„We Should Say It. Russia Is Fascist“, schreibt Timothy Snyder in der New York Times vom 19. Mai 2022. Die Stimme des US-amerikanischen Historikers und Yale-Professors gilt weltweit als gewichtig und so sorgt seine These für kontroverse Diskussionen, vor allem auch unter russischen Intellektuellen.
Dabei ist die Frage, ob der Putinismus faschistisch ist, alles andere als neu: Zahlreiche Wissenschaftler wiesen schon in den 2000er Jahren darauf hin, welchen Einfluss russische Rechtsextreme wie etwa Alexander Dugin auf den russischen Präsidenten nehmen. Für viele Beobachter gehörten auch Vergleiche zwischen Russland unter Putin und der Weimarer Republik oder dem „Versailles-Komplex“ der Deutschen nach 1918 (Gerd Koenen) zu gängigen analytischen Mitteln. Wegen seiner chauvinistischen und revanchistischen Rhetorik wurde Wladimir Putin schon in den 2000er Jahren mit Hitler verglichen, im Internet etablierte sich der Begriff Putler – auch wenn damals wohl kaum einer eine russische Invasion in die Ukraine für möglich hielt.
Sind solche Vergleiche überhaupt zulässig und falls ja – auch nützlich? Ergeben sie in wissenschaftlicher Sicht einen Sinn? Können sie gar den öffentlichen Diskurs bereichern? Verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt? dekoder bringt russische Stimmen aus der Debatte.
Golossow/Facebook: Wissenschaft vs. Journalismus
Der russische Politikwissenschaftler Grigori Golossow hält nicht viel von Snyders Thesen. Auf Facebook argumentiert er, dass sie unwissenschaftlich seien:
[bilingbox]Der Begriff des Faschismus lässt sich beschreiben, indem man seine allgemeinen Merkmale herausgreift und sie anderen Regimen zuschreibt: meistens dem deutschen Nationalsozialismus, manchmal den Regimen in Spanien und Portugal noch nach 1945, seltener einzelnen lateinamerikanischen Diktaturen. Je weiter man den Kreis dieser Regime fasst, desto verwaschener sind die allgemeinen Merkmale und desto unbrauchbarer ist der Begriff. Viel zweckdienlicher für eine Beschreibung des russischen Regimes finde ich den Begriff der personalisierten Diktatur. Damit wird einerseits die theoretische Verbindung zwischen dem russischen und etwa dem Mussolini-Regime betont, andererseits ermöglicht er es, weiterzugehen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die ja recht offensichtlich sind, zu diskutieren. Das ist der wissenschaftliche Weg. Der publizistische Weg dagegen besteht darin, das Phänomen zuerst einmal als Faschismus zu identifizieren und dann eine mehr oder weniger (normalerweise weniger) stringente Definition des Faschismus zu formulieren, die das rechtfertigt. Darauf basieren dann eine emotionale Wertung und entsprechende praktische Schlüsse. Das Ergebnis ist dann eine spannende und unterhaltsame Lektüre, wie man sie eben gern in der Zeitung liest.~~~Сформулировать понятие о фашизме можно, выделив его общие характеристики и приписав эти характеристики каким-то другим режимам: обычно германскому национал-социалистическому, иногда – испанскому и португальскому режимам, пережившим 1945 г., реже – некоторым латиноамериканским диктатурам. Чем шире круг таких режимов, тем более размытыми становятся общие характеристики, и тем менее полезно понятие. Действительно полезным общим понятием для описания российского режима я нахожу следующее: персоналистская диктатура. Выделив таким образом теоретическую связь между российским режимом и, скажем, тем же режимом Муссолини, можно пойти дальше и обсуждать как их общие черты, так и различия, которые довольно очевидны. Это научный путь. Публицистический путь – в том, чтобы исходно идентифицировать феномен как фашизм, затем более или менее (обычно менее) явно сформулировать такое определение фашизма, которое эту идентификацию оправдывало бы, и на этой основе стороить эмоциональные оценки и практические выводы. Получается интересное, увлекательное чтение, как и положено в газете.[/bilingbox]
Judin/Re:Russia: Nicht einfach ein „autoritäres Regime“
Im Gegensatz zu Golossow zog der russische Soziologe Grigori Judin bereits kurz nach dem 24. Februar Vergleiche zwischen Russland und Hitlerdeutschland: „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“, so Judin in einem Interview Anfang März 2022. Auf dem neu gegründeten unabhängigen Portal Re:Russia stützt er in einem Debattenbeitrag nochmals seine Argumentation.
[bilingbox]Der Vorteil, das russische Regime als faschistisch zu charakterisieren, besteht darin, dass dadurch die richtigen Erwartungen erzeugt werden. Das ist kein „autoritäres Regime“, wie wir es aus politikwissenschaftlichen Büchern kennen, es wird sich nicht mit so und so hoher Wahrscheinlichkeit an der Macht halten, verändern oder „demokratisieren“. Das ist eine faschistische Bewegung, die von imperialistischen Impulsen angetrieben wird und den Staat auf den totalen Krieg vorbereitet. Es wird nicht Halt machen, bis es ganz Europa unterworfen oder eine absolute Niederlage erlitten hat.~~~Главная аналитическая выгода от характеристики российского режима как фашистского состоит в том, что это позволяет сформировать правильные ожидания. Это не «авторитарный режим» из политологических книжек, он не будет «с вероятностью Х%» сохраняться, изменяться или «демократизироваться». Это фашистское движение, движимое империалистическими импульсами и настроившее государство на тотальную войну. Оно не остановится до тех пор, пока не подчинит себе всю Европу либо не потерпит абсолютное поражение.[/bilingbox]
Ja, aber … – so in etwa kommentiert der russische Historiker Alexander Etkind Snyders These.
[bilingbox]Besonders große Zweifel habe ich nicht, dass Timothy Snyder mit seiner Behauptung, Russland sei ein faschistischer Staat, recht hat. Aber es gibt auch Unterschiede:
Nazideutschland betrieb Revisionismus, Russland betreibt Revanchismus (bisher stellt es keinen Anspruch auf anderes Territorium als jenes, das ihm seiner Meinung nach früher gehört hat).
Deutschland brauchte natürliche Ressourcen, Russland weiß gar nicht, wohin mit seinen Bodenschätzen.
Deutschland begann mit einem Genozid an der eigenen Bevölkerung, Russland mordet das Volk eines anderen Staates (na gut, wahrscheinlich zählt die russische Regierung mit ihrem revanchistischen Weltbild die Ukraine zum eigenen Territorium).
Deutschland hatte mächtige Verbündete, die es nachahmte und auf die es zählte. Das heutige Russland hat seinen Faschismus allein erfunden. […]
In Deutschland und auch früher schon in Italien förderte der Faschismus (genauso wie der Stalinismus) soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Der Putinismus hat diese Wege längst abgeschnitten und sieht das nicht als Problem.
Der Faschismus erschien in den ersten Jahren seines Erfolgs (vor Pearl Harbor und dem Hitler-Stalin-Pakt) so manchem als progressive Kraft. Der Putinismus ist mittlerweile schon allen verhasst.
So sieht also unser Faschismus aus.~~~особых сомнений в правоте Timothy Snyder, что Россия стала фашистским государством, у меня нет. но есть и различия.
нацистская Германия была ревизионистской силой, Россия реваншистская сила (она пока не претендует на другие территории кроме тех что считает что ей раньше принадлежали).
Германия нуждалась в природных ресурсах, России некуда деть свои ресурсы.
Германия начала с геноцида собственного населения, Россия занимается геноцидом в другом государстве (ну ок, может ее правители в реваншистском духе считает Украину своей территорией).
Германия имела могущественных союзников, им подражала и на них рассчитывала. Нынешняя Россия сама изобрела свой фашизм.
Германия рассчитывала на века военного и политического господства. У нынешней России месяцы.
И в Германии, и еще раньше в Италии фашизм открыл пути вертикальной мобильности (как это сделал и сталинизм). Путинизм их давно закрыл, и проблемы в этом не видит.
Фашизм в первые года своего успеха (до Пирл Харбора, до Молотова Риббентропа) кому то казался прогрессивной силой. Путинизм стал ненавистен всем.
Zahlreiche Analysten haben in vergangenen Jahren den Putinismus als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. Das Fehlen einer stringenten Ideologie ist vor diesem Hintergrund auch für den russischen Historiker Ivan Kurilla ein Grund, nicht vom faschistischen Charakter des Systems Putin zu sprechen.
[bilingbox]Die wichtigsten Unterschiede des heutigen Autoritarismus liegen meiner Meinung nach im hohen Entwicklungsstand der Informationsgesellschaft und in der Existenz von Kernwaffen (sowie im Wissen um die katastrophalen Auswirkungen ihrer Anwendung). Während im „klassischen“ Faschismus Informationen nur über einen, vom Regime kontrollierten Kanal verbreitet wurden, ist der heutige Autoritarismus im Internetzeitalter vielstimmig, und der Staat sät Zynismus und Misstrauen gegen jedes Weltbild. Die militärische Aggression der Mitte des 20. Jahrhunderts fußte auf dem Vertrauen der Führer auf ihre militärisch-ökonomische Überlegenheit über die vereinten gegnerischen Kräfte. Heute wird die „Unbesiegbarkeit“ vor allem durch den Besitz von Kernwaffen sichergestellt. Diese Garantie senkte entgegen aller Erwartung die Hemmschwelle, einen Krieg zu beginnen.
Schlussendlich sehen wir, dass der Krieg nicht unter dem Banner einer neuen Ideologie begonnen hat, sondern unter Verwendung einer Sprache aus der Mitte des letzten Jahrhunderts als ideologischer Eklektizismus. Versuche, mit dem Buchstaben Z oder einer weißen Armbinde neue Symbole einzuführen, fanden keine massenhafte Unterstützung, weswegen wir eine ungehemmte, spontane Rückkehr zur sowjetischen Symbolik beobachten – rote Fahnen und Lenin-Denkmäler. Die moderne russische Symbolik ist jedoch mit keiner „großen Idee“ verbunden, in deren Namen man gegen die Nachbarn in den Krieg ziehen könnte.~~~Главными отличиями нынешнего варианта авторитаризма являются, по моему мнению, развитое информационное общество и наличие ядерного оружия (и осознание катастрофичности его применения). Если в «классическом» фашизме информация передавалась единым потоком, который контролировался режимом, то в сегодняшнем авторитаризме «времен интернета» поддерживается многоголосица, а государством насаждается цинизм — неверие ни в одну картину мира. Если военная агрессия середины XX века опиралась на уверенность лидеров в собственном военно-экономическом превосходстве над объединенными силами противников, то теперь основной гарантией «непобедимости» является обладание ядерным оружием. Эта гарантия неожиданным образом снизила порог начала войны.
Наконец, мы видим, что война началась не под флагом новой идеологии, а с использованием языка середины прошлого века в ситуации идейной эклектики. Попытки предложить новую символику в виде буквы Z или белой нарукавной повязки не нашли массовой поддержки, в результате чего мы наблюдаем стихийное возвращение советской символики — красные флаги и памятники Ленину. Но современная российская символика не связана с «большой идеей», и за нее нельзя идти воевать против соседей.[/bilingbox]
Die französische Politikwissenschaftlerin Marlene Laruelle fragt auf Re:Russia, inwiefern das russische System tatsächlich als faschistisch gelten kann, wenn man – gemäß des britischen Historikers und Faschismusforschers Roger Griffin – Faschismus als eine Ideologie definiert, die eine nationale Wiedergeburt (Palingenese) durch Krieg propagiert und verherrlicht.
[bilingbox]Gegen die Verwendung des Begriffs Faschismus im heutigen Russland spricht vor allem, dass jegliche gesellschaftliche Mobilisierung fehlt, die das Projekt einer „nationalen Wiedergeburt durch Krieg“ unterstützen würde. Das russische Regime verschleiert den Krieg vielmehr und droht sogar jenen, die die „militärische Spezialoperation“ als Krieg bezeichnen, mit fünfzehn Jahren Freiheitsentzug. Weder wird der Krieg öffentlich verherrlicht, noch werden Narrative entwickelt, bei denen Gewalt als Mittel zur nationalen Wiedergeburt gepriesen wird. Eine großangelegte Mobilisierung von Männern und Wehrpflichtigen soll vermieden werden. ~~~Главным элементом, который делает сегодняшнюю Россию не подходящей под определение «фашистской», является для меня полное отсутствие общественной мобилизации в поддержку проекта возрождения нации через войну. Российский режим скрывает войну и даже грозит пятнадцатью годами тюремного заключения тем, кто называет «специальную военную операцию» войной. Он никоим образом не превозносит войну публично и не развивает нарративы прославления насилия как способа возрождения нации.[/bilingbox]
Die Repressionen in Belarus gehen ungebremst weiter: Journalisten, Aktivisten und normale Bürger werden weiterhin festgenommen, auch immer noch für ihre Teilnahme an den Protesten im Zuge des 9. August 2020. Auch das Unternehmen tut.by Media, einst das größte Nachrichtenportal des Landes, wurde von einem Gericht als „extremistische Vereinigung“ eingestuft. Wie schon in den Jahren zuvor gerät die dissidente Kultur wieder einmal ins Blickfeld der Silowiki. Mitte Mai wurde die Buchhandlung Knihauka des Januschkewitsch-Verlages in Minsk durchsucht, der Verleger Andrej Januschkewitsch festgenommen und zu zehn Tagen Haft verurteilt. Am Tag der Eröffnung hatte sich die staatliche Propaganda auf den neuen Buchladen eingeschossen. Ljudmila Gladkaja von der Staatszeitung SB. Belarus segodnja und andere Propagandisten waren zur Eröffnung erschienen. Sie beklagte vor laufender Kamera, dass die Behörden die Eröffnung der Buchhandlung überhaupt erlaubt hätten: „Wenn sich 2020 wiederholt, werdet ihr euch fragen, wie das nur passieren konnte.“
Auch der Roman Die Hunde Europas des Schriftstellers Alhierd Bacharevič wurde als „extremistisch“ und staatsfeindlich eingestuft. Bacharevičs Bücher werden von Januschkewitsch verlegt. Erst kürzlich tauchte zudem eine Liste im Internet auf, die vom Kulturrat in Belarus stammen sollte. Darauf die Namen von 33 Autoren und Autorinnen – darunter die von Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, von Schriftsteller Viktor Martinowitsch oder dem Philosophen Valentin Akudowitsch. Deren Bücher, so die mutmaßliche Anweisung der Behörden, sollten aus den Schulbibliotheken landesweit verbannt werden.
Machthaber Alexander Lukaschenko ist in vielerlei Hinsicht ein Sowjetnostalgiker, gerade hinsichtlich seiner Vorstellung einer eingehegten Kultur, die dem Staat dienen soll, und eines Bildungs- und Erziehungssystems, das loyale Diener für den autoritären Staat hervorbringen soll. Entsprechend gibt es an den Bildungseinrichtungen des Landes sogenannte Ideologie-Beamte, die dafür sorgen, dass sich keine nonkonformistischen und kritischen Haltungen unter Schülern und Studenten breit machen. Außerdem existiert die staatliche Jugendorganisation BRSM, deren Mitglieder an Paraden und anderen Propagandaaktivitäten mitwirken und Vergünstigungen für das Studium erhalten.
In mehreren Artikeln beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit Lukaschenkos Wunsch, das Bildungssystem nach seinen Vorstellungen umzubauen. „Die traurige Ironie besteht darin”, schreibt er in einem Beitrag, „dass das Regime gegenwärtig Bereiche wahrer nationaler Kultur zerstört, die Geschichte aus Gründen politischer Opportunität einseitig interpretiert, die staatliche Souveränität zunehmend bedroht und die Menschen ihrer wahren Staatsbürgerschaft und ihres nationalen Geistes beraubt. Sie wollen die Menschen zu gehorsamen Robotern machen.”
Wie realistisch aber ist Lukaschenkos Plan eines gleichgeschalteten Bildungssystems, das ausschließlich ergebene Bürger hervorbringt? Damit setzt sich Klaskowski in einer Analyse für das Online-Portal Naviny auseinander.
Lukaschenkos Treffen mit Pionier-Aktivisten am 20. Mai war gewissermaßen ein rituelles und von PR-Überlegungen diktiert: Es sollte der hundertste Jahrestag der Pionierbewegung begangen werden. Zudem war es ein günstiger Moment, den menschlichen Führer zu spielen, den Freund der Kinder. Lukaschenko äußerte sich dabei zu programmatischen Dingen, die ihn tatsächlich bewegen.
Lukaschenko ist wegen der Loyalität der jungen Generation offensichtlich beunruhigt. Der friedliche Aufstand von 2020, bei dem viele junge Menschen in den Kolonnen mit den weiß-rot-weißen Flaggen marschierten, hat bei Lukaschenko Eindruck hinterlassen.
Ein Versuch, die kommunistische Matrix einzusetzen
Bei dem Treffen mit den Pionieren erklärte Lukaschenko, dass es „an der Zeit ist, mit dem Ausbau der Arbeit der Pionierorganisation und unserer gesamten Jugendorganisation ernst zu machen. Das größte Manko besteht darin, dass die Pioniere und die Pionierorganisation nur schwach an die Jugendorganisation, den BRSM [den Belarussischen Republiks-Jugendverband – dek], angebunden sind, und dass die BRSMler nicht besonders an eurem [dem Prionierleben – dek] Leben interessiert sind. Bei uns galt eisern: Die Komsomolzen sind der ältere Bruder. Die organisieren und nehmen einen an die Hand. Das heißt: Aus den Pionieren erwächst eine neue Generation von Jugendlichen“.
Im Grunde träumt Lukaschenko mit seiner unweigerlichen Nostalgie nach der „lichten Vergangenheit“ davon, ein System wiederaufleben zu lassen, das „Sowjetmenschen großzieht“, und das in kommunistischer Zeit damit schon im Kindergarten begann: Portraits von Großvater Lenin, Verse über den Feiertag des Großen Oktober, das Rote Banner usw. Erst wurde man bei den Oktjabrjata aufgenommen, dann bei den Pionieren, beim Komsomol und schließlich wurden die mit dem stärksten Bewusstsein Parteimitglieder. Es war ein Fließband intensiver Indoktrination.
