In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt.
Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.
Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.
Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.
Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.
Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert
Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.
Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.
Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.
Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.
Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.
Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler
Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.
Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.
Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.
Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.
Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.
Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.
Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.
Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen
Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.
Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume.
Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.
Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab
Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.
Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.
Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.
Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten ParteiBelaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.
Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“
Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.
Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.
Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.
Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.
Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.
Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.
Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika
Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.
Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.
Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.
„Das machen doch alle“
„Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?
Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.
Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.
Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf
„Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.
Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.
Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma
Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.
Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis
Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.
Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.
Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.
Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus?
Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.
Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.
Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache
Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.
Die Repressionsmaschinerien des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und die seines russischen Kollegen Wladimir Putin werden schon lange miteinander verglichen. In Belarus rollt seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 eine ungeheure Repressionswelle gegen jeglichen vermuteten Widerstand, die russische Führung hat auf ihrer Seite die Maßnahmen gegen Medien, Zivilgesellschaft und Andersdenkende vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft. Für Meduza erklärt der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman detailreich die Eigenheiten und Formen der Repressionen in Belarus – die möglicherweise als Blaupause für die Ausweitung der Unterdrückung in Russland dienen könnten.
Die Nachricht, dass der Politiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde und Alexej Nawalny vermutlich ein vergleichbares Verdikt erwartet, ruft bei vielen Russen Angst und Befremden hervor. Für die Belarussen bestätigt sich wieder einmal der schon zum Klassiker gewordene, traurige Witz über die beiden Regime und die Fernsehserie.
In einem Interview mit Juri Dud erklärte der belarussische Comedian Slawa Komissarenko den Unterschied zwischen dem belarussischen und dem russischen Regime so:
Wir schauen beide dieselbe Serie, aber ihr seid bei der dritten Staffel und wir schon bei der fünften. Und manchmal schauen wir zu euch rüber und sagen: „Oh, bei euch wird es bald auch ziemlich interessant!“
Das ist nicht nur ein Witz. Betrachtet man das Ausmaß und die Brutalität der Repressionen, hat Belarus tatsächlich fast auf allen Etappen von Lukaschenkos Regierungszeit Wladimir Putins Regime übertroffen. Eine Ausnahme stellte lediglich der kurze Zeitraum von 2015 bis 2019 dar, als Minsk versuchte, sich korrekter zu benehmen, um das Verhältnis zum Westen aufzubessern. Doch danach wurde die „Balance“ wiederhergestellt. Die gescheiterte Revolution 2020 rief Repressionen einer Intensität hervor, die in der poststalinistischen Geschichte sowohl in Russland wie auch in Belarus ihresgleichen sucht.
Obwohl, eine Ausnahme gibt es noch, nämlich geplante Morde an Journalisten und Politikern. Für Belarus war und bleibt das eine eher untypische Maßnahme, die Minsk nur ein einziges Mal ergriff – in den Jahren 1999-2000, als das Regime zwei belarussische Politiker, Viktor Gontschar und Juri Sacharenko, sowie den Journalisten Dimitri Sawadski und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwinden ließ und vermutlich auch ermordete. Damals zeigten selbst die offiziellen Ermittlungen, dass die Lukaschenko nahestehenden Silowiki Viktor Scheiman und Dimitri Pawlitschenko in die Sache verwickelt waren. In Putins Russland dagegen standen Morde an Politikern, Journalisten und Überläufern durch den Geheimdienst – oder gescheiterte Versuche, sie zu verüben – immer schon auf der Tagesordnung.
Bei allen anderen repressiven Praktiken sind die belarussischen Silowiki grausamer und weniger selektiv – und haben damit vor den russischen Kollegen gewissermaßen einen Vorsprung. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Erfahrungen austauschen. Um neue Formen der Gewaltanwendung und der Menschenrechtseinschränkung zu finden, müssen sich die russischen Silowiki ihre nächsten Schritte nicht unbedingt von den Belarussen abschauen, es gibt da keine Patente und kein Knowhow. Jedes Regime verfolgt da seinen eigenen Plan. Doch da die belarussischen Silowiki diesen Weg schon früher eingeschlagen haben, ist die Beobachtung ihrer Methoden sinnvoll für Russen, die verstehen möchten, wie ihr eigenes Regime möglicherweise weiter degradieren wird.
Folter – für die Silowiki Routine
Zunächst kam es in Belarus zu einer Normalisierung von physischer Gewalt bei Festnahmen, in den Polizeidezernaten und Untersuchungshaftanstalten. Folter und Prügel sind auch für russische Silowiki nichts Neues, doch in Belarus ist Gewaltanwendung bei Festnahmen aus politischen Gründen seit 2020 Routine. Es passiert nicht mit jedem, aber mit zu vielen, um es bloß als Exzesse einzelner Beamter abzutun.
Während der Proteste 2020 war das Verprügeln der Festgenommenen eine zusätzliche präventive Maßnahme. Die 15 Tage Haft sollten nicht wie eine zu schwache Bestrafung wirken, die den Protestierenden keine Lektion erteilt. Heute wird häufig geschlagen und gefoltert, wenn sich jemand weigert, sein Mobiltelefon zu entsperren. Ein weiterer Grund kann schlichte Bosheit oder Rache der Silowiki für angebliche Beleidigungen sein, zum Beispiel, wenn sie jemanden verdächtigen, persönliche Daten von Mitarbeitern des Innenministeriums geleakt zu haben.
Neben der Gewalt ist auch die demonstrative Erniedrigung der Verhafteten auf Video zur gängigen Praxis geworden. Im Juni 2022 wurde ein Häftling vor laufender Kamera gezwungen, mit Nadeln und Tinte eine Tätowierung mit einem Hakenkreuz zu entfernen. Anderen Aktivisten malte man zur Aufnahme von „Reue-Videos“ etwas ins Gesicht oder klebte ihnen Protestutensilien an.
Die Gefangenen werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr
Zur physischen Gewalt kann man auch die Haftbedingungen der politischen Gefangenen rechnen, die Arreststrafen verbüßen. Die Menschen verbringen die langen Wochen ihres Freiheitsentzugs – teilweise mehrere 15-tägige Fristen nacheinander – in überfüllten Zellen, ohne Bettzeug und Matratzen, ohne Dusche, Ausgang und Pakete von Angehörigen (manchmal werden Medikamente durchgelassen), ohne Recht auf Korrespondenz und Treffen mit einem Anwalt. Sie werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr. Viele beklagen die Folter durch Kälte, wenn sie ohne warme Kleidung in unbeheizte Zellen gesperrt werden. Auch die Strafgefangenen unterliegen vielen Einschränkungen, doch das Haftregime der „Arresthäftlinge“ ist bislang deutlich strenger.
Alle sind jetzt „Extremisten“
Anfang Mai 2023 zählen belarussische Menschenrechtler fast 1500 politische Gefangene im Land (bei einer Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen). Dabei räumen selbst die Menschenrechtler ein, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist, da viele Angehörige die Festnahmen lieber nicht öffentlich machen, um die Haftbedingungen nicht zu verschlimmern.
Die Mehrheit der politischen Gefangenen wurde aufgrund zweier Tatbestände verurteilt – wegen Teilnahme an den Protesten 2020 und nach den sogenannten Diffamierungsparagrafen, also dem Vorwurf der „unangemessenen Meinungsäußerung“. Das sind die Paragrafen zur „Beleidigung des Präsidenten“ und einzelner Amtsträger sowie zum „Schüren von Hass“ gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (gemeint sind wohl die Silowiki) und – in letzter Zeit immer öfter angewandt – der Paragraf zur „Diskreditierung der Republik Belarus“.
Das Schüren von Hass wird dabei so breit wie nur möglich ausgelegt. Es kann ein zu grobes Wort in Bezug auf die Sicherheitskräfte in den sozialen Netzwerken oder in einem Nachbarschafts-Chat sein. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie in den sozialen Netzwerken Freude über den Tod eines Angehörigen der KGB-Spezialeinheit geäußert haben, der bei der Stürmung der Wohnung des Minsker Informatikers Andrej Selzer im Herbst 2021 erschossen wurde, oder weil ihnen Selzer leid tat, der erschossen wurde, als die Spezialkräfte das Feuer erwiderten.
Es genügt an einem der Sonntagsmärsche teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten
Die Teilnahme an den Protesten wird in Belarus zum Verbrechen, sobald man während der Aktionen eine Straßenspur betreten hat. Dann greift nämlich Artikel 342 der Strafprozessordnung, „Organisation, Vorbereitung oder aktive Teilnahme an Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung stören“. Dieser Artikel wird inzwischen aufgrund der großen Zahl von Menschen, die nach ihm verurteilt werden, „Volksartikel“ genannt. Es genügt, in Minsk oder einer anderen Stadt, an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten. Bis heute werden nach diesem Paragrafen Verhaftungen vorgenommen: Die Silowiki finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren.
Ähnlich wie in Russland, doch in weit größerem Ausmaß, nutzen die belarussischen Machthaber die Extremismusgesetze zur Repression. Fast alle nichtstaatlichen Medienunternehmen sind bereits als „extremistisch“ eingestuft (zum Beispiel Zerkalo.io, Nasha Niva, Radio Svaboda, Belsat), ebenso populäre Telegramkanäle (Nexta, Belarus golownogo mosga), Blogs (zum Beispiel die der Oppositionspolitiker Swetlana Tichanowskaja und Waleri Zepkalo) und selbst einzelne Chatgruppen, darunter Nachbarschafts-Chats in Wohngebieten, wenn darin irgendwann Protestaktivitäten besprochen wurden.
Ein Ehepaar saß mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet haben
Das Abonnement einer „extremistischen“ Quelle auf Telegram ist ein Straftatbestand. Um das nachzuweisen, fordern die Silowiki bei der Festnahme meist die Entsperrung des Mobiltelefons, überprüfen die Abonnements in den Messenger-Apps und versuchen, gelöschte Daten wiederherzustellen. 2021 saß ein Ehepaar insgesamt mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet hatten.
Noch schlimmer ist dran, wer Gemeinschaften oder Organisationen angehörte, die als „extremistisch“ gelten, oder mit ihnen zusammenarbeitete. Das betrifft auch Personen, die unabhängigen Medien Kommentare oder Informationen lieferten, selbst wenn es nur ein Foto von einer Schlange vor einem Geschäft ist. Ein führender Militärexperte, Jegor Lebedok, sitzt eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er dem „extremistischen“ Euroradio einige Interviews gab. Die Ehefrau des (zu 15 Jahren verurteilten) Bloggers Igor Lossik, Darija Lossik, wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie dem Fernsehsender Belsat über ihren Mann berichtete. Die vierjährige Tochter der beiden blieb dadurch ohne Eltern zurück und lebt nun bei den Großeltern.
Für „extremistisch“ hält die belarussische Regierung auch Solidaritätsfonds wie BySOL und ByHelp, die Spenden zur Unterstützung der Repressionsopfer von 2020 sammeln. Damit wird jede Spende auch im Nachhinein zum Verbrechen, auch wenn der „Extremismus“ dieser Fonds erst 2021 festgestellt wurde, nachdem ein Großteil der Spenden schon eingegangen war. Doch da Zehntausende gespendet haben und viele von ihnen aus der IT-Branche kommen, also im Falle einer Verhaftungswelle das Land schnell verlassen würden, verzichten die Machthaber auf Strafverfahren und ziehen ihnen lieber Geld aus den Taschen. Personen, deren Bankdaten bei Spendenüberweisungen genutzt werden, erhalten systematisch Besuch vom KGB und werden aufgefordert, für die staatliche Wohltätigkeit zu „spenden”. Dabei werden weit höhere Summen verlangt, als die Repressionsopfer empfingen. Wer ein Geständnis unterschreibt, entkommt einem Strafverfahren, aber das Geständnis eines begangenen „Verbrechens“ bleibt für die Silowiki ein praktisches Druckmittel für die Zukunft.
Sie liquidieren Vereine von Umweltschützern, Menschen mit Behinderungen, Vogelkundlern und Fahrradfahrern
Ein weiterer Hebel zur Vernichtung des Dritten Sektors ist, neben den Extremismusparagrafen, die banale Zerstörung der nichtstaatlichen Strukturen. Die belarussischen Machthaber gehen diese Frage nicht gezielt an und spielen auch nicht mit hybriden Formen der Repression, wie etwa der Erklärung von Personen zu „ausländischen Agenten“. Vielmehr liquidieren die Silowiki seit Juni 2021, als die EU ein weiteres Sanktionspaket verabschiedete, hunderte NGOs, selbst solche, die weit abseits aller „politischen“ Strukturen agieren. Zum Beispiel Vereine von Umweltschützern und Historikern, Kulturorganisationen und wohltätige Stiftungen, Vereine von Menschen mit Behinderungen, Vereinigungen von Polen und Litauern in Belarus, Vereinigungen von Stadtforschern, Vogelkundlern und Fahrradfahrern. Die Tätigkeit im Namen einer nichtregistrierten Organisation ist ebenfalls eine Straftat.
Das Regime der Stille
Alle genannten repressiven Praktiken sind auch in Russland bekannt – wenngleich nicht im selben Ausmaß. Doch das belarussische Regime ergreift oft eine Reihe weiterer Maßnahmen, die in Russland bislang nicht regelmäßig angewandt werden.
Viele aufsehenerregende Gerichtsprozesse werden in den letzten Jahren in Belarus unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt – nicht einmal die Verwandten der Angeklagten sind zugelassen. Dadurch ist es unmöglich, Näheres über die Anklage zu erfahren, selbst die Namen politischer Häftlinge bleiben manchmal unbekannt. In öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist es Polizisten, die oft typisierte Zeugenaussagen vorlesen (der Angeklagte sei „die Straße entlanggelaufen, habe geflucht und sich der Festnahme widersetzt“), häufig erlaubt, ihre Aussage unter Pseudonym und mit Maske zu machen, damit sie nicht identifiziert werden.
In einem „Regime der Stille“ versucht man auch bekannte politische Gefangene, Oppositionsführer, zu versenken. Häufig wird ihren Anwälten die Lizenz entzogen oder sie werden selbst festgenommen. Regelmäßige Twitter-Nachrichten, wie bei Alexej Nawalny, sind in Belarus undenkbar: Für den Versuch, eine politische Botschaft aus dem Straflager zu schmuggeln, kann ein Anwalt seine Zulassung verlieren oder selbst hinter Gitter kommen.
Eine weitere belarussische Eigenheit ist die Todesstrafe, die in Russland aktuell mit einem Moratorium belegt ist. Im Frühling 2022 wurde in Minsk entschieden, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Jetzt kann die Höchststrafe nicht nur für brutale Morde, sondern auch für den „Versuch eines Terroranschlags“ verhängt werden, seit März 2023 zusätzlich auch für „Staatsverrat“. Bislang gibt es aber keine Fälle, in denen diese Strafe verhängt wurde.
