken. Einmal mussten wir das zweitausendmal machen. Später haben wir tote Winkel gefunden, die für die Kamera nicht einsehbar waren und uns abwechselnd ausgeruht.“ 

    Weiter erinnert er sich an Schikanen beim Hofgang: „Wir mussten gebückt laufen, mit dem Kopf nach unten und den Händen hinter dem Rücken verschränkt, die Beine halb gebeugt. Während wir ‘spazierten’, schlug man uns mit Sand gefüllten Plastikrohren, die blaue Flecken auf unseren Körpern hinterließen. Wir schrien vor Schmerz.“ 

    Die Gefangenen lebten in einem völligen Informationsvakuum, wurden ständig gefoltert und teils täglich verhört. Bitten um medizinische Hilfe wurden ignoriert und Nahrungsrationen gestrichen. 

    Der Hauseingang von Wjatscheslaw Sawalny und seiner Familie in Mariupol, Frühjahr 2022, Foto © privat/Texty.org
    Der Hauseingang von Wjatscheslaw Sawalny und seiner Familie in Mariupol, Frühjahr 2022, Foto © privat/Texty.org

    Foltern bis zum Töten 

    „Ich war in der Hölle. Allein während meiner Gefangenschaft wurden mindestens vier Ukrainer in den Folterkammern von Donskoi in der Region Tula hingerichtet. Als ich in Kursk war, starben zwei weitere. Und das sind nur die Hinrichtungen, von denen ich weiß“, sagt Sawalny, während er sich Fotos von Mitarbeitern der russischen Gefängnisse ansieht und nach bekannten Gesichtern sucht. 

    Ich war in der Hölle

    Die Russen täten alles dafür, so Sawalny, dass die Gefangenen, falls sie je in die Ukraine zurückkehren sollten, möglichst stark traumatisiert seien und zu einer Belastung für die Gesellschaft würden: „Sie weckten uns auch nachts auf, indem sie plötzlich das helle Licht anschalteten, um unseren Schlaf zu stören, damit wir uns nicht erholen und ausruhen konnten.“ 

    Ermittler brauchen Betroffene 

    In der Ukraine arbeiten die Strafverfolgungsbehörden aktiv daran, die Leiter russischer Gefängnisse und konkrete Kriegsverbrecher zu identifizieren und Verfahren vorzubereiten. Julija Polechina, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Sitsch, dokumentiert bereits seit 2015 Aussagen ukrainischer Soldaten und Zivilisten, die in russischer Gefangenschaft waren. Sie sagt, dass alle Befragten, wie Wjatscheslaw Sawalny, von Folter durch Hunger berichteten. Dies wird auch durch Ärzte bestätigt, die schwere und langwierige Folgen durch anhaltenden Hunger konstatieren. Die Anwältin fordert alle Betroffenen solcher Verbrechen auf, nicht zu schweigen: 

    „Wer freigelassen werden konnte, sollte über die Verbrechen an Ukrainern in den Haftanstalten in den besetzten Gebieten und in Russland aussagen. Dank dieser Informationen können die Ermittler der Nationalen Polizei Strafermittlungen durchführen und die Fälle vor Gericht bringen.“ 

    Glaube ans Überleben 

    Für Wjatscheslaw Sawalnys Freilassung hat sich besonders seine Tochter Karyna Djatschuk eingesetzt. Sie wurde Aktivistin und organisierte eine starke Bewegung zur Unterstützung von Zivilisten in russischer Gefangenschaft, gründete mit anderen Angehörigen von illegal gefangengehaltenen Ukrainern die Nichtregierungsorganisation Civilians in Captivity. Karyna Djatschuk kontaktierte alle möglichen Stellen, schrieb Briefe und Appelle an ukrainische Behörden und versuchte, russische Anwälte zu finden, die möglicherweise dabei helfen könnten, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu ermitteln. Doch am wichtigsten war: Sie glaubte an seine Rückkehr. 

    Am 8. Januar 2023 kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem 50 Ukrainer [gegen ebenso viele russische Kriegsgefangene – dek] freikamen, darunter auch Wjatscheslaw Sawalny. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung wog er nur noch 55 Kilogramm. Später wurde er zweimal operiert, brauchte lange, um sich zu erholen und konnte trotz ausgewogener und ausreichender Ernährung kaum wieder zunehmen. 

    Seit 2014 Folter durch Hunger 

    Iryna Badanowa war von November 2015 bis Juni 2024 Expertin im ukrainischen Koordinierungsstab für die Suche und Freilassung von Kriegsgefangenen in einer Unterabteilung des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums tätig. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal 2014 nach der Freilassung von Soldaten der 30. Mechanisierten Brigade von der Folter durch Hunger und Durst erfahren: 

    „Die Jungs erzählten mir, dass sie zusammen mit 37 Gefangenen in einem Loch gehalten wurden und nur eine Drei-Liter-Flasche Wasser und einen Laib Brot pro Tag bekamen. Da es ein heißer August war, litten sie noch mehr unter Wassermangel als unter Hunger.“ 

    Schon damals wurden ukrainische Gefangene nicht nur von lokalen Separatistenkämpfern, sondern auch durch den russischen Föderalen Geheimdienst FSB verhört. Das heißt, das russische Foltern ukrainischer Gefangener durch Hunger wird seit über einem Jahrzehnt angewendet. 

    Wer aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf

    „Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf: blasse Haut, erheblicher Gewichtsverlust (manchmal mehr als ein Viertel des Gewichts vor der Gefangenschaft), Haar- und Zahnausfall, schwere Entzündungen des Magens, der Speiseröhre, der Leber und der Bauchspeicheldrüse, die eine langwierige Behandlung erfordern“, sagt Badanowa. Diese Folter durch Hunger und Durst beeinträchtige die ehemaligen Gefangenen auch psychisch noch lange über die Gefangenschaft hinaus:  

    „Nach ihrer Freilassung können einige ihren Hunger kaum mehr stillen, selbst wenn sie eigentlich genügend Eiweiß, Fett und Vitamine zu sich nehmen. Andere können bestimmte Lebensmittel nicht mehr ansehen, ohne dass ihnen übel und schwindlig wird. Geschweige denn essen.“ 

    Diese Störungen können als die traumatischsten bewertet werden, denn neben einer langfristigen gastrologische Behandlung ist hier auch eine sorgfältige psychologische oder psychiatrische Behandlung erforderlich. 

    Wjatscheslaw Sawalny hält einen Vortrag in Deutschland. Foto © Tetjana Wyssozka/Texty
    Wjatscheslaw Sawalny hält einen Vortrag in Deutschland. Foto © Tetjana Wyssozka/Texty
     Russlands Aushungern gestern und heute 

    2024 nahm Wjatscheslaw Sawalny an einer Veranstaltung zum Holodomor-Gedenktag in Burg bei Magdeburg teil. Der Verein Ukrainer in Burg zeigte den ukrainischen Kurzfilm Rote Halskette über das Leben eines Mädchens im Jahr 1933. Danach berichtete Sawalny dem Publikum seine Geschichte. 

    „Wjatscheslaws Geschichte aus dem Jahr 2022 und die meiner Großmutter im Jahr 1933 haben Gemeinsamkeiten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Regisseurin und Autorin des Films Tetjana Wyssozka. „Die Russische Föderation lässt Ukrainerinnen und Ukrainer in Gefangenschaft heute absichtlich verhungern – genau wie zu Zeiten des Holodomor, als man Familien alle Essensvorräte wegnahm, sodass sie keine Chance zum Überleben hatten. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zielen darauf ab, den Menschen über seine Grundbedürfnisse zu zerstören. Und sie wiederholen sich.“ 

    Das ist Sawalnys Präsentation, die er im November 2024 in Deutschland zeigte

    Tausende von ukrainischen Zivilisten werden aktuell in russischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, auf der Krym und in Russland festgehalten [genaue Zahlen gibt es nicht – dek]. Ihre Angehörigen haben kaum Kontakt zu ihnen, da Russland seine Verbrechen verschleiert, keine Informationen bestätigt und internationalen Organisationen den Besuch von Haftanstalten verwehrt.  