Doch in der UdSSR basierte das alles auf einer ausgefeilten Ideologie, die in den Köpfen mitunter durchaus Wirkung zeigte. Der Sieg über Hitlerdeutschland, der erste Satellit im All, der Flug von Juri Gagarin, das alles hat viele geradezu beflügelt und dazu gebracht, an die „fortschrittlichste aller Gesellschaftsordnungen“ zu glauben.
Allerdings hat auch diese Ideologie den Realitätstest nicht bestanden, als das System vor sich hin rottete und bei den Massen keinen Enthusiasmus mehr entfachte. Viele wurden nur deshalb Komsomolzen, um auf die Hochschule zu gelangen, Karriere zu machen oder einfach um nicht als schwarzes Schaf dazustehen. In der Endphase der Sowjetunion traten die Leute massenweise (und oft demonstrativ) aus dem Komsomol und der KPdSU aus. Abschließend ein handfestes Beispiel wie aus dem Lehrbuch: Von den Dutzenden Millionen Kommunisten und Komsomolzen ist keiner aus Protest auf die Straße gegangen, als durch das Belowescher Abkommen im Dezember 1991 das Ende der UdSSR besiegelt wurde. Als das System ein moralisches Fiasko erlebte und sich vollkommen selbst diskreditiert hatte, fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.
Noch etwas ist zu beachten: Lukaschenko will nicht einmal eine eigene Partei gründen, um seine eifernden Anhänger zu formieren. Zu sehr hat er das System auf sich zugeschnitten. In dieser Hinsicht waren selbst die Kommunisten flexibler.
Halt die Füße still und sei gehorsam – das ist die ganze Ideologie
Lukaschenkos Gegner haben ihn 2020 mit einem Meme zum Thema 3 Prozent Rückhalt gedisst, was ihn sehr geärgert hat. Und mittlerweile sprechen die Oppositionsführer oft in einem vereinfachten Paradigma vom „Volk gegen Regime“. In Wirklichkeit ist das Stimmungsbild in der Gesellschaft natürlich sehr viel komplexer. Unabhängigen Meinungsforschungsinstituten zufolge besteht die Anhängerschaft Lukaschenkos ungefähr aus 20 bis 30 Prozent der Wahlberechtigten. Doch dürften dieser Bevölkerungsschicht nur wenige leidenschaftliche Anhänger zu finden sein, die zu Opfern bereit wären.
Die Menschen sind aus verschiedenen Gründen also der Ansicht, dass Veränderungen schlimmer wären als die gegenwärtige Lage der Dinge. Doch bei der massenweisen Indoktrinierung, bei der Erziehung von „wahrhaften Patrioten“, wie es die Führung gern nennt, gibt es große Probleme.
Lukaschenko verfügt aus Prinzip über keine Ideologie, was er mehrfach öffentlich zugegeben hat. Daher wird der Bevölkerungsmasse eine primitive Loyalität aufgenötigt: Halt die Füße still, halt den Mund und tu, was man dir sagt.
Diese Loyalität kann jedoch zutiefst vorgetäuscht sein, und insgeheim oft mit der Faust in der Hosentasche. Lukaschenko scheint das selbst zu spüren. Bei einem weiteren Personalkarussell am 13. Mai sprach Lukaschenko über die Stimmung in der Gesellschaft und betonte, dass es „genug Menschen gibt, die nicht einfach nur etwas anderes denken (denken ist ja nicht verboten), sondern auf den geeigneten Moment warten“. Wohlgemerkt: Es geht um den Moment eines Regimewechsels.
Im August 2020, als das Regime wankte, haben sich die regimefreundlichen Organisationen nicht sonderlich ins Zeug gelegt. Lukaschenko hat rückblickend mehrfach geklagt, dass viele Funktionäre sich seinerzeit „in Mauselöchern verkrochen“ hätten.
Für die Masse der Durchschnittsbürger ist die Mitgliedschaft in Organisationen wie dem Gewerkschaftsbund oder dem Jugendverband BRSM reine Formsache. Damit es keine Scherereien oder Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten gibt. Die Hoffnung, dass diese „Säulen der Zivilgesellschaft“, als die Lukaschenko sie hinzustellen versucht, ihm in einer schweren Stunde Rückhalt bieten, ist illusorisch.
Ein Informationsmonopol lässt sich nicht mehr durchsetzen
Bei dem Treffen mit den Pionieren versprach Lukaschenko eine Geschichtsstunde für Schüler und Studierende im Minsker Museum des Großen Vaterländischen Krieges. Außerdem „befürwortete [er] die Aktivitäten von Pionieren und jungen Menschen zur Wahrung der historischen Erinnerung, unter anderem an die Heldentaten des Volkes und einzelner Helden in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“. Und er unterstützte die Initiative zur Schaffung der Fernsehsendung „Erinnerung des Herzens“.
Mit dem Kult um den Großen Vaterländischen Krieg versucht die belarussische Führung offensichtlich, das Fehlen einer in sich geschlossenen ideologischen Doktrin zu kompensieren. Bezeichnend ist, dass versucht wird, den Begriff „Zweiter Weltkrieg“ zu vermeiden. Sonst würden ja Dinge wie die sowjetisch-hitlerdeutsche Parade 1939 in Brest hochkommen, was sich nicht mit der offiziellen manichäisch elitären Mythologie vertragen würde.
Die belarussische Regierung kopiert hier in vielem Russland. Der Unterschied ist jedoch, dass sich dort die Instrumentalisierung des Themas Großer Vaterländischer Krieg und Sieg stark mit dem in der Gesellschaft weit verbreiteten imperialen Denken und den gekränkten Großmachtambitionen verbindet (wir wurden erniedrigt, aber wir „können es wiederholen“). Die Belarussen haben eine andere Mentalität. Hier lautet das Leitmotiv: „Nie wieder!“
Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das staatliche Geschwätz der belarussischen Führung über den vergangenen Krieg („wir haben für unsere Friedfertigkeit büßen müssen“ usw.) besonders unglaubwürdig geworden: Schließlich haben wir de facto den Überfall auf ein Nachbarland mit den revanchistischen Parolen des Kreml unterstützt! Die Dienst-Rhetorik zur historischen Erinnerung (die einseitig und unbefriedigend interpretiert wird) wird für Lukaschenko kaum die doktrinäre Leere füllen oder zu einem starken Mobilisierungsfaktor werden können.
Es ist sogar so, dass das derzeitige Regime gar keine echte politische Mobilisierung oder ein wahrhaftiges bürgerliches Engagement benötigt; mehr noch: Diese wären für das Regime gefährlich. Also wird sich in der Praxis banale Unterwürfigkeit breit machen.
Einen aufrichtigen Glauben an die Vorteile der im Land geschaffenen Ordnung (der zu gewissen Zeiten vielen Sowjetbürgern hinter dem eisernen Vorhang eigen war) wird die belarussische Regierung ihrer Gesellschaft nicht aufnötigen können. Unter anderem, weil es selbst mit immer heftigeren Verboten (die irrwitzig angewachsene Liste „extremistischer Materialien“, die Sperrung nicht genehmer Internetseiten usw.) heute unmöglich ist, ein Informationsmonopol herzustellen. Besonders, wenn es um junge Menschen geht, die permanent an ihren Geräten hängen (worüber sich Lukaschenko ebenfalls beklagte).
Durch die Totalitarisierung des Staates können andere junge Köpfe zweifellos verkrüppelt werden. Doch insgesamt ist die Hoffnung der hohen Führung, der heranwachsenden Generation massenhaft das Hirn zu waschen und sie für das Regime gefügig zu machen, zum Scheitern verurteilt
Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt. Zahlreiche russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Schon seit geraumer Zeit stellt die Staatspropaganda Russland als eine „belagerte Festung“ dar: Die ausländischen Feinde hätten auch im Inneren ihre „Agenten“, sie alle zusammen wollen Russland genauso in die Knie zwingen wie schon in den 1990er Jahren, so die Verschwörungserzählung.
Für viele Wissenschaftler bildet diese Erzählung die zentrale Legitimitätsbasis des Systems Putin: Da das Realeinkommen schon seit 2014 sinkt und der sogenannte Krim-Konsens auch an seine Grenzen stößt, bleibe dem Regime nur noch das Feindschema übrig, um sich nach innen zu legitimieren. Um dies fortzuerhalten, müsse der Kreml das Land in einem dauerhaften Ausnahmezustand halten – ein anderer zentraler Begriff aus der politischen Theorie von Carl Schmitt.
In einem kurzen Beitrag auf Facebook beschreibt der Journalist Maxim Trudoljubow die Funktionsweise dieses Ausnahmezustands – und warum er ein integraler Bestandteil des Systems Putin ist.
Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.
Er hat mit einem Krieg angefangen (damals in Tschetschenien), und er wird mit einem Krieg aufhören. Wann immer sich der von ihm geschaffene Ausnahmezustand und die Kriegserregung legten und das Leben verdächtig ruhig wurde, verlor er an Unterstützung und zettelte einen neuen Krieg an. Sobald seine Kriege weniger Blut und Leid forderten, setzte er zu einer neuen Runde an. Tschetschenien, Georgien, Ukraine, Syrien, Ukraine.
Putins gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand
In Friedenszeiten konnte er der Gesellschaft nichts geben. Nicht einen einzigen Tag hat er während seiner Regierungszeit den De-facto-Ausnahmezustand ausgesetzt, der für einzelne Bevölkerungsgruppen und Gebiete immer wieder in einen De-facto-Kriegszustand überging.
Putin muss keinen Krieg erklären oder den Ausnahmezustand verhängen, denn seine gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand. Er hat jederzeit Zugang zu sämtlichen Instrumenten der Gewalt, zu sämtlichen administrativen und finanziellen Ressourcen. Er kann Kriege beginnen und Kriege stoppen. Er kann Heilung bringen (indem er während des Direkten Drahts über medizinische Hilfe entscheidet). Er kann aus dem Nichts Dinge erschaffen: ein Haus, eine Brücke, eine Straße dort, wo es vorher keine gab und wo es beim normalen Lauf der Dinge – das heißt, wenn die Gesetze befolgt würden – auch keine geben könnte.
Paradoxerweise würde die Ausrufung des Kriegsrechts oder des Ausnahmezustandes in Russland dem Präsidenten nicht die Hände lösen (die sind sie ihm sowieso nicht gebunden) oder die Verantwortung von ihm nehmen (die liegt sowieso nicht bei ihm, sondern bei sterblichen Beamten), sondern ihm im Gegenteil mehr Verantwortung geben. Er müsste auf die Frage antworten: „Wie, ging es bei diesem ganzen Krieg also nur um Sewerodonezk?“ Er müsste verborgene Möglichkeiten demonstrieren und Ressourcen auffahren, die es nicht gibt. Dieser Krieg legt die geringe Größe und die begrenzten Möglichkeiten des russischen Staates bloß, der in normalen Zeiten größer wirken will, als er ist, indem er die Backen aufbläst. Aber das zuzugeben, käme für Putin dem Tode gleich.
Mal begrenzte Operation, mal Weltkrieg
Dieser unausgesprochene Putinsche Dauer-Ausnahmezustand hilft ihm zu manövrieren. Es wäre für ihn von Nachteil, das als Krieg zu betrachten, weil eine „Spezialoperation“ es ihm erlaubt, die Ziele laufend zu ändern – mal von einer „Entnazifizierung“ der ganzen Ukraine zu sprechen, dann wieder von der Rettung der Bevölkerung im Donbass. Doch wann immer es ihm nützt, gibt er zu verstehen, dass es doch ein Krieg ist, nämlich ein Krieg gegen den gesamten NATO-Block, wie seine Propagandisten stellvertretend für ihn sagen. Auf diesen Krieg kann man alles schieben, er ermöglicht Geheimhaltung, erlaubt es, Ausgaben zu verbergen, Diebstähle, Fehler und sogar die Zahl der Toten zu verschweigen, Vorwürfe wegen wirtschaftlicher Probleme abzuwehren – „das ist alles der Feind!“. Deshalb ist es mal eine begrenzte Operation, mal ein Weltkrieg. Je nach medialer Situation.
Putin wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann
Er wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann. Sobald dieser Krieg vorbei ist – auf die eine oder andere Weise –, geht auch Putin zugrunde. Möge mit ihm nur auch der permanente Krieg zugrunde gehen.
Belarus und seine Bevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg immens gelitten: unter der Nazi-Besatzung zwischen 1941 und 1944, dem Holocaust, der Vernichtungspolitik und der sogenannten Partisanenbekämpfung sowie unter den Schlachten selbst. Insgesamt gab es auf dem Territorium der damaligen BSSR mehr als zwei Millionen Opfer. Ein Gesetz, das der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Anfang 2022 unterschrieben hat, stellt die Leugnung des „Völkermordes am belarussischen Volk“ nun unter Strafe – es drohen bis zu fünf Jahre Haft, bei Wiederholung bis zu zehn. „Die Umsetzung des Gesetzes wird dazu beitragen“, verlautbarte die staatliche Nachrichtenagentur Belta, „dass die Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr verfälscht werden und der Zusammenhalt der belarussischen Gesellschaft gewahrt bleibt.“
Was hat es mit dem Vorhaben auf sich? Schon im Vorfeld ist um das umstrittene Gesetz unter Historikern eine Debatte entbrannt. Was wird überhaupt unter dem „belarussischen Volk“ verstanden? Ist dieses weitreichende Gesetz selbst ein Versuch, Geschichte zu verfälschen? Geht es um echte Aufarbeitung oder darum, Geschichte zu instrumentalisieren und abweichende Meinungen im Keim zu unterdrücken?
Diese und andere Fragen beantwortet der belarussische Historiker Alexander Friedman in einem Bystro.
1. Am 5. Januar 2022 hat Alexander Lukaschenko das Gesetz „Über den Völkermord am belarussischen Volk“ unterzeichnet. Worum geht es darin genau?
In diesem Gesetz wird die offizielle Sicht der belarussischen Führung auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auf dem Territorium von Belarus formuliert. Damit wurde politisch beschlossen, diese Verbrechen zum „Genozid am belarussischen Volk“ zu erklären. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von langer Hand vorbereitet und kam nicht überraschend. Der Zweite Weltkrieg ist sowohl in Putins Russland als auch in Lukaschenkos Belarus ein historisches Schlüsselthema und wird seit Langem für politische, ideologische und propagandistische Zwecke instrumentalisiert. In der aktuellen Situation – nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime im Jahr 2020 und mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine – dient es dazu, die Bevölkerung in der Konfrontation mit den USA und der EU um die Diktatoren zu scharen. Das Gesetz hat repressiven Charakter und zwingt der Gesellschaft ein Narrativ auf, das seit der Sowjetzeit bekannt ist und jetzt an die Bedürfnisse der Lukaschenko-Diktatur angepasst wurde, als verzerrtes Schwarz-Weiß-Bild der Welt: hier das „Gute“ – die UdSSR und ihr geistiges Erbe in Gestalt der Russisch-Belarussischen Union –, dort das „Böse“ – die Nazis und der „kollektive Westen“ als ihr geistiges Erbe. Im Großen Vaterländischen Krieg, so heißt es, hat das Böse versucht, das Gute zu vernichten und im 21. Jahrhundert wiederholt sich nun die Geschichte.
2. Was wird im Gesetz unter der Bezeichnung „belarussisches Volk“ verstanden?
Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hat das Lukaschenko-Regime drei Formulierungen verwendet: Genozid „am belarussischen Volk“, „am Volk von Belarus“ und sogar: „an den Völkern von Belarus“. Die beiden letzten, neutraleren Versionen sind verworfen worden, weil beschlossen wurde, den Akzent auf das „belarussische Volk“ zu legen und praktisch die gesamte Bevölkerung der Vorkriegs-BSSR, die in ethnischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht sehr vielfältig war, darin aufgehen zu lassen. Dieser Begriff wird den verschiedenen Opfergruppen, die es gab, auch sonst nicht gerecht: den ermordeten Juden im Holocaust und den Getöteten in der Zivilbevölkerung, den Gefallenen an der Front oder den Opfern aus dem Feldzug der Nazis gegen die Partisanenbewegung, um nur einige zu nennen. Das Gesetz wurde ganz bewusst so gestaltet, um der Bevölkerung von Belarus das Verständnis des Begriffs zu erleichtern und dem „Genozid am belarussischen Volk“ durch eine höhere Opferzahl mehr Gewicht zu verleihen. Der Begriff „Genozid“ allein reicht Lukaschenko und seinem Umfeld nicht aus. Er braucht maximale Verlustzahlen, um die belarussische Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zu beeindrucken. Auch den Entschädigungsforderungen, die voraussichtlich an Deutschland auf Grundlage des neuen Gesetzes gestellt werden, soll dieser Begriff zusätzliches Gewicht verleihen.
3. Auf welchen Zeitraum zielen das Gesetz und somit das Verständnis der Begriffswahl „am belarussischen Volk“ denn genau ab?
Das Gesetz bezieht sich auf den Zeitraum von 1941 bis 1951. Sowjetische Verbrechen im westlichen Belarus werden dabei aus ideologischen Gründen ausgeklammert. Außerdem wird die Nachkriegszeit bewusst einbezogen, um die damaligen polnisch-belarussischen Konflikte zum Thema zu machen. Schließlich gehört Polen in den Propaganda-Narrativen des Regimes heute zu den westlichen Staaten, die 2020 der offiziellen Erzählung nach über die Proteste einen Putsch gegen das Lukaschenko-Regime initiieren wollten. In dem Gesetz werden alle Bürger der Sowjetunion, die sich im genannten Zeitraum auf dem Territorium von Belarus aufgehalten haben, zum „belarussischen Volk“ gezählt und dabei nivelliert, darunter auch Juden und Roma und auch Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken. Im November 2021 hat Lukaschenko in einem Interview mit der BBC erklärt, Belarussen und Juden hätten während des Krieges das größte Leid erfahren. Aus seinen Worten geht klar hervor, dass er jüdische Menschen nicht als Teil des belarussischen Volkes ansieht; er zieht bewusst eine Grenze zwischen den Juden in Belarus und den Belarussen. Das Widersprüchliche daran: Das hindert ihn nicht, die jüdischen Opfer zu Opfern des „Genozids am belarussischen Volk“ zu erklären. Das Lukaschenko-Regime braucht zur Rechtfertigung die größte Zahl an Opfern, die irgend denkbar ist.