Anfang 2023 nahm Minsk die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die belarussische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sie von Geburt an hatten. Das Gesetz tritt im Juli 2023 in Kraft. Voraussichtlich wird es auf führende Oppositionspolitiker im Exil angewandt, die zur Einleitung dieser Prozedur bereits in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.
Angeblich politisch Illoyale werden systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen
Bei einigen weniger brutalen Formen der Repression zeichnen sich die belarussischen Silowiki durch Akribie und eine totalitäre Herangehensweise aus. Beispielsweise haben sie ein Register von hunderttausenden Belarussen angelegt, die irgendwann einmal wegen angeblicher politischer Illoyalität auf den Radar gekommen sind, ob sie nun an den Protesten teilgenommen und dafür eine Nacht gesessen oder einfach vor den Wahlen 2020 für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet haben. Seit 2021 werden diese Menschen, je nach Schwere ihrer „Sünde“, systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen, aus Banken, Staatsunternehmen, medizinischen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, inklusive dem Verbot, je wieder im staatlichen Sektor Anstellung zu bekommen.
Auch ethnische Gruppen werden vermehrt ins Visier genommen. Ukrainer, die in staatlichen Organisationen arbeiten oder einfach schon länger in Belarus leben, berichteten von Befragungen beim KGB, zum Teil unter Einsatz von Lügendetektoren – damit sollen potentielle Informanten der ukrainischen Geheimdienste aufgespürt werden. Angestellte staatlicher Institutionen mit polnischen Wurzeln, die über eine Karta Polaka verfügen (ein Dokument, das Vereinfachungen bei der Einreise nach Polen gewährt), berichten, dass sie auf diese Karte verzichten müssen, um ihre Arbeit zu behalten.
Der Abgrund ist endlos
Ob Putins Regime exakt den Weg des belarussischen Systems einschlagen wird, ist unvorhersehbar. In Belarus gab es einen nachvollziehbaren Auslöser für den Ausbruch der Repressionen – den Revolutionsversuch von 2020. In Russland wurden die Repressionen im Kontext des Kriegs verschärft. Doch es besteht ein reales Risiko, dass den Russen eine viel breitere Eskalation der inneren Repressionen erwartet, sobald der Kreml sein Potential auf dem ukrainischen Schlachtfeld als erschöpft betrachtet und die Frustration über diesen Misserfolg irgendwohin kanalisiert werden muss. Zum Beispiel auf die verstärkte Säuberung des Landes von „Verrätern“ und „inneren Feinden“, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Sieg der Armee im Wege stehen.
Die wichtigste belarussische Lektion ist, dass der Abgrund bodenlos ist. Die „roten Linien“ von gestern haben heute keinen Bestand mehr, einzelne Exzesse der Exekutive werden zur Norm. Die Gesellschaft passt sich an die Brutalität des Regimes an, und unter der Last der täglichen Nachrichten ertappen sich die Menschen bei einer erschreckenden Erleichterung, wenn jemand statt zehn Jahren Haft nur zwei bekommen hat.
Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel
Das Regime weiß vielleicht selber nicht immer, wie weit es die Schrauben anziehen kann, aber es wird die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschieben. Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel, bis die herrschenden Eliten oder die Gesellschaft Widerstand leisten.
Und das geschieht nicht immer, weil ein konkreter Verbrecher beschlossen hat, den Terror auf die Spitze zu treiben. Repressionen sind ein sich selbst erzeugender Mechanismus. Sie bringen die Klasse ihrer Profiteure hervor – der karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die „Feinde“ zum Karrierebooster und zum Stachanow-Wettbewerb untereinander wird. Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln.
Die menschliche Psyche hält sich an den üblichen, wenn auch informellen Normen der Koexistenz mit dem Staat fest. Doch die belarussische Erfahrung lehrt, dass diese Normen äußerst labil sind, wenn die Machthaber in den Abgrund der Reaktionen rollen, die Gesellschaft aber zu atomisiert und zu verängstigt ist, um Widerstand zu leisten. Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus nicht mehr aktuell sind, hat viele Belarussen die Freiheit gekostet. Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann.
Krieg, Sanktionen und inzwischen auch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten – eine Frage, die derzeit oft gestellt wird, ist: Wie stabil ist das System Putin? Um diese Frage zu beantworten, lohnt zunächst der Blick in die Politikwissenschaft: Demnach hängt die Stabilität eines politischen Systems auch von dessen Legitimität ab, und diese wiederum vom Legitimitätsglauben, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. Ein langlebiger Legitimitätsglaube ist nach Möglichkeit widerspruchsfrei und bietet bestenfalls eine Zukunftsvision. Beides ist im Putinismus nicht der Fall – darauf weisen zahlreiche Analysten schon seit dem Machtantritt des russischen Präsidenten hin. Was hält das System Putin dann zusammen? Was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Und wie sehen mögliche Szenarien für die Zukunft aus?
Zu diesen und anderen Fragen spricht der Journalist Pawel Kanygin mit der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann auf dem YouTube-Kanal Prodolshenije Sledujet (dt. Fortsetzung folgt).
Pawel Kanygin: Putin und der chinesische Präsident haben sich in Moskau getroffen zu Gesprächen, die für Russland nicht viel gebracht haben dürften. Wie sehen Sie das, Ekaterina, stimmt es, dass dieses Treffen eher China und seinen Ambitionen als Gegenspieler der USA genützt hat? Welche Rolle fällt in dieser Konstellation Russland zu? Wird Russland zu Chinas kleinem Bruder? Oder zum Satelliten?
Ekaterina Schulmann: Ganz offensichtlich ist dieser Besuch aus China für die russische Seite momentan innenpolitisch extrem wichtig. Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Präsidenten und die Ombudsfrau für Kinderrechte erlassen. Das war eine derart unerwartete, schockierende Nachricht für den Politikbetrieb im Land, dass die Propagandamaschine gar nicht wusste, wie sie sie vermitteln soll. Also wurde beschlossen, dieses Thema einfach auszusparen, weil die Wörter „Putin“ und „Haftbefehl“ in einem Satz ja dann doch zu beschämend sind. Der einzige Ausweg war, diese Nachricht mit irgendeiner anderen zu übertrumpfen: damit, dass das chinesische Staatsoberhaupt nach Russland kommt, unserem Tatverdächtigen die Hand schüttelt, ihn zu sich einlädt … So gibt er den russischen Staatsbürgern und, noch wichtiger, den Eliten zu verstehen, dass dieser Haftbefehl nicht so schlimm ist, dass er nicht in die internationale Isolation führt, sonst wäre ja nicht der Kollege aus China angereist und hätte wohlwollend eine Gegeneinladung ausgesprochen. Insofern ist der situative und kurzfristige Nutzen sehr groß.
Was meinen Sie, was bedeutet dieser Haftbefehl konkret für die Eliten? Sie nannten ihn beschämend, kommt das so an? Ist es eher beschämend oder eher etwas, das man ignorieren kann?
Das ist überhaupt kein Widerspruch: Wenn man etwas Verletzendes zu Ihnen sagt, und Sie wissen keine Antwort darauf, dann können Sie es auch ignorieren. Natürlich wissen wir nicht so genau, was sich bei Einzelnen im Kopf abspielt, aber ausgehend von dem Wertesystem, das in diesen Kreisen herrscht, ist für sie der Internationale Strafgerichtshof irgendeine Unterabteilung des Washington-Obkom. Sie glauben, dass diese Richter Anrufe mit Anweisungen bekommen, wie und was sie genau zu tun haben, und es dann so machen.
Gedankengänge: kurz und gerade, wie Bahnschwellen
Die Idee einer unabhängigen Rechtsprechung und die Idee internationaler und supranationaler Organe sind unmöglich in die Köpfe der postsowjetischen Menschen hineinzukriegen. Sie sind nicht in der Lage und werden nie in der Lage sein, zu verstehen, was das ist. Daher denken sie eindimensional: Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof. Klar, dass über den die Amerikaner bestimmen, weil die Amerikaner die Herren über das ganze Universum sind. Dieser Internationale Strafgerichtshof hat bisher sechs Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatsoberhäupter verhängt. Das waren alles Chefs von Staaten, die man nicht anders nennen kann als failed States. Gleichzeitig, denkt unsere Elite, haben die amerikanischen Präsidenten bombardiert, abgeschlachtet, geplündert und Unschuldige in Guantanamo gefoltert, so viel sie wollten, und keiner hat sich darüber beschwert. Und warum? In deren Logik: Weil die amerikanischen Präsidenten stark und mächtig sind und alle sie fürchten. Wer sind folglich die, die solche Haftbefehle bekommen? Die, die nicht stark und mächtig sind, die, die keiner fürchtet. Ist das gut?
Ich kann es natürlich auch nicht hundertprozentig wissen, aber soweit man diese Leute nach jahrelanger Beobachtung durchschauen kann, sehen ungefähr so ihre Gedankengänge aus. Nicht lang, nicht komplex, ziemlich kurz und gerade, wie Bahnschwellen.
Heißt das, Putin verliert in ihren Augen quasi seine Legitimität, seinen Status als anerkannter und unhinterfragter Führer?
Na ja, nicht gleich die ganze Legitimität, die verliert man nicht so schnell. Es gibt kein einzelnes Ereignis, abgesehen vom physischen Tod, das die Macht des Präsidenten auslöschen würde. Das müsste schon eine ganze Kette solcher „bedauerlicher Missverständnisse“ und „zufälliger Pannen“ sein. Diese Kette hat schon relativ viele Glieder. Aber man weiß nie, welcher Strohhalm dem Kamel das Kreuz bricht.
Aber was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Wie viele solcher Strohhalme müssen sich ansammeln, und was für welche?
Das lässt sich mit der Stabilität einer Bank vergleichen. Bei keiner Bank ist das ganze Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Es liegt nicht physisch dort. Die Kunden lassen ihr Geld auf dem Konto, weil sie überzeugt sind, dass das besser ist, als das Geld zu Hause aufzubewahren. Wenn eine Gruppe von Kunden sich dessen nicht mehr so sicher ist und ihr Geld abhebt, sehen das die anderen und heben ebenfalls ihr Geld ab – und die Bank geht pleite. Sie ist also so lange stabil, solange die Kunden ihr vertrauen, und das tun sie, solange sie vertrauen. Das ist ein bisschen mystisch.
Welcher Strohhalm bricht dem Kamel das Kreuz
Legitimität ist in der Politikwissenschaft einer der umfangreichsten und schwierigsten Begriffe, weil er ein irrationales Element enthält. In Wirklichkeit weiß niemand, warum die einen Leute Befehle erteilen und die anderen ihnen folgen. Erklärungen dazu gibt es viele, aber wenn man ehrlich ist, dann stehen im Zentrum dieses Phänomens einige Rätsel. Also, der Wahrheit am nächsten kommt, dass die Macht Macht ist, solange die Menschen rundherum glauben, dass sie es ist. Genauso, wie eine Bank nicht alles Geld hat, das eingezahlt wurde, gibt es keinen Leader, der so viel Macht hat, dass er alles umsetzen könnte, was er eigentlich umsetzen müsste. Er kann es nur mithilfe anderer Menschen, aber nur, wenn die ihn tatsächlich für den Leader halten.
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Strohhalme es braucht, um unserem Kamel das Kreuz zu brechen. Wir können nur erkennen, welches Ereignis sich als Strohhalm auf seinen Rücken legt, und welches ein Leckerbissen für ihn ist. Denn es gibt Phänomene und Ereignisse, die diese Legitimität füttern, und solche, die ihr schaden. Dieser Haftbefehl schadet ihr natürlich. Der Besuch aus China ist Futter. Was könnte hier eine Kettenreaktion auslösen? Wer wird der Kunde sein, der sagt: „Leute, wir sollten mal los. Hebt euer Geld ab, gleich wird das alles den Bach runtergehen.“ Was das sein wird, wissen wir nicht.
Wir haben viele historische Beispiele, wie in sehr autoritären und strengen Systemen Massenproteste angefangen haben. Das passiert nicht dann, wenn das System besonders böse Bösartigkeiten macht. Die wirken oft erst recht systemstärkend, weil sie die Menschen einschüchtern und keiner mehr Widerstand wagt. Aber die Kombination, der Eindruck einer Schwäche in der Führungsriege und gleichzeitig eine spezielle Gemeinheit, irgendeine Schweinerei, die manchmal gar nicht so groß sein muss – das kann so ein Trigger sein.
Was sind die offensichtlichen Strohhalme? Misserfolge aller Art an der Front zum Beispiel. Aber wie wir sehen, kann man sich aus Charkiw zurückziehen, aus Cherson, ohne dass groß etwas passiert. Doch eine Anhäufung derartiger Ereignisse, vielleicht wenn sie in einer kurzen Zeitspanne dicht aufeinander folgen, könnte vielleicht zu dem führen, was in Tolstois Krieg und Frieden beschrieben wird: Da schreit irgendein Soldat: „Das war’s, Leute!“ und rennt los, und alle rennen hinterher.
Die Empörung, die Unzufriedenheit mit der Situation muss also vom Volk ausgehen und nicht von den Eliten?
Nein, im Gegenteil, so habe ich das nicht gemeint. In einer Autokratie ist natürlich die Position der Elite das Entscheidende. Solange sie dafür ist, den Status quo zu bewahren, wird sich dieser auch halten.
Am Beginn muss eine Schwäche stehen
Andererseits ist gerade im Nachhinein oft schwer erkennbar, wer als Erster Alarm geschlagen hat, denn sobald die Staatsmacht zu schwächeln beginnt, fangen sofort die Proteste an. Wenn dann ein neues Regime kommt, sagt es, wir sind auf einer Welle des Volkszorns gekommen, das Volk hat den Tyrannen gestürzt, und nicht: Die Elite hat beschlossen, den Kopf des gealterten Diktators zu opfern, um sich die Verlängerung ihrer Position zu sichern. Das klingt nicht so schön, und für die Geschichtsbücher ist es auch nichts, deswegen, noch einmal, entsteht im Nachhinein der Eindruck, dem Volk sei die Geduld gerissen. Aber am Beginn muss eine Schwäche stehen, und erst danach kommen die Konsequenzen.
Wie lange kann man die Idee der [politischen – dek] Mobilisierung, der Geschlossenheit, der belagerten Festung noch bemühen? Dass die Eliten sich dicht um ihren Leader drängen müssen, weil sie im Westen geprügelt werden und Russland ihnen ein sicherer Hafen ist.