    Leider bestehen aktuell keine regelmäßigen Mechanismen, um Zivilisten aus russischer Gefangenschaft zu befreien.  

    Viele Ukrainer sind durch die Foltergeschichten der Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft kaum noch zu beeindrucken. Aber Menschen außerhalb der Ukraine wissen oft nichts darüber, wie die Russen ukrainische Zivilisten entführen und jahrelang ohne jeden Grund gefangen halten. Und das, obwohl die Inhaftierung von Zivilisten in internationalen bewaffneten Konflikten nach dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verboten ist. 

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  • „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile 3/3

    „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile 3/3

    Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln, bis Urteile gesprochen werden können.  

    Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter und Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025. 

     

    Teil 1: Das Attentat 

    Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern

    Teil 3: Prozesse und Urteile 

    „Sie wurde ermordet“: Kundgebung vor dem Innenministerium in Kyjiw am 4. November 2018. An diesem Tag ist Kateryna Handsjuk den Verbrennungen durch einen Säure-Anschlag am 31. Juli 2018 in Cherson in einem Kyjiwer Krankenhaus erlegen. / © Danil Shamkin/ IMAGO / Ukrinform 

    Ende Juli 2020 überwies die Staatsanwaltschaft den Fall von Olexii Lewin und Wladyslaw Manher ans Gericht. Die beiden wurden beschuldigt, den Säure-Anschlag auf die Chersoner Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Auftrag gegeben zu haben, an dem sie Tage später im Krankenhaus starb. Am 18. August 2020 eröffnete Richterin Julija Iwanina die Verhandlung des Falles. 

    Zur Eröffnungsverhandlung erschien Lewin fast nackt. Auf der verglasten Anklagebank, dem Aquarium, hatte er nicht mehr als eine zerrissene blaue Unterhose an. Er behauptete, dass er in der Untersuchungshaftanstalt gezwungen worden sei, gegen Manher auszusagen. Bevor er zum Gericht gebracht wurde, habe man ihn ausgezogen und ihm nicht erlaubt, sich normal anzuziehen. Das Aufsichtspersonal versicherte jedoch, dass Lewin sich selbst entkleidet und sich danach geweigert habe, vor Gericht zu erscheinen. Deshalb habe man ihm in diesem Zustand bringen müssen. Lewins Körper wies keine Anzeichen von Einwirkung äußerer Gewalt auf.  

     

    Druck 

    Während des Prozesses gegen Manher und Lewin berichteten Ihor Pawlowsky sowie zwei weitere Zeugen erneut von Druck seitens der Angeklagten. 

    Pawlowsky behauptete, er habe sich 2019 zunächst geweigert, dem Deal mit den Ermittlern zuzustimmen. „Ich wurde bedroht: Wenn ich im Prozess gegen Manher aussagen und ihn Mykolajowytsch nennen würde, würden meine Familie und die meiner Tochter Probleme bekommen“, so Pawlowsky vor Gericht. 

    Im Januar 2020 war Pawlowsky erneut verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft verdächtigte ihn der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vor Gericht sagte er aus, er sei in Untersuchungshaft von Leuten aufgefordert worden, nicht gegen Manher auszusagen. Andernfalls drohten sie ihm, das Genick zu brechen. 

    „Wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen“ 

    Aber Pawlowsky wurde nicht nur bedroht, sondern man habe auch versucht, ihn zu bestechen. Er behauptete, dass ihm Lewin persönlich nach seiner Festnahme 20.000 Dollar dafür angeboten habe, wenn er nicht gegen ihn und Manher aussagte, doch er weigerte sich. 

    Zwei von Pawlowskys Mitarbeitern berichteten ebenfalls von Morddrohungen. Beide bestanden darauf, dass es Lewins Idee war, sich die Aktivisten vorzuknöpfen. Pawlowsky habe nur gelacht und gemeint, dies sei Unsinn.  

    Die zwei behaupteten auch, dass sie kurz vor dem Angriff auf Handsjuk vor Pawlowskys Büro ein Gespräch zwischen Lewin und Torbin mithörten: „Serhii, wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen, Mykolajowytsch ist wütend“, berichtet Pawlowskys Mitarbeiter Pawlo Pylypenko später vor Gericht. Torbin habe Lewin gegenüber versichert, dass seine Jungs schon „arbeiten“ würden. 

    Beide Mitarbeiter Pawlowskys betonten vor Gericht, dass sie bedroht würden.  

    Pylypenko saß zu diesem Zeitpunkt wegen Ermittlungen zu gewaltsamen Protesten am 4. Mai 2018 vor der Bezirksverwaltung in Oleschky in Untersuchungshaft. Er behauptete, eines Tages sei ein Wachmann der Haftanstalt zusammen mit 14 anderen Personen in seine Zelle gekommen und habe gesagt, dass er in Schwierigkeiten sei. Er wählte die Nummer des stadtbekannten Banditen Wiktor Batar und stellte den Anruf auf laut.  

    „Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann“ 

    Batar drohte dann: Wenn Pylypenko „gegen einflussreiche Leute“ aussagen würde, würde er sich „kümmern“. Anschließend erhielt Pylypenko einige Ohrfeigen. Doch er ließ sich nicht beirren, stimmte einem Deal mit den Ermittlern zu und erhielt eine zweijährige Bewährungsstrafe. Im Gegenzug sagte er vor Gericht gegen Lewin und Manher aus. 

    Als weiterer wichtiger Zeuge der Anklage sagte Serhii Torbin vor Gericht aus, dass Lewin ihn 2021 per Telefon gebeten habe, nicht auszusagen. Zu jenem Zeitpunkt befand sich Lewin in Untersuchungshaft und Torbin im Gefängnis. Torbin zeichnete eines dieser Gespräche auf und präsentierte es während seiner Vernehmung vor Gericht am 15. Juni 2022: 

    „Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann. Mach verdammt nochmal keine Aussage. Lass dich nicht blicken, hau ab. Für mich gibt’s keinen anderen Ausweg. Gehe nicht vor Gericht“, zitierten Reporter des ukrainischen Onlinemediums Watchers die Stimme der Sprachaufnahme, welche der von Lewin ähnelt. 

    Richterin Julija Iwanina fragte Lewin, ob er sich hierzu äußern wolle, woraufhin dieser sich auf sein Recht nach Artikel 63 der Verfassung berief, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage verweigerte. 

    Nicht feststellen konnten die Ermittler, wie und wann Manher Lewin gesprochen und bezahlt hat 

    Wladyslaw Manher und Olexii Lewin bestritten, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. Wenn jemand Druck auf die Prozessbeteiligten ausgeübt habe, dann seien es die Ermittler und Staatsanwälte gewesen.  

    Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Wladyslaw Manher erstmals Anfang Juli 2018 an einen Angriff auf Kateryna Handsjuk gedacht habe. Er habe dann Lewin vorgeschlagen, den Anschlag zu organisieren. Danach wendete sich dieser an Torbin und der wiederum an seine Kameraden. Nicht feststellen konnten die Ermittler allerdings, wie und wann Manher mit Lewin kommuniziert hatte.  

    Laut der Anklage bezahlte Manher die Dienste aller Beteiligten. Nicht festzustellen war jedoch, wie er Lewin bezahlt habe. 

     

    Mykolajowytsch 

    Serhii Torbin und Ihor Pawlowsky bezeugten vor Gericht, Lewin habe ihnen persönlich gesagt, dass Manher den Angriff auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben habe.  

    Torbin wurde noch einmal am 15. Juni 2022 vor Gericht befragt. Ende Februar 2023 wurde er in die Streitkräfte mobilisiert.  

    Torbin behauptete, dass Lewin und Manher eine „super Beziehung“ gehabt hätten. Oft habe man sie zusammen am Flussufer oder in Restaurants angetroffen. Torbin betonte, dass Lewin Manher oft Mykolajowytsch und manchmal Glatzkopf nannte.  