4. In Bezug auf den Holocaust wird also die sowjetische Tradition der Legendenerzählung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ übernommen?
Der Einfluss der sowjetischen Tradition ist ganz offensichtlich. Die belarussische Führung war es seit jeher gewohnt, jüdische Menschen als solche weder zu erwähnen noch wahrzunehmen und verfolgt im Wesentlichen weiterhin diesen Kurs. Zu Sowjetzeiten wurde die Herkunft der jüdischen Opfer vertuscht, indem sie als „(friedliche) sowjetische Bürger“ bezeichnet wurden. Jetzt werden sie zum „belarussischen Volk“ erklärt. In der sowjetischen Erinnerungskultur kam der Holocaust nur am Rand vor. Und in der postsowjetischen Zeit galt er in Belarus als „jüdisches“ Thema. Die jüdischen Opfer galten als „unsere“, aber ihr Schicksal wurde als Tragödie der „anderen“ betrachtet. Nun hat man sich der jüdischen Opfer „erinnert“ – aber nicht mit Blick auf ihre Herkunft, sondern um sie im „belarussischen Volk“ aufgehen zu lassen. Auf die Juden als solche besinnt sich das Lukaschenko-Regime nur, wenn es Israel oder den USA Avancen machen will. Die Verschwörungstheoretiker in den herrschenden Kreisen von Belarus glauben offenbar, dass die (westliche) Welt von Juden beherrscht werde und sie dieser vermeintlichen „Tatsache“ Rechnung tragen müssten.
5. Ist diese Form des Antisemitismus ein fester Bestandteil in der Propaganda Lukaschenkos?
In Belarus ist die Meinung verbreitet, es gebe dort praktisch keinen Antisemitismus und dass es ihn auch nie gegeben habe. Das stimmt natürlich nicht. Die Geschichte des Antisemitismus in Belarus ist noch sehr wenig erforscht. Und obwohl es nur noch wenige Juden im Land gibt, scheut die staatliche Propaganda nicht vor Antisemitismus zurück. Er taucht auf, sobald oppositionelle Journalisten und Intellektuelle oder ukrainische und westliche Politiker mit jüdischen Wurzeln das Regime attackieren. Dabei ist der Einfluss antisemitischer Narrative aus Russland in Belarus ziemlich stark zu spüren. Lukaschenko selbst hat keine Hemmungen, sich – offen oder verdeckt – antisemitisch zu äußern. Ein Beispiel dafür: Als Wolodymyr Selensky Russlands Angriff auf die Ukraine mit dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR verglich, sagte Lukaschenko, der ukrainische Präsident, „der seiner Nationalität nach Jude ist“, solle sich bei diesem Thema „bedeckt halten und schweigen“ und behauptete, Belarussen seien bei der Verteidigung von Juden in der Ukraine und in Belarus gefallen. Für Lukaschenko ist Selensky also in erster Linie ein „Jude“, der nicht das Recht hat, über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und den Belarussen noch dankbar dafür sein muss, dass sie sein Volk vor dem Genozid der Nazis gerettet hätten.
6. Es gab seit 2020 auch zahlreiche Repressionen gegen Historiker und Wissenschaftler. Steht dieses Vorgehen im Zusammenhang mit diesem Gesetz?
Das Lukaschenko-Regime braucht eigentlich keine speziellen Gesetze, um Historiker und Wissenschaftler zu verfolgen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz wird allerdings tatsächlich ein neuer Straftatbestand geschaffen: die öffentliche Leugnung des „Genozids am belarussischen Volk“. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. Es kann und wird höchstwahrscheinlich sowohl gegen Wissenschaftler als auch gegen den Normalbürger verwendet werden. Man darf sich da nichts vormachen. Es gab schließlich auch schon Anklagen wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“, wie beispielsweise gegen den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut von der polnischen Gazeta Wyborcza, der sich seit April 2021 in Haft befindet.
7. Wie reagiert die im Land verbliebene Wissenschaft auf das Gesetz?
Als über das Gesetz beraten wurde, gab es tatsächlich Diskussionen, allerdings außerhalb von Belarus. Schon vorher hatten es Historiker – besonders die, die sich mit Stalins Verbrechen und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befassten –, in der Ära Lukaschenko schwer und waren immer Repressionen ausgesetzt. Jetzt bleiben den Experten für Kriegsgeschichte, die sich noch in Belarus befinden, im Grunde noch vier Optionen: Sie können sich den neuen Begriff zu eigen machen und propagieren, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus; sie können ihren Forschungsschwerpunkt auf weniger brisante Themen verlagern; sie können ihren Beruf aufgeben oder das Land verlassen. Offene Kritik an dem aufgezwungenen Begriff kann schwerwiegende Folgen bis hin zu Gefängnisstrafen nach sich ziehen.
8. Mit dem Gesetz geht es also alles andere als um Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen?
Die Erforschung und Aufarbeitung der Kriegsereignisse – einschließlich eines so schwierigen Themas wie der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den NS-Verbrechen gegen die Juden – kann das Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein, die Wesen, Ausmaß, Ursachen und Folgen der Gräueltaten begreifen möchte. Eine solche Gesellschaft will historische Erfahrungen nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Das diktatorische Regime Lukaschenkos hat dieses Anliegen nicht und kann es auch gar nicht haben. Auf offizieller Ebene behandelt man die Geschichte in Belarus lieber nach dem Grundsatz „Geschichte ist in die Vergangenheit gekippte Politik“, es geht um die angesprochene Instrumentalisierung. Und in dieser Hinsicht nutzt Lukaschenko Geschichte auch, um seinen Machterhalt zu sichern. Das neue Gesetz dient dazu, Dissens schon im Ansatz zu verhindern, die eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit durchzusetzen und damit die Position des Regimes zu festigen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Weiterleitung zum Dossier … Falls die automatische Weiterleitung nicht funktioniert, bitte hier klicken.
Russland führt seit fast drei Monaten Krieg im Nachbarland. Der russische Angriffskrieg konzentriert sich dabei mittlerweile vornehmlich im Südosten des Landes: Kämpfe um Großstädte wie Charkiw, Cherson, Kramatorsk und Mariupol halten an. Doch wie sind die Angriffe bisher verlaufen? Wie konnte der Vormarsch auf Kiew verhindert werden? Warum hat Russland Anfang April die Strategie geändert? Wie groß ist die Gefahr eines Nuklearschlags – auch angesichts von Waffenlieferungen? Und: Was können wir eigentlich im Moment über die Kämpfe wissen, über die unterschiedlichen kursierenden Opferzahlen oder über die genauen Geländegewinne der russischen Armee?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ#4: Kriegsverlauf in der Ukraine: Was wir wissen – und was nicht
KRIEG EINER ATOMMACHT: Kräfteverteilung und (nukleare) Gefahren
1. Russland ist eine Atommacht mit einer schlagkräftigen Armee. Hat die Ukraine auf Dauer überhaupt eine Chance?
Die Ukraine hat eine Chance in diesem Krieg, sofern der Westen weiter Waffen liefert. Andernfalls kommt es zu einer russischen Übermacht. Blickt man auf den Beginn des Krieges, so hat die numerische Anzahl der Kräfte am 24. Februar 2022 – gemessen an Truppen und Soldaten auf beiden Seiten – allerdings noch wenig ausgesagt. Sprich: Zahlenmäßig gab es von Beginn an eine russische Überlegenheit, aber sie war letztlich nicht so groß, wie es ursprünglich erschien.
Dazu drei konkrete Punkte:
Erstens: Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn mobil gemacht und Reservisten einberufen. Russland dagegen konnte dies nicht tun, da sich das Land der offiziellen Lesart nach nicht im Krieg befindet, sondern eine „militärische Spezialoperation“ führt. Alles andere käme der russischen Gesellschaft gegenüber einem Eingeständnis gleich und würde die eigene Propaganda torpedieren.
Zweitens: Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben. So konnten sie noch Waffen an die Truppen ausgeben, die erst kurz vor Kriegsbeginn an die Ukraine geliefert worden waren. Außerdem gelang es dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, einen kontinuierlichen Nachschub an Lenk- und vor allem Panzerabwehrwaffen aus dem Ausland aufzustellen.
Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben
Drittens: Die russische Führung plante einen „Blitzkrieg“. Daher ließ sie beim Einmarsch lediglich einen Teil der ukrainischen Flugabwehrsysteme zerstören, hatte also keine Lufthoheit und hat sie bis heute nicht. Trotzdem schickte der russische Präsident Wladimir Putin sofort Bodentruppen ins Land. Damit setzte er die eigenen Leute bei den Kampfhandlungen, die nun viel länger dauern als geplant, den Angriffen der Ukrainer aus der Luft aus. Als die Offensive schon zu Beginn ins Stocken kam, war auch Nachschub mit Treibstoff und Munition schlecht organisiert.
Diese Kriegszielplanung erklärt sich aus völliger Unkenntnis der ukrainischen Gesellschaft: Auf der russischen Seite gab und gibt es mehrere irrige Annahmen. Russland ist zum Beispiel ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass die ukrainischen Soldaten für Präsident Wolodymyr Selensky nicht sterben wollen, sondern putschen oder überlaufen würden. Denn Selensky hatte vor dem Krieg sehr schlechte Zustimmungswerte1. Doch das geschah nicht, schon gar nicht nach acht Jahren Donbass-Krieg mit Russland als beteiligter Konfliktpartei.
Die eigentliche Chance für die Ukraine besteht darin, die Kosten für die russische Seite in die Höhe zu schrauben und die Geländegewinne so zu begrenzen, dass es Moskau als bessere Option erscheint, aufzugeben und zu Verhandlungen überzugehen als den Krieg fortzusetzen. Das wäre am Ende dieses Krieges eine realistische Option. Aber da sind wir noch nicht.
2. Welche Waffen gehen an die Ukraine – und warum?
Die Ukraine kann kaum noch selbst Waffen herstellen, auch keine Munition. Das kann nur durch Lieferungen aus dem Ausland kompensiert werden. Zwar hat die Ukraine früher viele Waffensysteme selbst produziert, doch all diese Hersteller sind durch die russische Luftwaffe zerstört worden. Unterstützt wird die Ukraine, indem etwa Panzerabwehrlenkwaffen, Kurzstrecken-Panzerabwehrwaffen (zum Beispiel Panzerfäuste) und Fliegerabwehrsysteme mittlerer Reichweite, wie BUK und S-300, geliefert werden. Außerdem Munition, Schutzausrüstung und Feuerwaffen.
Bisher wird in der Politik, wenn es um Waffenlieferungen geht, sehr kurzfristig agiert. Häufig wird das geliefert, was gerade gebraucht wird, mit Fokus auf Waffen sowjetischer Bauart und was an Lagerbeständen in Europa dazu verfügbar ist. Dazu gehört der Kampfpanzer T-72. Der Grund: Diese Waffensysteme sind den ukrainischen Streitkräften vertraut, sodass sie sofort eingesetzt werden können. Beim T-72 hat außerdem Polen zum Beispiel die Möglichkeit, Ersatzteile herzustellen.
Die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart sind in Europa begrenzt und gehen zur Neige
Darüber hinaus sind die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart in Europa begrenzt und gehen zur Neige. Sie wurden früher nur wenig gekauft, und es gibt keine Produktionsstätten dafür. Das betrifft zum Beispiel das Flug-Raketenabwehrsystem S-300. Und das sind gerade die Systeme, mit denen auch die russischen Marschflugkörper und Bomber im ukrainischen Luftraum abgeschossen werden können.
Diese Knappheit können auf Dauer nur westliche Waffensysteme kompensieren. Diese in die Ukraine einzuführen, ist jedoch ein sehr komplexer Vorgang. Es kann Monate dauern, bis die Truppen geschult sind, um diese Systeme bedienen zu können. Das hat damit zu tun, dass sich westliche Systeme von den Systemen sowjetischer Bauart grundlegend unterscheiden. Sie sind anders programmiert und sprechen elektronisch andere Sprachen. Das wäre so, als hätte man Microsoft, Apple oder Linux vor sich. Sprich: Bis die Ukraine neu gelieferte Waffensysteme, die nicht sowjetischer Bauart sind, verwenden kann, vergehen vielleicht drei Monate. In diesem Kontext sind auch die Erwägungen der Bundesregierung zu sehen, ukrainische Soldaten in Deutschland an solchen Systemen auszubilden2.
3. Bedeutet die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine völkerrechtlich gesehen einen Kriegseintritt?
Nein, völkerrechtlich führen Waffenlieferungen grundsätzlich nicht dazu, dass die Bundesrepublik Kriegspartei wird3. Die Russische Föderation dürfte Deutschland deswegen nicht rechtmäßig angreifen – das wäre völkerrechtswidrig.
Der Grund: Waffenlieferungen wie auch die Ausbildung ukrainischer Streitkräfte – zum Beispiel an Bundeswehr-Standorten in Deutschland – stellen lediglich eine Unterstützung der Ukraine im Rahmen ihrer individuellen Selbstverteidigung gegen die Russische Föderation dar. Rechtlich betrachtet handelt es sich dabei um das bloße Zur-Verfügung-Stellen von Waffen (und die Einweisung an diesen), ohne dass dabei konkrete Instruktionen für einen spezifischen Angriff gegeben werden. Damit ist dieser Eingriff noch zu niedrigschwellig, um eine ausreichende Einflussnahme auf das Kampfgeschehen und damit einen Kriegsbeitritt darzustellen. Im Gegensatz dazu könnte man überlegen, ob das Weiterleiten konkreter Positionsangaben – zum Beispiel von Generälen, die anschließend angegriffen werden – diese Schwelle überschreitet und damit einen Eingriff in den Krieg als Konfliktpartei darstellt. Denn da ist der Grad der Einflussnahme deutlich höher. Im Ergebnis muss jede solcher Unterstützungshandlungen als Einzelfall abgewogen werden.
Sobald deutsche Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine mitkämpfen, würde dies rechtlich betrachtet einen Kriegsbeitritt Deutschlands darstellen.
Allerdings kann sich Putin so oder so durch solche Schritte provoziert „fühlen“. Mit anderen Worten: Ob Putin sein Handeln davon abhängig macht, ist keine völkerrechtliche, sondern eine politisch-strategische Frage, auf die wir de facto nur begrenzt Einfluss haben. Denn er stützt sich nicht auf das Völkerrecht, wie seine Invasion ins Nachbarland von Beginn an demonstriert.
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
4. Ist die Gefahr eines Atomkriegs real?
Grundsätzlich besteht in einem Krieg mit Beteiligung von Atommächten eine latente Gefahr, dass Nuklearwaffen auch eingesetzt werden können. Doch selbst wenn man denjenigen argumentativ folgen würde, die Wladimir Putin als „durchgeknallt“ bezeichnen: Dass Russland die USA mit strategischen Kernwaffen angreifen wird, um in der Ukraine zu siegen, dürfte unwahrscheinlich sein. Diese Angst vor einem Atomkrieg treibt seit Wochen die halbe Welt um. Jedoch galt die Erhöhung der Alarmstufe, die Putin in den ersten Kriegswochen befahl, offenkundig „lediglich“ den strategischen Angriffskräften.
Das bedeutet: Die erhöhte Alarmstufe soll für eine größere Aufmerksamkeit sorgen. Putin ist noch nicht zu einer Strategie des sogenannten nuclear brinkmanship übergegangen, wenngleich die ausgelöste Alarmstufe ein subtiler Schritt in diese Richtung war. Zumal der Einsatz von taktischen Kernwaffen keinen Sinn in einem Land macht, in dem in großer Zahl eigene Truppen stehen.
Die Staaten des Westens könnten bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt
Für John Erath, Senior Policy Director des Center for Arms Control and Non-Proliferation in Washington, ist klar, dass Putin weiß, dass „die Antwort für alle katastrophal wäre“. Sprich: Solange er, Putin, sich bewusst sei, dass ein Einsatz von Atomwaffen seinerseits auch einen für ihn vernichtenden Atomschlag beinhaltet, ist davon auszugehen, dass es sich um nukleare Erpressung handelt.
Diskutiert wird immer wieder, inwiefern die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als Auslöser für einen Atomkrieg gelten könnte. Tatsächlich ist es so, dass die Staaten des Westens bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden könnten – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt. Aktuell muss man davon ausgehen, dass das russische Militär ein westliches Eingreifen in der Ukraine (und sei es nur zum Zweck der Herstellung einer stabilen Friedenszone in der Westukraine) eher fürchtet, weil die russische Führung kaum Optionen hat, in einer Weise zu eskalieren, die russischen Zwecken dienen könnte.
5. Wie war die Kriegsstrategie der russischen Armee in der ersten Phase des Krieges?
Putins ursprünglicher Plan beruhte auf einer „Blitzkrieg“-Strategie: Der großflächige Angriff am 24. Februar 2022 erfolgte um 5 Uhr morgens, also zu einer Zeit, als die geringste Aufmerksamkeit bestand. In weniger als einer Stunde startete die russische Armee mehrere Luftangriffe auf Ziele in der gesamten Ukraine und Truppen drangen gleichzeitig über vier Achsen ins Land ein. Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – der offensichtlich das erste militärstrategische Ziel war.
Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – offensichtlich das erste militärstrategische Ziel
Dabei zeichnete sich bereits früh ab, dass die russischen Kräfte, die in die Ukraine vordrangen, gar nicht ausreichen würden, um das Land zu besetzen. In der Folge rückten sie nur langsam vor. Angriffe der ukrainischen Armee und eigene militärstrategische Fehler der russischen Armeeführung brachten erhebliche Verluste. Teilweise hatten die Truppen auch Kontakt zu ihren Kommandostellen verloren.
Das Vorgehen gegen Städte und Großstädte wurde während dieser ersten Kriegsphase mit jeder Woche brutaler, mit Angriffen, bei denen wahllos in Wohnviertel und gezielt auf Krankenhäuser und Geburtskliniken geschossen wurde. Städte wurden eingekesselt und von Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Wenn es überhaupt Einigungen auf Fluchtkorridore gibt, haben diese oft keinen Bestand, etwa weil fliehende Zivilisten mit ihren Autos dort doch beschossen werden. Hinzu kommt ein Vorgehen der russischen Armee, das bereits aus früheren Kriegen in Syrien und Tschetschenien bekannt ist: Sobald es gelingt, Frauen, Kinder und ältere Menschen über einen solchen Korridor rauszubringen, beginnt danach erst recht die Bombardierung der Stadt durch russische Artillerie.
6. Wie hat Russland den Frontverlauf Anfang April geändert – und warum?
Der Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew und der Versuch, Präsident Selensky gewaltsam zu stürzen – ein zentrales Ziel der ersten Kriegsphase – wurde abgebrochen, weil das offensichtlich gescheitert war. Die russische Führung begann daher, die Truppen aus diesem Gebiet ab- und im Südosten der Ukraine zusammenzuziehen. Bis Mitte April zeigte sich die strategische Änderung auf dem Schlachtfeld deutlich. Seither gibt es nicht mehr vier, sondern zwei zentrale Fronten.
Erstens: die Donbass-Front, wo die russische Armee versucht, das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Zweitens: die Krim-Front im Süden, den Russland ebenfalls einzunehmen beabsichtigt.4 Die damit deklarierten Ziele: eine Landverbindung zur Krim zu schaffen und die Ukraine vollends von den Häfen abzuschneiden. Umkämpfte Städte im Süden – Mykolajew, Melitopol, Cherson und Odessa – liegen zudem alle auf dem Weg zum angrenzenden Transnistrien. Damit wächst die Bedrohung für die Republik Moldau.
Besonders hart umkämpft von Beginn an: Mariupol, das bereits wochenlang eingekesselt war. Die ukrainische Armee konnte ihre Verteidigungslinie nur fern der Hafenstadt, etwa 120 Kilometer weit weg, halten. Sie hatte nicht genügend Waffen, um für eine Befreiung vorzustoßen. Die humanitäre Situation wurde entsprechend immer kritischer. Der Sprecher des Roten Kreuzes bezeichnete die Lage schon im März als „apokalyptisch“5. Es wird von vielen tausend toten Zivilisten ausgegangen.
Den letzten Verteidigern Mariupols gingen im April zunehmend Munition und Lebensmittel aus: Seit Mitte des Monats hielten sie sich im weitläufigen Gelände des Stahlwerks Asowstal verschanzt, unterschiedlichen Angaben zufolge suchten dort zwischenzeitlich bis zu 2000 Zivilisten Schutz. Anfang Mai begann die russische Armee, das Werk zu stürmen. Die ukrainische Armee hielt der russischen Belagerung und den ständigen Raketenbeschüssen in Mariupol trotzdem lange stand. Damit waren über Wochen russische Truppen gebunden beziehungsweise abgenutzt worden. Doch in dieser Schlacht ist davon auszugehen, dass die Stadt (vorerst) an Russland fällt.
Das, was als russisch besetzt beschrieben wird, [steht] nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle. (…) Die meisten Karten überschätzen den Umfang der eingenommenen Gebiete
Allerdings kommt die Offensive der russischen Truppen nicht überall so voran, wie es mitunter scheint. Beispiel Odessa: Die Stadt war zwar Ziel von russischen Angriffen mit Marschflugkörpern, die Treibstofflager, Militäreinrichtungen aber auch Wohnviertel trafen. Doch der Vormarsch stockt. Vor dem Hafen befinden sich im gebührenden Abstand Landungsschiffe der russischen Marine, die einen Angriff starten könnten und weitere Kriegsschiffe, die den Zugang zum Hafen blockieren. Für einen Angriff vom Wasser aus wurde die russische Schwarzmeerflotte allerdings stark geschwächt, weil die ukrainische Armee das Flaggschiff Moskwa versenkte.
Auch ist schwierig, abzusehen, wie groß die eingenommene Landfläche durch die russische Armee genau ist. Ein Mittel zur Darstellung sind Landkarten, die russische Geländegewinne und -verluste, Angriffsrichtungen und auch die Position von Formationen zeigen. Die zahlreichen Karten, die es gibt, stimmen aber nicht immer überein. Das bedeutet, dass das, was als russisch besetzt beschrieben wird, nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle steht. Da sich schwere und nicht manövrierfähige russische Kolonnen nur auf den großen Straßen bewegen können, bleiben viele Siedlungen und Gebiete, die sich fernab dieser Hauptstraßen befinden, unberührt und somit nicht besetzt. Die meisten Karten überschätzen daher den Umfang der eingenommenen Gebiete.
7. Wenn Russland den Osten einnehmen sollte: Ist der Krieg dann zuende?
Nein, es würde lediglich ein vorübergehendes Ende der Kampfhandlungen bedeuten, nicht aber ein Ende des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Idee, die speziell in der deutschen Öffentlichkeit viel diskutiert wird, man würde die russische Führung damit zufriedenstellen, ihr die Ostukraine zu überlassen, greift zu kurz.
Die Krux: Zum einen würde die Ukraine damit zum Objekt gemacht und über sie bestimmt. Zum anderen würde dies wenig Früchte tragen, da der Konflikt in erster Linie eingefroren, jedoch nicht gelöst wäre. Es würde zu einem Waffenstillstand kommen, jedoch nicht zu einer umfassenden Verhandlungslösung – schon gar nicht mit wirksamen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Im Gegenteil: Es muss befürchtet werden, dass dies – vor allem solange sich russische Truppen auf ukrainischem Territorium befinden – nur das Vorspiel für einen späteren erneuten Angriffskrieg Russlands wäre. Dieser könnte sich auch gegen weitere Nachbarstaaten richten.
Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere Volksrepubliken entstehen lässt
Schauen wir uns das im Detail an: Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere sogenannte Volksrepubliken entstehen lässt, ebenso im Süden des Landes – je nachdem, wie viel Territorium Russland unter seine Kontrolle bringen konnte. Diese neu entstandenen Volksrepubliken würden möglicherweise später im Wege von arrangierten „Volksabstimmungen“ annektiert.
Das bisherige militärstrategische Vorgehen Russlands legt nahe, dass ein Waffenstillstand von seiten Moskaus unter zwei Bedingungen wahrscheinlich wäre: Erstens, sobald die russische Führung glaubt, unter den derzeitigen Bedingungen im Osten und Süden der Ukraine genügend Territorium unter seine Kontrolle gebracht zu haben. Zweitens, wenn weitergehende militärische Vorstöße erst einmal aussichtslos erscheinen. Die Frage ist, wann dieser Punkt erreicht ist.
Dieses Volksrepubliken-Szenario würde bedeuten, dass die Ukraine in einer unmöglichen und zerrissenen Situation verbleibt, die das Land auf Dauer zerstört, teilt, territorial verstümmelt, und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten stoppt. Und die Gefahr eines erneuten Angriffskrieg bleibt bestehen.
8. Welche Rolle spielen russische Wehrpflichtige in diesem Krieg?
Zu Beginn des Krieges behauptete die russische Führung, Wehrpflichtige seien am Krieg nicht beteiligt. Doch es zeigte sich schnell6, dass das nicht stimmt. Genaue Zahlen – auch für den späteren Verlauf der Kriegshandlungen – fehlen dazu. Doch die Praxis, Wehrpflichtige einzusetzen, ist bereits aus den Tschetschenien-Kriegen sowie dem Russisch-Georgischen Krieg bekannt. Zurückzuführen ist das auf die Struktur der russischen Armee, die sich trotz zahlreicher Reformbemühungen des vergangenen Jahrzehnts im Kern weiter auf zwei Säulen stützt: auf Wehrpflichtige und Reservisten. Sprich: Dort, wo eine konzentrierte Kampfkraft benötigt wird, ist der Einsatz von Wehrpflichtigen über kurz oder lang unabdingbar.
Doch der Militärführung fehlt oft der personelle Nachwuchs. Nachweislich dienen derzeit mehrere Maßnahmen dazu, die Personallücken im Feld zu schließen, durch:
a) das Rekrutieren von Ausländern (zum Beispiel zentralasiatischer Arbeitsmigranten7), b) den Abzug von Truppen aus Militärbasen in Georgien8 (die es in den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien gibt) c) das Zwangsrekrutieren von Wehrpflichtigen.9
Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden
Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden. Dass es so etwas gibt, ist Menschenrechtlern seit Mitte der 2000er Jahre bekannt.
Vor diesem Hintergrund droht die laufende Einberufung neuer Wehrpflichtiger zu einem Fiasko für die russische Führung zu werden. Anfragen junger Männer und besorgter Angehöriger, die unter allen Umständen einer Einberufung entgehen wollen, häufen sich10 bei den Komitees der Soldatenmütter und anderen Menschenrechtsorganisationen. Präsident Wladimir Putin hat Ende März angekündigt, dass in den folgenden drei Monaten 134.500 Wehrpflichtige einberufen werden sollen11. Es wird angenommen, dass die Militärkommissariate die Kriterien für die Rückstellung von Rekruten aufgrund von medizinischen Gründen aufweichen könnten.12
Eine Mobilmachung der Armee, um mehr Soldaten zu rekrutieren, hat der Kreml bislang vermieden.
Nadja Douglas Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
9. Wie geht die ukrainische Armee vor, um gegen die russische Invasion Widerstand zu leisten?
Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung, ohne den zum Beispiel Kiew oder Charkiw eingekesselt worden wären. Dass die ukrainische Armee sich mit diesen gepanzerten Verbänden frei bewegen, sie zusammenziehen und Schwerpunkte bilden kann, ist möglich, weil sie von Flieger-Abwehrsystemen geschützt werden und zumindest örtlich und zeitlich begrenzt die russische Luftwaffe fernhalten.
Die Waffenlieferungen westlicher Staaten helfen der Ukraine dabei, sich weiter verteidigen zu können. Wie wichtig die gepanzerten Verbände und die Flugabwehrsysteme für diesen Kampf sind, tritt medial – also in Bildern – nicht so in den Vordergrund. Präsenter durch soziale Medien war von Anfang an die agile Partisanen-Technik mit Angriffen aus Hinterhalten, auf russische Nachschubkonvois, aber auch auf zum Teil hochrangige Generäle, die so getötet wurden. Aufsehen erregen außerdem die Drohnenangriffe auf russische Panzer. Eigentlich ist das aber der kleinere Teil des Krieges, bei dem allerdings zahlreiches Filmmaterial ins Netz gelangt.
Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung
Die Bayraktar-Drohne – ein in der Türkei produziertes Modell – ist in ihrer Wirksamkeit in diesem Krieg zugleich nicht zu unterschätzen. Der Grund: Während die ukrainische Luftwaffe ihre sonstigen Kapazitäten nutzt, um russische Kampfflugzeuge zu jagen, stehen diese Drohnen für Luftbodeneinsätze zur Verfügung. Damit kann die ukrainische Armee tiefer in die Reihen des Feindes vordringen als ihr das sonst vom Boden aus möglich wäre. Die Drohnen fliegen tief, sind klein und selbst von russischen Fliegern aus kaum zu sehen. Zum Teil gelangen der ukrainischen Armee auch deshalb viele Angriffe, weil die russische Armee zurückhaltend mit der Flugabwehr war: Zu groß war die Gefahr, in der Luft die eigenen Leute zu treffen. Die russische Seite hatte hier zu große Koordinationsschwierigkeiten. So haben die Bayraktar-Drohnen den Russen horrende Verluste zugefügt.
Die ukrainischen Streitkräfte (besonders das Heer) haben – anders als die russischen – außerdem vor Jahren damit begonnen, die Kommandostrukturen aus der Sowjetzeit abzulegen und Befehlshabern auf unteren Ebenen mehr Spielraum zu lassen. Das macht sie flexibler und bringt Vorteile gegenüber den starren Kommandostrukturen der russischen Armee, die bei dem früheren sowjetischen Prinzip geblieben ist.
Zudem hat sich auf ukrainischer Seite ein effektives Logistiksystem entwickelt, welches stark auf die Unterstützung von Freiwilligen aufbaut und das Informationen aus amerikanischen Quellen nutzen kann (zum Beispiel Satellitenbilder). Aus dem privaten Sektor kam ebenfalls Unterstützung seitens der USA: Das sogenannte Starlink-System wurde von Eigentümer Elon Musk für die Ukraine zur Verfügung gestellt, um dort das Internet aufrechtzuerhalten.
10. Wie kommt es, dass so viele hochrangige russische Generäle gefallen sind?
Hauptgrund ist, dass der Krieg länger dauert, als es die russische Führung vorgesehen hatte. Die für den Einmarsch in die Ukraine aufgebaute Kommandostruktur war für länger anhaltende Kampfhandlungen nicht ausgelegt. Dieser strategische Fehler hat es später notwendig gemacht, dass neue Befehlshaber direkt an die Front mussten, um sich ein Bild der Lage zu machen. Das brachte sie in große Gefahr, weil sie sich dort normalerweise nicht aufhalten.
Sie mussten die Führung von Bataillonen übernehmen, die erst später zusätzlich ins Feld geschickt wurden. Das betraf Kommandeure, die zwei bis drei Bataillone neu zugeteilt bekamen und sich einen Überblick darüber verschaffen mussten, was diese Bataillone vor Ort eigentlich tun. Ebenso erging es den vorgesetzten Generälen aus dem jeweiligen Armeekommando. Ihnen unterstehen zum Teil sogar bis zu 17 Bataillone gleichzeitig, was sehr viel ist. Diese mussten sie persönlich einweisen. Das hat die ukrainische Armee ausgenutzt und begonnen, diese aus der Deckung gekommenen Kommandeure und Generäle13 durch Scharfschützen oder mit Artillerie gezielt zu töten.
Dazu hat beigetragen, dass die Struktur der russischen Armee noch aus Sowjetzeiten sehr hierarchisch aufgebaut ist – anders als die ukrainische Armee.
11. Was lässt sich bisher zu (zivilen) Opferzahlen sagen?
In den Medien ist täglich von weiteren zivilen Kriegsopfern zu lesen. Grundsätzlich ist von hohen Opferzahlen in der ukrainischen Zivilbevölkerung auszugehen, vermutlich von mehreren tausend Toten14. Eine gesicherte, konkrete Zahl ist im Moment nicht seriös zu liefern. Was die Verluste bei den Streitkräften angeht, so variieren auch hier die Angaben stark je nach Konfliktpartei. Im Zuge der Kriegspropaganda – diese umfasst eben auch die Opferzahlen – ist davon auszugehen, dass die Zahlen beider Seiten verfälscht sind. Zahlen, die im Internet und auch von Medien verbreitet werden, sind daher ebenso mit Vorsicht zu genießen. Was sich sagen lässt, ist, dass es auf beiden Seiten ebenfalls mehrere tausend gefallene Soldatinnen und Soldaten sein müssen.
Auch die Menschen, die flüchten mussten, sind Opfer dieses Krieges: Schätzungen von neutralen Organisationen, wie beispielsweise dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes oder den Vereinten Nationen, legen nahe, dass mehr als sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen haben. Außerdem sind es wohl inzwischen rund 7,7 Millionen Menschen15, die innerhalb der Ukraine fliehen mussten (Binnenflüchtlinge).
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
12. Wie können die begangenen Kriegsverbrechen untersucht und völkerrechtlich geahndet werden?
Das ist ein langer juristischer Weg. Kriegsverbrechen, ebenso Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, können vom Prinzip her sowohl von einer nationalen als auch von der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH) untersucht und verfolgt werden. In der Ukraine schockierten besonders die grausamen Bilder von mutmaßlich durch russische Soldaten getöteten Zivilisten aus Kiewer Vororten wie Butscha und Borodjanka. Grundsätzlich gilt: Zivilisten – das ist völkerrechtlich verbindlich in den Genfer Konventionen geregelt – sind von den Kriegshandlungen auszunehmen; das heißt, sie dürfen im Krieg nicht direkt angegriffen werden. Liegen mutmaßliche Rechtsverstöße vor, so kann eins der damit betrauten Gerichte am Ende eines Strafprozesses, inklusive Beweisaufnahme, rechtskräftig feststellen, inwiefern Kriegsverbrechen verübt wurden, und wer dafür strafrechtlich verantwortlich ist. Dabei muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden). Denn völkerrechtlich betrachtet gelten diese – so zynisch es in den Ohren juristischer Laien und der Betroffenen klingen mag – als rechtmäßig.
[Es] muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden)
Daher kommt der Beweissicherung für solche Verfahren zentrale Bedeutung zu: Die Ermittlungsbehörden müssen unter anderem Zeugenberichte, Fotos und Satellitenaufnahmen sammeln und auswerten. Besonders wichtig sind auch Obduktionen an den Opfern zur Feststellung des Tathergangs und der genauen Todesursache. In der Ukraine sind damit im Moment unterschiedliche Akteure befasst: Neben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, die zu Kriegsverbrechen aller beteiligten Streitkräfte – also auch der ukrainischen Seite16 selbst – ermittelt und in diesem Zuge auch Beweise sichert, sind weiterhin verschiedene investigative Medien wie Bellingcat beteiligt, außerdem internationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), darunter Human Rights Watch (HRW). Seitens der EU soll auch Eurojust ermitteln und Beweise sichern. Auf die Beweissicherung folgt die Aufarbeitung durch Gerichte. Neben den nationalen ukrainischen Gerichten können außerdem Gerichte anderer Staaten Gräueltaten untersuchen. Dazu gehört auch die Bundesrepublik. So hat die deutsche Bundesgeneralanwaltschaft bereits Ermittlungen nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch aufgenommen17.