Das ist momentan tatsächlich das Schlüsselnarrativ, aber es mobilisiert nicht. Die Mobilisierung der Gesellschaft konnte nicht gelingen, weil unser politisches System seit 20 Jahren auf Entpolitisierung setzt, auf die Trennung von Bevölkerung und Regierung, auf die Verdrängung der Menschen aus der Politik, auf die Verfolgung jeglicher Vereinigungen, jeglicher sozialer Verbindungen. Warum wurden die NGOs so terrorisiert? Warum wurde die Zivilgesellschaft verfolgt? Warum Nawalnys Strukturen zerschlagen? Weil das eigenständige, netzartige Zusammenschlüsse waren, die von unten wuchsen. Das durfte nicht sein, Zusammenhalt darf es nur im Staat geben, nicht in der Gesellschaft. Das hilft beim Machterhalt, wie man sieht, auf sehr lange Zeit. Aber wenn man dann so gescheit ist, eine Situation zu schaffen, in der man eine Mobilisierung braucht, dann sieht man, dass die gar nicht mehr möglich ist.
Solange das Geld dafür da ist
Unsere [Regenten – dek] haben das bereits verstanden und versuchen es auch nicht mehr. Stattdessen verkaufen sie genau diese Geschichte: Im Westen werdet ihr alle geprügelt und herabgewürdigt, haltet euch fern. Bleibt hier, wir tun euch nichts, und ihr verdient gutes Geld. Den Staatsbürgern sagen sie: Wir zahlen euch komplett alles, das Leben, den Tod, den Wehrdienst, die Kinder. Das ist dieser scheußlich klingende neue Gesellschaftsvertrag „Geld gegen Fleisch“ wie er in der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] artikuliert wurde: Ihr liefert uns lebende Ware, wir geben euch Geld. Und zwar so viel Geld, wie ihr noch nie gesehen habt. Bisher funktioniert das durchaus. Oder es heißt: Hier verdient ihr besser und schneller, mehr als im Westen, wir werden neue Gebiete erschließen, es wird Infrastrukturprojekte geben. Und, das wird zwar nicht ausgesprochen, schwingt aber irgendwie mit: Wir hören auf, euch wegen Korruption zu belangen, wir werden euch beschützen, und ihr werdet innerhalb Russlands und der freundlich gesinnten Länder absolut frei sein. Geht nur nicht in den Westen, da sind schlechte Menschen, Transparenz, Strafverfolgungen, allerlei unangenehme öffentliche Diskussionen. Das könnt ihr alles nicht brauchen.
So ist also das Narrativ: Das ist ein Krieg, oder vielmehr eine Konfrontation mit dem Westen, die ewig und unüberwindlich ist. Wir sind zwei unterschiedliche Zivilisationen, daran wird sich nie etwas ändern. Aber das sei gut so, der richtige, natürliche Lauf der Dinge. Und wer betroffen ist, dem zahlen wir Geld, und dann wird es euch sogar besser gehen – was wolltet ihr denn mit diesem Verwandten, den keiner braucht? Geld ist doch viel besser. Also, so lautet das Angebot, der Gesellschaftsvertrag. Überzeugend? Absolut! Wie lange das anhalten kann? Da würde ich gern eine ganz einfache, plumpe Antwort geben: Solange das Geld dafür da ist.
Putin beschreibt Russland oder stellt es zumindest in öffentlichen Reden einerseits als mächtigen Staat dar, als Supermacht, und andererseits als Opfer des Westens. Was ist das für ein Doppeldenk?
Soweit ich das verstehe, ist das so gemeint: Ja, wir sind mächtig, reich und moralisch überlegen, und deswegen greift uns der Westen ständig an und wird uns immer angreifen, weil wir von Natur aus einander Feind sind. Aber wir sind so stark, dass er uns nie endgültig besiegen und in die Knie zwingen wird. Wir stehen immer wieder auf. Ohne dass wir uns je zur vollen Größe aufgerichtet hätten, sind wir so mächtig, dass der ganze kollektive Westen mit vereinten Kräften es nicht schafft, uns zu besiegen. Das ist, wie mir scheint, eine sehr vorteilhafte Darstellung des Geschehens, weil man niemanden besiegen und sich nirgendwo hinbewegen muss. Man kann jederzeit hinausgehen und sagen: Wir haben erfolgreich unsere einzigartige Zivilisation verteidigt, unsere Werte, sie konnten uns nicht versklaven, sie konnten uns nicht spalten. Seht nur, wir leben hier genauso wie vorher. Außerdem kann man sein eigenes An-der-Macht-Sein ebenfalls als permanenten Sieg hinstellen.
Die Rhetorik ist bei uns voller Angriffe, gleichzeitig geht es ständig darum, dass wir Opfer sind. Sind wir nun Opfer, oder sind wir am Gewinnen? Welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, die sich das im Fernsehen anschauen? Und das mit dem sowjetischen Doppeldenk habe ich nicht grundlos gesagt — steht Putins Doppeldenk nicht in dessen Tradition?
Der sowjetische Doppeldenk bestand darin, dass die Leute das Eine dachten, das Andere sagten und etwas Drittes taten. Und der postsowjetische Mensch, also die Generation, zu der ja unsere ganze Führungsriege noch gehört, kann nicht verstehen, dass es zwischen diesen drei Bereichen eine gewisse Beziehung geben muss. Wenn ihm vorgeworfen wird, dass er pausenlos lügt, dann versteht er nicht, was damit gemeint ist, weil er glaubt, dass das alle Menschen so machen. Die Verbindung zwischen Gedanken, Handlungen und Worten ist für ihn nicht klar, weil er in einer grundlegend anderen Kultur sozialisiert wurde, in der man sagt, was von einem erwartet wird, sich seinen Teil denkt und das tut, was einem je nach Situation nützt. Man hat also keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken.
Die unverfälschtesten Vertreter dieses Typus sind bei uns jene, die der Generation der sowjetischen Boomer angehören, geboren in den 1950er Jahren. Warum gerade die? Sie waren 1991 ungefähr 40, also bereits erwachsene Menschen, die fest im Leben stehen. Sie haben das gesamte Programm der sowjetischen Bildung durchlaufen und wurden bereits von Sowjetmenschen unterrichtet. Das ist eine sehr spezifische Generation, ihr wurde jede lebendige Verbindung zum vorherigen, vorsowjetischen Russland gänzlich abgeschnitten. Sie wuchsen vor dem Informationszeitalter auf, es gab für sie in vielerlei Hinsicht keine Möglichkeiten, sich auf eigene Faust weiterzubilden. Das sind die Leute, die uns regieren. Doppeldenk und dreifache Divergenz sind für sie absolut charakteristisch.
Keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken
Was Sie angesprochen haben, das ist der öffentliche Diskurs, den die Menschen momentan vorgesetzt bekommen, in dem Russland Opfer und Sieger zugleich ist. Das erscheint tatsächlich unlogisch, aber ein öffentliches Narrativ dieser Art muss gar nicht mit Fakten überzeugen, sondern es muss emotional überzeugen. Das heißt, die Menschen wollen eine gemeinsame Emotion spüren, und die besteht darin, dass wir Angst haben und gleichzeitig stolz sind: Uns greifen alle an, aber wir leisten Widerstand, der niemals brechen wird.
Aber was Zukunftsaussichten angeht – das ist der größte Schwachpunkt. Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere, da ist nichts. Im öffentlichen Diskurs fällt nie ein Wort darüber, wie herrlich unser Leben sein wird, wenn wir siegen. Oder höchstens, dass wir die „Nazi-Regierung“ stürzen werden und das ukrainische Volk endlich aufwachen und erkennen wird, dass es in Wirklichkeit Teil des russischen Volkes sei. Und dann würden Russland und die Ukraine zusammen ein neues geopolitisches Zentrum bilden. Oder, dass wir uns mit China zusammentun und gemeinsam die USA besiegen, und dann … Es gibt dieses Bild der sogenannten multipolaren Welt, was immer das sein mag. Aber eine Vorstellung davon, wie toll diese multipolare Welt aussehen wird? Na gut, nun haben wir also die Hegemonie der USA gebrochen – und jetzt? Was kommt da noch so Großartiges auf uns zu?
Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere
Das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, weil in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Politik oft das Fehlende wichtiger ist als das Vorhandene. Was nicht passiert ist, zählt oft mehr, als das, was passiert ist. Es lohnt sich, auf diese Lücken zu achten, sie sagen sehr viel aus.
Das Fehlen einer Zukunftsvision scheint mir sehr bedeutend. Meine Arbeitshypothese ist: Am effektivsten erreicht die aktuelle Propaganda Menschen derselben Alterskategorie wie unsere Regierung. Das sehen wir in allen Umfragen, bei jedem Thema. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Meinung bestimmt, egal wozu. Vielleicht richtet sich dieser Diskurs an Menschen, die kein Bild der Zukunft entwerfen können, weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Primitiv ausgedrückt. Daher brauchen sie auch kein solches Bild. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Die Sowjetmacht hat ein strahlendes Bild der Zukunft gemalt, Nazideutschland hat eine strahlende Zukunft versprochen, Mussolini hatte seine Idee vom neuen Rom, und in China gibt es die Idee der blühenden Gesellschaft. Egal, ob dieses Bild nun mehr oder weniger Details enthält, es kann auch nur ganz allgemein sein – aber es muss vorhanden sein. Bei uns hat man das Gefühl, es herrsche ein Verbot, als würden alle Sätze sofort unterbunden, in denen ein Verb im Futur vorkommt.
Aber was wird mit den Kindern passieren, mit den Jugendlichen, die man jetzt mit aller Kraft zu militarisieren und indoktrinieren versucht und denen man diese neo-sowjetische „Ideologie“ einimpfen will?
Entgegen der landläufigen Annahme ist das, was Autoritarismus von Totalitarismus unterscheidet, nicht die Intensität der Repressionen. Schulbildung mit dem Ziel, die Kinder zu ideologisieren, ist aber ein Merkmal des Totalitarismus.
Wohin kann das führen? Noch sind wir in der heißen Phase eines Konflikts, von dem noch keiner erschöpft ist. Daher braucht es keine langen Erklärungen. Man kann sagen, wir wurden angegriffen, wir wehren uns. Bisher ist das Fehlen einer halbwegs einprägsamen, halbwegs zusammenhängenden ideologischen Botschaft kein Problem. Aber wenn man sich zehn Jahre halten und eine ganze Generation von Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse indoktrinieren will, dann wird man allein mit der Geschichte, dass der Westen immer schon gegen uns war, nicht weit kommen. Da braucht es schon so etwas wie den sowjetischen Diskurs.
Der sowjetische Diskurs war etwas Ganzes, er war vielseitig und harmonisch zugleich. Er hatte eine philosophische Komponente für die Gebildeten – den Marxismus. Er hatte einen Teil, den wir heute Memes nennen würden — einprägsame, bunte Bilder und Sprüche, die jeder in der Sowjetunion kannte. Dazwischen gab es eine große Menge unterschiedlicher ideologischer Produktion – Malerei, Lieder, das Ballett Der helle Weg, allerlei Bücher, Gedichte, Prosa. Der sowjetische Mensch war komplett von Ideologie umgeben, er verwendete sie, war durchdrungen von ihr.
Durchdrungen von der Ideologie
Wir haben bisher nichts Vergleichbares. So etwas können Sie erzeugen, wenn Sie a) die Zeit dafür haben und b) ein solches Monopol auf den öffentlichen Raum haben, so dass die Menschen, die lesen, schreiben, singen, malen oder tanzen wollen, gar keine andere Wahl haben, als zu Ihnen zu kommen und dieses ideologische Produkt zu schaffen. Bei uns ist die Situation noch anders: Wie viel Zeit wir haben, wissen wir nicht. Von der Zeit hängt hier tatsächlich vieles ab. Ein solches Monopol wie in der Sowjetunion besteht bisher auch nicht, weil die Menschen, die ihre kreativen intellektuellen Erzeugnisse verkaufen wollen, trotz allem die Wahl haben. Sie können sie irgendwo anders verkaufen oder angesichts der unklaren Lage erst mal gar nicht verkaufen und sagen: „Wisst ihr was, ich werde mir nicht gleich ein Z auf die Stirn malen, ich warte mal ab.“
Noch gelingt es also nicht, die Jugend für diese neue Vergangenheit zu begeistern und an das sowjetische Gepäck anzuknüpfen?
In der Tat, wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sehen wir, dass jede Generation, die jünger als 65 ist, sich immer weiter vom [vorgegebenen – dek] normativen Ideal entfernt, dem offiziellen Diskurs immer weniger zustimmt. Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist in dieser Hinsicht am schlimmsten. Sie sind für den Staat vollends verloren, daher versucht er, sie lieber schnell zu vertreiben oder umzubringen oder in die Emigration zu zwingen, weil er sie nicht brauchen kann: Sie nehmen nicht an, was er ihnen beibringen will. Aber wir haben zehn Jahre mit einer relativ hohen Geburtenrate hinter uns, in den „goldenen Putinjahren“, als die Geburtenrate höher war als davor und danach. Das war der Zeitraum zwischen 2004 und 2014, zehn Jahre, in denen die Menschen daran glaubten, dass das Leben besser geworden ist, und etwas mehr Kinder bekamen … Wir haben also gar nicht so wenig Jugendliche: Die Älteren werden bald 18, die Jüngeren wurden gerade eingeschult, die 2016 Geborenen zum Beispiel. Während bei den 18- bis 24-Jährigen nichts mehr zu machen ist, kann man es mit diesen sehr wohl noch versuchen. Wenn man die irgendwie indoktriniert und dafür diese zehn Jahre zur Verfügung hat, dann hat man in zehn Jahren eine beträchtliche Zahl junger Leute, die, so der Plan, diesem Kurs treu sind. Und im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt [in der Ukraine – dek] zu kämpfen versucht, werden sich mit denen vielleicht sogar besser Kriege führen lassen. Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.
Aber da muss man erstmal die nächsten zehn Jahre durchhalten. Grob geschätzt hat Putins Regime und Putin selbst … na ja, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht noch. Was und wer kann die Nachfolge antreten? Wie kann die nächste Regierung aussehen, das nächste Regime, das in zehn, fünfzehn Jahren an die Macht kommt? Oder gehen wir immer noch davon aus, dass alles beim Alten bleibt?