    „Bei einem unserer Treffen fragte ich Lewin, wer es denn nötig habe, Handsjuk eins auszuwischen? Lewin meinte, ‚Mykolajowytsch will es‘. Als ich nachfragte, ob das Manher sei, sagte er ‚Ja‘“, so Torbin vor Gericht.  

    Manher und Lewin bestritten nicht, dass sie sich kannten. Jedoch betonten sie, dass sie nicht befreundet seien, sondern sich nur gelegentlich über gemeinsame Freunde trafen, da ihre Ehefrauen befreundet waren.  

    Lewin sagte, er habe Manher bei seinem Vor- und Vatersnamen genannt: Wladyslaw Mykolajowytsch. In seinem Telefon habe er ihn als „Boss“ abgespeichert, weil er bestimmte, was in der Region geschah. Beide bestritten, dass Lewin Manher beraten habe. Auch konnten sie sich nicht daran erinnern, worüber genau sie am Tag des Angriffs auf Handsjuk am Telefon gesprochen hätten. Doch sei es sicherlich um Fragen im Zusammenhang mit der Unterstützung von ATO-Veteranen gegangen.  

    Richter beraten sich im Handsjuk-Prozess gegen Wladyslaw Manher 2019 in Kyjiw.  / © Sergii Kharchenko / IMAGO / Ukrinform 

    Ihor Pawlowsky bestätigte, dass Lewin Manher Mykolajowytsch nannte. Vor Gericht erinnerte er sich daran, dass er Manher nach der Kundgebung vor der Regionalverwaltung kennengelernt habe. Damals hatten Lewin und Torbin am 6. Juli 2018 die Kundgebung zur Unterstützung der Stadtoberen organisiert. Lewin hingegen bestritt, dass er die Kundgebung vor der Regionalverwaltung von Cherson organisiert und den Teilnehmern Geld gezahlt habe. Er habe lediglich bei den Unterstützern von Manher gestanden. Einige Tage nach der Kundgebung erhielt Pawlowsky einen Anruf von Lewin, dass er und Mykolajowitsch bald in seinem Büro vorbeischauen würden.  

    Während des Treffens, erinnert sich Pawlowsky, kamen sie auf Handsjuk zu sprechen, die Manher öffentlich der Korruption und illegalen Abholzung beschuldigte. „Genau kann ich mich nicht erinnern, ob es Manher oder Lewin war, der meinte, dass es Zeit sei, ihr das Maul zu stopfen“, sagte Pawlowsky vor Gericht. Er habe den Drohungen gegenüber Handsjuk aber keine Bedeutung beigemessen. 

    Lewin bestand darauf, dass sie bei diesem Treffen nicht über Handsjuk gesprochen hätten. Er wiederholte vor Gericht abermals die Geschichte, die er noch in Bulgarien den Journalisten von slidstvo.info über das Treffen in Pawlowskys Büro erzählte hatte. Er sei lediglich dafür gewesen, Handsjuk mit Seljonka zu übergießen. Pawlowsky und Torbin waren schließlich dafür gewesen, sie mit Fäkalien zu übergießen und anschließen zu fotografieren.  

    „Wir haben den Angriff bestellt. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht“ 

    Vor Gericht erinnerte sich Pawlowsky an einen anderen Vorfall, da Lewin in einem Gespräch mit ihm Mykolajowytsch erwähnte – am 3. August, dem Tag, an dem der erste Verdächtige, Nowikow, verhaftet wurde. An jenem Tag sei er mit einem Assistenten in seinem Büro gewesen. Plötzlich stürmte ein aufgeregter Lewin herein. Vor Gericht gab Pawlowsky das Gespräch wieder: 

    „Er fragte, ob wir einen Anwalt hätten und ob wir wüssten, was passiert sei. Wir fragten: ‚Was ist passiert?‘ Er sagte: ‚Sie haben Torbin verhaftet.‘ Ich stellte die Frage: ‚Warum wurde gerade der festgenommen?‘ Er antwortete: ‚Weißt du das denn nicht? Die haben Kateryna Handsjuk übergossen‘. Ich fragte: ‚Warum haben sie das getan?‘ Und ich zitiere hier wörtlich. Er antwortete: ‚Nun, wir haben einen Angriff auf Kateryna Handsjuk bestellt.‘ Ich fragte ihn: ‚Wer ist wir? Und warum?‘ Er antwortete: ‚Ich und Mykolajowytsch. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht.“ 

    Pawlowsky rief dann Torbin an, doch der nahm nicht ab. Schließlich erreichte er Torbins Frau, die ihm mitteilte, dass er betrunken sei und zu Hause schlief. Als Lewin feststellte, dass die Polizei Torbin nicht verhaftet hatte, beruhigte er sich. 

    „Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?“ 

    Lewin bestritt das Gespräch nicht, sagte aber, es habe nur unter vier Augen stattgefunden. Als Pawlowsky Torbin weiter nicht erreichen konnte, sei er nervös geworden. 

    „Ich sagte ihm: ‚Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?‘ Als es ihm klar wurde, liefen seine Lippen blau an und sein Gesicht wurde bleich. Er hatte schon immer Probleme mit seinem Blutdruck und ich fragte ihn, ob ich einen Krankenwagen rufen solle. Doch er machte nur eine Geste mit der Hand: ‚Setz dich“, so Lewins Version des Gesprächs. 

    Er behauptete, dass Pawlowsky mit Hilfe einer Wahrsagerin nach Torbin suchte. Die Frau hieß Anna, war zwischen 30und 35 Jahre alt und laut Torbin Pawlowskys Lebensgefährtin. Nach einigen Prozeduren versicherte sie Pawlowsky, dass Torbin nicht verhaftet worden sei. 

    „Als wir nach einiger Zeit Torbin fanden, sagte Ihor: ‚Siehst du, Anna hat es vorausgesagt. Sie sieht alles‘“, erklärte Lewin. Er bestritt, Pawlowsky gesagt zu haben, dass er und Manher Torbin den Angriff Handsjuk befohlen hätten.  

     

    Motiv 

    Manher betonte vor Gericht immer wieder, dass er den Angriff auf Handsjuk nicht befohlen habe und sie nicht mal gut kenne und deshalb kein Motiv gehabt habe, sie zu töten.  

    Doch der Staatsanwaltschaft zufolge wollte Wladyslaw Manher Handsjuk für eine Weile aus dem öffentlichen und politischen Leben der Region Cherson verschwinden lassen. Deshalb habe er den Angriff auf sie angeordnet. 

    Auch laut Kateryna Handsjuks Aussage im Krankenhaus hatte er ein Motiv, allerdings machte sie vor ihrem Tod keine näheren Angaben zum Konflikt mit Wladyslaw Manher. Erst ihr Vater Wiktor Handsjuk sowie mehrere Unterstützer berichteten Details  vor Gericht. 

    Der renommierte Chersoner Journalist Serhii Nikitenko erinnerte daran, dass der Konflikt bis ins Jahr 2014 zurückreichte. Nach dem Sieg der Revolution der Würde fanden im Frühjahr vorgezogene Präsidentschafts- und Kommunalwahlen statt. Im Herbst gab es Neuwahlen zur Werchowna Rada. Damals gab Kateryna Handsjuk ihre Arbeit in der regionalen Sportförderung auf und kehrte in die Politik zurück. Und kandidierte für die Partei Batkiwschtschyna für den Stadtrat und das Regionalparlament von Cherson.  

    Handsjuk war bereits nach der Orangenen Revolution 2006 in die Partei von Julija Timoschenko eingetreten und Stadträtin in Cherson geworden. Nach den Kommunalwahlen 2012 verließ Handsjuk jedoch die Politik und begann als Journalistin und Selbstständige mit internationalen humanitären Organisationen zusammenzuarbeiten.  

    Während des Euromaidan trat Kateryna Handsjuk häufig bei Protesten gegen prorussische Einflussnahme auf. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst 2014 kandidierte sie nicht mehr, dafür aber Wladyslaw Manher. 2016 wurde sie Mitglied, Beraterin und Abteilungsleiterin im Chersoner Stadtrat. 