Die ukrainische Regierung fordert überdies, ein Sondertribunal zur rechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen bei den Vereinten Nationen einzurichten. Sondertribunale gab es mehrere seit den 1990er Jahren, unter anderem zum Völkermord von Rwanda. Vor diesem Sondertribunal sind im Laufe von 20 Jahren 61 der insgesamt 93 Angeklagten zu Haftstrafen von durchschnittlich 30 Jahren verurteilt worden18.
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
„Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde.“ Das sagte Alexander Lukaschenko in einem Gespräch mit der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Bezug auf den Krieg, den Russland bereits seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. Bevor der Kreml seine Truppen aus dem Norden des Landes in den Donbass und in den Süden der Ukraine verlagert hat, war der Krieg bekanntlich auch von belarussischem Staatsgebiet aus geführt worden. Die Monitoring-Gruppe Belaruski Hajun will herausgefunden haben, dass russische Truppen allein von Belarus aus über 630 Raketen in Richtung Ukraine abgeschossen hätten.
Seit Wochen scheint der belarussische Machthaber eine zweigleisige Strategie gegenüber seinem Kollegen Wladimir Putin zu verfolgen: In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität. So auch am Tag des Sieges, als Lukaschenko sagte, dass die Belarussen kein Recht hätten, Russland nicht zu unterstützen. Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte. Ebenso auf den Versuch, sich neuen politischen Handlungsraum gegenüber Russland verschaffen zu wollen. Denn einige Belarussen bekunden ihren Unmut gegenüber der Unterstützung des Krieges durch zahlreiche Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken in Belarus, was im Volksmund in Bezug auf den Partisanenmythos des Zweiten Weltkrieges bereits Schienenkrieg genannt wird.
Was hat Lukaschenko vor? Wie steht es überhaupt um seine Unterstützung in der belarussischen Gesellschaft? Fürchtet sich der Autokrat vor einer Proteststimmung, die trotz scharfer Repressionen neu aufkeimen könnte? Der belarussische Politikanalyst Waleri Karbalewitsch versucht in einem Beitrag für das Online-Portal SN Plus Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden.
Viel wurde darüber geschrieben, dass Lukaschenko versucht, seinen außenpolitischen Kurs von 2014 bis 2020 zu wiederholen. Dass er Russlands Krieg gegen die Ukraine und Moskaus Konflikt mit dem Westen nutzen will, um die Beziehung zu den USA und zur EU aufzutauen. Genauso ist anzunehmen, dass Lukaschenko während dieses neuen russisch-ukrainischen Krieges intuitiv versucht, die acht Jahre alte Erfahrung in Bezug auf die gesellschaftliche Stimmung zu nutzen.
Noch 2014, als der russisch-ukrainische Konflikt begann, hatten unabhängige Meinungsforscher festgestellt, dass zwei Drittel der belarussischen Bevölkerung Russland unterstützen. Die Mehrheit der Belarussen hatte also eine stärkere prorussische Haltung als das offizielle Minsk, das Kurs auf eine (wenn auch nur bedingte) Neutralität nahm. Diese Situation war für die Machthaber sogar ein wenig unbequem, weil es Moskau zusätzliche Hebel zur Einflussnahme auf Belarus an die Hand gab. 2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Sämtliche unabhängige Experten erklärten einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird.
Stimmung in der belarussischen Gesellschaft anders als 2014
Doch jetzt kam der „schwarze Schwan“ angeflogen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei dem sich Moskau belarussisches Territorium zunutze machte. Dieses Ereignis hatte vorwiegend negative Folgen für das herrschende Regime: Es wurde zum Mit-Aggressor, es gab neue und härtere Wirtschaftssanktionen und es herrscht Antikriegsstimmung im Land und anderes mehr.
Möglicherweise hat die aktive politische Unterstützung Lukaschenkos für Russland bei diesem Krieg neben den bekannten Faktoren (der starken Abhängigkeit vom Kreml) auch einen anderen Sinn. Lukaschenko hatte wohl gemeint, dass die Bevölkerung in Belarus – ganz wie 2014 – Russland auch in dem jetzigen Krieg unterstützen würde, dass also die prorussische Stimmung der Bevölkerungsmehrheit und die absolut prorussische Position der Staatsführung im Einklang stehen würden. Und dass Lukaschenko erstmals seit 2020 die Unterstützung der Mehrheit erhalten und der gesellschaftliche Rückhalt breiter wird. Dass er wieder „Präsident des Volkes“ wird, nicht länger ein „Präsident der OMON“. Sprich: Der Krieg würde das Regime legitimieren. Und die Opposition, die die Ukraine aktiv unterstützte, würde erneut marginalisiert und sich wie vor 2020 in einem Ghetto wiederfinden.
Haben sich diese Hoffnungen erfüllt? Was sagt die Meinungsforschung?
Laut den soziologischen Daten von Professor Andrej Wardomazki geben nur 24 Prozent der Belarussen Russland die Schuld an dem Krieg, und 52 Prozent meinen, dass die Ukraine und der Westen daran Schuld seien. Es scheint, als hätte Lukaschenko bekommen, was er wollte.
Wobei die 52 Prozent auch nicht die zwei Drittel von 2014 sind. Und es wird noch interessanter: Es stellt sich heraus, dass nicht 52 Prozent, sondern nur 43 Prozent einen realen Krieg von Russland gegen die Ukraine unterstützen. Und 62 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die Russen belarussisches Territorium für den Angriff auf die Ukraine nutzen.
Krieg in der Ukraine bringt Lukaschenko kaum politisches Kapital
Das bedeutet, dass es Lukaschenko nicht gelungen ist, eine überzeugende gesellschaftliche Unterstützung für seine Position zum Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich glaube kaum, dass ihm eine Fortsetzung der Kriegshandlungen zusätzliches politisches Kapital einbringen wird.
Eine andere Sache ist, dass der Krieg in der Ukraine neue Spaltungen in der Gesellschaft zutage förderte. Wie sich zeigte, hegt ein gewisser Teil der auf Proteste ausgerichteten Community prorussische Sympathien. Das bedeutet, dass nicht alle, die gegen Lukaschenko sind, demokratischen Werten anhängen. Das wurde schon 2020 klar. Aber die derzeitige Tragödie in der Ukraine hat diese Stimmungen an die Oberfläche gespült. Lukaschenko hat auf der Sitzung vom 19. April bekanntermaßen verkündet, den Kurs der politischen Repressionen zu verstärken. Dazu gehörte der Schritt, die repressive Gesetzgebung zu verschärfen.
Mit Androhung der Todesstrafe gegen innere Feinde
Am 27. April verabschiedete das belarussische Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf, der für „den Versuch, einen terroristischen Akt zu verüben“ die Todesstrafe vorsieht. Hier muss man betonen, dass diese Gesetzesneuerungen im beschleunigten Verfahren durchgesetzt werden: Die Gesetzesvorlage zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde bereits in zweiter Lesung angenommen.
Bemerkenswert ist, dass die Todesstrafe nicht für den terroristischen Akt selbst, sondern schon für einen Versuch vorgesehen ist. Da der Begriff des Terrorismus in Belarus von der Obrigkeit sehr breit ausgelegt wird, lässt er sich mit jedweder oppositioneller Betätigung in Verbindung bringen. Hierzu gehört insbesondere die Teilnahme an Protestaktionen. Beispielsweise wurden gegen die Politiker Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja Anschuldigungen aufgrund von „Terrorismus“-Paragraphen erhoben.
Das Repräsentantenhaus verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, das es den Truppen des Innenministeriums erlaubt, zur Unterdrückung von „Massenunruhen“ großkalibrige Waffen einzusetzen. Friedliche Protestaktionen gelten in Belarus bekanntlich als „Massenunruhen“.
Die Urteile in den „politischen Verfahren“, bei denen die Opposition Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahre erhielt, werden bereits als „stalinistisch“ bezeichnet. Solche Urteile ergingen gegen Bürger der UdSSR in den 1930er und 1950er Jahren. Wir können in Belarus jetzt vom Aufkommen einer „stalinistischen Gesetzgebung“ sprechen. Das Land kehrt konsequent in jene finsteren Zeiten zurück.
Protest-Stimmung und Sabotageakte
Logischerweise stellt sich die Frage: Warum so plötzlich? Die Massenproteste sind zerschlagen. Es scheint keinerlei äußerlich sichtbare Bedrohungen für das herrschende Regime zu geben. Warum also so eine Hektik, den Druck auf die Silowiki zu erhöhen, solche drakonischen Gesetze zu verabschieden?
Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine Zunahme radikaler Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft. Das zeigt sich in den Sozialen Netzwerken. Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen. Auch die Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und die Aktivität der Cyberpartisanen lassen die Machthaber zu stärkeren Repressionen greifen. Angst hat schließlich große Augen.
Wenn aber die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt diesem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet.
Im postapokalyptischen Moskau des Jahres 2033 fristen die Menschen ihr Leben in den Schächten der Metro, einzelne Stationen sind Staaten: kapitalistische, kommunistische, faschistische. In seiner Metro-Reihe zeichnet der russische Autor Dmitry Glukhovsky eine finstre Dystopie, die Bestseller wurden auch international zu einem Riesenerfolg. In seinem jüngsten Roman Outpost beschreibt er Russland nach einem Bürgerkrieg in naher Zukunft. Die deutsche Übersetzung stammt von den beiden dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.
Heute gehört Glukhovsky zu den lautstärksten unabhängigen Stimmen in Russland. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen Fragen und gilt als ein scharfzüngiger Kritiker des Systems Putin. In der aktuellen Kollektivschuld-Debatte argumentiert er, dass nicht alle Russen Täter seien – und dass der russische Krieg gegen die Ukraine Putins Krieg sei. Meduzahat den Autor zu seinem Standpunkt interviewt, Glukhovsky hat die Fragen schriftlich beantwortet.
Update vom 8. Juni 2022: Unterschiedlichen Medienberichten zufolge wurde Glukhovsky in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Dem Bestseller-Autor wird die „Diskreditierung der russischen Armee“ vorgeworfen wegen eines Instagram-Posts vom 12. März, in dem der Beschuss von Mariupol zu sehen ist und Putin beinahe das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Der entsprechende Paragraph des russischen Strafrechts sieht bis zu zehn Jahre Haft vor.
Pawel Merslikin: Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie den Standpunkt, dass dieser Krieg ein Krieg Putins und nicht Russlands oder der russischen Bevölkerung ist. Warum glauben Sie, dass die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht unterstützt? Unterstützung kann es ja in vielen Abstufungen geben. Man kann morgens und abends Hymnen auf Putin und Schoigu singen, man kann aber auch schweigend zustimmen.
Dmitry Glukhovsky: Wie wir bei der Sitzung des Sicherheitsrats gesehen haben, gab es nicht einmal in Putins engstem Umfeld einen Konsens zum Krieg. Die Entscheidung wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, am Volk vorbei, das diesen Krieg nicht wollte, und sogar abseits des Großteils der politischen Klasse. Alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Um sich von ihrer persönlichen Verantwortung für den Krieg und die daraus resultierenden Verbrechen reinzuwaschen, haben die Entscheidungsträger danach begonnen, zuerst die ganze politische Klasse mit Blut zu beschmieren, dann die gesamte Bürokratie und schließlich, mittels TV-Propaganda, das ganze Volk.
Die Bevölkerung unterstützt, wie mir scheint, den Krieg aktiv zu etwa zehn Prozent – das ist ein reaktionäres, obskures Element, im Grunde faschistisch, auch wenn sie sich selber Patrioten nennen. Der Rest sucht entweder Zuflucht bei der Kriegs-Psychotherapie, um die post-covidale Depression loszuwerden, glaubt das Märchen von der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs tatsächlich oder nickt einfach zustimmend, damit sie ver*** noch mal endlich ihre Ruhe vor den Umfragen haben. Diese Umfragen werden nämlich manchmal vom FSO durchführt, und so werden sie auch überall wahrgenommen.
Widerstand gegen das Böse bedeutet das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit
Im Grunde ist jedes Unterlassen von Widerstand gegen das Böse eine Unterstützung des Bösen. Nur bedeutet Widerstand gegen das Böse in der persönlichen Überlebensstrategie eines durchschnittlichen Menschen das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit. Der Gewinn hingegen ist schwammig: ein reines Gewissen. Ob es da nicht einfacher ist, sich zu sagen: Das ist nicht mein Bier, ich habe da keinen Einfluss drauf, so eindeutig ist es auch wieder nicht, dass die Ukrainer gut sind, überhaupt ist das alles das Werk der USA, wir wurden da reingezogen, wir hatten keine Wahl, mich geht das nichts an, und ich lebe weiter wie bisher? Und schon ist das Böse kein so großer Dorn mehr im Auge, und die kognitive Dissonanz ist ohne große Verluste überwunden.
Aber wenn morgen Frieden eintritt, werden alle, außer die zehn Prozent Reaktionäre, erleichtert aufatmen. Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert und den Menschen einbläut, dass nichts von ihnen abhängt und sie mit Protesten niemals irgendwas erreichen werden, außer sich Probleme einzuhandeln.
Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert
Der ukrainische Maidan hat zweimal gesiegt – und das ukrainische Volk hat ein Gefühl der eigenen Macht und Rechtmäßigkeit bekommen. Bei uns sind Proteste immer niedergeschlagen worden oder von selbst im Sand verlaufen. Wir haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Wenn die Menschen gegen den Krieg protestieren und ihre Freiheit aufs Spiel setzen, dann nicht weil sie hoffen, ihn stoppen zu können, sondern weil sie sonst das Gefühl haben, Kollaborateure zu sein, die nichts unternommen haben.
Die Position „Das ist ausschließlich Putins Schuld, die Menschen können gar nichts dafür“ wird sehr oft von russischen Intellektuellen vertreten. Meinen Sie nicht, dass das auch eine Spritze Gegenpropaganda ist, um sich selbst zu beruhigen? Weil es viel leichter ist, in einer Welt mit einem einzigen Bösewicht zu leben als in einer mit zig Millionen – die dazu noch mit dir in einem Land leben?
Eben diese zig Millionen Bewohner meines Landes brauchen eine Therapie. Sie leben in Armut und Hoffnungslosigkeit, werden von ihrer Regierung täglich erniedrigt, verblödet und aufgehetzt. Ja, sie sind unglücklich und verärgert, aber eigentlich ärgern sie sich über die Regierung: Die verspricht ihnen seit 20 Jahren ein besseres Leben, selber lebt sie aber wie die Made im Speck, verprasst Milliarden für Yachten und goldene Klobürsten und überlässt die Menschen im Grunde ihrem Schicksal, sowohl in der Pest als auch im Krieg. Aber der Zorn verfehlt wegen eines Knicks im Rückgrat sein Ziel. Die emotional ungefährlichere Strategie ist es, jene zu hassen, die man ungestraft hassen darf. Im gegebenen Fall also die Ukrainer und den Westen.
Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären und einen Vernichtungskrieg gegen sie führen. Das Ausmaß der Verantwortung des deutschen Volkes während der totalen Mobilisierung zum Kampf oder während der Massenhysterie der 1930er Jahre ist nicht dasselbe wie der Z-Fimmel und die V-Mimikry: Gott sei Dank sind heute beides nur Sofa-Krankheiten.
Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären
160.000 Soldaten und Offiziere sind am Krieg in der Ukraine beteiligt. Aber 140 Millionen Russen sind noch nicht mit ukrainischem Blut befleckt. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, die Teilnahme an diesem Krieg zu verweigern – die tatsächliche und auch die emotionale. Putins Staatsapparat versucht, der ganzen Welt und dem Volk weiszumachen, dass dieser Krieg ein Krieg des Volkes ist, dass alle gemeinsam dafür einstehen und alle gemeinsam diese Suppe auslöffeln müssen. Aber jeder, dem das Schicksal Russlands nicht egal ist und der ihm wünscht, die imperiale Matrix möglichst bald hinter sich zu lassen und ein gesunder, moderner Staat zu werden, bewohnt von glücklichen Menschen, sollte sich Gedanken machen, wie man die Menschen aus diesem Bann befreien kann. Sie aus dem Bann befreien, statt sie zu Unmenschen zu erklären und sie bis aufs Blut zu bekämpfen.
Im Interview für Radio Swoboda erzählten Sie, wie Sie bei Ausbruch des Krieges überlegt hätten, ob Sie ihn sofort öffentlich verurteilen sollen. Und diese Überlegung hätte 30 Sekunden gedauert. Worüber genau haben Sie in diesen 30 Sekunden nachgedacht? Welche potentiellen Konsequenzen haben Sie gegeneinander abgewogen?
Ich dachte, dass ich mich genau jetzt, in diesem Moment zur endgültigen politischen Emigration verdamme. Dass ich mich der Möglichkeit beraube, in Russland zu leben, solange Putin lebt.
Es gibt vieles, was mich an Moskau bindet. Freunde, geliebte Menschen, meine Kindheit. Die Kultur, die Luft, die Sprache. Meine Arbeit, gesellschaftliche Stellung, Eigentum. Der Gedanke, erst an meinem Lebensabend, oder vielleicht sogar nie, nach Hause zurückzukehren, ist sehr schwer zu ertragen.
Auf der anderen Waagschale liegt das Gefühl, ein Feigling und Verräter zu sein, klar zu begreifen, dass du dich gerade auf die Seite des Bösen stellst. Denn einen Eroberungs- und Bruderkrieg und die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig. Erst recht, wenn du dir bewusst bist, dass die Gründe für diesen Krieg durchweg erlogen sind, und der Krieg selbst nicht nur bestialisch, sondern auch vollkommen sinnlos ist.
Wenn Sie kein erfolgreicher Schriftsteller wären, sondern ein ganz gewöhnlicher Bewohner einer russischen Kleinstadt mit einem Gehalt von 30.000 Rubel [400 Euro – dek], hätten Sie dann länger als 30 Sekunden überlegt?