Alles, was wir als Antwort auf diese Frage tun können, ist mögliche Szenarien beschreiben und sie dann nach Wahrscheinlichkeit ordnen. Das Wahrscheinlichste ist immer das Trendszenario: Was auch immer Sie prognostizieren, am ehesten bleibt alles ungefähr wie bisher. Wie beim Wetter, in 85 Prozent der Fälle bleibt es morgen ungefähr so wie heute. Aber wenn das in 100 Prozent der Fälle so wäre, dann gäbe es keine Jahreszeiten. Genauso ist es hier: Unser Trendszenario ist so lange das Wahrscheinlichste, bis etwas Anderes passiert. Und dann löst sich der ganze Trend in Luft auf.
Ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht
Er verschwindet nicht gänzlich, das Vergangene wirkt immer auf die Zukunft, aber trotzdem. Sehen wir uns also dieses Trendszenario genauer an. Angenommen, das aktuelle politische Regime zieht diese – manchmal militärische, manchmal nicht-militärische – Konfrontation noch zehn Jahre in die Länge. Oder eigentlich noch zwei Amtszeiten des Präsidenten, sechs plus sechs. In dieser Zeit schaffen wir eine neue, vom Westen isolierte Wirtschaft, die zum Osten hin offen ist, bilden mit China irgendeine Art gemeinsamen Wirtschaftsraum, bauen neue Pipelines, neue Straßen, unsere Städte in Sibirien erleben einen Aufschwung, weil durch sie der ganze Verkehr läuft. Wir kämpfen irgendwie auf niedriger Flamme gegen die Ukraine oder ringen um eine Trennlinie. Na, wir machen aus uns eine Art Riesen-Donbass und haben diese acht Jahre, die zwischen 2014 und 2022 lagen, nun eben von 2024 bis irgendwann nach 2030. Inzwischen isolieren wir den Informationsfluss endgültig, etablieren die Plattform Rutube, schalten YouTube aus, transponieren alle auf unsere eigenen Plattformen, und die russische Bevölkerung vergisst mit der Zeit, dass es eine andere Medienrealität gibt, dass es Hollywoodfilme gibt, andere Lieder, andere Informationen, eine andere Literatur. Wir konsumieren das Eigene. In dieser Zeit perfektionieren wir auch unsere Gespräche über das Wichtige, erschaffen irgendeinen Ideologen, der uns eine Ideologie produziert, und folgen dieser in unserer Erziehung.
Unter Bedingungen der Isolation und womöglich ohne die Gelegenheit zu sehen, wie es auch anders ginge, erziehen wir zehn Jahre lang die Kinder, die wir geboren haben, als wir noch Geld hatten. Und dann, dann haben wir eine junge Generation, die wir einsetzen können, dazu noch die aus China bezogenen Ressourcen – und damit ziehen wir wieder in den Krieg. In dem wir sehr viel mehr Erfolg haben. In der Ukraine passiert in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund gar nichts, der Westen ist wie immer von allem müde, und da installieren wir in Kyjiw unsere prorussische Regierung. Des Weiteren kann man dann schon die Macht auf ein glänzendes Nachfolgeteam übertragen, das den dreifachen Staat aus Russland, Belarus und der Ukraine regiert. Na, wie gefällt Ihnen dieses Bild?
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ekaterina. Das will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr erleben.
Das, was ich hier beschrieben habe, ist das Wunschszenario derjenigen, die jetzt an der Macht sind. Sie sehen hier Merkmale eines Trendszenarios – es soll alles so weitergehen, es soll uns nichts passieren, die Front soll standhalten, die Öleinnahmen nicht versiegen … Und wir bereiten uns in dieser Zeit, in dieser Pause der Geschichte, auf den nächsten rüstungsindustriellen und militärischen Kraftakt vor. Das heißt, hier haben wir ein Element eines Trendszenarios, das, ich wiederhole, sehr oft vorkommt, weil große Systeme, große soziale Körper diese Kraft der Trägheit besitzen und sich gewissermaßen selbst in die Zukunft fortschreiben. Aber es gibt auch Elemente, die sozusagen der Phantasie angehören, die davon ausgehen, dass die ganze Außenwelt einfach einschläft, während wir uns hier vorbereiten, und sich außer uns niemand wappnet.
Ich muss sagen, ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Sie können sich wahrscheinlich genauso gut wie ich eine Konstellation der Ereignisse vorstellen, in der genau das passiert. Warum auch nicht? Noch einmal, alles, was wir tun können, ist, unsere Szenarien nach Wahrscheinlichkeit zu ordnen.
Am Ende [des Interviews] fragen wir immer alle: Wann sehen wir uns persönlich? In Russland, natürlich. Das heißt, Sie nennen uns ein Jahr, einen Monat oder vielleicht sogar ein genaues Datum und einen Ort, und wir gucken mal, ob wir das hinbekommen.
Okay, also, nach dem Krieg um 18:00, ja? Meine vagen Schätzungen haben zwar nicht wirklich Hand und Fuß, aber trotzdem … Ich würde sagen, ab 2024 … Da fängt der Boden schon an nachzugeben, da sinken wir schon ein. Deswegen, lieber Pawel … Also, 2024 ist natürlich sehr mutig. Sagen wir, 2025, irgendwann im März. In der Redaktion der Novaya Gazeta …
Einverstanden, Potapow-Gasse Nummer drei. Vielen Dank, liebe Ekaterina, es war mir ein Vergnügen.
Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter.
Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.
Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.
Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.
Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.
Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern
Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.
Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.
Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).
Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.
Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.
Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.
Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“
Das Risiko, außen vor zu bleiben
Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.
Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.
Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.
Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.
Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.
Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft
Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.
Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.
Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.
Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.
Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.
Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.
Wie kam Putin zu der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen? Welche Schlüsselmomente gab es, und wer hat ihn dabei beeinflusst? Ilja Sheguljow hat darüber mit aktiven und ehemaligen Beamten und Funktionären aus dem Staatsapparat in Russland und der Ukraine gesprochen. In einer aufwändigen und vielbeachteten Recherche auf Verstka rekonstruiert der Journalist, „wie sich das Denken des russischen Staatsoberhauptes entwickelt und in die Tragödie geführt hat“.
Nach den Gouverneurswahlen in der Oblast Moskau im September 2013 sagte einer der Kuratoren des riesigen Stabs von Polittechnologen händereibend: „Gut gemacht, Leute, und jetzt fahrt ihr zum Training in die Westukraine“, erinnert sich ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Polittechnologe im Gespräch mit Verstka. Ihm zufolge habe vor zehn Jahren noch niemand über „schlechte Chochly [Ukrainer]“ gesprochen: Die russischen Polittechnologen arbeiteten problemlos sowohl mit Viktor Janukowytschs Team als auch mit seinen eher proeuropäisch orientierten Opponenten zusammen. Sie erhielten lukrative Aufträge von allen Seiten und verdienten Geld. „Und was es an Austausch gab zwischen den russischen und ukrainischen Fußballfans, da war echte Freundschaft. Auch die Nationalisten waren untereinander befreundet“, sagt der Gesprächspartner von Verstka.
Es scheint, als hätte der Kreml seine Einstellung zur Ukraine im Februar 2014 innerhalb weniger Tage geändert, kurz bevor Putin eigenmächtig entschied, die Krim zu annektieren. Doch ganz so war es nicht: Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich diese Haltung zum Nachbarland schon sehr viel früher im Kopf des russischen Präsidenten formierte.
1. Der erste Versuch, die Ukraine zu spalten: „Unser Hurensohn“
Als Leonid Kutschma [2004 – dek] nach zwei Legislaturperioden aus dem Präsidentenamt schied, bat er Moskau, seinen Nachfolger Viktor Janukowytsch zu unterstützen, was der Kreml mit Eifer tat.
Putin reiste eigens nach Kyjiw und trat im Pendant zum russischen Direkten Draht auf, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm nun Ukrainer Fragen stellten (es gingen über 80.000 Fragen ein). Dort äußerte Putin sogar, dass Russland von der Ukraine lernen könne, da das ukrainische Wirtschaftswachstum unter Premierminister Janukowytsch das russische überholt habe.
Auf Moskauer Seite kuratierte die Wahlen Dimitri Medwedew, damals Vorsitzender der Präsidialverwaltung, und auf Kyjiwer Seite der Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk. Im selben Jahr wurde Putin Taufpate für dessen Tochter Darja. Damals arbeitete die ukrainische Präsidialverwaltung eng mit Russland zusammen, wobei der russische Polittechnologe Gleb Pawlowski eine Schlüsselrolle in der Vermittlung zwischen den beiden Administrationen einnahm, wie er später zugab. Einer der ersten Schachzüge Moskaus im Vorwahlkampf war eine Karte über „die drei Sorten der Ukraine“, in die Viktor Juschtschenko das Land angeblich aufgeteilt hatte. An dritter und letzter Stelle standen der Süden und Osten der Ukraine.
Doch all das half nichts: Nach den Massenprotesten der Orangen Revolution und der anschließenden Wiederholungswahl wurde 2004 Viktor Juschtschenko Präsident der Ukraine.
Moskau setzte jedoch weiterhin auf die Entzweiung und schließlich Abspaltung der Regionen. Noch auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution wurde der Versuch unternommen, den Süden und Osten vom Rest des Landes abzuspalten: In Sewerodonezk fand ein prorussischer Kongress von Deputierten aller Ebenen statt, an der auch Juri Lushkow teilnahm, der Moskauer Bürgermeister war und ein zur damaligen Zeit einflussreicher Politiker. Der damalige Vorsitzende des Donezker Regionalparlaments Borys Kolesnikow forderte ohne Umschweife die Abspaltung von der Ukraine: „Wir schlagen vor, allen hochrangigen Organen der Staatsmacht, die gegen das Gesetz verstoßen haben, unser Misstrauen auszusprechen und einen neuen südostukrainischen Staat in Form einer Föderalrepublik zu gründen. Hauptstadt dieser neuen Republik – und damit die erste wiederhergestellte Hauptstadt der unabhängigen Ukraine – soll Charkiw werden“, sagte Kolesnikow. Doch dazu kam es nicht: Russland entschied sich gegen eine militärische Einmischung in die Angelegenheiten eines souveränen Staates, und ohne Unterstützung wagte es niemand, die Abspaltung voranzutreiben. Auf eine Interview-Anfrage von Verstka antwortete Kolesnikow: „Danke, kein Interesse.“ (Kolesnikows Stiftung unterstützt aktiv die Ukrainische Armee, sein Facebook-Profil ziert eine große ukrainische Flagge).
Anfang 2010 hatte der prowestliche Präsident Juschtschenko einen großen Teil seiner Unterstützer verloren und Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Diesmal stellten die Wähler das Wahlergebnis nicht massenhaft in Frage.
Gleich nach seinem Amtsantritt unternahm Janukowytsch Schritte, von denen Moskau selbst zu Zeiten des gemäßigten Politikers Kutschma nicht hätte träumen können: Er sprach sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine aus, initiierte ein Gesetz zum Status der russischen Sprache als Regionalsprache und äußerte den Standpunkt, der Holodomor sei kein Genozid am ukrainischen Volk gewesen, sondern ein allgemeines Problem der sowjetischen Geschichte.
Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete
„Unsere Nachrichtendienste saßen in der ukrainischen Regierung, lenkten das Land und einzelne Unternehmen. Wieso eingreifen, wenn ohnehin alles uns gehörte?“, berichtet ein der russischen Präsidialverwaltung nahestehender Informant. Ihm zufolge war der Plan einfach: Annäherung mit der Ukraine nach dem Vorbild der Annäherung mit Belarus. „Das Land wurde von einem Präsidenten regiert, der faktisch für uns arbeitete“, erklärt der Informant. „So, wie die USA damals auf Kuba Präsident Fulgencio Batista hatten, hatten wir in der Ukraine Janukowytsch. Die Beziehungen waren die gleichen. Selbstverständlich haben wir ihm zugespielt und geholfen. Er war unser Hurensohn.“
Gleichzeitig arbeitete Russland an der diplomatischen Front daran, Europa von einem Anbändeln mit der Ukraine abzubringen. „Russische Diplomaten reisten nach Paris und erklärten, dass wir gegen ein Assoziierungsabkommen [der Ukraine] mit der EU sind, dass es dazu nicht kommen wird und sie damit aufhören sollen“, erzählt ein Informant aus dem engeren Umfeld von Wladislaw Surkow, der von 2013 bis 2019 unter anderem für die Ukraine-Angelegenheiten des Kreml zuständig war. „Sie erklärten, es wäre ein Schlag gegen die ukrainisch-russischen Beziehungen. Das war der Anfang, noch bevor überhaupt die Rede von einer Russki Mir war.“
Janukowytsch lehnte das Assoziierungsabkommen mit der EU ab und gab der Verführung des Kreml nach, einer Zollunion mit Russland beizutreten, was ihm den zweiten Maidan seines Lebens bescherte.
2. Wie Putin sich von Amerika gekränkt fühlte: „Er wurde ausfällig“
Putins Verhältnis zur Ukraine verschlechterte sich parallel zu seinem Verhältnis zum Westen. Schnell wurde der postsowjetische Raum – allen voran Georgien und die Ukraine – für den Kremlchef zum Raum des Machtkampfs.
Der erste Schlag für Putin war die Rosenrevolution in Georgien [2003], als nach Massenprotesten der prowestliche und für Putin unverständliche Kandidat Michail Saakaschwili der neue georgische Präsident wurde. Der zweite und schwerwiegendere Schlag war die Orange Revolution in der Ukraine. „Es ging nicht um das Verhältnis zur Ukraine. Es war ja nicht nur der Maidan, es war ein Bruch mit allen Spielregeln“, erklärt ein Informant, der Putin nahesteht, dessen Logik der Kränkung. Der Kreml nahm das Recht der Bürger, die Regierung ihres Landes durch Kundgebungen und Wahlen zu ändern, nicht ernst und sah solche Aktionen ausschließlich als Resultat einer äußeren Einflussnahme durch den Westen.
Aktionen wie die Orange Revolution sah der Kreml ausschließlich als Resultat westlicher Einflussnahme
Diese Ereignisse mündeten in Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die vom Westen kritisch aufgenommen wurde. „Er wurde ausfällig, sein Auftritt war politisch inkorrekt“, sagt ein kremlnaher Informant heute. „Der Westen sagte dazu, ja, wie unfreundlich von ihm, er flucht, soll zum Teufel gehen, grober, ungehobelter Mistkerl. Das war in etwa das Ergebnis dieser Rede.“
3. Welche Philosophen den russischen Präsidenten lehrten, gegen die Ukraine zu sein: Die neue Philosophie
Neben dem veränderten Verhältnis zum Westen wurde Putin auch von innenpolitischen Ereignissen beeinflusst. Mit den Protesten von 2012 fing Putin an, sich verstärkt mit der Literatur einer bestimmten Geisteshaltung zu beschäftigen. In kremlnahen Kreisen wurde gemunkelt, Putin würde immer mehr Zeit in Archiven verbringen. Etwa zur selben Zeit wurde eigens eine Arbeitsgruppe in der Präsidialverwaltung gebildet, die Bücher und ausgewählte Texte zu von Putin vorgegebenen Themen zusammenstellte, erzählt ein ehemaliger Polittechnologe des Kreml.