    Vor Gericht erklärte Nikitenko, dass Manhers Wahlkampfstab das vom Zentrum für politische Studien und Analysen entwickelte Konzept der Rechenschaftspflicht für öffentliche Gelder gestohlen habe, in welchem Nikitenko als Experte und Handsjuk als regionale Vertreterin tätig waren.  

    „Es war ein großes Projekt, an dem wir lange gearbeitet haben und in der Presse darüber berichteten. Später fanden wir auf Wahlkampfmaterialien heraus, dass Wladyslaw Manher das Konzept als das seine deklarierte“, so Nikitenko vor Gericht.  

    Jedoch half das Manher nicht. Er wurde nur Dritter bei der Wahl. 

    Wladyslaw Manher in der MOST-Recherche ”Es gibt Grenzen: Wer sind Sie, Mister Manher?” / Screenshot Youtube-Kanal MOST 

    Im folgenden Jahr, 2015, beschloss Wladyslaw Manher, für das Amt des Bürgermeisters von Cherson zu kandidieren. Nach der schlechten Erfahrung wollte er diesmal als Kandidat einer politischen Partei antreten. Im Sommer desselben Jahres bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der Partei Batkiwschtschyna.  

    Dies rief den heftigen Protest einiger Parteimitglieder hervor, darunter von Kateryna Handsjuk. Auf einer Parteiversammlung, auf der über die Aufnahme von Manher in die Partei entschieden wurde, veranstaltete Handsjuk ein regelrechtes Verhör. Außerdem nahm sie die Sitzung auf und gab die Aufnahme später an Nikitenko weiter.  

    Handsjuk befragte da Manher zu seiner Mitgliedschaft in der Partei der Regionen und zu seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von deren Abgeordeneten Shurawko.  

    Manher selbst sagte später vor Gericht, dass er nie Parteimitglied und nur elf Tage Assistent von Shurawko gewesen sei. Dies habe ihm 2013 geholfen, den Leitungsposten der Agrarinspektion in der Region Odesa zu bekommen. Da er Mitarbeiter eines Abgeordneten war, durchlief er ein vereinfachtes Auswahlverfahren. Gleichzeitig betonte er weiterhin, dass er sich an eine solche Befragung nicht erinnern könne und Handsjuk nicht kenne.  

    Manher kandidierte für Batkiwschtschyna, Handsjuk leitete Wahlkampf eines Konkurrenten. 

    Katerynas Vater und ihre Unterstützer betonten jedoch, dass Kateryna und mehrere andere Kollegen ihre Mitgliedschaft im September 2015 eben wegen der Aufnahme Manhers in die Partei beendet oder ausgesetzt hätten.  

    Daraufhin kandidierte Manher als Batkiwschtschyna-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Cherson. Handsjuk leitete den Wahlkampfstab ihres ehemaligen Parteikollegen Wolodymyr Nikolajenko. Dieser kandidierte jedoch als parteiloser Kandidat und erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, jedoch weniger als 50 Prozent, sodass ein zweiter Wahlgang die Entscheidung brachte. 

    Wladyslaw Manher belegte im ersten Wahlgang den dritten Platz, während der zweite Platz an den damaligen Bürgermeister Wolodymyr Saldo ging, der als Kandidat für die Partei Nasch Kraj antrat. Vor dem zweiten Wahlgang zog Saldo seine Kandidatur zurück, sodass am Ende Manher gegen Nikolajenko antrat. Doch die Intrige scheiterte und Nikolajenko gewann die Stichwahl. Manher wurde Mitglied des Regionalparlaments. Die Konfrontation zwischen Handsjuk und Manher blieb bestehen.  

    Nach der Wahlniederlage strebte Manher den Posten des Vorsitzenden des Regionalparlaments an. Handsjuk ihrerseits versuchte, ihn daran zu hindern. Sie schrieb kritische Beiträge über ihn auf Facebook und unterstützte den Journalisten Nikitenko bei investigativen Recherchen, die er unter anderem über Manher in seinem Nachrichtenportal MOST veröffentlichte. Dennoch wählten ihn die Abgeordneten am 27. September 2016 mit einer Mindestzahl an Stimmen zum Parlamentssprecher.  

    Kateryna Handsjuk führte ihre Kritik an Manher fort. Auf ihre Anregung hin veröffentlichte Nikitenko auf dem gemeinsamen YouTube-Kanal MOST einen mehrteiligen Investigativfilm mit dem Titel Es gibt Grenzen über den Kampf lokaler Clans um die Kontrolle der städtischen Wasserversorgers von Cherson.  

    Zu diesem Zeitpunkt hatte sich MOST bereits zu einem ernstzunehmenden Investigativmedium entwickelt. Handsjuk und Nikitenko widmeten den letzten Teil der Reihe ausschließlich dem Parlamentsvorsitzenden Manher. Die Folge Wer sind Sie, Mr. Manher? erschien am 16. Juli 2017. Kateryna Handsjuk, die offiziell Verwaltungsbeamtin war, wird im Abspann nicht erwähnt. 

    Kateryna ließ den Film direkt auf das Parlamentsgebäude projizieren. Darin behauptet Nikitenko, dass Manher den Posten des Vorsitzenden der Regionalversammlung durch politische Korruption erlangt habe und den Abgeordneten im Gegenzug für ihre Zustimmung die Kontrolle über kommunales Land und Unternehmen versprochen habe.  

    Kateryna sagte nach dem Angriff auf Nikitenko, sie sei als Nächste dran 

    Manher gefiel der Film nicht, und er klagte gegen MOST und Nikitenko. Nachdem die Journalisten die ersten beiden Instanzen verloren, entschied im Mai 2018 der Oberste Gerichtshof zu Gunsten der Journalisten und wies Manhers Klage wegen Verleumdung ab. Einen Monat später, am 18. Juni, wurde Nikitenko von Unbekannten überfallen und verprügelt. Handsjuk und er vermuteten Manher hinter dem Angriff. 

    Katerynas Vater Wiktor Handsjuk erinnerte sich vor Gericht daran, dass seine Tochter nach dem Angriff auf Nikitenko sagte, sie sei als Nächste dran.  

    Wladyslaw Manher betonte dagegen vor Gericht, dass er Handsjuks kritische Veröffentlichungen nicht ernst genommen habe. Er habe auch nicht gewusst, dass Kateryna Mitautorin von Nikitenkos Film war. „Das war eine einzige Lüge, deshalb rieten mir die Anwälte dies nicht zu ignorieren und wie zivilisierte Menschen vor Gericht zu ziehen“, betonte Manher vor Gericht und fügte hinzu, dass er nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen habe, der seine Klage zur Prüfung angenommen habe. 

    Im Januar 2020 wandte sich Manhers Anwalt tatsächlich an den EGMR. Doch konnte in keiner öffentlich zugänglichen Quelle eingesehen werden, ob das Gericht Manhers Klage annahm. 

    Manher bestand darauf, dass er nichts mit dem Angriff auf Nikitenko zu tun hatte.  

     

    Der General 

    Bei seiner Anhörung vor Gericht am 13. Februar 2019 präsentierte Wladyslaw Manher gar noch eine alternative Überlegung darüber, wer den Angriff auf Kateryna Handsjuk beauftragt habe. Er beschuldigte den SBU-General Danylo Dozenko für das Verbrechen verantwortlich zu sein.  

    Dozenko war 2017 Leiter der Hauptabteilung des SBU in der Region Cherson, zuvor Leiter des Geheimdienstes für die Krim, aber in Cherson stationiert. Im Jahr 2018 beförderte der Präsident Dozenko in den Rang eines Generalmajors. Zuvor war er als Offizier der Spionageabwehr nach Kyjiw versetzt worden, wo er schließlich die Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit leitete. 

    „Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“ 

    Manher behauptete, dass Kateryna Handsjuk mit dem SBU zusammengearbeitet habe und Dozenko direkt unterstellt gewesen sei. Laut Manher habe der Chersoner SBU-Chef kriminelle Vereinigungen gebildet, die in illegale Abholzung und Erpressung verwickelt gewesen seien. Dies sei der Grund, warum Dozenko in Konflikt mit der Polizei geriet.  

    „Ich glaube, dass Danylo Dozenko den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen hat, um die Polizei zu diskreditieren. Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“, sagte Manher und behauptete, „unwiderlegbare Beweise“ zu haben.  

    Eine SBU-Pressesprecherin bezeichnete die Aussage von Manher als absurd, unbegründet und verleumderisch. Und: „Ich schließe nicht aus, dass sein Ziel darin bestand, die zahlreichen Beweise, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst gegen ihn gesammelt hat, zu diskreditieren, um zu erreichen das der Fall einer anderen Strafverfolgungsbehörde übergeben wird.“ 

    Während des Prozesses erzählte Manher seine Version der Geschichte: Er behauptete, Dozenko habe den Film Wer sind Sie, Mr. Manher? bei dem Journalisten Nikitenko bestellt. Auf Anweisung der Präsidialverwaltung sollte Manher als Mitglied der Oppositionspartei Batkiwschtschyna diskreditiert werden. Deren Vorsitzende Julija Tymoschenko wurde seinerzeit bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen als Hauptkonkurrentin von Petro Poroschenko gehandelt. 

    Manher behauptete, dass er nach der Veröffentlichung des Films den amtierenden Leiter der Agrarinspektion in der Region Odesa kontaktiert habe, der zuvor sein Stellvertreter gewesen sei. Dieser behauptete, er habe ein von Dozenko unterzeichnetes Schreiben erhalten, das Informationen über Strafverfahren gegen Manher abfragte. Da keine bekannt waren, schickte der Leiter der Agrarinspektion lediglich Informationen über Verfahren gegen Mitarbeiter der Inspektion.  

    „Diese Zahlen wurden in Nikitenkos Film so präsentiert, als seien dies Verfahren gegen mich gewesen“, argumentierte Manher vor Gericht. 

    Informationen über alle drei Strafverfahren, die laut Nikitenko während Manhers Tätigkeit bei der Agrarinspektion eröffnet wurden, waren im Register über Gerichtsentscheidungen nicht auffindbar. 

    Kateryna arbeitete als Aktivistin mit dem SBU in der Region Cherson zusammen, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen 

    Katerynas Vater Wiktor Handsjuk bestätigte vor Gericht, dass sowohl er als auch seine Tochter Danylo Dozenko kannten und ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Er erklärte, dass Kateryna als Aktivistin mit dem Leiter des SBU in der Region Cherson zusammengearbeitet habe, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen.  

    Dozenko wurde vor Gericht als Zeuge der Verteidigung vernommen und bestätigte, dass er Kateryna Handsjuk kannte, betonte jedoch, dass er mit ihr ausschließlich über offizielle Angelegenheiten kommuniziert habe. Dabei ging es um kommunale Unternehmen und eine mögliche Finanzhilfe an den SBU durch den Stadtrat.  

    Dozenko schloss nicht aus, dass er eine Anfrage an die Agrarinspektion des Gebiets Odesa bezüglich eines Strafverfahrens gegen Manher gestellt haben könnte, betonte aber, dass er keine Befehle erhalten habe, ihn zu diskreditieren.  

    „Als der Angriff auf Handsjuk stattfand, arbeitete ich bereits in Kyjiw und machte zu jenem Zeitpunkt Urlaub im Ausland“, sagte Dozenko vor Gericht. 

    Er betonte, dass er nicht schuldig sei. Einen Lügendetektortest lehnte er ab, weil er nicht glaube, irgendetwas beweisen zu müssen. 

     

    Das Urteil 

    Der Prozess gegen Lewin und Manher dauerte fast vier Jahre. Nach Russlands vollumfänglicher Invasion im Februar 2022 wurde er zunächst unterbrochen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Kyjiw wurden die Anhörungen fortgesetzt.  

    „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter“ 

    Am 26. Juni 2023 befand die Richterin Julia Iwanina sowohl Wladyslaw Manher als auch Olexii Lewin für schuldig, den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen und organisiert zu haben und verurteilte beide zu je zehn Jahren Gefängnis. 

    Das Gericht gab auch der Zivilklage des Vaters, der Mutter und des Ehemanns von Kateryna Handsjuk gegen Manher und Lewin statt und verurteilte sie zur Zahlung von 15 Millionen Hrywnja [rund 370.000 Euro – dek] an die Angehörigen des Opfers. 

    Das Gericht beschlagnahmte das Eigentum der beiden Angeklagten. Da Manher außerdem gegen die Bedingungen seiner Auflagen verstoßen hatte, zog das Gericht den gesamten Betrag der Kaution zugunsten des Staates ein. 

    Richterin Iwanina ließ Manher und Lewin bis zur Vollstreckung des Urteils in Untersuchungshaft. Das Gericht rechnete Manher und Lewin zwei bzw. zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft an. 

    Aktion zum Gedenken an Kateryna Handsjuk vor dem Präsidialamt in Kyjiw  im April 2020 / ©  Henadii Minchenko / IMAGO / Ukrinform 

    Staatsanwalt Andrii Sinjuk erklärte gegenüber Graty, er sei mit dem Urteil zufrieden. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang statt. „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter. Ihor Pawlowsky, der die Strafermittlungen vereiteln wollte, wurde ebenfalls bestraft“, kommentierte Sinjuk.  

    Wiktor Handsjuk, der Vater der verstorbenen Kateryna, war im Gerichtssaal anwesend, als das Urteil verkündet wurde. Er lehnte es ab, das Urteil zu kommentieren und sagte er fühle nur Leere.  

    Aktivisten von Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? in T-Shirts mit dem Konterfei von Kateryna Handsjuk sowie ihre Freunde und Familie applaudierten nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. 

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    „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Suche nach den Hintermännern 2/3

    Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen bewegen die Strafverfolgungsbehörden dazu, nicht nur die Täter, sondern auch den Organisator und schließlich den Auftraggeber des Verbrechens festzunehmen und vor Gericht zu stellen.  

    Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter, Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025. 

     

    Teil 1: Das Attentat 

    Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern  

    Teil 3: Prozesse und Urteile 

    Gedenkprotest in Kyjiw zum ersten Jahrestag des Attentats auf Kateryna Handsjuk: Aktivisten fordern Antworten auf die Frage: „Wer hat [den Mord an] Katja Handsjuk bestellt?“  / © Olena Khudiakova / IMAGO / Ukrinform 

     

    Der Anstifter 

    Schon am 5. November 2018 – einen Tag, nachdem Kateryna Handsjuk im Kyjiwer Krankenhaus an den Folgen der Säure-Attacke in Cherson gestorben war – erklärten Freunde und Unterstützer des Bündnisses Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?, dass Ihor Pawlowsky, Mitarbeiter des Rada-Abgeordneten Mykola Palamartschuk vom Block Petro Poroschenko, in den Überfall verwickelt sei. Laut Angaben der Aktivisten war er bereits früher straffällig gewesen und unter dem Spitznamen „Hund“ bekannt.  

    Während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch hatte Pawlowsky für den Abgeordneten Jurii Samoilenko von der Partei der Regionen gearbeitet. Einem anderen Politiker der Partei, Olexii Schurawko, half er, nach dem Euromaidan im besetzten Donbas unterzutauchen.  

    Laut Aktivisten habe „Torbins Bande“ die letzten sechs Monate vor dem Angriff für Pawlowsky gearbeitet. Es sei Pawlowsky gewesen, der Torbin als Anführer der Truppe das „Geld für Katjas Ermordung“ gab. 

    Der Generalstaatsanwalt beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse durchzustechen 

    Pawlowsky selbst bestritt jede Beteiligung und betonte, er habe nicht einmal gewusst, wie das Opfer aussah. Sein Vorgesetzter Palamartschuk distanzierte sich von seinem Mitarbeiter und entließ ihn einen Tag nach den Veröffentlichungen der Aktivisten. 

    Generalstaatsanwalt Jurii Luzenko beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse an Medien durchzustechen. Doch vier Tage später, am 10. November, wurde Ihor Pawlowsky dennoch verhaftet. Am 12. November erklärte das Gericht den Verdacht auf Mittäterschaft an einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 115 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.  