Schwer zu sagen. Seit ich erwachsen bin und bewusst nachdenke, habe ich versucht, mein Leben danach auszurichten, möglichst unabhängig vom Staat zu sein, um mir meine Freiheit zu bewahren – auch die Freiheit zu denken und frei zu sprechen. Die Tatsache, dass ich jetzt diese Freiheit habe und sie nutzen kann, dass ich immer noch diskutieren, den Krieg Krieg nennen und seine Beendigung fordern kann – das ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.
Die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig
Aber natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Die Bewohner einer gewöhnlichen russischen Kleinstadt fordern keine Freiheit, weil ihre anderen, und zwar grundlegenden, Bedürfnisse nicht befriedigt sind: allem voran ihre Sicherheit, dann der Lebensunterhalt, ein gewisser Wohlstand, ein Leben in Menschenwürde, basale Grundrechte.
Wenn die Menschen sagen, dass sie sich Stabilität wünschen, dann meinen sie, dass sie Angst haben, dieses kleine bisschen zu verlieren, das sie haben. Vielleicht haben sie nicht einmal genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Sie sprechen viel über Propaganda und dass sie verantwortlich ist für das Geschehen. Wie erklären Sie es sich, dass die Propaganda die Menschen davon überzeugen konnte, die Russen würden die Ukrainer von Nazis befreien?
Das erkläre ich damit, dass die Menschen 20 Jahre lang auf die Ukraine vorbereitet wurden. Als Putin an die Macht kam, hat er, sobald er erkannte, dass die Ukraine ein alternatives Gesellschaftsmodell bietet, Kurs auf ihre Unterwerfung und Destabilisierung genommen. Russland hat sich in alle ukrainischen Wahlen eingemischt und sehr heftig auf die Maidan-Proteste reagiert. Zudem wurde 20 Jahre lang aktiv ein Siegeskult betrieben und befördert. Die Ukrainer wurden Stück für Stück zum Feind stilisiert: mal zu einem blutrünstigen, mal zu einem erbärmlichen. Während die Russen sich über das Erbe des Sieges definierten. Der Boden war also bereitet.
Propaganda lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab
Die Propaganda arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Sie lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab, an denen die Regierung Schuld trägt. Sie beschützt die Regierung vor dem Volk. Das tut sie, indem sie Nebelkerzen von erfundenen und aufgebauschten Konflikten wirft und so die Wirklichkeit verhüllt.
Sie arbeitet mit psychischen und emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung, indem sie ihr eine Psychotherapie aus der Hölle verpasst. Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei. Er ist verbittert und frustriert, also zeigt man ihm ein Objekt, auf das er seine Wut richten kann. Er verspürt Unsicherheit und Panik, also erklärt man ihm, er sei direkt von seinem Sofa aus an einer großen Mission beteiligt, die seine Entbehrungen und Leiden rechtfertigt.
Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei
Deswegen ist die Abhängigkeit von der Propaganda auch so groß, sie ist regelrecht eine emotionale Droge. Deswegen nehmen die Menschen diese fetten, hässlichen und selbstgefälligen Visagen, diese triefenden Lügenorakel von Perwy und Rossija auch so positiv auf, geradezu als wären es ihre TV-Verwandten aus Fahrenheit 451. Andernfalls würden Angst, Panik und Zorn von den Menschen Besitz ergreifen und sie auf die Straße treiben. Der große und ewige Krieg gegen den Westen, der Verrat durchs Brudervolk und ein Russland, das sich von den Knien erhebt und rächt – das sind die Trigger und Klischees bei dieser Therapie.
Viele Intellektuelle, Historiker, Politologen, Soziologen sagen, der Hauptgrund für den Krieg sei sowjetisches Ressentiment. Die Menschen würden sich nach einer starken Heimat sehnen. Sie würden dem Westen zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Sogar dann, wenn sie die Sowjetunion gar nicht selbst erlebt haben. Würden Sie dem zustimmen?
Die Konfrontation der Menschen in Russland mit dem Westen und der Ukraine kommt daher, dass sie das eigene Leben ständig mit dem Leben dort vergleichen. Aber diese Konfrontation ist nicht im Interesse der Menschen, sie haben nichts davon. Der Staat wiederum weiß, dass seine Bürger ihr unzulängliches Leben zwangsläufig mit dem „dort drüben“ vergleichen werden, solange nicht ein eiserner Vorhang das Ganze hermetisch abschließt. Und die Menschen werden sich zurecht fragen, warum ihr Lebensstandard nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch zur Ukraine so niedrig ist. Warum die Bevölkerung nicht nur im Westen sondern auch in der Ukraine einen Regierungswechsel herbeiführen kann, während man bei uns schon allein durch den Gedanken daran riskiert, dass es bei dir an der Tür klingelt.
Hier schafft die Konfrontation Abhilfe. Weil wir nicht sie sind. Weil sie Schwule haben und wir Vater-Mutter-Kind. Weil unsere Großväter gekämpft haben und sie die Nachfahren von Faschisten sind. Weil wir das Ballett und die Olympiade haben. Raketen, Raketen und noch mal Raketen. Weil alle Angst vor uns haben. Weil wir die Allergrößten sind, darum. Weil alle uns zugrunde richten und unser Öl unter sich aufteilen wollen, Abyrwalg! Weil Russland keine wirtschaftliche Supermacht ist, sondern eine militärische, weil wir die Unseren nicht im Stich lassen, ich will nichts hören, ich will nichts hören, ich will nichts hören! Überhaupt, wie kann man Ozeanien mit Ostasien vergleichen, bei uns leben richtige Menschen, und da drüben Unmenschen.
Man muss sich die eigene Armut irgendwie erklären, das eigene Elend rechtfertigen. Nur wie? Mit der eigenen Einzigartigkeit. Die Geschmacklosigkeit, Korrumpiertheit und Unglaubwürdigkeit des heutigen Regimes kann nur durch die stilistische Unfehlbarkeit und die furchteinflößende Reputation Russlands in seiner letzten Inkarnation wettgemacht werden. Ja, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Titanen. Ganz einfach.
In welchem Maße macht es überhaupt Sinn, die Ursachen für die aktuellen Ereignisse in der Sowjetzeit zu suchen?
Die Wurzeln der Ereignisse liegen in der imperialistischen Vergangenheit und dem imperialistischen Wesen des russischen Staates. Haben Sie sich nie gefragt, wie das geht, dass bei einer rechtsextremen Demo in ein und derselben Kolonne Porträts von Nikolaus II. und Josef Stalin zu sehen sind? Der Erste gewissermaßen der Kerkermeister des Zweiten, der Zweite der Henker des Ersten? Das ist tatsächlich überhaupt kein Widerspruch. Als Persönlichkeit interessiert der eine wie der andere die Russen nur am Rande, ihre ursprüngliche Bedeutung für die patriotische Bewegung ist rein symbolisch. Beide symbolisieren das russische Imperium auf dem Gipfel seiner Größe, auch wenn dieses Imperium in neuem Gewand daherkommt, mit bolschewistischem Rebranding, und nicht auf Konservierung, sondern auf Modernisierung abzielt. Aber das ist für die meisten gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, welche Gebiete wir uns einverleibt, wen wir unterworfen haben, wen gezwungen, in der Schule Russisch zu lernen.
Alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus Russlands imperialistischen Wesen
Weil es in Wirklichkeit keine patriotische, sondern eine imperialistische Bewegung ist. Weil uns, im Gegensatz zu Frankreich und England, die Epoche des Postkolonialismus erst noch bevorsteht. Weil unsere Kolonien unmittelbar an das Mutterland angrenzen, mit ihm verwachsen sind, und sie zu verlieren heißt, Russland selbst zu zerreißen. Deswegen ist dieses Thema tabu, mit sieben Siegeln verschlossen, Russland kann sich nicht offen eingestehen, dass es bis zum heutigen Tage imperialistisch ist.
Im Gegenteil, unter der Flagge des antiimperialistischen Kampfes hat Russland den Einfluss Europas in den ehemaligen Kolonien unterwandert. Aber alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus diesem imperialistischen Wesen. Daher rührt auch die Hysterie im Hinblick auf die Ukraine und der Wunsch, sich mal Georgien, mal Kasachstan, mal Armenien unter den Nagel zu reißen.
Die Propaganda verkauft diesen Krieg als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Was denken Sie, sollte der Siegeskult der letzten 10 bis 15 Jahre die Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten? Oder bedient sich die Regierung einfach eines bequemen Narrativs, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen?
Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt. Gründe, stolz zu sein, hat Putins Russland den Menschen kaum gegeben: nur die Krim und die Olympiade in Sotschi. Aber der olympische Sieg entpuppte sich am Ende als Betrug, er roch nach abgestandenem Urin. Auch die Krim ist ein zweifelhafter Triumph: der Sieg Kains über Abel – der jüngere Bruder schwächelt, und wir rammen ihm das Messer in den Rücken. Davor waren die Tschetschenienkriege, eine Katastrophe mit unklarem Ausgang, davor – der Zerfall der UdSSR, davor – Afghanistan, ebenfalls ein Reinfall. Und davor gab es lange nichts, nur die Zeit der Stagnation.
Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt
Stolz könnte man auf Gagarins Flug sein – das wäre ein guter Grund, positiv und inspirierend, aber da kommt man nicht drumherum, einen Vergleich zur ver*** Idiotie der heutigen Leitung von Roskosmos zu ziehen und sich traurig und resigniert zu fragen, warum unsere Raketen heute nicht mehr fliegen (abgesehen von denen, die in ukrainischen Wohnhäusern einschlagen).
Und damit hat es sich. Bleibt nur der Große Sieg. Seine Größe darf man nicht anzweifeln, sie ist heilig, geheiligt durch das Blut unserer Vorfahren: Die Opfer waren gigantisch, fast jede Familie hat jemanden verloren. Da hatte man ihn also gefunden, den Zement, der die letzte Amtsperiode Putins zusammengehalten hat. Und genauso, wie Schoigu sich Shukows Uniform überzieht, verkleidet sich auch der Staat. Er spricht und handelt immer mehr wie ein Schwerverbrecher, dabei durchlebt er natürlich eine schwere Persönlichkeitskrise: Sie wollen sich als Auserwählte und Helden fühlen, nicht als mittelmäßige Korruptionäre. In der altbekannten Pyramide der menschlichen Bedürfnisse hat unsere „Elite“ ihre Grundbedürfnisse längst gestillt, sich den Wanst mit Euromilliarden vollgeschlagen, und jetzt will sie die Herrscherin über die Meere sein.
Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken
Zunächst kam die Krise der Selbstachtung, als man von Europa und den USA wollte, dass sie Russland unverzüglich als ebenbürtig anerkennen. Und jetzt sind wir, original nach Abraham Maslow [und seiner Bedürfnispyramide], beim Thema Selbstverwirklichung angelangt, bei der Verwirklichung unserer wahren Bestimmung; und siehe da, die Bestimmung ist genau die, die man dem Volk zehn Jahre lang eingeflößt hat: Krieg spielen. Oh weh, leider den Großen Vaterländischen. Und diese durchgeknallten Parasiten, denen in ihrem fortgeschrittenen Alter irgendwo tief drinnen aufgegangen ist, dass sie gelangweilte Banditen sind, haben selbst den Mist geglaubt, den sie dem Volk aufgetischt haben. Dass der Große Vaterländische Krieg nie aufgehört hat, dass sie die Nachkommen der Sieger sind, dass der Faschismus sein Haupt erhebt, dass sie die Heldentaten ihrer Großväter zu Ende bringen müssen.
Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken. Die Zyniker dachten, sie könnten im Fernsehtrog jeden Mist verfüttern. Das Problem ist, dass es bei uns keinen Intelligenztest gibt, um in die „Elite“ aufgenommen zu werden, und diese Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit den imperialen Komplexen und ebenjenem Chauvinismus.
Die Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit imperialen Komplexen
Deshalb hat die Elite selber dem Fernseher geglaubt. Die Zyniker wurden verblödet. Die „Eliten“ sind in eine phantastische Realität umgezogen, in der die Massen schon lebten. Noch schlimmer war, dass eine militärisch geprägte Religiosität ein Zeichen für Loyalität zu Putin wurde, und die Staatsbeamten fingen an, sich darin zu überbieten. Dennoch glaube ich, dass die Rhetorik vom Großen Vaterländischen Krieg nichts weiter ist als PR-Untermalung für eine imperiale Eroberungskampagne, der Versuch, sie reinzuwaschen und vor Kritik zu schützen, indem man ihr einen Heiligenschein aufsetzt.
Sie halten diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für einen Kolonialkrieg. Jetzt redet man schon offen davon, Russlands nächstes Ziel könnte Transnistrien sein. Was glauben Sie, ist Putin wirklich von der Idee einer neuen UdSSR besessen? Oder versucht er, mit diesem Krieg seine eigenen Probleme zu lösen? Länger im Amt zu bleiben?
Ich glaube, Putin kämpft in erster Linie gegen das Gefühl an, in der Geschichte eines großen Landes nur ein unbedeutender Mensch zu sein. Wie wir wissen, studiert er mit Begeisterung die Geschichte Russlands und muss sich natürlich mit seinen Vorgängern messen – zumal er schon länger im Amt ist als viele von ihnen. Er arbeitet daran, seinen Namen in die russische Geschichte einzuschreiben.
Putin, Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin, Lenin, Nikolaus II., Alexander III., Katharina die Große, Peter der Große – und wofür stehe ich, was habe ich gemacht? Man soll mich bitte als den in Erinnerung behalten, der die Länder, die Gorbatschow verloren hat, wieder eingesammelt hat. Als jener Mann, der versucht hat, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren – den Zerfall der Sowjetunion!
Zumal das Volk, das sich nach der Ästhetik der Größe der Sowjetunion sehnt, der kommunistischen Leidenschaftlichkeit und dem sozialistischen Sozialpaket, nach zwei Jahrzehnten Idealisierung des Sowok durch das Staatsfernsehen ähnliche Träume hat.
Wird Russland diesen Krieg verlieren?
Russland hat diesen Krieg schon verloren. Schweden und Finnland wollen in die NATO, die Allianz reicht nun direkt an Russlands Grenzen heran. Die USA und Europa sagen sich von russischen Energiequellen los. Wirtschaftlich hat das Land durch die Sanktionen einen schweren Schlag erlitten.
Putin hat Russland in Zugzwang gesetzt und damit sich selbst, denn wenn die russischen Geschichtsbücher einmal nicht mehr von den Rotenberg-Brüdern gedruckt werden, sondern von unabhängigen Verlagen, dann wird da über Putin nichts Gutes mehr drinstehen.
Meine große Angst ist, dass Putins Abdanken derart schwere tektonische Prozesse auslöst und unser Land erschüttert, dass die territoriale Integrität und die Existenz des ganzen Landes bedroht sein werden. Und natürlich ist das ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann.
Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Seit einigen Jahren ist der inzwischen wichtigste Nationalfeiertag Russlands auch Gegenstand von Kritik: In der zunehmend monopolisierten Erinnerungskultur des Landes diene er, so der Tenor, immer weniger dem Gedenken, sondern vielmehr der Legitimation politischer Herrschaft. Andere Kritiker wie der orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin bemerkten schon 2011, dass der 9. Mai Züge einer „Zivilreligion“ trage, die Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt.
Der Begriff „Zivilreligion“ geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Der Philosoph glaubte, dass Aufklärung zu Chaos führt und dass man eine säkulare Ersatzreligion schaffen müsse, um die politische Herrschaft und damit auch die politische Ordnung zu legitimieren.
Der 9. Mai gilt heute unter zahlreichen Wissenschaftlern als der zentrale Ankerpunkt der offiziellen russischen Geschichtspolitik: Der Kampf gegen den Faschismus will nicht nur dem politischen Regime Legitimität verleihen, sondern auch dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch wie funktioniert eine solche Zivilreligion? Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew im Vorfeld des 9. Mai auf Holod.
Ich habe mich bei einem seltsamen Gefühl ertappt: Seit ungefähr zehn Jahren habe ich Angst vor staatlichen Feiertagen und sonstigen offiziellen Daten, weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet.
Nun warte ich voller Angst auf den 9. Mai, an dem Putin womöglich eine Parade zum Sieg über den imaginären Nazismus veranstalten will, wohl gar mit einer Vorführung gefangener Banderowzy auf dem Roten Platz – sie haben ja bereits im August 2014 in Donezk ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Hinter ihnen schrubbte eine Straßenreinigungsmaschine ihre Spuren weg, genau wie 1944 in Moskau. Heute blickt die ganze Welt voller Angst auf den 9. Mai, weil alle wissen, dass Putin seinem blutrünstigen Publikum einen „Sieg“ vorweisen muss, und wenn es im Feuerschein einer Atomexplosion ist.
Der „Feiertag mit Tränen in den Augen“ ist nun eine militärisch-patriotische Show geworden
Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem „Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show – eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde.
Im Grunde hat Putins Staat im 9. Mai seinen wichtigsten Bezugspunkt gefunden, seine Gründungsgeschichte. Die beginnt weder 1917, noch 1991 noch 1999 (obwohl, wieso erklärt man eigentlich nicht die Sprengung von Wohnhäusern im September 1999 zum Anfangspunkt?), sondern 1945 in Jalta und Potsdam, als Stalin mit einem Bleistift in der Hand über der Weltkarte stand. Putin fühlt sich wahrscheinlich am ehesten wie der Generalissimus auf dem Bild von Fjodor Reschetnikow – obwohl er in Wirklichkeit eher dem großen Diktator aus dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin in der berühmten Szene gleicht, in der dieser in seinem Größenwahn den Globus aus dem Ständer nimmt und ihn auf dem Finger wirbelt.
Der 9. Mai wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf
Ab Mitte der 2000er Jahre begann der 9. Mai, sich auf die gesamte historische Zeit auszudehnen, wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf. Nicht zufällig tauchten damals an den Autos die ersten Sticker mit dem großkotzigen Spruch „Wir können das wiederholen“ auf, mit geschmacklosen Bildern, wie Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. (Muss man erwähnen, was in Butscha und Irpin aus diesem Vergewaltigungskult geworden ist?)