Noch vor den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz hatte sich Putin für den weißgardistischen Philosophen Iwan Iljin interessiert. Nach den missglückten Protesten vertiefte sich der russische Präsident noch mehr in Texte von Autoren, die Iljins Ansichten teilten. Unter anderem fand er Gefallen an für Wassili Rosanow, einem Religionsphilosophen des frühen 20. Jahrhunderts.
Iljin hatte keinerlei Respekt vor der Ukraine als eigenständigem Staat. „Die Ukraine ist jener Teil Russlands, der am stärksten von Abspaltung und Eroberung bedroht ist“, schrieb der Philosoph 1938 in der Resolution eines Kongresses der Weißen Emigration. „Der ukrainische Separatismus ist eine künstliche Erscheinung, die realer Grundlagen entbehrt. Er entstand aus der Geltungssucht von Rädelsführern und einer internationalen Eroberungsintrige.“
Dort ist alles ganz simpel aufgebaut: Die Ukrainer werden mit List und Manipulation vom Westen herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen
Zitate aus Reden von Iljin, Rosanow und anderen imperial ausgerichteten – auch zeitgenössischen – Autoren, tauchten schließlich auch in Putins öffentlichen Reden auf. „In diesem Pantheon der Götter ist alles ganz simpel aufgebaut“, erläutert ein ehemaliger Technologe aus dem Kremlumfeld das Prinzip: „Die Ukrainer werden mit List, Täuschung, Manipulation und Technologie von den westlichen Staaten herangezüchtet, um ein Anti-Russland zu schaffen. Für Russlands Feinde sind sie die idealen Russen. Der ukrainische Staat wurde innerhalb der UdSSR geschaffen, um der russischen Bevölkerung zu schaden.“
4. Wie Putin entschied, die Krim zu ergreifen: Gepfiffen auf die Folgen
Noch im Januar 2014 hatte Putin nicht vor, die Krim zu annektieren. Das berichten drei Quellen – eine in der Präsidialverwaltung, eine aus dem Umfeld der kremlnahen Polittechnologen und eine aus Putins engerem Kreis. Die Entscheidung fiel spontan im Februar, als der Kreml erkannte, dass die Protestierenden im Zentrum Kyjiws die Regierung Janukowytsch bezwingen würden. Moskau setzte zunächst wieder auf einen Kongress von Deputierten, der zu einer Abspaltung von Teilen der Ukraine führen könnte. Laut einer Quelle aus dem Umkreis von Wladislaw Surkow waren Polittechnologen aus Russland an der Vorbereitung beteiligt. Den Vorsitz des Kongresses der Abgeordneten aus der Südostukraine sollte Janukowytsch persönlich übernehmen. Er war per Hubschrauber überstürzt aus Kyjiw abgezogen und nach Charkiw geflogen.
Im letzten Moment weigerten sich jedoch die Regierenden der Stadt und der Oblast Charkiw, Hennadi Kernes und Mychailo Dobkin, dieses Spiel mitzuspielen. „Als ihnen klar wurde, dass Russland den Zerfall der Ukraine anstrebte, ergriffen sie vehement eine proukrainische Position und verweigerten Janukowytsch ihre Unterstützung“, berichtet ein Mitorganisator des Kongresses. Obwohl Janukowytsch am 22. Februar bereits in Charkiw war, ließ er sich auf der Versammlung nicht blicken – er hatte erkannt, dass der Plan gescheitert war. So waren dort keine Abspaltungsforderungen zu vernehmen; stattdessen riefen Kernes und Dobkin zu Frieden auf und versprachen, die Einheit der Ukraine zu wahren. Die russische Operation war gescheitert. Am selben Tag wurde Janukowytsch von der Werchowna Rada entmachtet.
Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, ich übernehme die Verantwortung‘
In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar, nachdem Janukowytsch nun auch aus Charkiw geflohen war, fiel Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren. Das geht aus seinen eigenen Schilderungen hervor und wird von Quellen aus seinem Umfeld bestätigt. In Sotschi, wo gerade die Olympischen Winterspiele zu Ende gingen, besprach er sich bis sieben Uhr morgens mit seinen vier engsten Vertrauten aus den Sicherheitsorganen. Wie ein naher Bekannter von Putin berichtet, sollen sie zunächst versucht haben, ihn von seinem Plan abzubringen. „Aber Putin sagte: ‚Das ist unsere letzte Chance, eine weitere wird es nicht geben, ich übernehme die Verantwortung.‘“
Später äußerte ein anderer Vertrauter Putins im Gespräch mit ihm, die Krim-Annexion sei eine Katastrophe und werde schlimme Folgen nach sich ziehen. Putin soll erwidert haben, er pfeife darauf: „Russland hat einen großen Teil seines historischen Territoriums wiederbekommen, und das praktisch ohne Blutvergießen. So etwas hat es seit 1000 Jahren nicht gegeben. Was auch immer geschieht, die Krim wird russisch bleiben.“ Dass die Krim-Annexion in Russland auf solch breite Unterstützung stoßen würde, hatte Putin zunächst nicht erwartet.
Anfang März begannen russische Beamte, inkognito die Krim und die an Russland grenzenden Donbass-Regionen zu besuchen. „Fast aus jedem Ministerium wurde ein Stellvertreter entsandt, um das Terrain zu erkunden“, erinnert sich ein ehemaliger Angehöriger des Regierungsapparats. Die Beamten sollten in Putins Geheimauftrag die künftige „Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland“ vorbereiten. Nach Angaben des Ex-Mitarbeiters ging es in den Regierungsdokumenten nicht nur um die Krim; auch die Kosten eines „Beitritts der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw“ seien analysiert worden. Doch diese Vorstellungen ließen sich damals nicht realisieren.
Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können, wie auf der Krim
Einen stringenten Plan zur Eroberung dieser Gebiete gab es nicht. Versuche, Rebellengruppen zu versammeln, gab es unter anderem auch in Odessa und Dnipro. Aber nur in Donezk und Luhansk ging der Plan halbwegs auf. „Das mit dem Donbass war ein Fehler. Man hatte gedacht, auch die Bevölkerung in Donezk genauso mobilisieren zu können wie auf der Krim“, berichtet ein Insider. „Aber der Versuch, das Volk aufzuwiegeln, war nicht besonders erfolgreich.“
Die Abspaltung des Donbass ging nicht auf Putins persönliche Initiative zurück. „Das war eine Aktion von FSB-Leuten, die die Situation ausnutzen wollten und die ganze Sache losgetreten haben“, berichtet ein anderer Informant aus Putins engerem Umfeld. Eine weitere Quelle aus der Präsidialverwaltung bestätigt das: „Die Krim war eine Spezialoperation, der Donbass nicht – es gab Akteure, die zu Putin sagten: Wir sollten eingreifen, eine Gegenkampagne starten. In der Ukraine gibt es prorussische Kräfte, wir dürfen die Leute nicht allein lassen.“ Dazu gehörten der FSB-nahe russisch-orthodoxe Unternehmer Konstantin Malofejew, [Putins Berater] Sergej Glasjew, der bereits seit über einem Jahr ein Netzwerk prorussischer Kräfte in der Ukraine aufbaute, sowie der Geschäftsmann Sergej Kurtschenko aus dem Umfeld von Viktor Janukowytsch. „Jeder spielte sein eigenes Spiel, es gab praktisch niemanden, der diese Aktivitäten koordiniert hätte“, so ein kremlnaher Informant.
Jeder spielte sein eigenes Spiel
Nachdem sich in Donezk und Luhansk separatistische Gruppierungen gebildet hatten, stellte Putin weitere Leute ab, die auf den Prozess einwirken sollten. So beispielsweise Wladislaw Surkow, der sich mit dem Aufbau eines Regierungssystems in den aufständischen Regionen um die politische Seite kümmerte.
Trotz der inoffiziellen Beteiligung russischer Truppen im August 2014 gab es damals weder Pläne noch die Bereitschaft zu einem groß angelegten Krieg. Der Kreml wollte die ukrainische Regierung überlisten. Das Minsker Abkommen kam Moskau dabei entgegen, wie ein ehemaliges Mitglied der Verhandlungsdelegation berichtet: „Putin war persönlich an der Abfassung des Textes beteiligt. Einige Punkte, die den Status und die politische Regulierung betreffen, hat er selbst formuliert.“
Wenn das Minsker Abkommen umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen
Im Weiteren brauchte er dann nur noch zur Umsetzung des Abkommens aufzurufen. „Worin bestand diese Umsetzung? Die Ukraine sollte ein Gesetz zum Sonderstatus der DNR und der LNR erlassen und eine Verfassungsreform durchführen. Die Republiken sollten formell wieder der Ukraine unterstellt werden, samt den beiden Armeekorps und den unter russischer Herrschaft gewählten politischen Organen“, so die Quelle, die auf Seiten Russlands direkt an der Ausarbeitung beteiligt war. „Das alles sollte legalisiert werden. Damit würde es in der Ukraine zwei Fremdkörper geben, die sich Kiew nicht unterordnen. So war es im Minsker Abkommen vorgesehen. Wenn es umgesetzt worden wäre, hätte man den Donbass instrumentalisiert, um die gesamte Ukraine nach seinem Muster umzubauen. Das war der Plan.“
Aus Putins Sicht – so eine weitere Quelle aus seinem Umfeld – hatte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko schlicht übertölpelt: „Erst Wahlen, dann die Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, nicht umgekehrt. Damit war klar, wer bei diesen Wahlen gewinnen würde. Poroschenko kam es in diesem Chaos darauf an, den Krieg zu beenden, die Einzelheiten hat er nicht durchschaut.“ Der Kreml fror den Konflikt ein. Ende 2014 wurden die aggressivsten und militantesten Kräfte in den beiden separatistischen Donbass-Republiken ausgeschaltet oder ins Abseits gedrängt. Die Präsidialverwaltung stellte die Kriegsrhetorik für lange Zeit ein.
Bei Besprechungen sei oft der Satz gefallen: ,Putin will die ganze Ukraine.‘ Doch das habe niemand ernst genommen
„Niemand, der mit dem Kreml zusammenarbeitete, nahm das Wort ‚Krieg‘ in den Mund. Man hatte das Gefühl, der Krieg sei vorbei, die Regierung hatte ja auch den eigenen Bürgern erklärt, Russland wolle keinen Krieg“, erinnert sich ein Politologe, der damals für den Kreml tätig war. Zugleich, sagt er, sei bei Besprechungen oft der Satz gefallen: „Putin will die ganze Ukraine.“ Doch habe das niemand ernst genommen: „Wollen kann einer ja vieles.“ Einer anderen Quelle zufolge war der Konflikt um die selbsternannten Volksrepubliken im Donbass gerade deshalb von Nutzen, weil er auf niedriger Flamme köchelte: „Er schwelte vor sich hin und konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven.“
Der Konflikt im Donbass konnte nicht erlöschen, weil das in niemandes Interesse lag. Er ernährte alle und eröffnete ihnen politische Perspektiven
Dass Putin selbst keinesfalls vorhatte, das Thema Ukraine auf sich beruhen zu lassen, konnte man in den folgenden Jahren an den Politsendungen im russischen Staatsfernsehen ablesen: „Es gab einen Haufen Probleme, es war viel los in der Welt. Aber diese Idioten haben ständig über die Ukraine geredet“, erzählt eine Quelle aus Putins Umgebung. „Nicht über Syrien oder das missliebige Amerika, sondern über die Ukraine. Sie stand nicht auf der Tagesordnung, aber es war dauernd die Rede von ihr.“ Der Quelle zufolge könne das nicht eine fixe Idee des Fernsehkurators der Präsidialverwaltung gewesen sein, sondern war definitiv eine Anweisung von ganz oben.
Putin suchte weiter hartnäckig nach Verbindungen zwischen der Ukraine und den USA. „Er war überzeugt, dass die Ukraine faktisch durch die NATO und die USA kontrolliert wird“, sagt ein Informant aus seinem damaligen Umkreis.
5. Warum Putin sich von Selensky gekränkt fühlte: Der Friedensstifter des Krieges
2019 gewann überraschend Wolodymyr Selensky die Präsidentschaftswahl. Er hatte so vielfältige Beziehungen zu Russland wie wohl keiner seiner Vorgänger. Als einziger ukrainischer Präsident hatte er sogar eine Zeit lang in Moskau gelebt, als er in der russischen TV-Show KWN mitwirkte. Zum Jahreswechsel 2013/2014 hatte er gemeinsam mit dem russischen Komiker Maxim Galkin die Neujahrsshow des TV-Senders Rossija 1 moderiert.
Mit seiner Wahlkampfrhetorik, man müsse mit Putin eben eine Lösung finden, und dem Versprechen von Frieden in der Ukraine, erregte er höchstes Misstrauen bei entschiedenen Gegnern einer Annäherung an Russland und vorsichtigen Optimismus in Moskau. Beim ersten Telefonat mit Selensky gab sich Putin respektvoll. „Man merkte, dass er Berührungspunkte finden wollte“, erzählt der ehemalige Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Bohdan.
Selensky schlug in dem Gespräch vor, seinen Assistenten Andrij Jermak zum neuen Unterhändler bei den Donbass-Verhandlungen zu machen. Diese Funktion hatte bisher Putins persönlicher Freund Viktor Medwedtschuk innegehabt. Einer Quelle aus dem Umkreis der russischen Präsidialverwaltung zufolge meinte Selensky, dass Medwedtschuk „einfach Geld scheffelt, seine Beziehungen nutzt, um Kohle zu machen.“
Putin ging davon aus, er könne den politischen Neuling Selensky leicht austricksen
Der Kreml gab damals nach und ließ Medwedtschuk ersetzen. „Er [Selensky] war offensichtlich begabt und lernfähig. Und er ging mit der recht naiven Vorstellung an die Sache heran, er werde jetzt mit Putin vernünftig über alles reden“, erzählt eine Quelle aus dem Umfeld der russischen Regierung. „Natürlich war er nicht proamerikanisch, er war proukrainisch. Und er wollte aufrichtig etwas Gutes bewirken.“ Wie drei Quellen übereinstimmend berichten, wollte Selensky die Beziehungen mit Moskau tatsächlich erneuern. Sein Team wandte sich an verschiedene Personen, um Rat einzuholen, wie das am besten anzugehen sei. So rief etwa Jermak Alexander Woloschin an, den ehemaligen Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Auch Putin erwartete eine mögliche Einigung mit Selensky. Er ging davon aus, den politischen Neuling leicht austricksen und endlich die Umsetzung des Minsker Abkommens erreichen zu können, was für Russland einem großen Sieg gleichgekommen wäre.
Als Putin im Dezember 2019 nach Paris reiste, war er sicher, dass nun endlich Bewegung in die seit Jahren festgefahrene Angelegenheit kommen würde. Doch mit Selensky gestalteten sich die Verhandlungen noch schwieriger als mit seinem Vorgänger. Er verweigerte die Durchführung von Wahlen im Donbass vor der Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenzen, und Mitglieder seiner Delegation versuchten sogar, den entscheidenden Absatz des Minsker Abkommens dahingehend zu revidieren, dass der Donbass-Region kein dauerhafter, sondern nur ein vorübergehender Sonderstatus zuerkannt werden sollte. Surkow, der an den Friedensverhandlungen teilnahm, drohte damit, sie ganz abzubrechen. Nach Angaben eines ukrainischen Ministers war er kurz davor, mit den Fäusten auf Andrij Jermak loszugehen, brüllte und stampfte mit den Füßen.
Putin war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder
Putin hatte mit einem warmen Empfang gerechnet und eine kalte Dusche bekommen. „Er war von seinen Höhen herabgestiegen, um die Kapitulation der Ukraine entgegenzunehmen, und fand sich nun faktisch in der Rolle der sitzengelassenen Braut wieder“, so die Einschätzung Olexander Charebins, der in Selenskys Wahlkampfteam an der Erarbeitung der außenpolitischen Strategie mitgewirkt hatte. „Selensky und seine Delegation waren besser vorbereitet als erwartet. Der große Zar der gesamten Rus stand auf einmal fast als Witzfigur da.“ Selensky trug seinen Teil dazu bei. Als Putin auf der Pressekonferenz sagte, es sei ein Dokument zur strikten Einhaltung des Minsker Abkommens angenommen worden, wiegte Selensky lächelnd den Kopf, und bei der Erwähnung des Sonderstatus zeigte er sich unverhohlen erheitert und hielt sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. „Das kam für alle überraschend und zum ersten Mal so offenkundig“, so der ukrainische Berater Charebin. „Es war praktisch eine öffentliche Ohrfeige für Putin. Und diese Erfahrung war womöglich traumatisch für ihn.“ Am Gesichtsausdruck des russischen Präsidenten ließ sich ablesen, dass er die gemeinsame Pressekonferenz nur mit Mühe ertrug. Er würdigte Selensky keines Blickes und blätterte immer wieder in seinen Unterlagen. Selensky und Putin sind seither nie mehr zusammengetroffen, und Surkow wurde zwei Monate später als Beauftragter für die Ukraine und die Donbass-Region entlassen. Nach dem Pariser Desaster setzte der Kreml nun auf Soft Power – und sein wichtigster Gewährsmann wurde Viktor Medwedtschuk.
6.Wann die Kriegsentscheidung fiel: Das Fass läuft über
Mit Medwedtschuk, dem ehemaligen Leiter der Präsidialverwaltung unter Kutschma, war Putin auch nach dessen Abgang aus der Politik in Verbindung geblieben. 2012 kam Putin zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Janukowytsch vier Stunden zu spät und stattete Medwedtschuk danach demonstrativ einen Besuch zu Hause ab. Dieser führte ihm beim Abendessen seine Aqua-Disco vor – bunte Springbrunnen, deren farbige Beleuchtung im Rhythmus der Musik wechselte. „Dort wurden professionelle Aufnahmen gemacht, nicht von einem Paparazzo, sondern ganz offen von einem persönlichen Kameramann“, erinnert sich der Fernsehmoderator Jewgeni Kisseljow im Gespräch mit dem Autor. Die Bilder von Putin und Medwedtschuk wurden im ukrainischen Fernsehen gezeigt.
Nach 2014 war Medwedtschuk aufgrund seiner großen Nähe zu Moskau für die Organisation der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe und für den Gefangenenaustausch zuständig gewesen. Gegen Ende von Poroschenkos Amtszeit erwarb Taras Kosak, ein Mitstreiter Medwedtschuks, drei TV-Nachrichtensender. Sie sollten später zum Anlass für einen Konflikt zwischen Medwedtschuk, der in der Ukraine als wahrer Eigentümer der Sender galt, und Selensky werden.
Die Sender verbreiteten die prorussischen Ansichten ihrer Eigentümer. Laut Medienexperte Otar Dowshenko behauptete die dort ausgestrahlte Propaganda, „es habe keinen Angriff auf die Ukraine gegeben, es herrsche ein Bürgerkrieg, an dem die Ukraine selbst schuld sei, sie müsse sich nur zur Freundschaft mit Russland entschließen, die Krim habe sich selbst abgespalten, weil sie nicht wertgeschätzt worden sei, auf dem Maidan habe ein bewaffneter Putsch stattgefunden“. Zugleich wurde auf diesen Sendern immer wieder Selenskys Politik kritisiert. Steigende Wohnkosten und soziale Probleme waren ein ständiges Thema. Selenskys Umfragewerte gingen zurück, dafür stieg die Beliebtheit von Medwedtschuks Partei Oppositionsplattform – Für das Leben. Im Oktober 2020 belegte sie bei den Regionalwahlen in sechs Regionen den ersten Platz und überholte Selenskys Partei Diener des Volkes. Selbst nach Beginn des umfassenden Krieges sollte Selensky auf diese Ereignisse zurückkommen. In seinem ersten Interview mit russischen Journalisten, das Ende März 2022 während der Kämpfe um Mariupol stattfand, sprach er lange darüber, wie Medwedtschuk in den Regionen gesiegt hatte.
Im Februar 2021 wurde eine Sonderoperation zur Ausschaltung Medwedtschuks unternommen. Sie richtete sich gegen die Sender 112 Ukraine, NewsOne und ZIK und ihren Eigentümer, Taras Kosak. Selensky erklärte, die Sender verbreiteten antiukrainische Propaganda und behinderten die Integration der Ukraine in die EU. Sie wurden mit einem Sendeverbot belegt, das auf einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates beschlossen wurde. Das Präsidialamt erklärte damals, die drei Sender würden als „Instrumente fremder, ausländischer Propaganda in der Ukraine“ eingesetzt. Mychailo Podoljak, der den Leiter des Präsidialamts berät, ergänzte, sie würden für die „Besatzer“ arbeiten. Zugleich hieß es, es gebe „Fragen“ zur Finanzierung der Sender. Selensky hatte bereits anderthalb Jahre zuvor erklärt, er wisse, aus welchem Land sie finanziert würden, und Iwan Bakanow, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, hatte von einer „antiukrainischen Informationskampagne des Angriffsstaates“ gesprochen.
Auch gegen Medwedtschuk persönlich wurden Sanktionen verhängt. Der SBU setzte ihn und seine Frau auf seine Rechercheliste zur Finanzierung von Terrorismus. Am 11. März 2021 führten der SBU und die ukrainische Steuerbehörde einen Sondereinsatz in Objekten des Tankstellennetzes Glusco durch, das ebenfalls mit der Familie Medwedtschuks in Verbindung gebracht wird.
Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen, hat das Putin richtig in Rage versetzt
Die Zerschlagung von Medwedtschuks Medien und die „Schikanen“ gegen ihn gaben den endgültigen Ausschlag für Putins Entscheidung zu einer Militäroperation, wie drei Quellen aus seinem Umkreis bestätigen. Der Kreml setzte nun nicht mehr auf Soft Power.
„Als sie Medwedtschuk die Sender wegnahmen und seiner Partei die Luft abdrückten, hat das Putin richtig in Rage versetzt“, so ein langjähriger Bekannter des russischen Präsidenten. „Er fühlte sich persönlich angegriffen. Medwedtschuk und seine Sender waren eine Art Brückenkopf, sie standen für die Hoffnung auf eine politische Lösung der Situation. Und da fängt die Ukraine an zu eskalieren. Ach, ihr wollt auf die Pauke hauen? Ihr wisst wohl nicht, mit wem ihr euch da anlegt!“
Medwedtschuk hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und Putin blindlings in die Irre geführt
Zu Putins Entschluss trug auch bei, dass Medwedtschuk ihm immer wieder erzählt hatte, wie stark die Unterstützung für seine Person und die prorussische Stimmung in der Ukraine sei. „Er hat Märchen erzählt, das Geld eingesackt, das er für die Organisation des politischen Widerstands erhielt, und nicht gedacht, dass das jemals auf den Prüfstand gestellt werden würde“, erinnert sich eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung. „Er hat erzählt, wie loyal die Territorien seien, und Putin blindlings in die Irre geführt.“
Im Kreml zweifelte man nicht an Medwedtschuks Darstellung. „Anstatt das nachzuprüfen und zu erkennen, dass sie hier ganz offensichtlich nicht erwünscht sind, haben sie sich von Kränkung und Zorn verblenden lassen“, sagt der ukrainische Politikberater Charebin. Allerdings, so eine Quelle aus Medwetschuks Bekanntenkreis, habe dieser nicht ahnen können, dass Putin aufgrund seiner Angaben beschließen würde, mit einer kleinen Spezialoperation schnell mal die Regierung in Kyjiw auszutauschen. Putin habe ernsthaft damit gerechnet, in der gesamten Ukraine Unterstützung zu finden, ganz wie sein Vertrauter es ihm erzählt hatte. „Für Medwedtschuk war Putins Entscheidung zum Krieg die denkbar katastrophalste Entwicklung“, sagt jemand aus dem Umfeld des russischen Präsidenten.
Putin hatte sich vor seiner Entscheidung nicht mit Medwedtschuk beraten – und auch mit niemandem sonst. Der einzige, mit dem er ständig Kontakt hielt , war sein Freund Juri Kowaltschuk. Wie zwei Quellen bestätigen, hatte Kowaltschuk einen bedeutenden Anteil an Putins Entschluss zur Spezialoperation. Während der Pandemie hielt er sich als Einziger ununterbrochen in der Residenz des Präsidenten auf, um nicht in Quarantäne zu müssen. Kowaltschuk hat nie ein Hehl aus seiner antiwestlichen Einstellung gemacht. Möglicherweise hat er Putin die Schriftsteller nähergebracht, die dieser ab den 2010er Jahren zu studieren begann. Laut einem Bericht der Zeitung The Wall Street Journal führten die beiden Männer ab März 2020 stundenlange Gespräche über den Konflikt mit dem Westen und Russlands Geschichte. Auch die von Verstka befragten Quellen bestätigen das: „Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen. Er vermied nach Möglichkeit jede Begegnung, und wenn es doch dazu kam, waren die Leute nach der zweiwöchigen Quarantäne so abgestumpft, dass kein normales Gespräch möglich war. Außerdem lässt sich aus fünfzehn Metern Abstand keine vertrauliche Unterredung führen.“
Putin hatte damals nur wenig Umgang mit besonnenen Menschen
Laut einer kremlnahen Quelle war es Kowaltschuk, der Putin davon überzeugte, Europa sei von Widersprüchen zerrissen und der Zeitpunkt sei ideal für eine schnelle Operation.
Der Entschluss zur Vorbereitung der Operation fiel ein Jahr vor Beginn des Krieges, Ende Februar/Anfang März 2021. Schon im April fanden an den Grenzen der Ukraine die ersten Drohmanöver statt.
Die Vorbereitung unterlag strengster Geheimhaltung. Trotzdem war die Möglichkeit eines Krieges schon ab Sommer ein gängiges Thema im näheren Umkreis des Kreml. Am 12. Juni 2021 wurde auf der Kreml-Website Putins ArtikelÜber die historische Einheit der Russen und Ukrainer veröffentlicht. Nach den Informationen, die Verstka vorliegen, war der Artikel viele Male geändert worden. Eine Version enthielt eine offene Drohung mit einer möglichen Militärintervention, die jedoch nicht in die Endfassung einging.
Laut einem Bericht des britischen Forschungsinstituts RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) vom 29. März 2023 begann der FSB ab Juli 2021 mit den Vorbereitungen zur Besetzung der Ukraine. Zu diesem Zweck wandelte man das 9. Referat des Ressorts für operative Information in eine vollwertige Abteilung um und erweiterte den Stab von zwei Dutzend Beschäftigten auf über zweihundert. Sie wurden in Sektionen aufgeteilt, die sich um die einzelnen Regionen der Ukraine kümmern sollten. Eine thematische Sektion befasste sich mit dem Parlament der Ukraine, eine weitere mit ihrer kritischen Infrastruktur.
Drei Monate vor dem Krieg wurde bereits besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei
Eine Quelle aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung berichtet, auf der Tagung des Waldai-Klubs im Oktober 2021 habe ein dort anwesender Repräsentant der staatlichen Machtorgane in privaten Gesprächen bestätigt, dass die westlichen Befürchtungen, Russland plane einen Krieg, nicht unbegründet seien: „Es stimmt, wir wollen in der Ukraine einen Regimewechsel herbeiführen.“ Dabei sei explizit von militärischen Mitteln zur Erreichung dieses politischen Ziels die Rede gewesen. Einer weiteren Quelle zufolge wurde bereits drei Monate vor dem Krieg, im Dezember 2021, besprochen, wie die Ukraine unter den Großkonzernen aufzuteilen sei. In jeder Region der Ukraine sollte jeweils ein russisches Staatsunternehmen oder ein kremlnahes Privatunternehmen für die Entwicklung zuständig sein. Eine Woche vor Beginn der Invasion tagte der nichtöffentliche Expertenrat für Außen- und Verteidigungspolitik, ein einflussreiches Gremium, das dem Außenministerium nahesteht. Ein kremlnaher Politologe erklärte dort offen, im Laufe der kommenden Woche werde eine Spezialoperation starten, um einen Regimewechsel in Kyjiw herbeizuführen; sie werde nicht lange dauern.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde. Kowaltschuk hatte ihn von der Schwäche des Westens überzeugt, und Medwedtschuk hatte ihm eingeredet, die Ukraine sei schwach und werde sich loyal verhalten.
Putin glaubte tatsächlich, dass sich ein Austausch der Kyjiwer Regierung schnell und schmerzlos bewerkstelligen lassen würde
Eine einfache Rechnung genügt, um zu erkennen, dass kein langer Krieg vorbereitet wurde: „Man kann ein Land mit 44 Millionen Einwohnern doch nicht mit 160.000 Soldaten erobern“, staunt eine Quelle, die dem politischen Flügel der Präsidialverwaltung nahesteht. „Wer eine solche Operation mit so wenigen Streitkräften beginnt, zählt darauf, dass in der Ukraine massenhaft russlandtreue Kräfte kollaborieren. Und unter dieser Annahme wurde die Aktion in Angriff genommen, geplant und ausgearbeitet.“
Die Quellen berichten, dass viele Vertreter der Sicherheitsorgane – wie schon bei der Krim-Annexion – gegen die Invasion gewesen seien. Davon zeugen sowohl der Brief des Generalobersten und Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, Leonid Iwaschow, als auch Publikationen aus dem Umfeld des Verteidigungsministeriums.
Verteidigungsminister Schoigu hatte allerdings nichts gegen Putins Entscheidung einzuwenden und zeigte sich sogar erfreut. „Ihm war nicht klar, in welchem Zustand die Armee war, und er fand die Sache interessant. Er glaubte, Putin wisse mehr als er selbst, und dachte tatsächlich, es würde nicht viel schlimmer kommen als bei der Annexion der Krim“, berichtet ein alter Freund Putins. Die restlichen Eliten wurden am Tag des Einmarschs vor vollendete Tatsachen gestellt.
„Das ist ein merkwürdiger Krieg, praktisch die gesamte Elite ist dagegen. Ich spreche mit hochrangigen Leuten in Russland, in den obersten Machtetagen gibt es niemanden, der dafür wäre. Aber sie begreifen, dass sie im Team arbeiten müssen“, sagt ein ehemaliger Beamter des Kreml unter Berufung auf private Gespräche mit russischen Regierungsvertretern.
Denen, die das nicht begreifen wollen, wird klargemacht, dass sie es müssen. Nach Angaben einer Quelle suchte ein „hoher Beamter“ der Staatsduma im Frühling 2022 den Kreml-Beauftragten für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, auf und sagte, er könne nicht mehr und wolle aufhören. „Am nächsten Tag bekam seine Frau Besuch vom FSB, und bei seinem Sohn, der ein Unternehmen hat, tauchten Uniformierte auf. Nach einer Woche ging der Beamte wieder zu Kirijenko und sagte, er habe es sich anders überlegt.“ „Gut so“, habe Kirijenko lächelnd erwidert, um dann zur Besprechung des Tagesgeschäfts überzugehen.
Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert.
Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.
1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?
Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.
2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?
Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.
3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?
Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.
4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?
Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.
5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?
Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.
6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?
In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.
Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
„Wenn ihr könnt, geht jetzt.“ Mit diesen Worten wandte sich der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky kürzlich an die Menschen in seiner Heimat. Anlass ist eine Gesetzesänderung, mit der noch leichter zum Krieg gegen die Ukraine eingezogen werden kann als bisher: Einberufungsbescheide können künftig elektronisch über das staatliche Serviceportal Gosuslugi zugestellt werden. Ferner dürfen Empfänger eines solchen Bescheides das Land nicht mehr verlassen. Das Gesetz wurde bereits in beiden Kammern des Parlaments angenommen. In Sozialen Medien wird befürchtet, dass dies als Vorbereitung einer neuen Mobilmachung diene. „Es ist ein Gesetz über das Recht des Staates, einen jeden per Mail zum Tode zu verurteilen – ohne Recht auf Einspruch oder Möglichkeit zur Flucht“, schreibt Glukhovsky weiter.
Der Schriftsteller ist nicht nur für seine Metro-Romane bekannt, sondern auch für seine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen in Russland. Wegen seiner Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde Glukhovsky am 21. März in Moskau angeklagt. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Am heutigen Donnerstag (13. April) wird die Verhandlung fortgesetzt. Gegen die Vorwürfe wehrte sich Glukhovsky in einem Brief an das Gericht, den er auch auf Facebook veröffentlichte.
Update: Am 7. August 2023 wurde Glukhovsky in Abwesenheit zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt.
Ich bin nicht in Russland, aber ich stehe in Russland vor Gericht. Gestern fand die erste Sitzung statt.
Angeklagt bin ich nach dem neuen Artikel 207 Absatz 3. De facto ist das ein Gesetz zur Kriegszensur, abgefeimt wie immer im Putin-Russland: Das „Gesetz über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“. Hier der Brief, den ich an das Basmanny-Gericht [in Moskau – dek] geschickt habe:
„Wozu dienen Gesetze?
Gesetze dienen dazu, die Schwachen vor den Übergriffen der Starken zu schützen und die Starken vor der Versuchung, sich an den Schwachen zu vergreifen. Gesetze dienen dazu, Verbrecher zu bestrafen und neue Verbrechen zu verhindern. Dazu, das Schlechte im Menschen auszumerzen und das Gute blühen zu lassen.
Es gibt nichts, das wichtiger und kostbarer wäre als euer Leben. Dieses Leben gehört nur euch und sonst niemandem. Niemand hat das Recht, es euch wegzunehmen. Niemand hat das Recht, die Menschen, die ihr liebt, zu töten. Und niemand hat das Recht, euch zu befehlen, völlig unschuldige Menschen umzubringen.
Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das verbietet, die Wahrheit darüber zu sagen, dass andere unschuldige Menschen töten – ein solches Gesetz sollte niemand befolgen.
Wenn ein Gesetz von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen
Es spielt keine Rolle, ob die Mörder Soldaten unseres Landes sind. Es spielt keine Rolle, ob sie den Befehl ihrer Kommandanten oder ihres Oberbefehlshabers ausführen. Ein Soldat, der einen unschuldigen Menschen tötet, ist ein Verbrecher. Sogar schlimmer als ein gewöhnlicher Verbrecher, denn dahinter steht ein riesiger Gewaltapparat, dem das Opfer nichts entgegensetzen kann.
Wozu braucht es einen Strafrechtsparagrafen über die ,Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation‘? Er soll verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräuel zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischen Boden begehen. Über Folter, Vergewaltigungen, illegale Hinrichtungen. Diese Folter und Vergewaltigungen sind dokumentiert. Die Leichen, deren Hände auf dem Rücken mit dem weißen Band gefesselt waren, die die russischen Soldaten ukrainischen Bürgern zu tragen befohlen, sind exhumiert. Es sind Fakten. Es ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu vertuschen, um weiter ungestraft zu morden, foltern und vergewaltigen.
Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen
Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Mein Land hat ein anderes Land überfallen, das einst ein Bruderland war, ohne jeden Grund und Anlass. Es hat Panzer geschickt, um die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es hat Flugzeuge geschickt, um ukrainische Städte zu bombardieren. Es hat unzählige Menschenleben vernichtet. Dutzende von Städten dem Erdboden gleichgemacht. Es hat entgegen jedem internationalen Recht ukrainische Gebiete annektiert und zu seinem Eigentum erklärt.
Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Sein Grauen und seine Sinnlosigkeit sind zu offensichtlich. Aber die, die ihn entfesselt haben – Wladimir Putin und sein engstes Umfeld – können nicht zurück. Denn nach allen Gesetzen der Menschlichkeit sind sie echte Verbrecher und fürchten deswegen die Strafe für diese Verbrechen.
Doch in Russland herrscht heute das Gesetz des Stärkeren. Mit Gewalt werden Menschen gebrochen, mit Gewalt wird das Gesetz gebeugt, um vor Gericht das Recht zu erpressen, die Schwachen weiterhin zu brechen und das Gesetz weiterhin nach Belieben zu beugen. Das ist der Grund, warum in Russland menschenfeindliche Gesetze erlassen werden.
Die Wahrheit ist verboten
Man verbietet, den Krieg Krieg zu nennen, und ordnet an, ihn stattdessen als ,militärische Spezialoperation‘ zu bezeichnen, um sich weder von den eigenen Bürgern noch vor allen anderen für die unzähligen ukrainischen Opfer und die sinnlos geopferten russischen Soldaten rechtfertigen zu müssen. Man stopft jedem den Mund, der es wagt, ein Wort darüber zu verlieren. Die es doch tun, sperrt man für zehn oder fünfzehn Jahre ins Gefängnis.
Man verbietet, die Wahrheit als Wahrheit zu bezeichnen und die Lüge als Lüge. Man verankert diese Verkehrung im Gesetzestext, indem man erwiesene Fakten als ,wissentliche Falschinformation‘ bezeichnet. Man erlaubt Morde an Unschuldigen. Man befiehlt, sie zu vertuschen. Man schafft die Strafe für die Verbrecher ab. Und spornt sie an, neue Verbrechen zu begehen.
Die Staatsmacht zwingt uns in kürzester Zeit den Glauben auf, dass das unvorstellbar Böse normal und wünschenswert ist. Sie zwingt uns, die Grundprinzipien der Moral zu vergessen, die uns unsere Eltern von Klein an beibringen. Sie gewöhnt uns an die Lüge und ans Morden.
Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten
Das Verbot, die Wahrheit auszusprechen, und die Aufforderung, öffentlich Lügen zu verbreiten, hat einen Zweck. Der Zweck besteht darin, in der neuen Generation von Russen die Selbstachtung zu vernichten. Ihren menschlichen Kern zu brechen, sie zu zwingen, aus Angst vor einer ungerechten Strafe auf sich selbst zu spucken, eigenständig ihre moralischen Grundfesten mit Füßen zu treten – ihr natürliches Verständnis davon, was menschliches Gesetz ist.
Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Weil es der russischen Macht nicht gelungen ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Staatsbürger.
Selbsterhaltungstrieb der Staatsmacht
Auch wenn die Verwüstungen in der Ukraine mit bloßem Auge, ja sogar aus dem Weltraum, zu sehen sind, – so ist folgendes zu konstatieren: Die Zerstörung, die der russische Apparat aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Seele der Nation, in der DNA unserer Gesellschaft losgetreten hat, gefährdet, auch wenn noch unsichtbar, die Existenz Russlands.
Um sich heute selbst zu erhalten, zerstört die russische Staatsmacht die wunderschöne, aufblühende Ukraine und sie zerstört Russland, meine Heimat. Ich kann es nicht verhindern, aber ich kann auch nicht schweigen.
Ich bin überzeugt, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich die Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine klar benenne. Ich bin überzeugt, dass das Verteidigungsministerium und die oberste Führung der Russischen Föderation gelogen haben und lügen, um diesen grausamen, sinnlosen Krieg zu rechtfertigen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass sie es sind, die an Russland und seiner Zukunft Verbrechen begehen, und nicht ich.
Es gibt Gesetze, die niemand befolgen muss. Und ich werde sie nicht befolgen.”
Dmitry Glukhovsky lebt seit 2022 im Exil. Im Mai 2023 erscheint sein neuester Roman Outpost – Der Aufbruch in deutscher Übersetzung von den dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.
Repressionen, hohe Haftstrafen, Unterdrückung – so versucht Alexander Lukaschenko, die belarussische Gesellschaft einzuschüchtern und damit unter Kontrolle zu halten. Ein Szenario wie 2020 soll sich nach dem Willen der Machthaber möglichst nicht wiederholen. Dafür bringt Lukaschenko sein System zusehends auf den Weg des Totalitarismus. Kann dies aber langfristig funktionieren? Vor 2020 hielt ein Gesellschaftsvertrag das autoritäre System mit der Gesellschaft zusammen. Der Deal: Lukaschenko sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Menschen weitgehend auf demokratische Freiheiten.
Was aber hat der Staat der Bevölkerung nun zu bieten? Und was bedeutet Lukaschenkos häufig zu vernehmende Beschwörungsformel von der Einheit von Silowiki und dem Volk in dieser Hinsicht? Igor Lenkewitsch macht sich für das Online-Medium Reform.by auf die Suche nach Antworten.
„Sehr wichtig ist jetzt die Einheit von Geheimdiensten, dem Block der Miliz und unserem Volk. Dann werden wir es leichter haben“, erklärte Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Gedenkstätte in Chatyn. Wer ist hier „wir”? Und warum wird es leichter? Und folgt aus dem Gesagten, dem Regime ist bewusst, dass es keine Einigkeit zwischen Miliz und Bevölkerung gibt?
„Die Miliz und das Volk“, diese Parole war bei den Protestaktionen in Belarus oft erklungen. Damals hatte die Gesellschaft noch auf die Silowiki, die Sicherheitskräfte gehofft. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht auf friedliche Bürger losgehen werden. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Silowiki haben sich entschieden, das wankende Regime zu unterstützen. Und danach fanden sie sich zusammen mit dem Regime in einem sehr engen Korridor wieder: Zum Machterhalt blieben keine anderen Argumente als Repressionen. Die seit ihrem Beginn schon mehrere Jahre anhalten, wobei menschliche Schicksale gebrochen werden und die Gesellschaft gespalten wird. Die Regierung versucht weiterhin, die Situation mit Gewalt zu ihren Gunsten zurechtzubiegen. Nun kann man zwar mit Repressionen aktive Proteste unterdrücken, doch ist es nicht möglich, die Menschen dadurch unter der Flagge zu vereinen. Wozu dann diese Aufrufe zur Einheit?
„Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko?”
Das Problem der Spaltung wird für die belarussische Gesellschaft immer aktueller. Zu einem Dialog für eine nationale Aussöhnung hatte bereits der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki in seinem Schlusswort vor Gericht aufgerufen. Von einer notwendigen nationalen Aussöhnung zur Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus hatte in einem offenen Brief auch Iossif Sereditsch, der Chefredakteur von Narodnaja Wolja, geschrieben.
Auch Alexander Lukaschenko erinnert oft an die Bedeutung einer Einigung. Allerdings verbergen sich hinter solchen Formulierungen andere Begriffe. Bjaljazki und Sereditsch sagen, dass das Land in eine Sackgasse geraten ist, dass ein gleichberechtigter Dialog zwischen allen politischen Kräften vonnöten ist und eine Amnestie für alle politischen Gefangenen. Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko? Von einer Einigkeit der Geheimdienste, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung. Da geht es nicht um „Die Miliz und das Volk“. Und der Sinn verkehrt sich hier sofort ins Gegenteil.
Das ist ein ganz grundlegender Unterschied. Während die demokratischen Kräfte von einem Dialog sprechen, meint das Regime Unterwerfung. Eine widerspruchslose Unterwerfung. Einigkeit ist hier eine Art Stockholm-Syndrom, wenn das Opfer anfängt, sich für den Angreifer einzusetzen. Die Bevölkerung soll die Silowiki unterstützen, die eben diese Bevölkerung peinigen.
Die Repressionen im Land werden nicht nur nicht schwächer, sondern es wird im Gegenteil die Schlagzahl erhöht. Experten des Wirtschaftsforschungsinstituts BEROC heben hervor, dass die Zahl der von Menschenrechtlern registrierten politisch motivierten Festnahmen weiter zunimmt. Wenn die Silowiki im Sommer vergangenen Jahres noch im Schnitt 100 bis 120 Personen pro Monat festnahmen, waren es im Herbst dreieinhalb Mal so viel. Auch die Zahl der politisch motivierten Gerichtsverfahren steigt und die Haftstrafen werden härter. Es gibt jetzt die Tendenz zu „Firmenfestnahmen“, bei denen sich die Sicherheitskräfte gleich eine ganze Reihe von Mitarbeitern eines Unternehmens schnappen, und zwar von ganz unterschiedlichem Profil. Die Behörden verfolgen die Verwandten der politischen Gefangenen. Die Repressionen gegen Anwälte und Medien hat ein neues Level erreicht. Das alles lässt sich ohne Übertreibung nur als Massenterror bezeichnen.
„Wir leben in einem waschechten Stalinismus”
Politische Gegner, Experten, Journalisten werden vom Regime zu Gefängnisstrafen von 10, 12, 15 oder mehr Jahren verurteilt. Fehlt nur noch, dass wieder Erschießungen stattfinden. Für Landesverrat wurde schon die Todesstrafe eingeführt. Bislang zwar nur für Staatsdiener, doch wer garantiert uns, dass die Liste derjenigen, die unter dieses Gesetz fallen, nicht länger wird? Schauen wir doch der Wahrheit ins Gesicht: Wir leben in einem waschechten Stalinismus.
Aus Lukaschenkos Erklärung können wir eines schließen: das Regime weiß sehr wohl, dass die Silowiki, auf die es sich stützt, und ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Und die Kluft zwischen ihnen wird immer tiefer. Doch mit den Repressionen aufzuhören, hieße, die Macht zu verlieren.
Und was versteht das Regime eigentlich unter „Einigkeit“? Junge Pioniere, die härteste Strafen für „Verräter“ fordern. Versammlungen der Belegschaften, die glühend für harte Urteile eintreten. Denunziation von „grässlichen Weiß-rot-weiß-lern“. Und Unterstützung für der Repressionen. Das wäre nach Lukaschenkos Verständnis Einigkeit. Und er lügt keineswegs, wenn er sagt, es würde „leichter für uns“. Wenn ein Teil der Gesellschaft aktiv den anderen denunziert, wenn die Saat des Misstrauens und der Angst ausgebracht und aufgegangen ist, einer Angst nicht nur vor den Strafbehörden, sondern auch vor Nachbarn, Kollegen und Freunden, dann ist es für das Regime sehr viel einfacher, an der Macht zu bleiben. „Einigkeit“ ist hier nicht mehr als ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man sich den allmächtigen Silowiki beugt. Und die Angst, einen Schritt nach links oder rechts zu machen – weil dann die Wachmannschaften ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen.
Keine horizontalen Strukturen, keine Zusammenarbeit. Jeder hat Angst vor jedem. Das ist es, was die Einigkeit mit den Silowiki bedeutet. Also die uralte Maxime „teile und herrsche“, die auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft abzielt.
Ausgerechnet am 25. März verkündete Wladimir Putin, noch in diesem Jahr Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. An diesem Tag begeht die belarussische Opposition traditionell den Dsen Woli, um an die Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 und damit an die Unabhängigkeit des Landes zu erinnern. Diese sehen viele durch den Kreml bedroht, seitdem Alexander Lukaschenko sich nach den Protesten von 2020 in eine unheilvolle Abhängigkeit von Russland manövriert hat. So ließ er in einer höchst umstrittenen Reform den Passus aus der 1994 stammenden Verfassung streichen, der Belarus als „Nuklearwaffen-freie” Zone deklarierte. Zudem hatte Lukaschenko in jüngerer Zeit dem Westen häufiger damit gedroht, Belarus als Standort für russische Atomwaffen zur Verfügung stellen zu wollen.
Ganz unerwartet kommt Putins Ankündigung also nicht. Bedeutet dieser Schritt im russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation mit dem Westen und der NATO? Welche Folgen hätte die Stationierung für Belarus und Lukaschenko, der jetzt schon auf verschiedenen Ebenen in den Krieg verstrickt ist? Für das belarussische Medium Zerkalo beantwortet der Politikanalyst Artyom Shraibman diese und weitere Fragen.
Wladimir Putins Entscheidung, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kam nicht völlig unerwartet, schon deshalb, weil Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr mehr als einmal davon gesprochen hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Putin präventiv zur Eskalation einlädt, indem er aus „Der Kreml hat entschieden“ ein „Wir haben vereinbart“ macht. Genauso war es im Februar vergangenen Jahres mit den Truppenübungen, aus denen ein Krieg wurde, und im Herbst mit der Einladung russischer Truppen [nach Belarus – dek] zur Formierung einer gemeinsamen Einheit. Diese Truppe wurde schließlich zum Deckmantel für die Ausbildung russischer Mobilisierter auf belarussischen Übungsplätzen.
Interessanterweise formulierte Lukaschenko im September Bedingungen für die Stationierung von Atomwaffen im Land, die aber nicht erfüllt wurden. Damals sagte er, im Falle eines Angriffs auf Belarus oder einer Stationierung von Atomwaffen in Polen durch die USA, sollte es auch in Belarus welche geben. Als Begründung für Putins Entscheidung werden nun tatsächlich Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine angeführt – dabei handelt es sich allerdings um Geschosse, die mit Nuklearwaffen nichts gemein haben.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen
Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass nicht Lukaschenko festlegt, wann und warum zum ersten Mal seit den 90er Jahren Atomsprengköpfe nach Belarus zurückkehren, seien es auch nur taktische, also von der Kraft her geringere als strategische Raketen, die zu Beginn von Lukaschenkos Regierungszeit abgezogen wurden.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen. Ein Vergleich des militärisch-industriellen Potenzials Russlands und seiner Verbündeten auf der einen und der Koalition der Verbündeten der Ukraine auf der anderen Seite ist unmöglich. Eine Niederlage in diesem Krieg kann Putin nur durch die Müdigkeit oder den Unwillen des Westens abwenden, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen zu beliefern. Besondere Bedeutung hätte eine Unterbrechung der Lieferungen vor der nächsten ukrainischen Offensive.
Alle Optionen für eine nichtatomare Eskalation hat Putin ausgeschöpft. Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch auf dem Schlachtfeld geführt, im Rahmen der russischen Winteroffensive wurden einige wenige zerstörte Kleinstädte und Dörfer bei Awdijiwka und Bachmut eingenommen. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet. Eine zweite Mobilisierungswelle kann nicht so schnell und einfach verlaufen wie die erste. Alle, die kämpfen wollten oder auf das schnelle Geld hofften, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits an der Front. Immer mehr russische Einheiten beklagen einen Mangel an Waffen. Allem Anschein nach gibt es nicht mehr genug Raketen und Drohnen, wie noch im Oktober und November, als massiv und regelmäßig geschossen wurde. Und ihre Effektivität wird von der mit westlichen Systemen gepäppelten ukrainischen Flugabwehr zunichte gemacht.
Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch geführt. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet
Bleibt also die atomare Drohung. Putin hat nicht zufällig eine klare Deadline formuliert: Die Basis für die taktischen Nuklearsprengköpfe in Belarus wird bis zum 1. Juli fertig sein. Iskander-Marschflugkörper stehen bereit, Piloten bilden wir aus, und dann werden die Nuklearwaffen in 200 bis 300 Kilometer Entfernung von Kyjiw stehen. Voilà, NATO, drei Monate Zeit, denkt euch was aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen mit der Wimper zuckt, ist minimal. Im Laufe der letzten Monate ist seine Entschlossenheit, die Ukraine mit Waffen und Gerät zu beliefern, nur gewachsen. Und das bedeutet, dass wir zur Jahresmitte hin tatsächlich die demonstrative Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus erleben werden.
Für uns wird das Folgen auf mehreren Ebenen haben: militärisch, außen- und innenpolitisch.
Die Belarussen lehnen jegliche Eskalation ab
Stellt man sich einen Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges auf der Ebene einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland vor, dann gibt es aus militärischer Sicht keinen Zweifel, dass Depots, Abschussvorrichtungen und Militärflugplätze auf belarussischem Gebiet zum Ziel (mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem der ersten Ziele) von NATO-Raketenschlägen werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen beseitigt die Ungewissheit in dieser Frage: Niemand wird eine solche Bedrohung in der Nähe von Warschau, Vilnius, Kyjiw und Riga zulassen.
Innenpolitisch bedeutet die Stationierung russischer Atomwaffen für Minsk einen Schritt neuer Qualität in Richtung der intensiveren Beteiligung am russischen Krieg. Fast ein halbes Jahr lang hat Lukaschenko sich damit zurückgehalten. Im Oktober waren tausende russische neumobilisierte Soldaten ins Land gekommen, dafür hatte es seitdem keinen bestätigten Beschuss der Ukraine von belarussischem Territorium und Luftraum aus gegeben.
Dadurch, dass das Maß der Kriegsbeteiligung nicht weiter eskalierte, konnte Minsk im westlichen Lager Zweifel säen, ob die Sanktionen gegen Russland und Belarus nicht entsprechend angeglichen werden sollten. Polen und die baltischen Staaten bestehen darauf, doch die Ukraine, viele europäische Staaten und sogar die USA halten eine Differenzierung zwischen Putin und Lukaschenko für sinnvoll. Einige EU-Mitglieder setzen sich gar dafür ein, belarussisches Kali von Sanktionen auszunehmen.
Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus wird die Position der prorussischen Hardliner ganz offensichtlich stärken. Denn es ist ein klares Signal an den Westen, dass es nichts gebracht hat, auf neue Sanktionen gegen Belarus zu verzichten – Lukaschenko hat es nicht davon abgehalten, sich Russland militärisch weiter anzunähern. Es ist gut möglich, dass sowohl die EU als auch die USA die drei Monate, die Putin ihnen als Bedenkzeit zugesteht, nutzen werden, um Lukaschenko ebenfalls Bedenkzeit zu geben, ob er weitere Ergänzungen in seinem Paket von Sanktionspaketen haben will. Doch da Minsk in diesen Fragen ganz klar nicht das Entscheidungszentrum darstellt, ist schon jetzt klar, worauf die gegenseitigen Reaktionen abzielen werden..
Genauso vorhersehbar wird die Bewertung dieses Schritts in der belarussischen Bevölkerung sein. Meinungsforscher sind zwar uneinig, inwieweit Umfragen in einer Diktatur zu Kriegszeiten belastbar sind, doch in einigen Fragen zweifelt niemand die Existenz eines nationalen Konsenses (oder etwas, was dem sehr nahekommt) an. Ein Beispiel ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Belarussen eine Beteiligung der eigenen Armee am Krieg in der Ukraine ablehnt. Zu diesem Ergebnis kommen absolut alle Umfragen, sowohl telefonisch als auch online, die seit Anfang 2022 durchgeführt wurden, und es bleibt von Monat zu Monat stabil. Es besteht kein Spielraum für Ergebnisverzerrungen.
Bei der Frage der Stationierung von Atomwaffen in Belarus sieht es ähnlich aus. In Umfragen, die Chatham House im Zeitraum von März bis August 2022 durchführte, war nur jeder Fünfte bereit, eine solche Entscheidung zu unterstützen, 80 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aktuellere Daten gibt es nicht, doch berücksichtigt man die stabilen Ergebnisse des ersten Kriegshalbjahres, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich danach eine grundsätzliche Veränderung ergeben haben könnte.
Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen
Die Ursachen für diese Einstellung liegen auf der Hand. Selbst viele prorussische Belarussen, die Putins „Spezialoperation“ befürworten (ihr Anteil liegt in diesen Umfragen bei 35 bis 40 Prozent), verstehen, wie riskant es ist, Brückenkopf für Nuklearwaffen zu sein. Diejenigen, die neutraler oder proukrainisch eingestellt sind, begreifen das ohnehin. Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen. Selbst wenn man eine maximal effektive Wirkung des Fernsehens annimmt, wird höchstens ein Viertel oder ein Drittel der belarussischen Bevölkerung diese Maßnahme befürworten, was Lukaschenko mit einer Minderheit zurücklässt.
Langsam erodieren wird hingegen die Unterstützung, die die Regierung einigen Umfragen zufolge dank des gestiegenen Interesses der Belarussen an Frieden und Nichtbeteiligung am Krieg gewonnen hatte.
„Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“
Lukaschenko hat bereits eine in der Bevölkerung unpopuläre Entscheidung getroffen, als er das Aufmarschgelände für den Angriff und Beschuss der Ukraine bot (laut Daten von Chatham House unterstützten das nur 10 bis 15 Prozent). Damals entschied die Regierung klugerweise, diese Raketenangriffe zu verschweigen, und die Propaganda fokussierte sich darauf, dass Belarus Vorschläge für Friedensinitiativen einbringt, keine Soldaten an die Front schickt und ukrainische Flüchtlinge aufnimmt.
Über das tatsächliche Maß der belarussischen Beteiligung am Krieg erhielten so nur diejenigen regelmäßig Informationen, die im Süden von Belarus lebten, von wo die Raketenangriffe geführt wurden, und die immer geringer werdende Zahl von Rezipienten unabhängiger Medien. Doch wie soll man vor dem loyalen, politisch uninteressierten Fernsehzuschauer eine solche Nachrichtenbombe wie die Stationierung von Nuklearwaffen im Land verbergen? Vor allem, wenn Putin offen davon spricht und Lukaschenko das Thema schon seit einem Jahr antreibt. Daher wird die Regierung eher versuchen, „aus Gebrechen Großtaten zu machen“, wie es der Oberst im Kultfilm DMB formuliert, und ihren Befürwortern etwas erzählen wie: „Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“, und „denen machen wir die Hölle heiß.“
Lukaschenko schafft selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen
Doch Militarismus kann keine Bevölkerung beruhigen, die sich auf die Forderung nach Frieden und Ruhe geeinigt hat. Angst und Sorge sind scheußlich, selbst wenn der Schützengraben, in dem du sitzt, dir moralisch nahesteht – wenn deine Hauptforderung ist, überhaupt nicht in Schützengräben zu sitzen. Je mehr Lukaschenko mit einem Anstieg der Kriegsgefahr für Belarus assoziiert wird, desto größer werden auch die potenziellen Chancen für Politiker – heute oder in der Zukunft – die Vorschläge machen, wie die Gefahren und die dadurch ausgelösten Ängste abnehmen können.
Indem er in einem fremden Krieg den Verbündeten spielt, schafft Lukaschenko selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen. Und zwar nicht, weil die Wirtschaft nicht läuft oder die Sicherheitskräfte über die Stränge schlagen, sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihn damals gewählt haben. Damit im Land Frieden und Stabilität herrschen.