    Sechs Monate später stimmte Pawlowsky einem Deal mit den Ermittlern zu. Er verpflichtete sich, „ehrlich und wahrheitsgemäß über die ihm bekannten Umstände des Angriffs auf Handsjuk auszusagen“. Im Gegenzug stufte die Staatsanwaltschaft Pawlowskys Beteiligung von „Mittäterschaft an einem Auftragsmord“ zu „Strafvereitelung“ (Art. 396 Abs. 1 ukr. StGB) herunter. Im April 2019 entließ ihn das Prymorsky-Bezirksgericht von Odesa auf Antrag der Staatsanwaltschaft in den Hausarrest unter der Auflage, eine elektronische Fußfessel zu tragen.  

    Nach Fristablauf des Hausarrests stellte die Staatsanwaltschaft aufgrund von Pawlowskys Gesundheitszustand keinen Antrag auf Verlängerung. Im Juli desselben Jahres übergab die Staatsanwaltschaft den Fall ans Gericht.  

    Die Journalisten behaupteten, Torbin habe im Sommer 2018 130-mal mit Pawlowsky telefoniert 

    Pawlowskys Absprache mit den Ermittlern warf bei den Unterstützern Kateryna Handsjuks die Frage auf, ob dieser wirklich eine so geringe Rolle bei dem Angriff auf die Aktivistin gespielt habe. Im April 2019 veröffentlichten Journalisten von slidstvo.info eine Recherche auf Grundlage der Ermittlungsakten, die unter anderem Pawlowskys Telefonverbindungen in den Tagen vor und nach dem Angriff enthielt.  

    Die Journalisten behaupteten darin, dass Serhii Torbin im Sommer 2018 – vor seiner Verhaftung – 130-mal mit Pawlowsky telefoniert habe. Davon 40-mal nach dem 13. Juli, als Torbin laut Untersuchung den Anschlagsauftrag erhalten hatte. Auch am 18. Juli standen sie in Kontakt – dem Tag, an dem Torbin seine Komplizen nach Cherson brachte, um ihnen Handsjuk zu zeigen. Ebenfalls sprachen sie am 26. Juli, als Torbin und Horbunow die Säure kauften. Als die Polizei am 3. August Nowikow festnahm, telefonierten Torbin und Pawlowsky gar viermal miteinander. 

    Am 31. Juli 2019 schrieben Aktivisten von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ bei Pawlowskys Haus „Hier lebt ein Mörder“ an den Zaun. 

    Ihor Pawlowsky im Januar 2020 auf der Anklagebank im Mordfall Kateryna Handsjuk vor dem Bezirksgericht Pechersky in Kyjiw  / © Pavlo Bagmut / IMAGO / Ukrinform 

    Die Anschuldigung der Aktivisten, dass Pawlowsky Torbin das Geld für den Anschlag gegeben habe, wurden durch die Ermittlungsakten jedoch nicht bestätigt.  

    Erst ein Jahr später, am 1. Oktober 2020, sagte Ihor Pawlowsky vor Gericht aus – und nannte Olexii Lewin, einen Mitarbeiter eines Regionalabgeordneten von Cherson, und Wladyslaw Manher, Vorsitzender des Chersoner Regionalparlaments, als Organisator bzw. Auftraggeber des Anschlags. 

     

    Das Angebot 

    Die Absprache mit den Ermittlern sah vor, dass Serhii Torbin gegen Lewin und Manher aussagte. Nachdem er die beiden zunächst 2019 belastet hatte, bestätigte Torbin erneut im Juni 2022 seine Aussagen. Während des Prozesses gegen Lewin und Manher wurde er als Zeuge der Anklage vor Gericht befragt. 

    Torbin berichtete, dass Lewin ihm damals vorgeschlagen habe, Handsjuk zu überfallen, und ihm dafür eine Anzahlung von 500 Dollar und schließlich die Abschlusszahlung von weiteren 4500 Dollar gab.  

    Torbin und Lewin hatten sich im März 2018 kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich in einem Café, wo sie einander durch einen gemeinsamen Freund und ATO-Veteranen vorgestellt wurden. Anfang Juli 2018 bat Lewin Torbin, mit seinen Mitarbeitern zu einer Kundgebung in der Nähe des Regionalverwaltung von Cherson zu kommen. Laut Lewin würden am 6. Juli „schwere Jungs zusammenkommen und versuchen die Macht zu übernehmen“. Torbin glaubte seinem neuen Bekannten und brachte seine Leute von der Sicherheitsfirma und seiner NGO zur Kundgebung mit. 

    Handsjuk: „Antimaidan“, „Gauner in Uniform“ und ein „Haufen verärgerter Holzfäller“ 

    Am vereinbarten Tag gab es in der Nähe der Regionalverwaltung zwei Kundgebungen, unter den Teilnehmern befanden sich auch ATO-Veteranen. Torbins Leute unterstützten den damaligen Gouverneur Andrii Hordejew sowie den Vorsitzenden des Regionalparlaments Wladyslaw Manher. Die Teilnehmer der Gegenkundgebung forderten indes den Rücktritt von Hordejew, Manher und weiteren Beamten. Unter anderem kritisierten sie das Verbot, privat Holz in den Wäldern zu schlagen. 

    Kateryna Handsjuk kritisierte damals die Regionalverwaltung und ihre Unterstützer. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie, Hordejew und Manher hätten einen „Antimaidan“ versammelt und „Gauner in Uniformen gesteckt, damit sie aussähen wie ATO-Veteranen“. Dazu postete sie ein Foto von Manher am Fenster der Stadtverwaltung: „Der Feigling Manher am Fenster, wie einst Wiktor Pelych von der Partei der Regionen.“ Handsjuk hatte 2014 zu den Organisatoren des Euromaidan in Cherson gehört. 

    Gleichzeitig zeigte Handsjuk kaum Sympathie für die andere Seite der Demonstrationen und nannte sie „einen Haufen verärgerter Holzfäller“. Torbin las den Beitrag auf Facebook.  

    „Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“ 

    Vor Gericht behauptete Torbin dann, Lewin habe ihn gebeten, sich privat und ohne Telefon in der Nähe des Cafés Soloty kljutschyk  [deutsch: Goldschlüsselchen] am Dnipro-Park zu treffen. Zur vereinbarten Zeit kam Torbin zum Café und ließ sein Telefon im Auto liegen. Lewin wartete bereits und bot ihm an, im Park spazieren zu gehen.   

    Lewin erwähnte, dass er einer Person eine Lektion erteilen wolle und begann zu erklären, um wen es sich handelte. Als Torbin Lewins Worten entnahm, dass es um Kateryna Handsjuk ging, schlug dieser ihm vor, sie zu verprügeln, um ihr einen Arm oder ein Bein zu brechen oder sie mit Säure zu übergießen. Er erklärte, es sei notwendig, dass sie arbeitsunfähig werde und ins Krankenhaus komme. Ein Mord stand damals nicht zu Debatte. Torbin fragte Lewin, warum es dies tun wolle.  

    „Lewin sagte, dass sie allen auf die Nerven gehe, auch Mykolajowytsch. Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht daran beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“, erinnert sich Torbin vor Gericht an das Gespräch. Nachdem er sich mit seinen Kameraden beraten habe, habe er am nächsten Tag zugestimmt. 

    Torbin behauptete weiterhin, dass Lewin ihm die Entlohnung für den Angriff genannt habe. Er übergab die Anzahlung, drängte auf Ausführung und zahlte schließlich die Restsumme. Während der gesamten Zeit korrespondierten sie über WhatsApp und trafen sich im besagten Café Soloty kljutschyk.  

     

    Fluchthilfe 

    Torbin bestand vor Gericht darauf, dass Lewin nicht nur den Angriff auf Handsjuk bezahlte, sondern ihm und Wolodymyr Wassjanowytsch auch finanziell aushalf, als sie Cherson verlassen wollten. Ein Treffen der beiden wurde durch Zeugen bestätigt. Vor Gericht machten sowohl Torbin, Wassjanowytsch, Pawlowsky und dessen Fahrer Walerii Odinzow detaillierte Zeugenaussagen dazu. 

    Am 17. August rief Wassjanowytsch Torbin an und bat um ein Treffen. Einige Stunden später kam er nach Cherson und teilte ihm mit, dass Wyschnewsky und Horbunow von der Polizei festgenommen worden seien. Daraufhin beschlossen Wassjanowytsch und Torbin, die Stadt zu verlassen, hatten jedoch weder Geld noch ein Auto. Den Jeep Cherokee, mit dem sie Handsjuk gefolgt waren, hatten sie nach dem Anschlag angezündet.  

    Torbin versuchte erfolglos, Lewin über WhatsApp zu erreichen. Daraufhin bat er Pawlowsky um Hilfe. Am Abend desselben Tages fuhren Torbin und Wassjanowytsch zu Pawlowskys Haus am Stadtrand von Cherson.   

    Dort ging Torbin zum Eingang, während Wassjanowytsch im Taxi wartete. Torbin bat Pawlowskys Frau, die ihn empfing, ihren Mann zu rufen. Als dieser schließlich herauskam, erklärte ihm Torbin, dass er in Schwierigkeiten stecke und dringend Geld brauche, um die Stadt zu verlassen.  

    Pawlowsky war bereit zu helfen. Da er seine Bankkarte bei seinem Fahrer Walerii Odinzow gelassen hatte, warteten sie, bis dieser eintraf. Eine halbe Stunde später kam auch Lewin und gab ihnen 2000 Dollar. 

    August 2018: Die Polizei erwischt Torbin und Wassjanowytsch am Busbahnhof. Lewin flieht nach Bulgarien 

    Pawlowsky und Torbin sagten später aus, dass Lewin Torbin angeboten habe, sich gemeinsam nach Bulgarien abzusetzen, was dieser jedoch ablehnte, da er keinen Reisepass besaß. Anstelle dessen wolle er nach Kyjiw fahren und sich dort verstecken.  

    Torbin fragte Pawlowskys Fahrer, ob dieser ihn und Wassjanowytsch nach Kyjiw bringen könne. Odinzow erklärte jedoch, der Wagen müsse erst repariert werden, sonst würde er es nicht bis Kyjiw schaffen. Letztlich willigte er ein, die beiden zum Busbahnhof zu bringen, von wo aus sie mit dem Bus nach Kyjiw fahren könnten.  

    Am Busbahnhof nahm sie jedoch die Polizei fest.  

    Am nächsten Morgen verließ Lewin Cherson in Richtung Bulgarien. 

    Ihor Pawlowsky und sein Assistent Wassyl Schtscherbinin sagten vor Gericht aus, dass Lewin am Morgen seiner Abreise in Pawlowskys Büro vorbeikam. Lewin berichtete, dass Torbin am Vorabend von den Ermittlern aufgespürt und am Busbahnhof festgenommen worden war. Lewin meinte, bald werde man auch ihn finden, weshalb er die Stadt verlassen müsse.  

     

    Moskal 

    Erst am 4. Dezember 2018 gab der SBU bekannt, dass man Olexii Lewin verdächtigte, den Anschlag auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben zu haben. Noch einmal anderthalb Monate später, am 24. Januar 2019, wurde Lewin in der Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben und dann erst im September desselben Jahres auf die Interpol-Fahndungsliste gesetzt.  

    Erst ein Jahr später, am 24. Januar 2020, nahm die bulgarische Polizei Lewin in der Stadt Burgas fest. Drei Tage später veröffentlichte sie Einzelheiten: Im Jahr 2018 reiste Lewin zu Fuß über den Grenzübergang im Dorf Durankulak nach Bulgarien ein. Er war hier nicht offiziell registriert. Seit der Ausschreibung zur internationalen Fahndung hatte er sein Aussehen verändert und ähnelte nicht mehr dem Foto in der Datenbank. Die Polizei konnte ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren.  

    Im März 2020, zu Beginn der Coronavirus-Pandemie wurde Lewin an die Ukraine ausgeliefert, wo das Gericht seine Festnahme anordnete. Vier Monate später gab die Staatsanwaltschaft den Abschluss ihrer Ermittlungen gegen die Auftraggeber des Anschlags auf Handsjuk bekannt und überwies den Fall am 27. Juli an das Gericht.  

    Lewin lebte nach Gefängnisstrafe unter falschem Namen 

    Die Ermittler fanden heraus, dass Lewin unter falschem Namen lebte. Er hatte ihn 2015 angenommen, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Davor hatte er den Nachnamen Moskalenko geführt und war unter dem Spitznamen Moskal-Junior bekannt.  

    Im Februar 2008 war Moskalenko Junior als Mitglied der Spynda-Bande verhaftet worden: Sechs Jahre später, am 7. Oktober 2014, befand eine Richterin des Korabelny-Bezirksgerichts von Mykolajiw ihn und seinen Vater Olexii Moskalenko Senior sowie sechs weitere Bandenmitglieder für schuldig, mehrere Auftragsmorde begangen zu haben, darunter am Direktor des Schumensky-Marktes in Cherson, Ihor Pantala. Wie sein Vater wanderte Moskalenko Junior für 12 Jahre ins Gefängnis.  

    Knapp ein Jahr später, am 25. Dezember 2015, wurde Olexii Moskalenko jedoch auf der Grundlage des sogenannten Sawtschenko-Gesetzes freigelassen: Das Berufungsgericht der Oblast Mykolajiw rechnete ihm dementsprechend jeden Tag der siebeneinhalb Jahre U-Haft als zwei Hafttage im Gefängnis an.  

    Später vor Gericht gab Lewin an, dass er sich nach seiner Entlassung zunächst um seine Gesundheit gekümmert und Ende 2016 seine Wohnung in Spanien verkauft habe. Mit dem Erlös gründete er dann einen Agrarbetrieb in der Region Cherson und registrierte ihn unter dem Namen „Leviathan“.  

    „Ich hatte 2400 Hektar Land in Bewirtschaftung. Außerdem lebte ich sieben Jahre in Spanien und hatte dort eine Baufirma und zwei Wohnungen, von denen ich eine verkauft habe. Die Wohnung kostete 200.000 Euro. 240.000 Euro habe ich dann investiert und Weizen und Sonnenblumen angebaut“, so Lewin vor Gericht. 

    Anfang 2017 lernte er in einem Fitnessclub Mykola Stawyzky, Abgeordneter im Chersoner Regionalparlament der Radikalen Partei von Oleh Ljashko, kennen. Später bot Stawyzky, der Lewins Vergangenheit kannte, ihm eine Stelle als Mitarbeiter an. 

    Im Juni 2018 meldete sich Mykola Stawyzky zum Dienst in der ukrainischen Armee und überließ Lewin seinen Mercedes.  

    In Bulgarien erzählte Lewin Journalisten seine Version 

    Lewin wollte Torbin kennenlernen, weil dieser in der Stadt als einer der „Cyborgs“ des Donezker Flughafens bekannt war. Er stellte sich Torbin bei Pawlowsky vor, zollte ihm seinen Respekt und bot Unterstützung an. Torbin bat ihn dann von Zeit zu Zeit um Hilfe, als er verschiedene Hilfslieferungen für die ATO vorbereitete.  

    In Bulgarien erzählte Lewin im Herbst 2019 Journalisten von slidstvo.info seine Version der Ereignisse: Damals betonte er, nichts mit dem Angriff auf Handsjuk zu tun zu haben.  

    Lewin bestätigte dabei, dass er einige Tage nach der Kundgebung vor der Chersoner Regionalverwaltung in Pawlowskys Büro war. Der Mitarbeiter des Abgeordneten war dabei gerade dabei, sich mit Torbin und vier anderen Männern zu besprechen. 

    Sie sprachen darüber, was sie mit Kateryna Handsjuk tun sollten, die sie alle nervte. Bei der Kundgebung habe sie die Gegenseite unterstützt, die gegen das Abholzungsverbot protestierte. Zu deren Organisatoren gehörte Olexandr Zehelnyk, ein ATO-Veteran aus Oleschky. Lewin nannte ihn „einen Erzfeind von Pawlowsky“.  Einige der Anwesenden schlugen vor, Handsjuk in eine Mülltonne zu werfen, aber dies sei schwierig zu bewerkstelligen. 

    „Ich meinte, wir sollten sie mit Seljonka übergießen. Denn so würden doch oft Beamte bei Kundgebungen mit grüner Farbe begossen“, sagte Lewin gegenüber den Reportern. 

    Doch diese Idee habe keine Unterstützung gefunden, stattdessen habe die Runde beschlossen, Handsjuk mit einem Eimer Fäkalien vor ihrem Büro zu übergießen und anschließend Fotos davon zu machen.  

    Lewin behauptete, dass er am Tag des Angriffs auf der Arbeit war und mit keinem der Angeklagten kommuniziert habe. Dass Handsjuk nicht mit Fäkalien, sondern mit Säure übergossen wurde, erfuhr er erst aus den Nachrichten. Lewin behauptete, Torbin habe ihn gebeten, ihn nach Kyjiw zu bringen, was er jedoch ablehnte, da er selbst Cherson am nächsten Morgen verlassen müsse.  

    „Wir sollten sie mit Seljonka übergießen“ 

    Als Torbin ihn um Geld bat, habe Lewin eingewilligt und ihm 1000 Dollar gegeben. Lewin bestand darauf, dass weder Pawlowsky noch Torbin gesagt hätten, warum sie nach Kyjiw wollten. Er habe Torbin einfach als Freund geholfen, der offenbar in Schwierigkeiten steckte.  

    Außerdem beharrte er darauf, dass die Reise nach Bulgarien zur Behandlung von gesundheitlichen Problemen zusammen mit seiner Frau seit langem geplant gewesen sei und sie damals bereits auf gepackten Koffern gesessen hätten. Mykola Stawyzky bestätigte vor Gericht, dass Lewin bereits im Mai eine geplante Auslandsreise erwähnt habe, ohne jedoch den genauen Zeitpunkt zu nennen.  

    Während der Anhörung vor Gericht bestritt Lewin die Aussage Torbins, er habe den Anschlag auf Handsjuk angeordnet und ihm zunächst eine Anzahlung und danach den Rest des Geldes gegeben, nachdem Kateryna mit Säure übergossen wurde. 

    Lewin bestritt nicht, dass er Torbin gelegentlich mit Geld, Waren und manchmal Tankgutscheinen ausgeholfen habe, bestand aber darauf, dass er hiermit nur dessen ehrenamtliche Projekte unterstützte. Des Weiteren betonte er, dass er und Torbin über WhatsApp nie das Café Soloty kljutschyk erwähnt hätten.   

    Das Gericht konnten den Inhalt der Konversation zwischen Lewin und Torbin über WhatsApp nicht ermitteln.  

     

    Kaution 

    In einem Interview mit ihrer Anwältin Jewhenija Sakrewska sagte Kateryna Handsjuk, sie wisse nicht, wer den Angriff auf sie in Auftrag gegeben habe. Doch sie habe keine Zweifel daran, dass es einen Auftraggeber gab. Handsjuk nannte zehn Personen, die aus ihrer Sicht infrage kämen und hob zwei von ihnen hervor: den stellvertretenden Leiter der Regionalverwaltung von Cherson, Jewhen Ryschtschuk, und den Vorsitzenden des Regionalparlaments, Wladyslaw Manher.  

    „Sie verfügen über bestimmte Kontakte, die so etwas organisieren können: Olexii Lewin, ein Mitarbeiter von Manher, ist einer von ihnen“, sagte Handsjuk damals und fügte hinzu, dass sie einen grundsätzlichen Konflikt mit Ryschtschuk und Manher habe.  

    In einem Interview mit Kateryna für den slidstvo.info-Investigativfilm Handsjuk. Ein System-Mord nannte die Aktivistin noch einen weiteren möglichen Auftraggeber: den Chef der Regionalverwaltung, Andrii Hordejew. 

    „Eine Verbindung von Ryschtschuk und Hordejew mit dem Angriff auf Handsjuk konnten wir jedoch nicht feststellen“, sagte Staatsanwalt Andrii Synjuk gegenüber Graty

    Die Ermittler nannten schließlich Wladyslaw Manher als Anstifter des Anschlags auf Handsjuk. Am 11. Februar 2019 erklärten sie dem Vorsitzenden des Regionalparlaments von Cherson ihren Verdacht auf Anstiftung zu einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 27, Absatz 3 und Artikel 115, Absätze 4, 6, 11, 12, Teil 2 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.  

    Wladyslaw Manher im Februar 2019 vor Gericht in Kyjiw, weil er den Säure-Anschlag auf Kateryna Handsjuk beauftragt haben soll.  / © Zuma / IMAGO / Ukrinform 

     

    Die Staatsanwaltschaft hielt Manher für den Auftraggeber des Mordes an Handsjuk und Lewin und Pawlowsky für seine Mittäter. Der Wortlaut des Verdachts implizierte, dass Manher das Geld für den Angriff bezahlte habe, während Lewin und Pawlowsky die unmittelbaren Täter – Torbin und seine Komplizen – ausfindig machten und bezahlten.  

    Vier Tage später, am 15. Februar 2019, erließ das Petschersky-Bezirksgericht Kyjiw Haftbefehl gegen Manher. Doch gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 2.497.000 Hrywnja [umgerechnet damals etwa 80.620 Euro – dek], welche sein Anwalt noch am selben Tag anwies, wurde Manher aus der Untersuchungshaft entlassen.  

    Im April desselben Jahres stufte die Staatsanwaltschaft den Verdacht gegen ihn zurück und beschuldigte ihn anstatt des Mordes nur noch der Anstiftung zur schweren Körperverletzung (Art. 121 Abs. 2 ukr. StGB). 

    Die Anwälte des Parlamentsvorsitzenden beantragten infolgedessen eine 17-fache Reduzierung der Kaution. Im November 2019 gab das Kyjiwer Schewtschenko-Bezirksgericht dem Antrag teilweise statt und reduzierte die Kaution auf 1.152.000 Hrywnja [26.550 Euro – dek]. 

    Wladyslaw Manher blieb bis zum 19. Juni 2020 auf freiem Fuß. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Ermittlungen des Angriffs auf Handsjuk abgeschlossen, sodass ihm und Lewin Akteneinsicht gewährt wurde. Die Anklage gegen Ihor Pawlowsky war bereits in Strafvereitelung geändert worden. 

    Ausweitung der Ermittlungen wegen neuer Umstände: Manher wird im Krankenhaus festgenommen 

    Am 11. Juni 2020 aber wandte sich die Staatsanwaltschaft unerwartet an das Gericht und beantragte eine Ausweitung der Ermittlungen aufgrund neuer Umstände. Außerdem beantragte die Staatsanwaltschaft abermals Manher zu verhaften. Staatsanwalt Andrii Synjuk begründete diesen Schritt damit, der Verdächtige versuche, Druck auf Zeugen auszuüben und sie zu zwingen, ihre Aussagen zu widerrufen oder zu ändern.  

    Doch statt vor Gericht zu erscheinen, begab sich Manher auf die Intensivstation der Kardiologie-Abteilung des Chersoner Regionalkrankenhauses. Richterin Tetjana Iljewa vom Pertschersky-Bezirksgericht in Kyjiw veranlasste dennoch Manhers Festnahme. 

    Das Gericht entschied in nichtöffentlicher Sitzung über die Vorwürfe gegen Manher. Die Staatsanwaltschaft gab keine Auskunft darüber, wem genau der Parlamentsvorsitzende gedroht habe. Manher selbst bestritt, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. 

    Fortsetzung folgt:

    Wie das Gericht letztlich zu seinen Urteilen über Olexii Lewin und Wladyslaw Manher kommt, berichtet Teil 3 von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile – ab 27. Februar 2025  

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