Der Tag des Sieges wurde zur Linse, durch die Russland auf die Welt blickt und ihr seine Gekränktheit, Komplexe, Wünsche, Aggressionen und Ressentiments präsentiert. Der Feiertag ist zu einer konstanten Liturgie geworden, zu einem ekstatischen und mystischen Wiedererleben einer Vergangenheit, die den Menschen die nicht sehr beglückende Gegenwart ersetzt hat.
Die Siegeskathedrale in Kubinka: finster, bedrohlich, auf freiem Feld inmitten eines beängstigend symmetrischen Rasens
In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Im Zentrum dieses symbolischen Universums erhebt sich die monströse Siegeskathedrale in Kubinka, die aussieht, als wäre sie von der Filmkulisse aus Star Wars abgemalt oder einem Gothic-Comic entnommen. Da steht sie finster, bedrohlich, auf freiem Feld mitten auf einem beängstigend symmetrischen Rasen, durchdrungen von Zahlenmagie wie ein Freimaurersaal: Durchmesser des Sockels der Hauptkuppel – 19,45 m, größter Durchmesser der Hauptkuppel – 22,43 m (um 22:43 Uhr am 8. Mai wurde Deutschlands Kapitulation unterzeichnet), die Mosaike im Inneren nehmen eine Fläche von 2644 m² ein, was der Anzahl der Träger des Ruhmesordens I. Klasse entspricht, et cetera. Die Metallstufen sind aus erbeuteten deutschen Waffen aus dem Museum der Streitkräfte gegossen, und eine der „Reliquien“ in der Kathedrale ist Hitlers Schirmmütze: In ihrem Feuereifer, den Sieg über den Faschismus darzustellen, verfällt diese militaristische Version der Orthodoxie in Pathos, Komik und Kitsch.
Das Unsterbliche Regiment ist zu einer bürokratischen Demonstration des staatlichen Patriotismus pervertiert
Zu Ehren des Siegeskults finden Prozessionen des Unsterblichen Regiments statt, die an Kreuzzüge erinnern. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Grassroots-Initiative von Mitarbeitern des Tomsker Fernsehsenders TV2, hat sich bald die Propaganda dieses Ritual angeeignet, hat es verzerrt und zu einer bürokratischen Demonstration des staatlich verwalteten Patriotismus pervertiert, bei der Staatsbedienstete angewiesen werden, mit Fertig-Porträts unbekannter Helden aufzumarschieren. Vereinzelte Privatpersonen mit Porträts ihrer Vorfahren gehen unter in den Lügen und Performances unverhohlener Freaks: Stalinisten tragen Bilder ihres Götzen, und bei einer solchen Prozession marschierte Natalja Poklonskaja mit einer Ikone von Nikolaus II.
Tatsächlich nehmen die Heldenporträts Züge von Ikonen an. Vor ein paar Jahren kursierte im Netz ein Propaganda-Trickfilm, den eine Anti-Abtreibungsbewegung in Auftrag gegeben hatte: Eine junge Frau teilt ihrem Freund am Telefon mit, dass sie schwanger sei, woraufhin er sagt, sie solle abtreiben. Die Frau denkt nach, und da beginnt, ganz im Stil einer „sprechenden Ikone“, eine Kriegskrankenschwester aus dem Unsterblichen Regiment aus dem Porträt an der Wand zu ihr zu sprechen: „Treib nicht ab, du bekommst einen Sohn, einen Soldaten!“ Danach verschwindet, durchaus typisch, der Mann aus der Handlung, die Frau wird alleinerziehende Mutter und geht Jahre später mit ihrem Sohn zur Siegesparade.
Beim Heldenmythos des Siegs sind historische Fakten unwichtig
Der Heldenmythos des Siegs muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens, seine Funktion ist es zu überzeugen. Allgemein bekannt ist der Fall gewisser sowjetischen Märtyrer: der 28 Panfilow-Helden. Die Garde-Infanteristen sollen bei Dubosekowo vor Moskau eine Division deutscher Panzer aufgehalten haben. Die Charkower Militärprokuratur fand jedoch im November 1947 heraus, dass sich einer der „gefallenen“ Helden im Frühling 1942 in Kriegsgefangenschaft ergeben und den Deutschen gedient hatte. Woraufhin Ermittlungen ergaben, dass die ganze Geschichte erfunden worden war von einem Korrespondenten des Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) namens Alexander Kriwizki auf der Grundlage tatsächlicher Kämpfe in dieser Region. Trotz allem entwickelte die Legende eine eigene Logik, hielt Einzug in den sowjetischen Patriotismus-Kanon, und als der Direktor des staatlichen Archivs, Sergej Mironenko, 2015 von dieser Fälschung erzählte, wurde er sofort der Russophobie bezichtigt, der damalige Kulturminister Wladimir Medinski erklärte, ein Mythos, der Generationen von Sowjetbürgern inspiriere, sei wichtiger als historische Fakten, und Mironenko war seinen Posten bald los.
Der Kult erfasst die Massen und wird mit siegeswahnsinnigen Ritualen ausstaffiert – geschmückte Autos und Schaufenster, historische Reenactments, Cosplays aus Kriegszeiten und Travestien, Kinder in Militäruniformen, Buggies und Kinderbetten in Panzer-Design. Völlig offensichtlich kommt Kindern hier eine besondere Rolle zu, um Opfer zu legitimieren und Gewalt und Tod durch eine höhere Moral abzusegnen.
Frühlingsriten nach einem langen Winter
Gleichzeitig wird so der Siegeskult in die Frühlingsriten eingeschrieben, bei dem junges Grün auf toter, verbrannter Erde wächst. Hier kann man von der Biopolitik des Sieges sprechen, von der Herstellung neuer Menschenmasse: Die Kinder sind die „neuen Soldaten, die die Weiber gebären“, um den apokryphen Satz zu zitieren, der Georgi Shukow zugeschrieben wird. Es ist ja kein Zufall, dass das vor der Abtreibung gerettete Kind in dem Pro-Life-Video zur Siegesparade geht und auf einem Werbeplakat der Bewegung Für das Leben ein Embryo aus dem Mutterleib appelliert: „Schütze du mich heute, dann schütze ich dich morgen!“ An anderer Stelle sieht man ihn als Fünfjährigen mit Helm und Maschinengewehr.
Siegeskult als vollwertige Staatsideologie
Der Sieg ist zu einem sakralen Objekt geworden, zu einem Raum, in dem es unmöglich ist, die Sowjetunion, das „Siegervolk“, Stalin und Shukow zu kritisieren, in dem das Recht des Stärkeren gesegnet ist und sich ein isolationistisches Bewusstsein à la „Wir allein gegen den Rest der Welt“ herausgebildet hat. Der Siegeskult ist eine vollwertige Staatsideologie geworden, die theoretisch laut Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation verboten wäre – aber wen kümmert in Russland heute schon die Verfassung?
Russland ist dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen
Im Namen des Sieges werden auch Gesetze beschlossen, die das historische Gedächtnis reglementieren, und es kommt zu Repressionen: Alexej Nawalny stand 2021 in einer fingierten Anklage wegen „Beleidigung eines Veteranen“ vor Gericht.
Und jetzt hat Russland im Namen des Sieges auch noch einen aggressiven Eroberungskrieg begonnen.
Der Bannspruch der Nachkriegsgenerationen hieß: Bloß keinen Krieg. Jetzt heißt es: Wir können das wiederholen
Das ist der wichtigste und schrecklichste Output der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens – nie wieder, never again, нiколи знову –, anstelle des Bannspruchs Bloß keinen Krieg, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung Wir können das wiederholen geprägt, die es wie eine Beschwörung wiederholt. Aus der Idee des Friedens wurde ein blutrünstiger Kriegskult, der Menschenleben kostet.
Genau das ist am 24. Februar 2022 passiert: Unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ der Ukraine, abgeschrieben aus Geschichtsbüchern und von Propagandaklischees, hat Russland in Europa den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfacht. Man wollte 1945 wiederholen, doch Russland hat in dieser blutigen Geschichtsrekonstruktion seine Rolle falsch eingeschätzt: Die Ironie des Schicksals will, dass es nicht die sowjetischen Befreier spielt, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer.
Russland spielt nicht die sowjetischen Befreier, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer
Die Geschichte hat einen weiten Kreis gezogen und ihn geschlossen. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz, die Sieger über die Nazis wurden selbst zu ihrem jämmerlichen Abbild. Die tatsächlichen Erben von 1945 sind heute die Ukrainer, die tapfer ihre Heimat verteidigen, und nicht die russischen Besatzer, die in ein fremdes Land gekommen sind, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu brandschatzen.
Wer das Gedenken des großen Siegs ehrt, der kann nicht anders, als Russland in diesem sträflichen, schändlichen, sinnlosen Krieg eine Niederlage zu wünschen.
„Die Russen sind die neuen Deutschen.“ Unter liberalen russischen Stimmen kam diese Formel schon wenige Tage nach dem Kriegsbeginn auf. Sie verweist auf historische Parallelen zwischen Russland und Deutschland, vor allem auf Aspekte wie Kollektivschuld und „Banalität des Bösen“.
Bereits vor rund zwei Jahren schrieb der russische Soziologe Grigori Judin: „Für Putin ist mit Deutschland [unter Hitler – dek] überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfter geben.“
Wie kommt eine solche Denkweise überhaupt zustande? Im ersten Teil seines jüngsten Interviews mit der Journalistin Katerina Gordejewa im Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) argumentiert Judin, dass man über die tatsächliche Kriegsunterstützung im Land nur wenig sagen kann, dass der „überragende Teil der russischen Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben will.“ Dass sie damit die Augen vor der Wahrheit und vor grundsätzlichen Sinnfragen verschließe, das entbinde sie nicht von der Verantwortung für das, was geschieht, so der Soziologe. Anders sei es bei Putin: Dieser übernehme ganz bewusst die Verantwortung für den Krieg, argumentiert Judin im zweiten Teil des Interviews – und folge dabei einer inneren Logik, wonach der Krieg ein Akt der Selbstverteidigung ist.
Grigori Judin: Wenn du mich fragst, warum die Entscheidung getroffen wurde, die Ukraine zu zerstören, so sehe ich darin eine gewisse Logik.
Katerina Gordejewa: Inwiefern?
Für Wladimir Putin und seine Gefolgschaft ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung, sie bedroht buchstäblich ihr Leben. Und weil [Putin] offenbar irgendwann beschlossen hat, dass ihre Existenz gleichbedeutend ist mit der Existenz des ganzen Landes, schließen sie daraus, dass sie für das ganze Land sprechen können und das ganze Land in Gefahr ist.
Wie? Ganz einfach. Nehmen wir die Situation in Libyen zur Zeit des späten Gaddafi. Oberst Gaddafi sieht sich nach einer endlosen Herrschaft mit einem inneren Aufstand konfrontiert. Der Aufstand ist mehr oder weniger erfolgreich. Gaddafi weiß, dass seine einzige Chance darin besteht, den Aufstand mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Das tut er auch. Er rückt auf Bengasi vor, bereit, alles dem Erdboden gleichzumachen.
Wie Gaddafi beseitigt wurde hat bei Putin tiefen Eindruck hinterlassen
Dann greift die NATO ein und errichtet eine Flugverbotszone, was den Kämpfen eine Wendung gibt. Die ganze Armada, die aus Tripolis in Richtung Bengasi unterwegs ist, kehrt um, Tripolis wird eingenommen und Gaddafi auf die Ihnen bekannte Art und Weise beseitigt.
Wie wir wissen, hat das bei Wladimir Putin tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Entscheidung, Medwedew abzusetzen, in genau dem Moment gefallen ist. Denn Medwedew war damals Präsident und hat sich nicht gegen die Flugverbotszone ausgesprochen.
Was heißt das für Putin? Das heißt, dass in dem Moment, in dem es in Russland einen Aufstand gibt, und es wird ihn geben, unweigerlich … Übrigens war ich geneigt zu glauben, dass der Moment nicht weit weg ist, weil Belarus, das Russland in seiner politischen Kultur sehr ähnlich ist, es gerade vorgemacht hatte. Folglich war Russland auch nicht weit davon entfernt. Alle vergleichbaren napoleonischen Regime haben eine Lebensdauer von etwas über zwanzig Jahren. Die Widersprüche im Inneren häufen sich, und ihm [Putin – dek] dürfte klar sein, dass ein Aufstand nicht weit entfernt ist.
Aber für ihn ist ein Aufstand nie Ausdruck einer aus der Bevölkerung erwachsenden Energie – es sind immer die Machenschaften eines äußeren Feindes, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Es gibt überhaupt kein Volk, es gibt nur einen äußeren Feind, der dich eliminieren will. Wenn dir eine solche Gefahr droht, musst du absolut sicher sein, dass dir im Unterschied zu Gaddafi jedes erdenkliche Mittel zur Verfügung steht, um diese Gefahr zu bekämpfen. Jedes. Egal, wie viele Menschen du dafür töten musst, du musst in der Lage sein, es zu tun.
Wenn es ein benachbartes Land gibt, das Russland kulturell sehr nahe steht – ein riesiges Land, das größte Land Europas –, in dem es ein anderes politisches Leben gibt, das Putin als „Anti-Russland“ bezeichnet, eine radikale Alternative zu Russland, und diese Form der politischen Organisation ist in militärischer Hinsicht, sagen wir, durch die USA garantiert, dann ist das eine nicht hinnehmbare Gefahr. Es bedeutet, dass er mit seinem Volk nicht alles tun kann, was er will. Über ihm hängt ein riesiges [Damokles-Schwert], das sein Schicksal jeden Moment in das von Gaddafi verwandeln kann.
Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die Situation in genau diese Richtung entwickelt, weil die Ukraine, auch wenn sie kein Mitglied der NATO ist, ganz klar zu einem Militärbündnis mit den USA tendiert und das politische Regime in absehbarer Zeit durch die USA garantiert würde. Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte.
Wenn er also sagt, sie hätten uns angegriffen, hätten wir es nicht getan, dann glaubt er tatsächlich, was er sagt?
Ohne jeglichen Zweifel. Mehr noch, in einem verrückten Sinn ist das sogar wahr, denn er hätte jedes Vorgehen gegen ihn als einen Angriff durch die NATO interpretiert, und weil das unweigerlich eingetreten wäre, entspricht das in seiner paranoiden Wahrnehmung der Wahrheit. Deshalb war für mich schon vor zwei Jahren klar, dass es Krieg geben würde. Und als er vor einem halben Jahr diesen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Ukraine die Daseinsberechtigung abspricht, war es dann völlig offensichtlich. In diesem Text steht schwarz auf weiß: Entweder wir unterwerfen sie friedlich und machen sie zu einem Anhängsel, oder wir erobern sie. Das sind die zwei Optionen.
Natürlich ist jetzt auch die Konjunktur vergleichsweise günstig: Putin denkt, er sei dank modernster Waffen militärisch überlegen, er hat enorme Ressourcen angehäuft (wo die alle hin sind, ist eine andere Frage), dann sind da die Rohstoffpreise, Europas Abhängigkeit von diesen Rohstoffen, Turbulenzen in diversen Ländern … Kurzum, die Entscheidung war in seinen Augen absolut unvermeidlich.
Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten – das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen
Und ja, er und sein Umfeld sprechen jetzt von einem Vabanque-Spiel, bei dem sich Russlands Zukunft entscheiden werde. Sie verstehen also durchaus, worauf sie sich eingelassen haben. Innerhalb dieser Logik müssen sie sich tatsächlich verteidigen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das für sie ein Verteidigungskrieg ist. Aus ihrer Sicht ist das Ziel nicht, eine Hegemonie zu errichten oder kulturell zu expandieren.
Wenn wir von der „Russischen Welt“ sprechen, meint das nicht, dass es etwas spezifisch Russisches gäbe, das die Ukrainer nicht hätten und das man ihnen bringen müsste. So etwas gibt es nicht. Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten. Nein, das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen. Was natürlich noch gefährlicher ist, weil wir hier von Leuten reden, die glauben, dass man sie umbringt, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie müssen sich verteidigen – um jeden Preis.
Welche Rolle spielt die so populär gewordene Theorie des „Russki Mir“, deren Vertreter mal als die Ideologen des Kreml galten, also Leute wie Dugin?
Einerseits sehe ich, dass einige von Dugins düsteren Ideen durchaus ihren Einfluss hatten auf die Clique, die in Russland die Entscheidungen trifft, und wahrscheinlich auch indirekt auf den Präsidenten, der sich in letzter Zeit offenbar komplett isoliert hat und die Entscheidungen nahezu im Alleingang zu treffen scheint. Auf der anderen Seite sehe ich auch, dass diese [weltanschauliche – dek] Suppe, die sich da zusammengebraut hat, sogar im Vergleich zu diesen Ideen sehr primitiv wirkt. Man könnte meinen, diese Leute seien intellektuell dafür verantwortlich, was sie ausgebrütet haben, aber das, was am Ende dabei herausgekommen ist – ich bin nicht sicher, ob sie selbst davon so begeistert sind.
Die ideologische Suppe des ‚Russki Mir‘ wirkt sehr primitiv
Das große Problem mit diesem ganzen „Russki Mir“ ist, dass es eine leere Idee ist. Ein Imperium muss etwas vermitteln. Die „Russische Welt“ vermittelt nichts. Sie bietet keine Visionen. Keinerlei Perspektiven für eine kulturelle Entwicklung. Da ist rein gar nichts. Jeder, der Interesse an einer Ausweitung des russischen Einflusses hat, versteht, dass man irgendeine Art von Hegemonie braucht, um als Land eine Position zu erlangen. Unter Hegemonie versteht man, dass ein Land etwas anzubieten hat, das für andere attraktiv ist. Dann beginnt man, sich mit dieser Idee zu identifizieren, an sie zu glauben und sie zu verbreiten.
Dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss – diese Idee ist in Russland aus den Köpfen verschwunden
In Russland war das an einem gewissen Punkt einfach wie weggeblasen: Der simple Gedanke, dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss. Diese Idee ist aus den Köpfen verschwunden. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht vereinen lässt mit diesem fundamentalen Beleidigtsein auf die ganze Welt. Oder weil man dafür anfangen müsste, den Leuten zuzuhören. Man müsste versuchen, sie zu verstehen, Gemeinsamkeiten finden, hören, was sie wirklich bewegt, etwas anbieten, das darauf reagiert. Das scheint niemanden mehr zu interessieren, das einzige, was noch übrig ist, ist rohe Gewalt. Aber mit roher Gewalt kann man keine Welt errichten.
Das sagen selbst die Quellen, auf denen dieses zweifelhafte, widersprüchliche und natürlich auch gefährliche Projekt basiert. Immerhin impliziert es die Errichtung einer gewissen Einflusssphäre. Aber Russland schneidet sich gerade selbst für viele viele Jahre alle Einflussmöglichkeiten ab. Sehen wir uns zum Beispiel das Problem mit dem NATO-Block an, das ich für durchaus glaubhaft halte. Wozu wird das führen? Dazu, dass alle, die bisher nicht beitreten wollten, es jetzt tun. Russland steht nun einem Block gegenüber, der ihm tatsächlich feindlich gesinnt ist. Jetzt wollen alle rein. Finnland und Schweden bereiten schon Abstimmungen vor.
Alle, die bisher nicht der NATO beitreten wollten, tun es jetzt
Warum bringt man alle gegen sich auf? Nur, weil man keine andere Möglichkeit sieht, zusammenzuarbeiten, weil man ernsthaft glaubt, dass die einzig mögliche Interaktion Gewalt ist, dass man seine „Partner“ mit Waffengewalt zwingen muss. Das ist ein Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen wird.
Was wird aus der Ukraine?
Angenommen, es endet nicht alles mit einem Atomkrieg …
Ja, lassen wir das Worst-Case-Szenario mal beiseite.
Was allerdings nicht ausgeschlossen ist und unter diesen Bedingungen durchaus realistisch. Abgesehen davon hat Russland natürlich überhaupt keine Chance mehr, irgendeine ideologische Kontrolle über die Ukraine auszuüben. Das ist für immer vorbei. Es hätte eine Möglichkeit gegeben, wenn man die Karte der jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte ausgespielt und den Ukrainern etwas angeboten hätte, was sie einerseits respektiert und was andererseits attraktiv im Hinblick auf die Integration in eine gemeinsame Sphäre gewesen wäre. Jetzt ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, ich schätze, für immer.
Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten
Das mit der Ukraine ist eine Sache, aber was ist mit all den anderen slawischen Völkern? Sieh dir doch mal an, was die Leute in den slawischen Ländern sagen. Wir verlieren absolut alle. Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten. Wir werden ihnen jahrzehntelang nichts entgegensetzen können. Sie werden sagen: „Dieses Land muss für immer kleingehalten werden, sonst wird es sich erheben und wieder auf uns losgehen.“ Und wir haben so gut wie keine Argumente dagegen. Wir können sagen, dass wir uns geändert haben, dass das unsere durchgeknallten Vorfahren waren, aber die Antwort wird sein: „Nein, die haben das im Blut. Die werden nie Ruhe geben.“ Und damit werden wir irgendwie umgehen müssen.
Natürlich betrifft das genauso die Ukraine und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Belarus. Wie das konkret aussehen wird, das ist eine andere Frage, das hängt davon ab, wie die sich anbahnende Niederlage [für Russland – dek] aussehen wird, welchen Preis auch die Ukrainer dafür werden zahlen müssen. Aber es existiert nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine für immer besetzt und die Ukrainer irgendwie umformt, nach welchem Vorbild auch immer. Das ist unmöglich. Deshalb ist das eine Wunde, die für immer bleiben wird.
Und die Ukraine selbst, ihr Geist, die Menschen, der Präsident, der Staat?
Das hängt stark davon ab, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Ich denke nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass es bei der Ukraine bleiben wird. Es wird davon abhängen, wie weit er sich ausbreiten wird, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird. Das ist noch völlig unklar.
Es wird davon abhängen, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird
Klar ist jedoch, dass sich für die Ukraine jetzt viele Probleme lösen, die sie vorher gespalten hatten. Ich bin kein Experte für die Ukraine, aber ich schätze, dass sich das Ost-West-Problem für immer erledigt hat. Klar ist auch, dass Selensky jetzt auftritt, wie ein Präsident in Kriegszeiten auftreten muss, er hat unglaubliches rhetorisches Talent. Er ist zu einem der führenden Politiker unserer Zeit geworden. Ein Mann, über den man noch viele Filme drehen wird. Und jetzt ist er natürlich in der Lage, eine Menge für den Wiederaufbau der Ukraine tun zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Aber dieser Moment muss erst noch kommen. Bis zu diesem Moment müssen sie noch ausharren, durchhalten, und dann wird sich zeigen, wie das aussehen wird.
In den Fernen Osten zog es Alexander Lukaschenko in der vergangenen Woche. Der belarussische Machthaber besuchte die Hafenstadt Wladiwostok und traf in der Oblast Amur seinen russischen Kollegen Wladimir Putin. Der Ort des Zusammentreffens: der Östliche Weltraumbahnhof (russ. Kosmodrom Wostotschny), der dort seit vielen Jahren rund 8000 Kilometer von Moskau entfernt entsteht. Während Putin sich in Bezug auf den von Russland entfachten Angriffskrieg gegen die Ukraine siegesgewiss gab, stand ihm Lukaschenko bei. Er erklärte das Massaker von Butscha zur „psychologischen Spezialoperation der Briten“.
Der Politikanalytiker Waleri Karbalewitsch sieht in der demonstrativen und „ultraloyalen“ Unterstützungsrhetorik den Versuch, Lukaschenkos Haltung zu verschleiern, „dass er nicht bereit ist, belarussische Truppen in die Ukraine zu schicken“. Der Krieg des Kreml ist in der belarussischen Gesellschaft extrem unpopulär, was sich unter anderem durch die Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken des Landes zeigt. Zudem bedroht die langfristige Stationierung russischer Truppen auf belarussischem Staatsgebiet nicht nur die Souveränität des Landes, sondern womöglich auch die Macht Lukaschenkos selbst.
Kann es also sein, dass Lukaschenko in seiner scheinbar ausweglosen Lage versucht, auf mehreren Ebenen zu agieren, um sich neue Handlungsspielräume zu erschließen? Entsprechend breit wurde auch ein Brief von Wladimir Makei diskutiert. Der belarussische Außenminister hatte sich, ebenfalls in der vergangenen Woche, an die Europäische Union gewandt, mit dem Vorschlag, den Dialog wiederherzustellen, der seit den Repressionen und Eskalationen Lukaschenkos gegen die Protestbewegung und seiner Rolle im Krieg gegen die Ukraine aufgekündigt worden war. Man würde sich, so Makei sinngemäß, auch nicht weiter in den Krieg hineinziehen lassen. Offensichtlich macht sich Lukaschenko Gedanken darum, inwieweit er seine außenpolitischen Fähigkeiten wiederherstellen kann. Auch für den Fall, dass Putin den Krieg verliert. Zudem plagen ihn zweifelsohne die Folgen der Sanktionen für die belarussische Wirtschaft und in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Russland, das selbst scharf sanktioniert wird, diese Folgen abfedern kann und will, und vor allem: zu welchem Preis.
Lukaschenko und Putin, deren Verhältnis trotz der aktuellen demonstrativen Einigkeit in der Vergangenheit alles andere als unkompliziert war, haben im November 2021 eine weitere Integration von Belarus in den sogenannten Unionsstaat beschlossen. Wäre dessen Vollendung und Belarus´ endgültige Inkorporation in die Russische Föderation eine für die beiden Sowjetnostalgiker vorstellbare Option? Auf was zielen Lukaschenkos verwirrende und scheinbar widersprüchliche Taktikspiele möglicherweise ab? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Naviny.
Alexander Lukaschenko thematisiert plötzlich eine mögliche Eingliederung der Republik Belarus in Russland, die er folgendermaßen kommentiert: „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein, mit alten Methoden vorzugehen. Ich sage euch, wir werden eine solche Einheit zweier unabhängiger Staaten schaffen, dass sie von uns was lernen werden. Lernen werden sie von uns! Wie man Sanktionen überwindet und so weiter.“
Diese hochtrabende Tirade ließ Lukaschenko am 13. April in Wladiwostok bei einem Treffen mit dem Gouverneur der Region Primorje vom Stapel. Es sah nicht so aus, als würde ihn jemand dazu zwingen – dieses Thema scheint ihn einfach zu beschäftigen. Und seine Worte „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein“ lassen sich dekodieren als „ich hoffe, Putin ist nicht so dumm“.
Das politische Lavieren als Strategie
Zwischen den beiden postsowjetischen Staatsoberhäuptern hat nie echtes Vertrauen geherrscht. Viele Beobachter sind der Meinung, Putin sei schon allein dadurch, dass er überraschend Russlands Präsident wurde, dem ambitionierten Ex-Direktor der Sowchose in Schklou in die Quere gekommen, der davon geträumt hatte, in Boris Jelzins Fußstapfen zu treten.
Heute erinnert sich kaum mehr jemand an den Konflikt, der 2002 zwischen Lukaschenko und Putin hochkochte. Damals trieb der Kremlchef die Frage der Eingliederung der Republik Belarus in Russland auf die Spitze. „Nicht einmal Lenin und Stalin sind auf die Idee gekommen, Belarus zu zerschlagen und es der RSFSR anzuschließen“, empörte sich damals der belarussische Präsident, der den souveränen Absolutismus zu schätzen gelernt und es sich in seiner Allmacht bereits bequem gemacht hatte.
Es folgte eine Zeit der Beziehungsschwierigkeiten, in der Lukaschenko mal Lobeshymnen auf Russland sang, um an billige Ressourcen zu kommen, mal Russlands imperialistische Allüren anprangerte, um das eigene Herrschaftsrecht in der ehemaligen Sowjetrepublik zu behaupten. Hin und wieder gelang es ihm, zu lavieren und mit dem Westen geopolitische Spielchen zu spielen. Eine richtige Annäherung an den Westen schaffte das belarussische Staatsoberhaupt allerdings nie, weil es ein auf seiner persönlichen Macht basierendes antidemokratisches Regime errichtet hatte.
Eine vollwertige Marktwirtschaft hingegen hat Lukaschenko nie errichtet. Während er behauptete, räuberische Reformen zu vermeiden, ging es ihm in Wirklichkeit nur darum, die staatliche (sprich, seine persönliche) Kontrolle über die materielle Basis nicht zu verlieren. Die ineffektive staatliche Wirtschaft erforderte aber permanent russisches Doping, sodass sich Lukaschenko bei allen Reibereien nie wirklich von Moskau lösen konnte.
Abhängigkeit jenseits der roten Linie
Eine Zeitlang – erinnern wir uns an die fetten Jahre der ersten Hälfte der 2000er – gelang dem belarussischen Staatschef der Tausch von, „Öl gegen Küsse“, und im Gegenzug gab er das Versprechen, sich vor die berüchtigten NATO-Panzer zu werfen.
Doch danach erhob sich das Imperium von den Knien und begann, für jedes verfütterte Vitamin reale Zugeständnisse einzufordern. Der Gipfel war im Dezember 2018 das berühmte Ultimatum von Dimitri Medwedew, damals Premierminister der Russischen Föderation: entweder „tiefgreifende Integration“, oder ihr könnt die spendablen Zuschüsse vergessen. Und wieder empörte sich Lukaschenko: „Uns zu erpressen, uns beugen zu wollen, uns das Knie auf die Brust zu drücken ist zwecklos.“
Und um der Falle zu entgehen, ließ er 2019 die Unterzeichnung der sogenannten Roadmaps für die Vertiefung der Integration platzen.
Doch die Ereignisse des Jahres 2020 – die Proteste gegen die gefälschten Wahlen und ihre brutale Niederschlagung – trieben den belarussischen Staatschef, der seine frühere Legitimität eingebüßt hatte, in eine solche Abhängigkeit von Moskau, dass er seinen alten Stolz begraben musste.
Lukaschenko unterschrieb 28 Bündnisprogramme (modifizierte Roadmaps der „vertieften Integration“) und ließ auf belarussischem Territorium russische Truppen stationieren, die am 24. Februar in der Ukraine einfielen. Das belarussische Staatsoberhaupt, das zuvor Kiew versprochen hatte, von seinem Land aus werde es keine Angriffe geben, fand sich in einer erbärmlichen Lage wieder: In den Augen der Ukrainer, des Westens und eines beträchtlichen Teils seiner Landsleute war er endgültig zu einer Marionette des Kreml geworden.
So hat die Logik des Machterhalts um jeden Preis den Regenten um einen beträchtlichen Teil seines politischen Subjektstatus gebracht und Belarus dem Risiko ausgesetzt, den letzten Rest seiner Souveränität zu verlieren, die das Regime ohnehin schon Stück für Stück verkauft hatte.
Nostalgien unterschiedlicher Machart
Lukaschenko hat, wie auch viele Beobachter, offenbar Putins Rationalität überschätzt. Und hat daher eine großangelegte Aggression gegen die Ukraine für unwahrscheinlich gehalten.
Dieser abenteuerliche Überfall, der die gesamte demokratische Gemeinschaft, die gesamte entwickelte Welt herausfordert, hat gezeigt, dass der Regent im Kreml den Kontakt zur Realität vollends verloren hat und sich rückhaltlos seinen imperialistischen Instinkten hingibt. Und das erhöht die Gefahr auch für Belarus.
Putin spricht der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat ab (mit dem Argument, Lenin habe sie künstlich erschaffen, die Kommunisten hätten ihr ur-russischen Boden abgetreten), doch alle diese großmächtigen Pseudoargumente können jederzeit auch auf Belarus angewandt werden. Auch die BSSR wurde von Bolschewiken in Smolensk ausgerufen, ihr Gebiet wurde durch Beschlüsse der sowjetischen Regierung festgelegt und erweitert.
Sowohl Putin als auch Lukaschenko trauern der UdSSR nach, wenn auch mit unterschiedlichen Arten von Nostalgie. Putin wünscht sich eine Wiedergeburt des Imperiums im klassischen Sinn. Er geißelt sogar Lenin dafür, dass dieser sich den „nationalen Randgebieten“ angebiedert, ihnen Souveränität verliehen habe, zwar eher pro forma, doch das sei das Pulverfass unter der Sowjetunion gewesen.
Lukaschenko hätte offenbar gern sowjetische Einigkeit, eine planmäßige Zufuhr billiger Ressourcen und einen garantierten Absatz für Erzeugnisse aus Belarus (die BSSR war einst die führende Montagewerkstatt der UdSSR). Plus einen atomaren Schutzschirm gegen den verfluchten Westen.
Doch dabei will er bestimmt nicht den Status eines Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der belarussischen Kommunistischen Partei, den Moskau befehligt und jederzeit absetzen kann. Lukaschenko will eine Reinkarnation der Sowjetunion, bei der er alle Vorteile aus dem Zentrum genießt und gleichzeitig auf seinem Territorium allmächtiger Zar bleibt.
Eine solche Idylle ist aber unmöglich. Und die Spielregeln diktiert der Stärkere. Heute, wo Lukaschenko geschwächt ist, macht Moskau ihn unverblümt zu seinem Vasallen.
Steht eine schleichende Eingliederung bevor?
Ein weiterer Punkt ist, dass Putin momentan eine klassische Inkorporation von Belarus mit Säbelrasseln und sonstigem Gedöns gar nicht haben will. Wozu sich noch mehr Scherereien einhandeln – von weiteren Sanktionen des Westens über den geschlossenen Widerstand eines Volkes, das mehrheitlich darauf verzichten möchte, Teil eines Imperiums zu werden, bis hin zur Notwendigkeit, mehr als neun Millionen Münder miteinzukalkulieren?
Die schleichende Inkorporation kommt Moskau heute gerade recht.
Lukaschenko aber fühlt sich in der Rolle des Vasallen schrecklich unwohl. Nomenklatur und Silowiki sehen ihren Boss, der so lange unbeugsam erschien, bereits in einem anderen Licht. Heute hat es der Kreml um einiges leichter, die Figur an der belarussischen Spitze bei Bedarf auszuwechseln.
Und seit dem Angriff auf die Ukraine ist die Unberechenbarkeit des Kremlherrschers in Lukaschenkos Augen wohl stark gestiegen. Der belarussische Staatschef sagt zwar „Putin und ich sind nicht so dumm“, hegt aber eigentlich die Hoffnung, dass „Putin nicht so dumm“ sein möge.
Weil es zwischen den Bündnispartnern de facto nie eine Parität gab, schon gar nicht jetzt. Lukaschenko konnte sich mit spitzfindigen Zügen lange halten, hat aber dieses Spiel mit dem Imperium erwartungsgemäß doch verloren. Die Perspektive des Kreml, sich heimlich, still und leise Belarus einzuverleiben, ist derzeit günstig wie nie zuvor.
Verhindern kann das wohl nur mehr eine schwere Niederlage des Kremlregimes in der Schlacht gegen die Ukraine und die progressive Welt. Na ja, und obwohl in Belarus alles Lebendige jetzt extrem unterdrückt ist, wird natürlich vieles von der mehrheitlichen Haltung seiner Bürger abhängen.
Die Ukrainer, von denen man eine rasche Kapitulation erwartet hatte, haben gezeigt, dass sie bereit und fähig sind, für die Freiheit zu kämpfen. Die belarussischen Truppen sind weitgehend deshalb nicht im ukrainischen Fleischwolf gelandet, weil die überwiegende Mehrheit der Belarussen kategorisch gegen den Krieg ist. Insofern können nicht nur die Staatschefs, sondern auch die normale Bevölkerung den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflussen.