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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    Kommt es in Belarus zu einem neuen Aufstand?

    „Ich will dieses Regime brechen!” – Nach seiner überraschenden Freilassung gibt sich der belarussische Oppositionspolitiker Siarhej Zichanouski kämpferisch, so auch im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit.  

    Ist der Ehemann von Swjatlana Zichanouskaja, Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung im Exil, in seiner Haltung zu optimistisch? Oder verschafft seine Freilassung der Opposition tatsächlich eine neue Dynamik, vielleicht sogar die Chance auf einen neuen Aufstand in Belarus? Und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU und die USA auf eine Annäherung mit dem Lukaschenko-Regime einlassen, auch um die Befreiung der in Haft verbliebenen über 1200 politischen Gefangenen zu erwirken?  

    Für das Online-Portal von Radio Svaboda hat der Journalist Yury Drakakhrust mit dem Politologen Andrei Kasakewitsch gesprochen.

    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda
    Siarhej Zichanouski (m.) bei einer Kundgebung in Vilnius zusammen mit seiner Frau Swjatlana Zichanouskaja, der Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung. / Foto © Radio Svaboda

    Svaboda: Sjarhej Zichanouski ist aus dem Gefängnis frei und mit einigen entschlossenen Statements faktisch in die belarussische Politik zurückgekehrt. Was können Sie über die Reaktion der belarussischen Gesellschaft darauf sagen: die Klickzahlen seiner Youtube-Videos, Spendeneinnahmen, wie wurde in den sozialen Netzwerken und in den Medien darüber berichtet, wie reagierte die Staatspropaganda? Und was sagt uns das? 

    Andrei Kasakewitsch: Zichanouskis Auftauchen brachte in alle politischen Prozesse eine neue Dynamik, es veränderte die Kommunikation innerhalb der demokratischen Kräfte. Wir beobachten teils ein großes Interesse an seinen Interviews und Äußerungen. Die Reaktion innerhalb von Belarus lässt sich aber nur schwer erfassen. Wir können das weder an den Reaktionen auf Social Media festmachen noch an anderen Parametern. Allerdings hat er dort durchaus ein Publikum. Andere Aktivitäten, wie die Organisation von Kundgebungen, blieben aber eher erfolglos. Dass das Auftauchen eines Anführers in der belarussischen Gesellschaft etwas Nennenswertes auslöst, ist heute ganz klar beschränkt. Ich würde es eher einen neuen Impuls nennen. Dieser kann in einigen Wochen oder Monaten enden, oder zu einer stabilen Kommunikationsbasis werden. Das ist gerade noch nicht absehbar.  

    Kann eine einzige Person einen neuen gesellschaftlichen Aufstand auslösen? Kann das Auftauchen eines einzelnen Menschen einen neuen Aufstand ankündigen? 

    Das ist nur möglich, wenn diese Person über gewisse Ressourcen verfügt, über belastbare Kommunikationskanäle zur Bevölkerung. Die Zichanouskis hatten 2020 eigene Ressourcen. Wir Analytiker haben das damals nicht erkannt, aber Zichanouski hatte sich durchaus ein gewisses Netzwerk von Mitstreitern aufgebaut. Das Onlineportal Tut.by war damals sehr einflussreich, die unabhängigen Medien verfügten in Belarus über ziemliche Freiheiten. Der Zugang zu diesen Ressourcen erlaubte es, direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Heute ist der Medienbereich sehr stark umgestaltet, die Verbindung zu einem großen Teil des belarussischen Publikums ist verloren gegangen. Ob man sie erneuern kann? Bislang sehen wir das nicht.  

    Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. 

    Ein wichtiger Faktor war auch: Die Menschen spürten damals, dass Veränderungen möglich waren. Sie hatten keine Angst, und vor allem diejenigen, die neu zur Bewegung gestoßen waren, vertrauten darauf, dass der Staat nicht zu brutaler Gewalt greifen würde, dass der Sieg nicht gestohlen werden könne, dass die Massenproteste auf den Straßen automatisch zu Veränderungen führen würden. Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Ich denke, die Mehrheit glaubt nicht daran, dass es in nächster Zeit irgendwelche Veränderungen geben könnte, beziehungsweise, dass dafür irgendwelche Hebel existieren.  

    Was  Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. Ich denke nicht, dass im Moment irgendwelche Aktionsaufrufe bei der belarussischen Gesellschaft auf Resonanz treffen. Doch Zichanouski kann durchaus wieder Einfluss im Informationsbereich erlangen und eine eigene Zuhörerschaft finden. Hier könnte es eine Nische für ihn geben und er könnte durchaus erfolgreicher als Swjatlana Zichanouskaja werden. Allerdings ist die Gesellschaft jetzt größtenteils demobilisiert. In der Soziologie verwendet man diesen Begriff, um den Zustand nach einem gewissen Aufbruch zu beschreiben, nach einer Periode, in der die Menschen bereit waren, Risiken einzugehen und entschlossen zu handeln.  

    Viele Beobachter und Analytiker sprechen eher von Angst, von den Folgen der Einschüchterung, Sie reden über Demobilisierung. 

    Demobilisierung ist nicht einfach nur Angst. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die Bevölkerung nach einer Revolution ermüdet ist. Das passiert sowohl, wenn die Revolution erfolgreich war, als auch im Falle einer Niederlage, egal, ob es Repressionen gibt, oder nicht. Menschen können nicht lange im Zustand der Mobilisierung bleiben, jahre- oder jahrzehntelang. Nach dem Aufstand wenden sie sich schlicht wieder anderen Dingen zu, interessieren sich nicht mehr für Politik und zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist ein unvermeidlicher Prozess und wäre in jedem Fall passiert, auch ohne die einschneidenden Repressionen. 

    Ein Teil der Gesellschaft ist verängstigt, das ist klar. Besonders betrifft das ein Cluster, das wir unabhängige zivilgesellschaftliche Gemeinschaft nennen, sie existierte in Belarus bis 2020. Die Repressionen gegen diese Gruppe waren besonders stark. Es gibt auch Personengruppen, in denen der Repressionsdruck weniger stark wahrgenommen wird, etwa wenn die Menschen nur unregelmäßig unabhängige belarussische Staatsmedien konsumieren. Für die meisten Menschen sind Ereignisse wie die Massenproteste 2020 etwas Außergewöhnliches, so oder so kehren sie nach einiger Zeit zum gewohnten beruflichen und familiären Alltag zurück, und das ist in Belarus im Grunde in den letzten Jahren passiert. 

    Können Zichanouskis Aktivitäten zu verstärkten Reaktionen im Land führen, etwa einer Verschärfung der Repressionen? 

    Was kann da schon noch groß verschärft werden?! Die Gruppen der traditionellen Opposition wurden schon sehr intensiv bearbeitet. Natürlich könnte man dazu übergehen, sich Leute für regierungskritische Äußerungen auch in der Raucherecke zu angeln. Aber das hätte einen negativen Nebeneffekt. Das Ausmaß an Repressionen ist in Belarus schon immer mit der außenpolitischen Situation verbunden, wobei der zentrale Faktor die Beziehung zum Westen ist: Besteht die Notwendigkeit, dieses Verhältnis zu verbessern, könnten die Repressionen entschärft werden. Schlechte Beziehungen zum Westen bringen bedeutende Einbußen – wirtschaftlich wie politisch – für die herrschende Macht und bedrohen auf lange Sicht ihre Stabilität. Der Versuch, diese Beziehungen zu verbessern, ist unvereinbar mit einer Verschärfung der Repressionen. Auf einem gewissen Niveau werden sie aber bestehen bleiben, ich sehe in nächster Zeit keine Optionen, die den Machthabern einen völligen Verzicht auf repressive Praktiken erlauben würden. Das Ausmaß kann aber abnehmen. 

    Ein wichtiges Ereignis in letzter Zeit war Swjatlana Zichanouskajas Interview mit dem Magazin POLITICO, in dem sie Trump rät, Lukaschenka zu bestrafen, statt zu besänftigen. Die Veröffentlichung führte zu einer hitzigen Diskussion innerhalb der demokratischen Kräfte. Kann man Ihrer Meinung nach erreichen, dass nach Aufhebung der Sanktionen und der Freilassung aller politischen Gefangenen neuerliche Verhaftungen in großem Umfang verhindert werden können? 

    Leider gibt es hier nur einen einzigen Mechanismus: die erzwungene Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Einen innenpolitischen Impuls gibt es dafür nicht. Allein die wirtschaftliche Situation und die Notwendigkeit, den Einfluss Russlands auszubalancieren, zwingen dazu. Das ist ein altes Problem aller belarussischen Regierungen, das nie wirklich verschwunden ist. Diese erzwungene Reaktivierung der Beziehung zum Westen kann dazu führen, dass die Regierung die Repressionen auf ein Minimum reduzieren muss. So war es auch in der letzten Periode der normalisierten Beziehungen von 2015 bis 2020. 

    Anders als jemals zuvor ist der Grund für die hauptsächlichen Sanktionen, für den größten Druck nicht in den politischen Repressionen zu suchen, sondern in der Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine und in Entscheidungen, die sich spürbar auf die Sicherheit der angrenzenden Staaten auswirken. Dazu zählen die „Migrationskrise“, das Auftauchen der Wagner-Truppe in Belarus sowie die Stationierung von Atomwaffen sowie der neuen Mittelstreckenwaffe Oreschnik. Belarus ist zu einer Bedrohung für die Sicherheit in der Region geworden. Genauer gesagt, es wird als Bedrohung der regionalen Sicherheit wahrgenommen, nämlich von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine. Dieses Problem ist nicht einfach durch innenpolitische Deeskalation zu beheben. Wenn sich in diesen Fragen nichts bewegt, wird es keine merkliche Reduzierung der Sanktionen geben.  

    An dieser Stelle stecken die Verhandlungen zwischen der belarussischen Führung und dem Westen in einer Sackgasse. Der einzige Faktor, der wirklich gegen die belarussische Führung spielt, ist die Zeit. Denn das Interesse an den belarussischen politischen Häftlingen wird mit der Zeit sinken, und dann sinkt auch ihr Wert als Ressource im politischen Handel mit dem Westen. 

    Im Verlauf des letzten Jahres kamen über dreihundert politische Gefangene frei – ist das ein Ergebnis des politischen Drucks oder der Verhandlungen? 

    Das ist natürlich ein Ergebnis des Drucks, allerdings eher ein Ergebnis des Zeitdrucks. Der hauptsächliche Faktor für die Befreiung der Häftlinge ist, dass ihre Haftzeiten enden. Die Zeit reduziert also die Anzahl der Häftlinge. Ein bedeutender Anteil der Begnadigten wäre wenige Monate später freigekommen. Die Logik ist also: Wir müssen sie ohnehin freilassen, also lasst sie uns früher rauslassen und das dann als Begnadigung verkaufen.  

    Darüber hinaus ist das Interesse an den belarussischen politischen Gefangenen in den westlichen Staaten zwar nicht gesunken, aber es wächst auch nicht sonderlich. Der Westen ist für ihre Freilassung nicht zu großen strategischen Zugeständnissen bereit. Denn es besteht immer noch das Problem des Krieges und der Sicherheit. Diese Probleme sind dem Westen wichtiger als die Frage nach der Befreiung der belarussischen politischen Gefangenen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Man muss auch sagen, dass die Freilassung nicht möglich wäre ohne Verhandlungen, ohne die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der belarussischen Führung und der westlichen Regierungen. Sowohl Druck als auch Verhandlungen haben also ihren Anteil. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Zeit. 

    Es sieht so aus, als entfernten sich USA und EU in ihrem Ansatz gegenüber Belarus immer mehr voneinander. Gibt es Chancen auf eine Annäherung der Positionen? Kann Trump Vilnius überzeugen, den Transit für belarussisches Kali zu ermöglichen? Oder wird Trump, wie Zichanouski hofft, dass ersehnte Wort sprechen und Lukaschenka daraufhin alle politischen Häftlinge entlassen? 

    Ich wiederhole noch einmal – die schmerzhaftesten Sanktionen wurden aufgrund der Beteiligung am Krieg und der Bedrohung der Sicherheitslage erlassen. Diese Probleme bleiben für die europäischen Staaten brennend, in erster Linie für die belarussischen Nachbarn: Polen, Litauen, Lettland, Ukraine. Die USA können davor die Augen verschließen. Trump nimmt sogar den Krieg in der Ukraine nicht als bedeutsam für die Vereinigten Staaten wahr. Deshalb können sie auch leicht Kontakte zur belarussischen Führung herstellen und Verhandlungen zu einem breiten Themenspektrum führen. Dass sich die europäische Position entscheidend verändert, sehe ich allerdings nur dann, wenn es Fortschritte gibt, die den Krieg und der Sicherheit betreffen. Allein die Freilassung aller politischen Gefangenen würde den Europäern nicht genügen.  

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Aber werden sie die wahrnehmen? 

    Für die Europäer ist Belarus ein Nachbarland, von dem sehr konkrete Bedrohungen ausgehen. Vielleicht sind viele dieser Bedrohungen gar nicht real, nur imaginiert, und vielleicht haben die europäischen Eliten sie sich ausgedacht. Aber für sie ist das nun mal die Realität, und es ist die Realität für ihre Wähler. Deshalb können sie hier nicht so einfach Zugeständnisse machen, nur damit alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Jedenfalls in nächster Zeit, solange keine anderen einschneidenden Veränderungen geschehen. Kann Trump sie überzeugen oder zwingen? Überzeugen kann er sie sicher nicht, weil die USA einen Großteil ihrer moralischen Autorität auf dem internationalen Parkett verloren haben. Früher konnten amerikanische Präsidenten auf dieser Grundlage in Europa noch etwas erreichen.  

    Kann Trump sie zwingen? Die Erfahrung zeigt, dass er Druck ausübt, bis er starken Widerstand spürt. Wenn Polen und Litauen eine konsequente Haltung einnehmen, glaube ich nicht, dass die Amerikaner sie wegen dieser belarussischen Frage stark unter Druck setzen werden. Denn für die Amerikaner ist diese Frage völlig nebensächlich. Die Position der europäischen Staaten wird wichtiger sein als jene der USA, weil sie viel stärker motiviert sind und sich von Belarus viel stärker bedroht fühlen als die USA.  

    Bei einer Kundgebung in Warschau erklärte Zichanouski, dass Trump die belarussischen politischen Gefangenen mit einem Wort befreien könne. Zichanouski meint, dass Trump gemeinsam mit Europa Lukaschenka so in die Enge treiben könne, dass letzterer Angst bekommt und alle freilässt. Könnte Trump das wirklich? Im Iran hat er kürzlich gezeigt, dass er auch zu entschiedenen Worten und entschlossenen Taten fähig ist. 

    Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Ich denke, würden sie all diese Instrumente nutzen, könnten sie erreichen, dass die belarussische Führung alle politischen Gefangenen freilässt, die noch hinter Gittern sind. Allerdings sehe ich bei den Amerikanern keine Motivation, das zu tun. Diese Instrumente einzusetzen, würde für die Vereinigten Staaten nämlich auch Kosten bedeuten. Es kann die Beziehungen zwischen USA und Russland belasten, das Image der USA in der Welt beschädigen. Die Vereinigten Staaten sind wirklich ein riesiges Land mit riesigen Möglichkeiten, auf jedes Land der Welt Druck auszuüben. Aber werden sie es tun? 

    Mir fiel dazu eine Metapher ein: Beim Schach können Dame, Springer, Türme und Läufer einen Bauern am Rande des Spielfelds jederzeit „fressen“ – weil sie viel stärker sind. Aber der Sinn des Spieles besteht nicht darin, irgendeinen Bauern am Brettrand zu schlagen. Und deshalb kann dieser Bauer auch bis zum Ende des Spiels überleben – weil er eben nicht die wichtigste Figur in diesem Spiel ist. 

    Ja, ich stimme völlig zu, das ist eine Fortführung meines Gedankens. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine Gewinn-Verlust-Rechnung die Amerikaner auf die Idee bringt, die ganze Macht der USA einzusetzen, um die belarussischen Gefangenen zu befreien. Belarus ist für die USA, besonders für die Leute, die dort jetzt an die Macht gekommen sind, ein Land der Peripherie. Selbst die EU und Ukraine sind für sie nicht sonderlich bedeutend und freundschaftlich konnotiert. Was soll man da bitte schön über Belarus sagen? 

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  • Zwischen Front und Fakes

    Zwischen Front und Fakes

    Informationen spielen eine Schlüsselrolle im Krieg. Doch je länger Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert, umso mehr kämpfen auch die Medien ums Überleben.  

    Noch gibt es in der Ukraine eine vielfältige Medienlandschaft: Neben dem vielfach beschriebenen TV-Marathon der Einheit gibt es reichweitenenstarke allgemeine Online-Medien wie die Ukrajinska Prawda, thematisch spezialisierte Portale wie Graty (Gerichtsberichterstattung), Frontliner (Kriegsreportage), Zmina (Menschenrechte) oder Texty (Daten, Recherche, Visualisierung), Radiosender wie Hromadske Radio sowie zahlreiche, auch jüngere Regional- und Lokalmedien. Für die Berichterstattung ins Ausland sind The Kyiv Independent und Kyiv Post mittlerweile unersetzlich. 

    Mag Russlands Invasion 2022 den ukrainischen Medien noch einen Publikumszuwachs beschert haben, werden nach über drei Jahren Krieg die langfristigen Kriegsfolgen für die ukrainische Medienwelt spür- und sichtbar. 

    Das ukrainische Institut für Masseninformationen (IMI) hat nach dem Wegbrechen der USaid-Programme Anfang 2025 eine Umfrage unter Medienschaffenden durchgeführt und daraus Empfehlungen für den Staat, Förderer und Spender abgeleitet. Demnach seien finanzielle Stabilität und das grundsätzliche Überleben der Medien das Kernproblem, besonders für reichweitenschwächere und lokale Medien. The Kyiv Independent startete im Frühjahr ein Förderprogramm für betroffene ukrainische Regionalmedien. 

    Die Wissenschaftler Andreas Umland und Diana Dutsyk vom Stockholmer Zentrum für Ostereuropa-Studien betonen indes in ihrem aktuellen Bericht Between Freedom and Censorship: „Trotz finanzieller Schwierigkeiten, Zentralisierungstendenzen und kriegsbedingten strukturellen Veränderungen ist der öffentliche Diskurs in der Ukraine relativ pluralistisch geblieben, wenn auch mit einigen Einschränkungen in Bezug auf das Fernsehen.“ 

    „Wir kämpfen um jedes Wort“: Was die Kriegsfolgen konkret für lokale und regionale Medien bedeuten, hat Wadym Pelech, Chefredakteur der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi, in seinem Leitartikel zum ukrainischen Tag der Journalist:innen am 6. Juni kompakt und pointiert zusammengefasst.  

    Ein Journalist dokumentiert die Zerstörung eines Landwirtschaftsbetriebs durch russische Angriffstruppen bei Orichiw, Region Saporishshja, im September 2023. / Foto © Dmytro Smolienko/ Ukrinform/ Imago

    Der LOKALJOURNALISMUS war schon immer am Puls der Gesellschaft und eine Art Barometer für die Stimmung und Entwicklungen in den Gemeinden. Zu Friedenszeiten kann man seine Bedeutung kaum überschätzen: Er prägt die lokale Identität, kontrolliert Politik und Verwaltung und informiert die Bevölkerung über relevante Prozesse. Doch nun im vollumfänglichen Krieg, der das gesamte Land auf Überleben und Kampf gegen die russischen Angreifer ausrichtet, geraten die Regionalmedien in eine beispiellos existenzielle Lage. Tscherniwzi erlebt diese Herausforderungen wie jede andere Regionalhauptstadt in voller Härte. 

    Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee. 

    Die ERSTE und wohl schmerzhafteste Herausforderung ist der Verlust von Mitarbeitern. Wie Millionen andere Ukrainer melden sich auch Journalisten zum Schutz ihres Vaterlandes. Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee. Leider gibt es auch hier Verluste. Allein seit letztem Jahr gelten zwei unserer Kollegen, Medienschaffende aus Tscherniwzi, als vermisst. 

    Da es kaum Freistellungskontingente gibt und oft die Besten ihres Fachs mobilisiert werden, müssen nun alle Übrigen bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten arbeiten: nicht nur über Ereignisse berichten, sondern auch die patriotische Message verbreiten, die Mobilisierungsgesetze und andere wichtige militärisch-patriotische Informationen erläutern, die von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt und die Stabilität unserer Gesellschaft sind. 

    Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen. 

    Die ZWEITE Herausforderung ist der erschwerte Zugang zu Informationen und, dass das Kriegsrecht teils als Vorwand genutzt wird, um zweifelhaftes Handeln zu verschleiern. Kommunale Behörden verweisen nicht selten auf „sensible“ Angaben und „Sicherheitsinteressen“ und schränken damit den Zugang zu eigentlich öffentlichen Informationen ein, die in Friedenszeiten frei zugänglich wären. Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen. Und Journalisten, die versuchen ihre Arbeit zu machen, werden beschuldigt, „die Lage zu destabilisieren“ oder im Interesse bestimmter „Clans zu arbeiten“. Diese Umstände erzeugen Druck und sind eine Gefahr für den objektiven Journalismus. 

    Der DRITTE destruktive Faktor ist der Verlust von Werbeeinnahmen. Die Wirtschaft in der Ukraine befindet sich im Kriegszustand und zuallererst leiden darunter diejenigen Sektoren, die von der allgemeinen Wirtschaftslage abhängig sind. Der Anzeigenmarkt ist praktisch zusammengebrochen. Regionalen Medien entgeht der Löwenanteil ihrer Einnahmen. Doch ohne finanzielle Unterstützung, ohne die Möglichkeit, Personal zu halten und in Innovationen zu investieren, stehen Medien am Rande ihrer Existenz. Die Folge sind Personalkürzungen, Projektstopps und letztendlich die Gefahr des vollständigen Verschwindens. 

    Medienschaffende beginnen aus Angst ihr Material zu filtern. 

    Die VIERTE Herausforderung ist die Monopolisierung des Nachrichtenmarktes. In Kriegszeiten benötigt die Gesellschaft schnell und zentralisiert Informationen, deshalb wächst die Rolle der überregionalen Medien. Sie verfügen über Ressourcen, um unter Kriegsbedingungen zu arbeiten und ihre Nachrichten schnell zu verbreiten. Dies geschieht jedoch oft auf Kosten der regionalen Medien, die mit solchen Giganten nicht konkurrieren können. Lokale Nachrichten, lokale Konflikte, lokale Protagonisten, all das geht im Strom der landesweiten Informationen und Nachrichten schnell unter. 

    All diese Faktoren, ergänzt durch das weit verbreitete Narrativ „Journalisten sind an allem schuld” (oft durch jene verbreitet, die ein Interesse daran haben, Informationen zu verbergen), führen zu dem gefährlichen Phänomen der inneren Selbstzensur. Medienschaffende beginnen aus Angst vor Anschuldigungen, Druck oder Jobverlust, ihr Material zu filtern, heikle Themen zu vermeiden und „Ecken und Kanten zu schleifen“. Dies zerstört jedoch nicht nur das Vertrauen in die Medien, sondern beraubt die Gesellschaft auch wichtiger, wahrheitsgemäßer Informationen.  

    Zuletzt sollte außerdem auf die Sabotage der Zeitungsabos durch Ukrposchta hingewiesen werden [In der Ukraine abonniert man regelmäßig erscheinende Zeitungen und Zeitschriften direkt über die Ukrainische Post – dek]. Da Werbeeinnahmen fast vollständig ausfallen, könnten Abonnements von Printmedien ein Rettungsring sein. In der Praxis bekommt der Leser seine Lieblingszeitung jedoch nicht dank, sondern trotz des Handelns von Ukrposchta: Verzögerungen, Probleme bei der Zustellung, mangelnde Motivation der Postboten. Das trifft die wenigen Leser hart, die noch Printmedien im Abo unterstützen. 

    Wie überleben? Die Antwort ist komplex. 

    All dies stellt den Lokaljournalismus in Tscherniwzi und der gesamten Ukraine vor die existenzielle Frage: Wie überleben? Die Antwort ist komplex. Es braucht nicht nur Engagement der Journalisten selbst, sondern auch ein echtes Bewusstsein der Gesellschaft und der Politik für die entscheidende Rolle des unabhängigen Journalismus. Ohne ihn riskieren wir nicht nur den Verlust eines wichtigen Kontrollinstruments, sondern auch die Möglichkeit, eine informierte und kritisch denkende Gesellschaft zu sein, die selbst in Kriegszeiten ein Garant für die Demokratie ist.  

    Wir kämpfen und geben nicht auf. 

    Titelseite der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi vom 5. Juni 2025 / Foto © Peggy Lohse/dekoder
    Titelseite der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi vom 5. Juni 2025 / Foto © Peggy Lohse/dekoder

    Morgen ist der 6. Juni, der Tag des Journalisten, und wir werden erneut über unseren Platz in diesem Krieg nachdenken. Trotz aller Herausforderungen – Verlust von Kollegen, Ignoranz der Behörden, finanzielle Schwierigkeiten, Monopolisierung des Informationsraums und Störungen bei Abonnements – kämpfen wir weiter.  

    Wir arbeiten weiter: suchen nach der Wahrheit, decken Missstände auf, unterstützen unsere Soldaten und informieren die Gesellschaft darüber, was geschieht. Das ist nicht nur Arbeit – es ist, so pathetisch es klingen mag, unsere Mission. Eine Mission, die wir mit Verantwortungsbewusstsein und dem Verständnis erfüllen, dass ohne uns die unabhängigen Regionalmedien, in Tscherniwzi und anderen ukrainischen Städten, Gefahr laufen, in einem Informationsnebel und Fake News zu versinken, generiert von anonymen Bots in Sozialen Netzwerken.  

    WIR KÄMPFEN UM JEDES WORT, um jede wahre Nachricht, um jedes Abonnement. Und wir glauben daran, dass es dieser Kampf wert ist: Denn es geht um die Zukunft des ukrainischen Journalismus und um eine starke, tatsächlich informierte Gesellschaft. 

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  • „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge Zehntausende Menschen getötet, fast alle Wohngebäude wurden zerstört, alle 19 Krankenhäuser der Stadt lagen in Trümmern. Das dokumentierte Ausmaß an Zerstörung und gezielten Angriffen auf Zivilisten ist beispiellos. 

    Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang, neben dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es laut einigen Völkerrechtlern auch belastbare Hinweise auf Völkermord. Weniger dokumentiert sind die Verbrechen gegen die etwa drei bis fünf Millionen Ukrainer in den besetzten Gebieten

    Um diesem Schicksal zu entgehen, sind rund 3,8 Millionen Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge in sicherere Regionen der Ukraine geflohen. Mehr als sechs Millionen Ukrainer:innen, meist Frauen und Kinder, haben das Land ganz verlassen.

    Dmitri Durnjew von der Novaya Gazeta Europe hat im lettischen Exil mit ukrainischen Ärztinnen gesprochen, die noch 2022 im Südosten der Ukraine Leben retteten – und nun in Angst leben, dass ihnen der Krieg nach Lettland folgt. Der Journalist Durnjew war in seinem früheren Leben selbst Notarzt. Auf einer Baltikumreise traf er sich mit einstigen Kommilitonen von der Donezker Hochschule für Medizin. Einige von ihnen waren während der brutalen russischen Belagerung in Mariupol im Dienst. Manche von ihnen sind auch in dem Oscar-prämierten Dokumentarfilm 20 Tage in Mariupol zu sehen.

    Während die russische Armee die ukrainische Hafen- und Industriestadt Mariupol im Frühjahr 2022 unter Dauerbeschuss und Belagerung nimmt, ist das örtliche medizinische Personal, wie hier ein Arzt am 15. April 2022 in einem Intensivkrankenhaus der Großstadt, rund um die Uhr im Dienst.  © Sergei Bobylev/ Itar-Tass/ Imago

    Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 arbeiten viele ukrainische Spezialisten im medizinischen Bereich in Lettland: 107 Ärzte verschiedener Fachrichtungen, 52 Zahnärzte und 61 Krankenschwestern. Die medizinische Diaspora erhielt gleich nach der Ankunft ohne große Fragen oder Kontrollen eine Arbeitserlaubnis, um in den hiesigen Krankenhäusern tätig zu sein. Die Krankenakten konnten sie gleich auf Lettisch bearbeiten, noch bevor sie irgendeinen Sprachkurs besucht hatten – mit Hilfe von Google Translate und dem verwegenen Wissen, das man als Kriegsflüchtling mitbringt: In dieser Welt geht alles. 

    In Liepāja, einer Hafenstadt an der Ostsee, treffen wir sechs ÄrztInnen, die mittlerweile hier praktizieren. Es handelt sich um Olena Jakunina aus Krasny Lutsch [seit 2016 Chrustalny, Oblast Luhansk, seit 2014 besetzt – dek], Natalija Schtscherbak aus Kramatorsk und ihre vier KollegInnen aus Mariupol: die Zahnärztin Ljudmyla, die Internistin Walentyna und ihr Mann, der Unfallchirurg Wjatscheslaw sowie die Anästhesistin Jewhenija wollten nicht mit Nachnamen genannt werden. In Liepāja kennt man sie gut: Wjatscheslaw beispielsweise ist der einzige Unfallarzt in der hiesigen Rettungsstelle.

    Doch es ist nicht die Aufmerksamkeit in Liepāja, die sie scheuen – sie fürchten, dass sich das Schicksal Mariupols in Lettland wiederholen könnte. Sie wollen keine Spuren für russische Checkpoints und Filtrationslager hinterlassen – für den Fall, dass die russische Armee bis hierhin vordringen sollte. Sie wissen, wie Filtration nach russischer Art aussieht und dass man in den ersten Tagen der Okkupation noch fliehen kann, wenn man keine Anhaltspunkte für die russischen Silowiki hinterlassen hat. 

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol, verstehen Sie?“, sagt eine der Ärztinnen zu mir, und alle nicken zustimmend. Ich verstehe: Nach Mariupol wissen diese Menschen genau, dass in dieser Welt alles möglich ist. 

    „Als die Russen kamen“: Walentyna und Wjatscheslaw in Mariupol 

    Walentyna arbeitet hier als Ärztin in der Aufnahmestation, in Mariupol war sie in der Poliklinik von Asowstahl angestellt und lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern im östlichen Bezirk Schidny, der seit Tag eins der Invasion im Februar 2022 unter Beschuss stand. 

    „Wir haben unsere Wohnung am 24. Februar verlassen und sind ins OLIL (Kreiskrankenhaus für Intensivmedizin, ehemals Städtisches Krankenhaus Nr. 2 in Mariupol) gewechselt, wo mein Mann als Rettungsarzt arbeitete“, erzählt Walentyna. „Sie haben die Frauen aus dem Kreißsaal zu uns gebracht [nach dem Bombenangriff auf die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3]. Erinnern Sie sich an die Hochschwangere auf der Trage? Sie hatte eine furchtbare Wunde an der Hüfte und brauchte einen Kaiserschnitt. Eine junge Krankenschwester kümmerte sich um sie, sie war selbst schwanger, kam ganz bleich von dort, wiederholte nur immerzu: ‚Es ist schrecklich!‘“

    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)
    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)

    „Babys wurden geboren, überall eingeschlagene Fenster, Kälte, eine Frau schleppt selbst den Säugling, das Köpfchen war zu sehen. Sie müsste liegen, nach der Geburt darf sie überhaupt nicht aufstehen. Aber sie muss in den Keller rennen: Beschuss! Sie wollten meinen Mann, der ja Unfallchirurg ist, zu einem Kaiserschnitt schicken. Zu dem Zeitpunkt gab es bei uns keinen einzigen Geburtshelfer mehr.“ 

    „Die Krankenschwester sagte, ich solle einfach schneiden und nähen, den Rest würde sie mir schon erklären!“, lächelt Wjatscheslaw, der jetzt Unfallchirurg im Stadtkrankenhaus von Liepāja ist. Er redet nicht viel, isst kaum, trinkt nur Kaffee und geht oft zum Rauchen raus. 

    „Nach Mariupol hat er fast ein Jahr lang geschwiegen“, sagt einer der anderen Anwesenden. 

    Walentynas Familie zog also im Februar 2022 in den Krankenhauskeller: Wjatscheslaw war rund um die Uhr im Einsatz, Walentyna kümmerte sich um die Kinder, die damals 16-jährige Tochter und den zehnjährigen Sohn. Erst fanden sie in einem Zimmer neben dem kleineren OP-Raum Unterschlupf, doch als die Toten die Leichenhalle überfüllten, brachte man Getötete und an ihren Verletzungen Erlegene in jenen OP-Raum.

    „Es roch dann plötzlich so süßlich, und da wusste ich, dass wir eine andere Fluchtunterkunft brauchten. Hunger und Hundekälte, es gab nichts zu essen – ich weiß nicht, wie sie überhaupt gearbeitet haben“, sagt Walentyna über die Arbeit ihres Mannes und seiner Kolleginnen. „Am schlimmsten waren die Schnittverletzungen – überall sind Fenster, die Glassplitter fliegen, die Augenverletzungen sind so schlimm, dass man das Glas nicht mehr aus den Augen bekommt. Mein Mann war in dem Dokumentarfilm zu sehen, der den Oscar bekommen hat [20 Tage in Mariupol von Mstyslav Tschernow – dek].“ 

    Am 11. März 2022 nahmen die [article-null]Asow-Kämpfer[/article] ihre Gefallenen mit und verließen das Krankenhaus. Am Folgetag zogen die Russen ein. Walentyna erinnert sich an die Veränderungen:

    „Als die Russen kamen, machten wir uns auf die Suche nach Essen, egal was, der Hunger war schrecklich, es gab absolut nichts. Und die operierten immer weiter! Wenn wir an den Russen vorbeiliefen, wendeten wir uns ab, aber die wollten, dass wir uns bei ihnen bedanken für die ‚Befreiung‘. Einer klackte mit seinem Gewehr und sagte zu mir: ‚Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen? Ich erschieß dich gleich, du Missgeburt!‘ 

    Wir liefen in die Personalabteilung und fanden in einem Raum bei der Aufnahme Schüsseln mit etwas Essbarem, Sahne oder Schmand, keine Ahnung. Dann fanden wir eingepackte, schon angetaute Teigtaschen. Ich schäme mich nicht, dass wir die Räume der Krankenhausverwaltung geplündert haben … 

    Wenn du lange nichts gegessen hast, langst du einfach zu. Und da sagt der Röntgenarzt plötzlich zu mir: ‚Hör mal, Walentyna, die Ärzte sitzen mit den Kindern im Keller. Willst du ihnen nicht was runterbringen?‘ In dem Raum mit den Dekompressionskammern? Da lagen die jüngsten Patienten, Babies. Ich rannte hin und sagte: ‚Gebt mir eine Schüssel, ich bringe euch zu essen.‘“ 

    „Da waren drei Monate alte Säuglinge, manche einen Monat“, fügt die Anästhesistin Jewhenija wie ein Echo hinzu. 

    „Als erstes starben Diabetiker und die Dialyse-Patienten“ 

    „Am wichtigsten waren Wasser, Nahrung und Medikamente“, erzählt Walentyna weiter. „Die Menschen kletterten durch die Fenster und flehten  um Tabletten. Ich durchwühlte meine Tasche, fand noch drei Schmerztabletten. Außerdem lagerten im Krankenhaus noch Medikamente, die man bei einer Nierentransplantation verabreicht. Die Beschriftungen waren auf Französisch, ich las und verstand nicht, wofür das alles gut ist – gebraucht wurden vor allem Schmerzmittel und Antibiotika. Es kamen Menschen aus den Nachbarhäusern mit Verletzungen, Bluthochdruck, das Insulin ging aus – es war beängstigend. Als erstes starben die Diabetiker und die Dialyse-Patienten, Menschen, die auf Maschinen und Spezialpräparate angewiesen sind.“ 

    Immerhin: Die weißen Kittel schützten sie vor den Russen, berichten die Ärztinnen, man ließ sie in Frieden, ansonsten wurde jeder kontrolliert. Manchmal hätten sich die ukrainischen Soldaten verkleidet, um der Umzingelung zu entkommen. 

    Am vierten Tag hörte der Chefarzt der Urologie, dass man vielleicht Autos mit Zivilisten aus der Stadt lassen würde. Er organisierte eine Evakuierungskolonne. 

    „Er setzte zwei ältere Angehörige zu uns ins Auto, erst unterwegs stellte sich heraus, dass einer von ihnen in Iwano-Frankiwsk gemeldet war. Wir hatten Angst, aber am ersten Evakuierungstag überprüfte niemand so recht die Ausweise. Und als sie unsere Sachen durchsuchten und mein Mann auf die Frage, was das sei, antwortete: ‚Ein Zystoskop‘, ließen sie uns in Ruhe“, erinnert sich Walentyna. 

    Olena, die letzte hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt

    „Oh, wie schreibt man noch mal diesen Buchstaben …“ Meine Freundin Olena Jakunina, kurz Lena, ist Internistin. Sie stockt beim Schreiben einer Grußkarte an meine Kinder. „Irgendwie vergesse ich immer das D – du schreibst hier den ganzen Tag von 8 bis 17 Uhr dieses Sūdzības par … [„Beschwerden aufgrund von …“ – mit diesen Worten beginnt jede Arztdokumentation], danach besuchst du meistens den ganzen Abend Lettisch-Kurse, dann noch Hausaufgaben …“ 

    Am 1. Juli 2025 stehen für die ukrainischen Ärztinnen in Lettland die B1-Prüfungen an. Lena hat sie längst bestanden, beim dritten Versuch. Ein ehrenwertes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass manche ihrer Kolleginnen es erst beim fünften Anlauf schaffen, manche auch beim ersten, aber andere sind nicht einmal annähernd so weit, weil die Sprache so schwierig ist. 

    Lena ist die einzige Ärztin in der internistischen Abteilung des Krankenhauses von Bulduri im Gebiet Jūrmala. Sie ist alleine zuständig für 22 Betten. Eine Zeitlang hatte sie eine junge Assistenzärztin, aber die ist gegangen: zu viel Arbeit bei – nach EU-Maßstäben – zu niedrigem Lohn. Die junge Generation entscheidet sich meist für eine Karriere in Deutschland. 

    Ich kenne Lena, seit wir 1985 im ersten Semester an der medizinischen Fakultät der Gorki-Universität in Donezk [seit 2017 nur noch Donezker Nationale Medizinische Universität –  dek] studiert haben. 2015 habe ich sie zwei Mal interviewt, anonym, versteht sich. Damals arbeitete Lena in der internistischen Abteilung des Krankenhauses in Krasny Lutsch, das liegt im besetzten Teil der Oblast Luhansk. 2015 sahen wir uns zufällig in der mehrstündigen Schlange am Checkpoint Wolnowacha wieder, Lena war mit ihrer Tochter Dascha auf dem Weg zurück aus Mariupol. Dascha hatte dort die Abschlussprüfung in einer ukrainischen Schule abgelegt, ein Spezialprogramm für Jugendliche aus den besetzten Gebieten. Zum Studieren ging sie an die beste geisteswissenschaftliche Hochschule der Ukraine, die Nationale Mohyla-Akademie in Kyjiw. 

    Dort sahen wir uns später wieder. Lena erklärte, als hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt sei man in der Regel die Einzige und entsprechend gefragt; sie würde dort arbeiten, um ihre Tochter beim Studium zu unterstützen. Einmal im Jahr fahre sie weg, um durchzuatmen – auf eine wissenschaftliche Konferenz irgendwo in der Ukraine, dann einmal zu ihrer Tochter nach Kyjiw und noch einmal in den Urlaub. 

    Den 24. Februar 2022 erlebte sie auf einer dieser Reisen bei ihrer Tochter in Kyjiw. 

    „Gibt es dieses Land denn noch?“ 

    Für Lettland hat sie sich bewusst entschieden: Ihre Schwester lebt schon lange hier. „Als ich kam, herrschte hier Ärztemangel. Man empfing mich mit offenen Armen, schüttete mich gleich in den ersten Tagen mit Arbeit zu.“ Man nennt sie hier „Doktor Olena“, den Patienten wird vorher gesagt, dass sie von einer ukrainischen Ärztin behandelt werden. Es sind meist ältere Menschen, und in Jūrmala leben viele Russischsprachige. Das führt manchmal zu seltsamen Situationen. 

    „Ich komme ins Zimmer, sage, dass ich aus der Ukraine bin, und höre diese russische Standardphrase: ‚Wie, gibt es dieses Land denn noch?‘ Die alten Leute nehmen kein Blatt vor den Mund. In ein und demselben Zimmer kann neben jemandem, der noch in den 1950er Jahren mit seinen Eltern nach Lettland gekommen ist, einer liegen, der in Sibirien als Kind deportierter Letten geboren wurde.“ 

    Lenas Tochter lebt als Journalistin in Kyjiw, die Mutter bekommt die Luftalarme in Echtzeit aufs Handy, kann Raketen- von Shahed-Angriffen unterscheiden, verfolgt die Einschläge auf der Karte und weiß, wann ihre Tochter nachts in die Metrostation muss. 

    „Wie haben alle Schlafstörungen“, sagt Lena. 

    Mit „alle“ meint sie ihre befreundeten Ärztinnen aus der Ukraine. Eine weitere Kommilitonin von uns, Alina Tschera, war Chefärztin an einer großen Privatklinik in Mariupol. Sie entkam aus der zerstörten Stadt am 16. März 2022 mit dem Auto, zusammen mit ihrem Vater, ihrer Katze und ihrem Hund. Sie fuhren in Richtung Lettland, zu Lena Jakunina. 

    Alina Tschera wurde zu einem Magneten, der in jenem Frühjahr die Ärztinnen aus der Oblast Donezk anzog – um sie herum bildete sich die medizinische Diaspora in Liepāja. 

    „Ärzte mit 20 und mehr Arbeitsjahren sind ein wahrer Schatz, verstehen Sie?“, sagt Natalija Schtscherbak, die Internistin aus Kramatorsk. Dort leitete sie zunächst eine Anlaufstelle für HIV-Infizierte, danach war sie als Hausärztin tätig. In Liepāja arbeitet sie nun auf der Palliativstation. 

    „Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!“ 

    Der erste, der eine Antwort vom Krankenhaus in Liepāja erhielt, war Wjatscheslaw: Ja, Unfallchirurgen würden gebraucht. Dann machten sich auch die anderen auf den Weg. „In der Personalabteilung hieß es, wir würden gleich eine Arbeitserlaubnis bekommen, aber nach einem Jahr müssten wir die B1-Prüfung ablegen. Und ich sage noch so leichthin: ‚Das wird schon!‘“, erzählt Walentyna. 

    Im Gegensatz zu ihrem schweigsamen Mann hat sie insgesamt eine offene, schlagfertige Art und erzählt ihre schaurigen Geschichten oft mit einem Lächeln. Ihre älteste Tochter, die mit ihnen die Belagerung Mariupols überlebt hat, ist nun erwachsen und studiert Medizin in Lwiw. Aus der Ukraine wollte sie auf keinen Fall weg. 

    „Weißt du, das erste Jahr hier in Lettland war hart, wir konnten alle kaum schlafen. Lauter neue Wörter, die Sprache war sperrig. Dann fingen wir langsam an, ein bisschen was zu verstehen, fanden einen tollen Lehrer“, sagt Lena. Bei Lena stünden die Dinge etwas anders, erklären mir meine Gesprächspartnerinnen aus Liepāja: In Jūrmala würden mehr Russen leben, wohingegen ihre Stadt mehr „wie die West-Ukraine“ sei. 

    Wieder meldet sich Walentyna ungehalten zu Wort:

    „Manchmal sagen die Sachen wie: ‚Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!‘ Oder ein Patient, ein Lette: ‚Ich habe Verwandte in Taganrog, die sagen, euer Mariupol ist wieder wie neu, so schön!‘ Aber ich habe in der Poliklinik von Asowstahl gearbeitet, man hat mir Fotos geschickt, wie mein Büro ausgesehen hat, völlig verwüstet, das ganze Werk haben sie dem Erdboden gleichgemacht. Wenn ich sie so über Mariupol reden höre, entgleist mir wahrscheinlich alles, ich verliere die Fassung – jedenfalls werden sie plötzlich ganz leise.“ 

    „Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?“ 

    Wir sitzen in einer Shopping-Mall, meine Gesprächspartner haben vorab ein Café mit großen Tischen ausgewählt, bestellen mit Appetit. 

    „In Mariupol bin ich nie ins Restaurant gegangen, aber hier kann ich mir das leisten“, sagt Jewhenija mit leisem Stolz. „Ich verdiene elf Euro die Stunde, manchmal arbeite ich im Monat 160, mal 200, mal 120 Stunden … Das macht im Schnitt 1500 Euro. In der Ukraine kam ich mit zwei Jobs gerade mal auf 800 Euro, nicht mehr. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.“ 

    Sie sind alle um die 50, haben viele Arbeitsjahre in diversen Krankenhäusern hinter sich und strahlen alle die gleiche ruhige Selbstsicherheit aus. 

    „Ich habe keine Probleme mit den Patienten, sie sitzen ja mit offenem Mund da, reden nicht“, sagt Zahnärztin Ljudmyla. „Ich bin nicht so sehr auf die Sprache angewiesen wie auf die Anerkennung meiner Abschlüsse, meiner Diplome. Mir geht es gut hier.“ 

    Ich rücke langsam um den Tisch zu Wjatscheslaw herüber, der nach drei Stunden plötzlich zu reden beginnt. Er erzählt von seiner Arbeit hier, in Lettland, im noch friedlichen Europa. 

    „Die Rettungsstelle ist so ein Ort, wo niemand arbeiten will, und da kam ich. Die ersten sechs Monate haben die Letten mich beobachtet, sie lassen sich gern Zeit, aber sobald sie sich von dir und deinen Fähigkeiten überzeugt haben, gehen sie, lassen dich arbeiten. Und jetzt bin ich alleine für die Station zuständig. Die fachliche Ausrichtung ist hier natürlich eine andere: Bei uns waren das nur Unfälle, aber hier kommen Neurochirurgie und Kinderneurologie dazu … Unser Mariupoler Humor, so was wie: ‚Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?‘ – solche Späße versteht hier natürlich niemand.“

    Anfangs habe er A2-Kurse besucht, erinnert er sich: „Die machen ganz schön Tempo. Ich habe erst nach drei Jahren angefangen, das Gehörte zu verstehen. Meine Frau macht jetzt schon B2, bei der Prüfung hat sie zwei von vier Tests bestanden, bei den anderen haben ihr nur zwei Prozent gefehlt – da hieß es trotzdem Nein. Das ist doch doof! Seitdem ist mir die Sprache irgendwie schnuppe …“ 

    Wjatscheslaw ist der einzige meiner Gesprächspartner, dem aufgrund der „Sprachfrage“ theoretisch die Entlassung droht. Aber auch das scheint ihm schnuppe. Er ist Unfallchirurg aus Mariupol, er macht hier seinen Job, seine ganze Familie ist am Leben – was soll einen da noch kümmern? 

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  • „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken“

    „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken“

    Die Zeit im Gefängnis hat Ihar Karnei schwer gezeichnet. Aschfahle Haut, knochige Gestalt. 18 Kilogramm Gewicht habe er in der Haft verloren, sagte er nach seiner Freilassung. Der belarussische Journalist – 2024 zu fast vier Jahren Haft verurteilt – war unter den 14 Personen, die am 21. Juni 2025 infolge eines Besuches des US-Sonderbeauftragten Keith Kellogg in Minsk freigelassen wurden.  

    Der Journalist Ihar Karnei nach seiner Freilassung mit einem Foto, das ihn vor der Haft zeigt. / Foto © Iva Sidash/ Belarusian Association of Journalists (BAJ) 

    Seit den Protesten von 2020 verfolgt das Lukaschenko-Regime Journalisten und Medien mit scharfen Repressionen und kriminalisiert Leser und User, wenn sie Telegram-Kanäle abonnieren oder Beiträge in Sozialen Medien teilen. Der unabhängige Journalismus wurde nahezu vollständig ins Exil getrieben. Nun berichten Medien wie Pozirk oder Zerkalo aus Polen oder Litauen und versorgen die belarussische Gesellschaft im Land weiterhin mit Informationen.  

    Ihre Existenz ist prekär und sie ist noch prekärer geworden, nachdem die Trump-Regierung seit Anfang 2025 diverse Förderprogramme gestoppt hat. „Quasi über Nacht brach den belarussischen Medien die Hälfte ihres Budgets weg“, heißt es in einer Studie des Press Club Belarus. Aber ein Aus der belarussischen Medien wäre ein herber Schlag für die europäische Sicherheit, heißt es in dem Papier weiter. In einem aktuellen Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift der Historiker Felix Ackermann diese Studie auf und fordert eine bessere Unterstützung belarussischer Medien durch die Bundesregierung – auch im eigenen Sicherheitsinteresse.  

    Für dekoder hat die belarussische Journalistin Anna Wolynez mit Natalia Belikova vom Press Club Belarus über die Lage der belarussischen Medien und ihre Überlebenschancen gesprochen. 

     

    Die deutlichste Tendenz, die wir 2025 im Zusammenhang mit dem Stopp der US-amerikanischen Medienhilfen beobachten, ist, dass die belarussischen Medien begonnen haben, stärker mit ihren Finanzierungsmodellen zu experimentieren und sie zu diversifizieren. „Sie versuchen Aktivitäten auszubauen, die sich an die Belarussen im Ausland richten: Spendeneinwerbung, Entwicklung lokaler Communities, Clubtreffen mit Eintrittsgeld … Aber auch in den erfolgreichsten Fällen deckt das höchstens zehn Prozent des Jahresbudgets“, sagt Natalia Belikova vom Press Club Belarus

    Auch in Zukunft werden diese zusätzlichen Aktivitäten kaum ausreichen, um ohne unterstützende Fördermittel zu überleben und langfristig resilient zu werden. Der Press Club Belarus hat daher für alle, die den unabhängigen Medienunternehmen helfen wollen, eine Unterstützungsplattform gestartet: Save Belarus Media

    Werbung scheitert an Desinteresse und Repressionen 

    Ein werbebasiertes Finanzierungsmodell ist für belarussische Medien keine Option: Für ausländische Unternehmen ist Werbung, die sich an Menschen in Belarus richtet, uninteressant, weil diese keine potentiellen Kunden darstellen. Und für die belarussische Wirtschaft ist es gefährlich, mit den unabhängigen Medien in Verbindung gebracht zu werden, die das Lukaschenko-Regime fast ohne Ausnahme für „extremistisch“ erklärt hat.  

    Den härtesten Schlag müsse aber die riesige Zahl von Freiberuflern aushalten, sagt Natalia Belikova. Die Anzahl der Aufträge gehe zurück und verschärfe ihre auch zuvor schon verletzliche Situation. Die Redaktionen kürzen merklich im Bereich Social Media Marketing, reduzieren die Ausgaben für Fotos und Layout, aber auch für die Textproduktion an sich. In der Folge wird weniger Material, darunter auch Exklusivmaterial, veröffentlicht, wodurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Teil des Publikums verloren gehen wird, prognostiziert die Medien-Expertin im dekoder-Gespräch. 

    „Wie ein Medienangebot ein Publikum erreicht, hängt sehr stark von den großen Tech-Konzernen wie Meta, Google, TikTok und YouTube ab. Für deren Algorithmen ist die Quantität der publizierten Inhalte relevant. Werden es weniger, sinkt mittel- bis langfristig auch der Einfluss des Mediums.” 

    Dennoch hat laut Belikova bisher kein einziges Medium seine Arbeit komplett eingestellt. In der Regel werden zuerst sogenannte Subbrands geopfert – kleinere Projekte, die nicht direkt mit dem zentralen Produkt assoziiert werden. „Alle sind darauf ausgerichtet, die Dachmarke zu erhalten. Aber die Anzahl der Submarken und die Menge der Inhalte schrumpft“, meint die Leiterin der Abteilung für Internationale Kooperationen des Press Club Belarus. „Bis Jahresende werden wir die Folgen für die gesamte Branche messen können.“ 

    Die belarussischen Medien behalten hohe Reichweite 

    Die US-amerikanischen Geldgeber sahen in den Medien mehr als nur nichtkommerzielle Unternehmen, die für die Zivilgesellschaft arbeiten, nämlich Institutionen, deren Tätigkeit man nicht einfach einstellen und nach einiger Zeit wieder aufnehmen kann. Die europäischen Fördermittelgeber hingegen arbeiten häufiger nach einer Projektlogik, die nach Projektende konkrete Kennzahlen erwartet, die die erreichten Veränderungen darstellen – doch das wiederum ist für Medianarbeit nicht unbedingt relevant. 

    „Mit diesem Problem sind nicht nur die belarussischen Redaktionen konfrontiert, sondern auch Medien aus anderen osteuropäischen Staaten, aus Afrika und Asien“, sagt Belikova. „Deshalb wird unter Medienunternehmern und -entwicklern aktuell diese Besonderheit diskutiert, und wie man die klassischen europäischen Fördermittelgeber überzeugen könnte, ihren Projektansatz zu überdenken.“

    Natalia Belikova vom Press Club Belarus / Foto © privat  

     

    Natalia Belikova betont, dass man im Bereich der Advocacy-Arbeit für die Medien, also für Schutz und Förderung ihrer Interessen (gegenüber Geldgebern, internationalen Organisationen und ausländischen Regierungen), unabhängig vom Kontext mehr über ihre Stärken und Erfolge sprechen sollte. Der Press Club Belarus beruft sich bei der Interessenvertretung der belarussischen Medien stets auf deren Fähigkeit, wie ein Ökosystem zusammenzuarbeiten, in dem landesweite und thematische Medienangebote, Nischenausgaben und Nachrichtenagenturen einander in guter Nachbarschaft unterstützen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die belarussischen Medien weiterhin hohe Reichweiten erzielen, meint Belikova: „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken, und dadurch wird Wirkung erzielt: Die unabhängigen Medien können weiterhin ihr Publikum erreichen.“   

    Trotz Repressionen versuchen etwa 15 Prozent des Publikums in Belarus, Informationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen 

    Die zweite Besonderheit und auch eine weitere Stärke der belarussischen Medien liegt in ihrer Nähe zu Belarus – in jeder Hinsicht: Die wichtigsten Mediahubs befinden sich in Vilnius, Warschau und Białystok. Dort finden ihre Redaktionen Büroräume, Studios, Fachkräfte und technische Ausstattung, die man beispielsweise braucht, damit Nutzerinnen und Nutzern ohne VPN-Einsatz die staatliche Blockierung der Webseiten umgehen können.  

    Die Situation der belarussischen Medien im Exil unterscheidet sich auch dadurch von derjenigen aus anderen Ländern, dass man sich nach wie vor auf das Publikum im Land orientiert, meint Belikova. Und das obwohl aufgrund der Kriminalisierung der gesamten unabhängigen Branche im Grunde kein wirklicher Markt für sie existiert: Viele Medien haben den Status „extremistische Vereinigung“ bekommen, ein Teil ihrer Veröffentlichungen steht auf einer Liste „extremistischer Materialien“. Das bedeutet faktisch, dass jedes Like unter diesen Publikationen auf Social Media als Verbrechen gewertet wird.  

    All diesen Hindernissen zum Trotz signalisiert das Publikum Nachfrage: „Auch wenn in der Gesellschaft viel Angst herrscht, versucht ein großer Anteil [des Publikums] – einer Studie des Forschungszentrums iSANS zufolge etwa 15 Prozent – Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Berücksichtigt man den Grad der Repressionen, so ist das ein recht hoher Anteil von Menschen, die sich um ein komplexeres Weltbild bemühen, als es die Propaganda anbietet. Das zeugt wiederum davon, dass die Gesellschaft in gewissem Maße gesund geblieben ist“, resümiert Belikova. 

    Und das sei es auch, was den belarussischen Medien helfen kann, mit Geldgebern in einer Sprache der Erfolge zu sprechen: Man müsse davon erzählen, welches einzigartige, wertvolle Angebot man dem Publikum macht, um so den sinnvollen Einsatz der Mittel hervorzuheben.  

    Überleben als Alltagsgeschäft  

    Die belarussischen Medien im Exil werden häufig mit den russischen verglichen, doch Belikova hält diese Analogie für unzutreffend: „Gerade im Hinblick auf den Einfluss auf die Menschen im Land kann man sie nicht vergleichen: In Belarus erreichen unabhängige Medien einen viel höheren Anteil der Bevölkerung, 25 bis 30 Prozent, während die Medien, die Russland verlassen mussten, nur noch eine Reichweite von sechs bis sieben Prozent im Land haben.“ Zieht man Parallelen zu Exil-Medien anderer Länder, dann seien die Kollegen aus Nicaragua den Belarussen am ähnlichsten. Eine Protestbewegung, wie sie in Belarus 2020 stattfand, gab es in Nicaragua 2018. Seitdem setzen die unabhängigen Redaktionen ihre Arbeit von Costa Rica aus fort.  

    „Bei ihnen gab es auch zuerst eine Zeit der Liberalisierung, und dann verbot der Präsident nach den Wahlen mit einem Mal alle unabhängigen Medien“, berichtet Belikova. „Die Journalisten wurden mit Flugzeugen außer Landes gebracht, ihnen wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, aber, wie auch bei uns, besitzen die unabhängigen Medien in der Gesellschaft ein hohes Vertrauen.“ 

    Eine weitere Besonderheit der belarussischen Medien sei schließlich die durch jahrelange Arbeit unter schwierigen Bedingungen erlangte Standhaftigkeit. Genau genommen haben sie noch nie unter „normalen“ Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft gearbeitet. Überleben ist gewissenmaßen ihr Alltagsgeschäft: Seit den 1990er Jahren gab es nur wenige Jahre, in denen Journalisten in Belarus nicht verfolgt wurden oder um ihre legale Arbeitsmöglichkeit fürchten mussten.  

    Stand Juli 2025 sitzen 38 Medienschaffende aufgrund ihrer Berufstätigkeit in belarussischen Gefängnissen. 

    Der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden 

    Gerade jetzt müssen die Medien aufgrund all dieser kombinierten Faktoren innovativ sein, um ihren Status quo zu bewahren, erklärt Belikova. „Natürlich gibt es Medienschaffende, die den Beruf verlassen. Andere haben sich bereits ein dickes Fell zugelegt. Nach den Neuigkeiten aus den USA hatten wir eine große Versammlung, die Lage war ernst, die Perspektiven unklar … Aber als der Schock überwunden war, sagten alle: ‚Ist wohl dein erstes Mal?‘ Resignation ist zwar da, aber sie wirft dich nicht in einem Maße aus der Bahn, dass du nicht mehr weitermachen kannst.“ 

    Normal ist eine solche Situation aber keinesfalls, betont die Expertin. Solcher Stress kann zu extremem Burnout, Angstzuständen und Depressionen führen. In einer Studie zu den Bedürfnissen von Beschäftigten der Medienbranche, die die Belarussische Journalistenvereinigung (BAJ) im Dezember 2024 vorstellte, gab die Hälfte der Medienschaffenden an, psychische Probleme zu haben. „Natürlich, alle würden gern mal wenigstens ein Jahr lang stabil auf zwei Beinen stehen, aber der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden. Das schlägt sich im Gesundheitszustand der Menschen nieder, in der Häufigkeit von Burnout-Erkrankungen und Depressionen … Gleichzeitig macht es aber auch stark.“ 

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    Besetzte Gefängnisse

    Als Russland am 24. Februar 2022 vollumfänglich die Ukraine überfiel, befanden sich rund 3300 ukrainische Staatsbürger im Strafvollzug oder in Untersuchungshaft in jenen Gebieten, die Russland in den folgenden Wochen besetzt hat. Die russischen Besatzungsbehörden verlegen diese Gefangenen dann oft innerhalb der okkupierten Regionen oder verschleppen sie in Gefängnisse nach Russland. 

    Menschenrechtsaktivisten berichten, dass auch diese Gefangenen häufig Folter und unwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sind. Außerdem versuche man immer wieder, sie für die russische Armee zu rekrutieren. Ähnliches erleben ukrainische Zivilisten, die unter russischer Besatzung oder in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind. 

    Wenn die Gefängnisinsassen ihre Haftstrafe verbüßt haben, kommen sie nicht einfach frei, können nicht in die Ukraine zurückkehren. Denn schnell werden sie wieder von russischen Sicherheitskräften festgenommen: Wegen angeblicher Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze oder fehlender Dokumente landen sie in temporären Abschiebeeinrichtungen, von wo aus sie theoretisch in die Ukraine abgeschoben werden müssten. Doch wegen des Kriegs ist eine direkte Abschiebung unmöglich. So müssen die Betroffenen oft Monate lang mit ungeklärtem Status in erneuter Haft warten, bis sie über Drittländer ausreisen können. In für lange Aufenthalte nicht ausgelegten Transitzonen sitzen sie fest und können nur auf die Hilfe von Freiwilligen hoffen. 

    Im großen Gefangenenaustausch „1000 für 1000“, dem einzigen sichtbaren Erfolg der ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul, hat Russland Ende Mai auch 120 ukrainische Zivilisten freigelassen. Unter ihnen sollen neben verschleppten politischen Gefangenen auch ehemalige Insassen von russisch besetzten ukrainischen Gefängnissen sein. 

    Das ukrainische Online-Portal Graty hat für seine Reportage mit Betroffenen und Menschenrechtlern gesprochen.  

    In manchen ukrainischen Haftanstalten, wie diesem Untersuchungsgefängnis in Cherson, richteten die russischen Besatzer ab 2022 eigene Folterzellen ein. Die ukrainischen Gefangenen verlegten sie innerhalb der besetzten Gebiete oder gar nach Russland.  / Foto © Lafargue Raphael/Abacapress/ Imago 

    „Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“ 

    Die Insassen der Nördlichen Vollzugsanstalt Nummer 90 in Cherson behalten den russischen Einmarsch im Februar 2022 in lebhafter Erinnerung. „Es gibt da einen Garten vor dem Gefängnis. Einige Jungs gingen raus, und als sie zurückkamen, sagten sie: Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“, erinnert sich Olexii (Nachname auf Wunsch des Gesprächspartners nicht genannt). „Dann rauschten Hubschrauber über uns hinweg. Wir gingen raus, kletterten aufs Dach und sahen, wie die Panzer vorbeifuhren. Sie kamen aus Richtung Beryslaw und fuhren über den Staudamm des Kachowka-Wasserwerks. Wir hatten keine Angst, haben erstmal nichts gemacht und einfach nur zugesehen.“  

    Olexii berichtet weiter: Einige Tage später kamen dann russische Soldaten in das Gefängnis, ließen alle Insassen in einer Reihe antreten und teilten ihnen mit, dass sie, die Russen, von nun an das Sagen hätten und „kurzen Prozess“ mit jedem machen würden, der etwas dagegen habe.  

    Eine Zeit lang schien sich sonst nichts zu ändern, doch im Frühsommer brachten die Besatzer dann Gefangene aus anderen Gefängnissen der Region zu ihnen. „Erst waren wir 600-700, vielleicht 800 Männer im Lager, doch dann wurden wir mehr als 2000. Wir schliefen auf Dreier-Etagenbetten“, berichtet Olexii. „Am 23. Oktober wurden wir nach Hola Prystan gebracht, wo es einen Tuberkulosetrakt gab. Die Brücke [über den Dnipro – dek] war bereits zerstört, also brachten sie uns per Fähre zur ‚Sieben‘ [Nummer des Gefängnisses]. Es war ein Alptraum: Da waren nur noch Ruinen, aber sie hielten uns dort für etwa zwei Wochen fest.“ 

    Das Tuberkulose-Gefängnis von Hola Prystan in der Region Cherson, seit 2022 unter russischer Besatzung 

    Dann kam das russische Militär mit gepanzerten „Tigr“-Fahrzeugen, mit Maschinengewehren auf dem Dach, zum Gefängnis und teilte die Gefangenen in Gruppen zum Abtransport ein.  

    „Es fuhren sieben oder acht ‚Schwarze Raben‘ vor. In jedes Fahrzeug steckten sie 30-40 Personen. Wir waren 35 Personen im Laderaum“, erinnert sich Olexii. „Unsere erste Ladung mit etwa 250 Personen wurde nach Armjansk gebracht, wo wir zwei Stunden lang ausharrten, bis man uns nach Simferopol brachte. Dort befindet sich die U-Haftanstalt Nr. 2 des FSB.“  

    Das FSB-Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krym / Foto von der Webseite von Sergej Axjonow, dem Oberhaupt der russischen Verwaltungsbehörde für die Krym  

    „Wenn du nicht arbeitest, stecken sie dich in die Grube“ 

    In Simferopol bereitete man den Gefangenen einen „gebührlichen Empfang“, wie Olexii es beschreibt: Jeder, der aus dem Fahrzeug stieg, wurde von den Wärtern geschlagen. Olexii habe Schläge auf die Beine und den unteren Rücken bekommen. Witalii, ein weiterer ehemaliger Gefangener und ebenfalls Gesprächspartner für diesen Artikel, berichtet, dass einige Mithäftlinge durch die Schläge das Bewusstsein verloren.  

    „Wir wurden ganz schön verprügelt und ordentlich zugerichtet. Mir schlugen sie einen Zahn aus. Andere schlugen sie so heftig, dass sie ‚ausgeknipst‘ wurden und erst später wieder zu sich kamen. Ich weiß nicht, warum sie das taten. Vielleicht nur, um uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben“, meint Witalii.  

    Später wiederholte sich dieses Ritual in Russland, wohin die Gefangenen von der Krym verlegt wurden. Erst bei der Ankunft dort erfuhr Witalii, dass er nun im Gefängnis Nr. 14 in der Region Krasnodar sei.  

    Olexii indes kam ins Gefängnis Nr. 2 in Dwubratskoje, ebenfalls in der Region Krasnodar. Dort nähten die Häftlinge Arbeitskleidung für Tankwarte, Bauarbeiter oder auch Tarnuniformen – angeblich für Jäger. Bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht.  

    „Wenn du nicht arbeiten gehst, stecken sie dich in die Grube und behandeln dich wie einen Hund“, berichtet Olexii.  

     

    „Wir sind der Abschaum unseres Landes, aber keine Verräter“ 

    Beide Gesprächspartner in beiden Gefängnissen wurden, so berichten sie, unter Drohungen gedrängt, russische Pässe anzunehmen. Manche lockte man auch zur russischen Armee, um da gegen die Ukraine zu kämpfen.  

    „Viele Männer nahmen die Pässe an und blieben. Viele aber weigerten sich auch. Mein Land ist mein Land. Ja, wir sind der Abschaum unseres Landes und haben schlimme Dinge gemacht, aber wir sind keine Verräter“, betont Olexii. „Sie [die Russen – dek] wollten, dass wir für sie Stellungen [des ukrainischen Militärs – Graty] auskundschaften. Dabei haben die mir mein Haus zerschossen, meine Kinder mussten im Keller Schutz suchen und ich soll jetzt für sie arbeiten? Das sind doch elende Hunde!“ 

      

    „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte“ 

    Auch Witalii lehnte solche Angebote der russischen Gefängnisverwaltung ab und hoffte, bald nach Hause zurückkehren zu können. Ihm blieben noch dreieinhalb Monate seiner Haftstrafe. Und als es so weit war, wurde er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen. 

    Doch noch am selben Tag nahm die russische Polizei Witalii wieder fest und mit auf die Wache: „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte. Dann brachten sie mich zum Gericht. Das Gericht verurteilte mich zu einer Geldstrafe von zweitausend Rubel und ordnete meine Abschiebung an. Ich kam in ein Abschiebehaftzentrum. Acht Monate lang musste ich dort bleiben. Diese acht Monate waren wie eine neue Haftstrafe für mich“, sagt Witalii.  

    Einen Monat später wurde Witalii in einer Gruppe von Inhaftierten aus dem Abschiebezentrum nach Werchny Lars an die russisch-georgische Grenze gebracht. Doch es kam nicht zur Abschiebung: Weil Witalii zwar seinen ukrainischen Inlandspass dabeihatte, der jedoch kein aktuelles Foto enthielt, entschieden die russischen Grenzbeamten, dass das Dokument ungültig sei.  

     

    „Russland ließ mich ausreisen, aber Lettland ließ mich nicht rein“ 

    Sechs Monate später wurde Witalii nach Pskow gebracht, um über die Grenze zu Lettland abgeschoben zu werden. „Vier Tage lang waren wir unterwegs, hin und zurück. Währenddessen mussten wir Handschellen tragen, als wären wir Schwerverbrecher. Wir hatten Hunger und konnten nicht auf die Toilette gehen. Letztlich ließ mich nun zwar Russland ausreisen, doch Lettland ließ mich nicht rein. Ich sollte zurück, wo ich hergekommen war. Also haben sie mich zurückgebracht.“ 

    Und dabei blieb es, bis Russland die Prozedur zur Bestätigung der Identität von Ausländern änderte. Seit Beginn der Vollinvasion erließ Putin mehrere Dekrete, die angeblich den Status ukrainischer Bürger regeln sollten. So sieht ein Erlass vom 29. September 2023 vor, dass ukrainische Staatsbürger, deren Dokumente abgelaufen waren, sowie Menschen ohne Papiere, Russland mit einer Kopie der Identitätsfeststellung des russischen Innenministeriums in einen Nachbarstaat verlassen könnten, wenn dieser zustimmte.

    Erlass des russischen Präsidenten vom 29. September 2023, Absatz 4: „Bürger der Ukraine, die nicht im Besitz der in Absatz 1 dieses Erlasses genannten gültigen Dokumente sind, können ausnahmsweise die Russische Föderation über die Landgrenze in an die Russische Föderation angrenzende Staaten verlassen (vorausgesetzt, dass diese Staaten die betreffenden Personen akzeptieren), wenn sie eine Kopie des Beschlusses über die Feststellung der Identität des ausländischen Bürgers vorlegen, der von einem lokalen Organ des Innenministeriums der Russischen Föderation gemäß Artikel 101 Absatz 12 des Föderalen Gesetzes Nr. 115-FZ vom 25. Juli 2002 ‚Über die Rechte ausländischer Bürger in der Russischen Föderation‘ ausgestellt wurde.“ 

    Damit kam auch Bewegung in Witaliis Fall, sodass er und seine Gruppe schließlich abgeschoben wurden. Zurück in Werchny Lars brauchten sie zwei Tage, um die Grenze zu überqueren. In Georgien empfingen sie freiwillige Helfer, die sie aufnahmen und ihnen halfen, Dokumente zu besorgen. Schließlich kehrte Witalii über Moldau in die Ukraine zurück. 

    Doch auch hier ist Witaliis Status unklar: „Ich habe hier mit der Polizei gesprochen. Meine Mutter hatte bereits Anzeige erstattet, als ich noch in Russland war. Zwar bin ich jetzt hier, doch weiß ich nicht, wie mein Status ist, ob ich als Opfer anerkannt werde. Deswegen weiß ich gar nicht, woran ich bin, aber ich will, dass das nicht ungestraft bleibt.“  

    Nach Angaben der ukrainischen NGO Sachist wjasniw Ukrajiny (deutsch: Gefangenenhilfe Ukraine) werden solche Fälle tatsächlich untersucht: Bis Ende 2024 bekamen 244 ehemalige Gefangenen und 143 ihrer Angehörigen den Status eines Betroffenen in Verfahren wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches) zuerkannt.  

     

    „Am Abend ins Transitgefängnis, am Morgen nach Kertsch“ 

    Olexii musste indes noch zwei Jahre und drei Monate Haftstrafe im Gefängnis in der Region Krasnodar absitzen. Er berichtet, dass noch mehr Ukrainer aus Gefängnissen in den besetzten Gebieten dorthin gebracht wurden. In seiner Gruppe waren demnach etwa 150 Personen. Einige Tage später kam eine weitere Gruppe mit rund 100 Personen an. Im November 2024 wurde Olexii aus der Haft entlassen.  

    „Am 11. November wurden wir nach Krasnodar gebracht, dort steckten sie uns am Abend in ein Transitgefängnis und brachten uns am Morgen weiter nach Kertsch. Ich verbrachte 45 Tage in Kertsch“, berichtet Olexii. „Als wir dort entlassen wurden, begleiteten uns sechs FSB-Agenten in einem Auto zur Polizeiwache, machten Fotos von uns und nahmen unsere Fingerabdrücke. Sie ließen uns ein Formular unterschreiben, dass wir nichts filmen, niemandem etwas erzählen und nichts in die Luft jagen würden. Warum sollte ich auch? Dann brachten sie uns zu einer Unterkunft.“ 

    Die Übernachtung dort zahlten ihnen freiwillige Helfer. Von der besetzten Krym mussten die ehemaligen Häftlinge dann wieder aufs russische Festland und auf eigene Faust zur Grenze nach Georgien fahren. In Georgien gingen sie sofort zur ukrainischen Botschaft und beantragten Dokumente für ihre Rückkehr in die Ukraine. 

    „So kam ich zurück. Meine Frau wartete auf mich und nun bin ich wieder zu Hause“, sagt Olexii froh.  

     

    „Alle werden illegal in Abschiebezentrum festgehalten“ 

    Neben den unter russischer Besatzung entführten Gefangenen haben auch die aus politischen Gründen in Russland verfolgten und verurteilten Gefangenen [mit ukrainischer Staatsbürgerschaft – dek] Probleme nach der Freilassung.  

    Einer von ihnen ist Andrii Kolomijez, ein Euromaidan-Aktivist, der 2015 in Russland festgenommen wurde, als er seine zukünftige Frau Halyna treffen wollte. Wegen eines angeblichen Angriffs auf Berkut-Offiziere damals in Kyjiw wurde er verurteilt. Im Januar 2025 kam Kolomijez nach zehn Jahren Haft frei, wurde aber sofort in Abschiebehaft gebracht.  

    Sein Fall hatte damals viel Aufmerksamkeit erregt. Die Anklage gegen ihn leitete die berüchtigte Staatsanwältin der Krym-Besatzer, Natalja Poklonskaja, erinnert sich Olha Skrypnyk, Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.  

    Skrypnyk zufolge befindet sich Kolomijez noch immer im Abschiebezentrum in der russischen Region Krasnodar, wo er von einem Gericht wegen Verletzung der Aufenthaltsgesetze schuldig gesprochen wurde. Gleichzeitig gilt Kolomijez bereits seit einigen Jahren für Russland (wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer in Russland als extremistisch eingestuften Organisation – dek) als unerwünschte Person, sodass er auch deswegen abgeschoben werden müsste, so die Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe. 

    „Es gibt mehrere Dutzende ukrainische Staatsbürger, die ihre Strafe aufgrund verschiedener Urteile verbüßt haben. Nicht alle von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, aber alle werden illegal in sogenannten Abschiebezentrum festgehalten“, betont Skrypnyk. „Formal müsste Andrii Kolomijez abgeschoben werden, aber Russland weigert sich und beruft sich darauf, dass wegen der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen.“  

    Die Inhaftierung in Abschiebezentren könne, so die Menschenrechtlerin, in Russland praktisch zeitlich unbegrenzt dauern – so lange, wie die Gerichte die Haft dort verlängern. Skrypnyk verweist darauf, dass dies nicht nur ein Rechtskonflikt sei, sondern eine gezielte Maßnahme, die von den russischen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werde, um Ukrainer unter Druck zu setzen. 

    Grenzübergang Werchny Lars Russland-Georgien

    „Das Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten“ 

    Vor dem 24. Februar 2022 befanden sich auf dem Gebiet, das die russische Armee in den folgenden Wochen besetzte, insgesamt 2422 Verurteilte im Strafvollzug und 900 Personen in U-Haft. Diese Zahlen teilte das ukrainische Justizministerium Graty auf Anfrage mit.  

    Im November 2022 registrierten die Gefangenenhilfe Ukraine, das Menschenrechtszentrum Zmina sowie das European Prison Litigation Network (EPLN) gemeinsam mit der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Lwiw eine groß angelegte Verlegung von Gefangenen aus Strafvollzugsanstalten in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Mykolajiw nach Russland. Die Gesamtzahl dieser Deportierten wird nach vorläufigen Schätzungen auf etwa 1800 bis 2000 Personen beziffert. 

    Die Menschenrechtler betonen die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens: Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten – Ausnahmen erlaubt es nur, wenn sie zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert würden. In diesem Fall verpflichte sich der evakuierende Staat, den Betroffenen ausreichend sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Ernährung zu bieten. Dies geschah nicht.  

    Außerdem bestätigen die Menschenrechtsexperten die wiederholten Inhaftierungen von entlassenen Gefangenen unter dem Vorwurf, sie hätten gegen russische Aufenthaltsgesetze verstoßen. Die Unterbringung in Abschiebezentren entspreche einer erneuten Haft.  

    Dem Bericht zufolge konnten ukrainische Staatsbürger Russland bis August 2024 über den Grenzübergang Kolotyliwka-Pokrowka [in der Region Sumy – dek] direkt in die Ukraine oder über Drittländer wie Lettland oder Georgien verlassen. Allerdings gab es häufig Probleme beim Grenzübertritt. Die meisten Ausreisen erfolgten heute über Georgien.  

     

    „Diese Menschen landen im Keller einer Baustelle“ 

    Ehemalige Gefangene, die über Georgien ausreisen konnten, erwähnen oft die dortige Initiative Volunteers Tbilisi, die seit März 2022 in der georgischen Hauptstadt aktiv ist und sich ursprünglich dafür engagierte, humanitäre Hilfe in die Ukraine zu schicken. Später kam die Unterstützung von Geflüchteten hinzu, sagt Maria Belkina, die Gründerin der Initiative. Sie ist russische Staatsbürgerin und vor etwa sieben Jahren mit ihrer Familie nach Georgien gezogen.  

    Im Sommer 2023 erfuhr Belkina durch eine Kollegin von der Situation ukrainischer Staatsbürger, die illegal in russische Haftanstalten gebracht wurden und mit Problemen nach ihrer Entlassung konfrontiert waren. Als die Freiwilligen zur Grenze fuhren, trafen sie dort eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die ihnen von der Verlegung aus Gefängnissen aus den russisch besetzten Gebieten und den Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die Heimat berichteten. Schnell stellte sich heraus, dass es um Tausende Betroffene ging, die potenziell Hilfe brauchten.  

    Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir.

    Belkina und ihr Team haben seitdem etwa dreihundert Menschen an der Grenze empfangen. Auf ukrainischer Seite arbeitet Volunteers Tbilisi auch mit der Gefangenenhilfe Ukraine zusammen, die in Rechtsfragen berät, Aussagen dokumentiert und sie bei der Logistik der Heimreise unterstützt.  

    Am schwierigsten sei die Situation für Menschen, die außer ihren Entlassungsurkunden keine weiteren Dokumente hätten, so Belkina. Das seien mehr als die Hälfte der Fälle. Die georgische Seite stellt dann ein Ersuchen an ukrainische Diplomaten, die die Identität der Person bestätigen müssen.  

    „Diese Menschen landen dann im Keller einer Baustelle an der Grenze. Wir sprechen hier von absolut unwürdigen Bedingungen. Es ist buchstäblich ein Keller voller Baumaterialien, doch irgendwie müssen sie dort ausharren. Das kann einen Monat bis anderthalb Monate dauern. Das ist die gängige Praxis. Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir“, erzählt die Freiwillige. 

      

    „Kyjiw und Tbilisi einigten sich auf ein gesondertes Verfahren“ 

    Das ukrainische Außenministerium erklärte auf Graty-Anfrage, dass wegen des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen keine ukrainischen Konsulate auf russischem Hoheitsgebiet tätig seien und die Diplomaten ukrainische Staatsbürger nur von Nachbarländern Russlands aus unterstützen können.  

    Da die russischen Behörden häufig versuchten, Ukrainer nach Georgien abzuschieben, hätten sich Kyjiw und Tbilisi aber bereits auf ein gesondertes Verfahren zur Identitätsfeststellung und Rückkehr ukrainischer Staatsbürger geeinigt, die aus Haftanstalten in den besetzten Gebieten der Ukraine stammen und nach Russland verbracht wurden, so Sprecher Heorhii Tychy.  

    „Nach Einleitung eines entsprechenden Verfahrens wird ukrainischen Staatsbürgern in der Regel ein Ausweis für die Rückkehr in die Ukraine ausgestellt. Die Registrierung und Ausstellung dieses Dokuments zur Rückkehr in die Ukraine erfolgt innerhalb eines Arbeitstages, sofern alle Nachweise zur Identitätsfeststellung und der Staatsangehörigkeit vorliegen“, heißt es außerdem in einer Erklärung des Außenministeriums. 

    Demnach hat die ukrainische Botschaft in Georgien im Jahr 2024 95 Dokumente zur Rückkehr in die Ukraine an ehemalige Gefangene ausgestellt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 bereits 37. Wie die ukrainische Botschaft in Georgien auf Anfrage der Gefangenenhilfe Ukraine mitteilte, wurden 2024 216 Anträge von ehemaligen Gefangenen sowie 44 Anträge bislang im Jahr 2025 gestellt. 

    Nach Angaben einer Anwältin der Organisation, Anna Skrypka, dauert dieses Verfahren zur Identitätsfeststellung und Bestätigung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, um die zur Rückkehr benötigten Dokumente zu erhalten, tatsächlich im Durchschnitt noch immer zwischen einem und drei Monaten. Schlimm sei es für die Menschen, die trotz allem einen Negativbescheid bekämen. 2024 betraf das nach Botschaftsangaben neun Personen, in diesem Jahr noch keine. 

    Insgesamt sind seit 2022 etwa 400 ehemalige Gefangene aus den aktuell von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aus russischer Haft über Georgien in die Ukraine zurückgekehrt. Etwa einhundert sind in Georgien geblieben. 

    Zuletzt berichtete der georgische Ableger von Radio Svoboda, dass Ende Juni 2025 etwas mehr als 50 ukrainische Staatsbürger im provisorischen Abschiebetrakt des russisch-georgischen Grenzübergangs Werchny Lars auf ihre reguläre Abschiebung warten.

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  • Was kommt nach Lukaschenko?

    Was kommt nach Lukaschenko?

    Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen 30 Jahren ein hochzentralisiertes und -personalisiertes Machtgefüge geschaffen, in dem praktisch keine wichtigen Entscheidungen ohne ihn getroffen werden können. Dabei ist der belarussische Machthaber schon 70 Jahre alt. Die Frage, wie eine Nachfolge aussehen könnte, ist also zentral für das Überleben des von Lukaschenko geschaffenen autoritären Systems.  

    In einem Projekt der Initiative Center for New Ideas analysieren Ryhor Astapenia und Pavel Matsukevich mögliche Szenarien eines Machttransits. Welche Gruppierungen und Organe könnten im Falle von Lukaschenkos Aus die Macht übernehmen? Welche Rolle spielen Lukaschenkos Söhne dabei? Im Interview mit dem Online-Portal GazetaBy gibt Astapenia Antworten.  

    Alexander Lukaschenko mit seinen Söhnen Viktor, Nikolai und Dmitri (v.l.n.r.) bei einer Parade zum Tag des Sieges in Minsk im Jahr 2019. / Foto © Itar-Tass/ Imago 

    Gibt es überhaupt einen Anlass, über Machtwechsel zu sprechen, abgesehen von der Tatsache, dass Alexander Lukaschenko schon über siebzig ist? Das Alter muss ja nicht nichts bedeuten, Robert Mugabe hat in Simbabwe noch mit 93 regiert …  

    Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko so lange wie möglich regieren will. Andererseits zeugen seine Taten – die Gründung der Allbelarussischen Volksversammlung und die sich mehrenden Gespräche darüber, dass „es Zeit für mich ist, abzutreten“ – davon, dass das Thema auf der Agenda steht. 

    Natürlich sollte man dem fahrenden Zug nicht vorauseilen und behaupten, dass es schon morgen einen neuen Präsidenten geben könnte. Aber die Frage wird zunehmend aktuell. Deshalb sprechen wir im Titel unserer Studie vom „Beginn des Machttransits“. 

    Hat der Prozess aus Ihrer Sicht wirklich begonnen oder wurden die Mechanismen wie die Volksversammlung nur für alle Fälle geschaffen? Vielleicht kommen sie nie zum Einsatz, wenn sich Lukaschenkos Gesundheit nicht gerade rapide verschlechtert? 

    Ich denke, Lukaschenko will nicht zu viele Signale aussenden, dass er abtreten will. Das würde bei verschiedensten Akteuren viele Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen auslösen. In Russland, in der belarussischen politischen Emigration und auch innerhalb des Landes würden unnötige Gärungsprozesse beginnen. 

    Betrachtet man aber alle Veränderungen in Kombination – die Verankerung von Sicherheitsgarantien für Expräsidenten in der Verfassung, die Erwähnung einer neuen politischen Klasse in der Neujahrsansprache und den Beschluss, dass die Macht nach dem Tod des Staatsoberhauptes auf die Volksversammlung übergeht – dann kann man vom Beginn des Machttransits sprechen. 

    Lukaschenko verändert sich sichtlich, man sieht das gut, wenn man ihn mit Fotos aus früheren Jahren vergleicht. Es ist praktisch unausweichlich, dass es innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre einen neuen belarussischen Staatschef geben wird.  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will 

    Gemeinsam mit ihrem Co-Autor Pavel Matsukevich, Senior Researcher am Center for New Ideas, unterscheiden Sie zwei Szenarien für den Machtwechsel: den geplanten und den unkontrollierten. Wie realistisch ist es denn, dass Lukaschenko, wenn er nicht gerade im Sterben liegt, jemand anderem die Macht übergibt?  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will. Es wäre aber naiv zu denken, dass wir alles über ihn wissen. Es gibt viele Faktoren, die seine Entscheidungsfindung beeinflussen können. Deshalb würde ich hier sagen: fifty-fifty. 

    Lassen Sie uns noch ein wenig spekulieren. Soziologen stellen gern Fragen wie „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“. Wenn der Machtwechsel morgen in seine aktive Phase überginge, auf wen würde Lukaschenko setzen? 

    Wenn wir uns den Aufbau des Systems anschauen, sehen wir, dass es einen bestimmten Kreis von Menschen gibt, die schon vergleichsweise lange an der Macht sind und sich eine bedeutende Rolle erarbeitet haben: Nikolaj Snopkow (erster Vizepremier – GazetaBy), Alexander Turtschin (Premierminister), Dmitri Krutoj (Chef der Präsidialverwaltung und andere. Das ist die Gruppe, die das Funktionieren der Wirtschaft und im Prinzip auch des Staates verantwortet.  

    Natürlich gibt es die Familie (darunter fasst die Studie Alexander Lukaschenkos Verwandte und Vertraute zusammen, auch seine Kinder, die ebenfalls über große Ressourcen verfügt. Berücksichtigt man Lukaschenkos monarchische Befugnisse, wäre es naiv, eine Erbfolge beim Machtwechsel auszuschließen, also eine Übergabe vom Vater an den Sohn (höchstwahrscheinlich an den ältesten). Das könnte vom politischen System als ausreichend logische Entscheidung akzeptiert werden und auch für den Kreml legitim klingen. Sobald man aus einem weiteren Personenkreis auswählen muss, wächst Russlands Einfluss auf den Prozess. 

    Häufig wird auch über die Silowiki als potenzielle Anwärter auf die Macht gesprochen. Ihre Chancen würden im Fall einer Krisensituation wachsen – bei einem scharfen Konflikt mit einem anderen Staat oder Massenprotesten innerhalb von Belarus. Andererseits haben diese Menschen nie die Verantwortung für das Funktionieren des Staates getragen. Die Silowiki sind in diesem System Bonusempfänger, keine Gestalter. 

    Genau das halte ich für die kontroverseste Schlussfolgerung in Ihrer Studie: „Im Falle eines Machtwechsels werden sie [die Silowiki] sich wahrscheinlich mit der neuen Macht verbünden, sofern der Wechsel aus dem System entsteht, und nicht selbst die Macht beanspruchen.“  

    Die Silowiki haben tatsächlich nie selbst gestaltet, aber was hindert sie daran, dieselben Technokraten anzuheuern (oder sie zu zwingen ihnen zu dienen), die jetzt für Lukaschenko arbeiten? Zudem gibt es das russische Modell, wo eine Elwira Nabiullina vorgeblich die Probleme für Wladimir Putin löst.  

    Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Silowiki zudem Unterstützung aus Russland erhalten, insbesondere im Fall eines unkontrollierten Machtwechsels.   

    Hier ist es wichtig, die aktuell bestehende Hierarchie zu betrachten, in der die Silowiki etwas niedriger stehen als die Leiter der Regierung und der Präsidialverwaltung. Der Logik nach kommen die Silowiki also nicht an erster Stelle, wenn die Macht von oben nach unten weitergegeben wird. Natürlich kann man die Situation, wenn Alexander Lukaschenko abtritt, nur schwerlich nicht als Krise bezeichnen [lacht], aber dennoch haben die Vertreter in der Verwaltungsvertikale mehr Möglichkeiten. Zudem spielt es eine Rolle, dass diese Leute schon länger im System sind. Bei den Silowiki gibt es häufiger Rotation. 

    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat
    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat

    Ich stelle eine naive Frage: Wenn Viktor Lukaschenko der wahrscheinlichste Nachfolger ist, warum hat sein Vater dann schon mehr oder weniger eine Million Mal gesagt: „Meine Söhne werden keine Präsidenten“? 

    Es ist eine gewisse Koketterie zu sagen „ich werde das nicht tun“. Warum sollte man das Thema des Machttransits an die Kinder eher als nötig aufbringen? Wenn die Entscheidung getroffen wird, wird sie umgesetzt. Im aktuellen Rechtssystem findet sich für alles ein Weg, wenn nötig über Nacht. Jetzt darüber zu sprechen, würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es würde nur Leute verprellen. 

    Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass Lukaschenko für einen geplanten Machttransit einen Präsidenten mit einem anderen Familiennamen im Blick hat. Als er das Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees abgeben musste, ging der Titel an seinen Sohn: vermutlich der Logik des aktuellen Machthabers folgend, dass es in Belarus keine Präsidenten mit einem anderen Familiennamen geben darf. 

    In Ihrer Studie heißt es: „Es ist ungewiss, welche Institutionen für den Machttransit genutzt werden. Es gibt zu viele Optionen dafür.“ Welche Varianten gibt es denn, außer die formal existierenden „Präsidentschaftswahlen“

    In Anbetracht der Tatsache, dass die Machthabenden die Gesetzgebung beliebig ändern und sie im Prinzip sogar ignorieren können, gibt es sehr viele Varianten. Zum Beispiel könnte ein neuer Präsident von der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt werden.  

    Ein Machttransit könnte auch einfach nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden 

    Es gibt das Szenario, dass das Land im Fall des Todes von Alexander Lukaschenko vom Sicherheitsrat regiert wird. In diesem Fall würde aber der Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung zum formalen Staatsoberhaupt. Das ist aktuell kein Silowik. Und auch das ist ein Argument für die These, dass die Silowiki im Moment des Machtwechsels keine dominante Position innehaben werden. Man kann sich noch viele weitere Varianten ausdenken. Alles in allem hängt es aber nicht von den Institutionen ab. Der politische Wille entscheidet. Wenn es ihn gibt, wird es Veränderungen geben. Wenn nicht, dann nicht. 

    Selbst wenn man einmal annimmt, dass Alexander Lukaschenko plötzlich stirbt, dann müsste die Macht eigentlich auf den Sicherheitsrat übergehen. Das heißt aber nicht, dass es so kommt. Es kann auch einfach alles nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden. 

    Inwiefern können personelle Veränderungen auf der politischen Führungsebene Ihre Studienergebnisse beeinflussen – aktuell und zukünftig? 

    Wir beobachten natürlich die Personalwechsel und die Änderungen in den Strukturen, wer geht, wer dazukommt. Einen Tag nach Erscheinen unserer aktuellen Studie wurde Wladimir Karanik [bis 22.05.25 Vizepremier] in die Akademie der Wissenschaften versetzt und Natallja Petkewitsch aus der Präsidialverwaltung [als neue Vizepremier] in die Regierung geholt. Das System modernisiert sich zusehends. Eine Person ist gegangen, die selbst nach den Maßstäben der herrschenden Klasse eine verknöcherte Weltsicht vertritt. 

    Wir verfolgen also diese Personalwechsel, beforschen aber eher das Gesamtsystem als einzelne Personen. Nicht immer gibt es genügend Informationen, um eine konkrete Ernennung oder Entlassung erklären zu können. Aber wenn man die Situation langfristig beobachtet, kann man bestimmte Tendenzen erkennen, vor allem eine Verjüngung des Personals. Es kommen kompetentere Leute an die Macht.  

    In Ihrer Studie wird die Opposition nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch, was können die demokratischen Kräfte tun, um eine relevante Rolle zu spielen, sobald die aktive Phase des Machttransits beginnt? 

    Der zentrale (man könnte auch sagen: der einzige) Hebel der Demokraten wird der Westen sein. Vorausgesetzt, der Westen will, dass die Opposition in irgendeiner Form am politischen Leben in Belarus teilnimmt, kann er vermutlich Einfluss auf die herrschende Klasse ausüben. Deshalb muss man darauf hinarbeiten, dass der Westen sich für Veränderungen in Belarus starkmacht. 

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  • „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    Sergej Tichanowski sitzt vor zahlreichen Mikrofonen. Immer wieder redet er sich in Rage, zeigt sich kämpferisch, dann bricht er wieder in Tränen aus. Fünf Jahre Haft haben den bekannten Oppositionspolitiker, der Ende Mai 2020 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen verhaftet und später zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war, deutlich gezeichnet. Der hochgewachsene Mann ist auf 79 Kilogramm abgemagert. Seine Tochter habe ihn nicht erkannt, schluchzt er. Seine Frau sitzt neben ihm und ergreift das Wort: „Das ist dein Papa, mussten wir ihr erklären.“  

    Seit vergangenem Samstag, dem 21. Juni 2025, ist Tichanowski frei. Nach einem Besuch des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, bei Alexander Lukaschenko in Minsk werden er und 13 weitere politische Gefangene aus der Haft entlassen, darunter auch der Journalist Ihar Karnei und die bekannte Italianistin Natalja Dulina. Die Freude ist überwältigend. In Vilnius, wohin die Freigelassenen gebracht werden, versammeln sich spontan exilierte Belarussen, in den sozialen Medien schreiben viele Freudenbekundungen.  

    Am gestrigen Sonntag geben Tichanowski und seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung, eine gemeinsame Pressekonferenz. Auf die Frage eines Journalisten, ob er jetzt die Oppositionsbewegung übernehmen würde, sagt er: „Swetlana ist die Anführerin. Ich werde keinesfalls irgendwelche Ansprüche erheben.“  

    Warum setzte Lukaschenko einen der bekanntesten Oppositionspolitiker nun auf freien Fuß? Welche Interessen haben die USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu dem Regime in Belarus, die bereits seit Monaten im Raum steht?  

    Seit Juli 2024 hat Lukaschenko rund 350 politische Gefangene entlassen, es befinden sich aktuell aber noch 1150 in Gefängnissen und Lagern.  

    dekoder hat zwei Auszüge aus aktuellen Analysen von Alexander Klaskowski und Artyom Shraibman aus Pozirk und Carnegie übersetzt, die auf diese Fragen eingehen. 

    Sergej Tichanowski und seine Frau Swetlana bei der Pressekonferenz nach seiner Freilassung am 22. Juni 2025 in Vilnius. / Foto © Andrei Shauliuha (RFE/RL)

    Pozirk: „Warum hat Lukaschenko ausgerechnet Tichanowski freigelassen?” 

    2020 schlug Tichanowski wie ein Meteorit in die belarussische Politik ein, rüttelte die Wählerschaft auf, die durch das Regime und die Covid-19-Pandemie am Boden lag. Mit selbstbewusstem Populismus und Durchsetzungsvermögen erinnerte der Blogger an den frühen Lukaschenko. Und wurde in dessen Augen schnell zu einer gefährlichen Figur. Zudem nutzte Tichanowski den bissig satirischen Slogan „Stoppt die Kakerlake!“ als Anspielung auf den schnurrbärtigen Regenten. Dazu das kaum weniger beleidigende Symbol eines Pantoffels zur Bekämpfung des bösartigen Insekts.  

    Also hatte das Regierungsoberhaupt mit der Inhaftierung des Bloggers nicht nur einen gefährlichen politischen Rivalen ausgeschaltet, sondern sich außerdem für diese Erniedrigung gerächt. Überhaupt gab es in dem Verhältnis des Regierenden zu Tichanowski viel Persönliches. Doch jetzt handelt Lukaschenko nach dem Motto „Persönlich ist da nichts, alles reines Geschäft“. 

    Warum hat Lukaschenko von den wichtigen Personen ausgerechnet Tichanowski freigelassen? Außer dem Wunsch, den Amerikanern zu gefallen, erkennen hier einige einen schlauen Plan: 

    Schließlich ist Tichanowskis Ehefrau Swetlana Tichanowskaja die derzeitige Anführerin der demokratischen Kräfte. Sie hat immer wieder bekräftigt, dass sie nur an Stelle ihres inhaftierten Mannes in die Politik gegangen sei. Doch nun ist der wieder in Freiheit – in Litauen, genau wie sie. Kommt es da nicht vielleicht zu Verstimmungen, lauten Streitigkeiten über „Wer ist denn nun der Herr im Haus“ und zu einem Machtkampf in der Opposition? Und wenn die Frau dem Mann gegenüber nachgibt, werden die Mitstreiter der Frau ihn, den Mann, dann einfach akzeptieren? 

    Zudem ist damit zu rechnen, dass ein Flügel der Opposition an Selbstvertrauen gewinnt und aktiver werden wird, und zwar der, der flexiblere Positionen gegenüber den Machthabern in Belarus vertritt. Das Argument dieses Flügels besteht darin, dass die Sanktionen kein Selbstzweck und kein Fetisch seien, sondern schlicht ein Instrument. Und wenn die Aussetzung oder Unterbrechung solcher Maßnahmen einen Effekt zeige, wie jetzt die Freilassung von politischen Häftlingen, dann müsse man dieses Instrument genau so nutzen. 

    Außerdem verficht dieser Flügel die moralische Maxime, dass das Leben und die Freiheit der Menschen höchste Priorität haben und nicht zugunsten von Parolen eines vollständigen Siegs über das Regime beiseitegeschoben werden sollten. Ein Sieg zeichne sich derzeit nicht ab, die Menschen aber werden gefoltert und sterben hinter den Gefängnismauern. Es reicht zu sehen, wie Tichanowski, der ehemalige Mitarbeiter von Radio Svaboda Ihar Karnei und andere Freigelassene heute aussehen, um zu erkennen, was die Gefangenschaft ihnen angetan hat. 

    Original vom 21. Juni 2025 

     
    Pressekonferenz von Sergej Tichanowski und Swetlana Tichanowskaja (belarussisch/russisch und englisch) am 22. Juni 2025

    Carnegie: „Hat die EU Interesse an einem Dialog mit Lukaschenko?” 

    Der Besuch von Trumps Sondergesandtem Keith Kellogg in Belarus war nur möglich, weil er gleich zwei entgegengesetzte Interessen bediente: Einerseits will die Trump-Administration angesichts der festgefahrenen Friedensverhandlungen um die Ukraine die regionale Diplomatie wiederbeleben. Andererseits versteckt Lukaschenko schon lange nicht mehr, dass er sich aus der Isolation der vergangenen Jahre befreien und eine wichtigere Rolle in der Region spielen will. Dafür ist er zu Zugeständnissen bereit, erst recht, wenn nur die allerleichtesten von ihm gefordert werden – die Befreiung politischer Gefangener. 

    Trotz des offensichtlichen Erfolgs bleibt der Ausgang der Gespräche auch nach Kelloggs Abreise im Dunkeln. Klar, Minsk hat noch genügend Gefangene zum Verhandeln und die USA können weitere Delegationen schicken oder gar ihre Botschaft in Belarus wiedereröffnen. Aber letztlich kann der Prozess nicht nur auf diplomatischen Gesten beruhen. Früher oder später wird Minsk einen Abbau der Sanktionen erwarten. Doch da gibt es eine Hürde – die strengere Haltung der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der europäischen Sanktionen reicht das Abschwächen der amerikanischen nicht, um die wichtigsten Handelswege für Belarus freizugeben. 

    Bisher gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU oder ihre führenden Länder, den USA folgend, wieder einen Dialog mit Lukaschenko suchen wollen. Die dienstlichen Kontakte der Europäer mit Minsk sind nicht abgebrochen, beschränken sich aber auf die Ebene von Diplomaten- und Expertentreffen. Das ist eindeutig zu wenig für die EU-Führungsriege, um sich in der Sanktionsfrage plötzlich auf Washingtons Seite zu schlagen. 

    Die Position der EU ist hier, wie auch im Fall Russland, härter und unflexibler. Und die Beziehungen zu Belarus sind keine so bedeutende Frage, dass, falls beispielsweise Ungarn oder die Slowakei eine Lockerung vorschlügen, aber Polen und Litauen sich dem verweigerten, irgendwer ernsthaft versuchen würde, Letztere umzustimmen. 

    Original vom 22. Juni 2025 

    Sergej Tichanowski zeigt auf der Pressekonferenz in Vilnius (Litauen) am 22. Juni 2025 ein Foto von sich vor der fünfjährigen Gefangenschaft. / Foto: Stanislaw Schablowski/Zerkalo 

    Es sei auch daran erinnert, dass sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen gerade zu verbessern schienen, als der Sommer 2020 kam. Seitdem hat sich das Regime verhärtet, eine Rückkehr zu 2019 ist unmöglich. Und es ist unklar, ob und was Washington jetzt auf dem belarussischen Weg erreichen kann.  

    Aber etwas ist in Bewegung geraten. So Gott will, werden weitere Menschen aus dem Gefängnis kommen, die dafür leiden, dass sie jene Rechte einforderten, die das Regime allen Belarussen genommen hat. 

                                                     Alexander Klaskowski, Pozirk 

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    Vor 30 Jahren, am 7. Juni 1995, kam es zu einer Sensation: Belarus, das in den postsowjetischen Umbruchsjahren auch mit der neu erlangten fußballerischen Unabhängigkeit zu kämpfen hatte, schlug die Niederlande mit 1:0. Der überraschende Sieg fiel in eine Zeit der massiven politischen Krise in Belarus, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind: Der junge Lukaschenko machte sich daran, das politische und letztlich auch das fußballerische System an sich zu reißen.  

    Für das Online-Portal Pozirk gelingt es dem Journalisten Wjatscheslaw Korosten, die Geschichte des Fußballwunders mit der des belarussischen Fußballs und den politischen Umwälzungen in einem packenden Text zu verbinden. 

    Ein für Belarus bis heute unerreichtes Fußballwunder: 1995 gelang ein Sieg über die Nationalmannschaft der Niederlande. / YouTube-Screenshot 

    Mitte der 1990er Jahre war eine Zeit globaler struktureller Umwälzungen für den europäischen Fußball. Die UdSSR und das sozialistische Jugoslawien zerfielen, die kommunistische Tschechoslowakei wurde zweigeteilt. Eine ganze Reihe neuer Staaten stand bei der UEFA Schlange. Sie wollten so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft in trockene Tücher bringen und ihre Nationalmannschaften und Vereine auf internationaler Ebene legalisieren – um dann uneingeschränkt an offiziellen Turnieren teilzunehmen und damit ihre nationale Souveränität zu untermauern. 

    Dies gelang dem belarussischen Fußballverband (ABFF) genau Mitte der 1990er Jahre, und so ging die Nationalmannschaft erstmals unter der Schirmherrschaft der UEFA bei der Qualifikation zur Europameisterschaft 1996 an den Start. Wie erwartet waren die Debütanten aus Belarus nicht herausragend erfolgreich und belegten in ihrer Gruppe nur den vierten Platz. Die ersten Plätze in der Tabelle belegten die Tschechen, die Niederländer und die Norweger, während die Kleinstaaten Luxemburg und Malta auf den untersten Rängen landeten. Dennoch gelang es der belarussischen Mannschaft, in ganz Europa für Aufsehen zu sorgen – mit ihrem Sieg über die Niederlande. 

    In dem Spiel fiel nur ein einziges Tor. Eingefleischte Fans erinnern sich noch deutlich: Pjotr Katschuro passt den Ball zu Sergej Gerasimets, der schiebt ihn am geistesabwesenden Edwin van der Sar vorbei und schießt ihn im spitzen Winkel ins leere Tor. Es war die 27. Minute, die Gastmannschaft hatte über eine Stunde Zeit, um mit den Gastgebern gleichzuziehen. Doch dank der effektiven Taktik von Trainer Sergej Borowski konnten die Belarussen den Vorsprung halten – zur Freude der 37.000 Zuschauer, die sich an diesem Abend im Dynamo-Stadion in Minsk versammelt hatten. 

     
    Die 1:0-Führung für Belarus in der 27. Minute durch Gerasimets (der Moderator flippt auf Belarussisch völlig aus). 

    Sieg am Tag, an dem die weiß-rot-weiße Staatsflagge abgeschafft wurde 

    Als Gerasimets’ Tor fiel, war Belarus noch ein Staat mit Überresten von Demokratie. Ein Jahr zuvor hatte Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber er hatte noch nicht die gesamte Macht in seinen Händen konzentriert. Im Grunde wurden damals zwei Schritte in Richtung Absolutismus unternommen: eine Prügelattacke auf die hungerstreikenden oppositionellen Abgeordneten des Obersten Sowjets, die sich gegen das Referendum zur Staatssymbolik, gegen die Einführung der Zweisprachigkeit und die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten ausgesprochen hatten, und natürlich gegen das Referendum selbst. Bis zur Ein-Mann-Herrschaft war es noch ein weiter Weg. 

     

    Die Abgeordneten der BNF traten 1995 aus Protest gegen das von Lukaschenko geplante Referendum in einen Hungerstreik. / Foto © Archiv Tut.by 

    In dieser Volksabstimmung vor 30 Jahren wurden unter anderem die neuen alten Staatssymbole gebilligt – Flagge und Wappen in sowjetischer Tradition. Das Pahonja sowie die weiß-rot-weiße Fahne verloren ihren offiziellen Status – und das just vor dem Spiel gegen die Niederländer. Das Referendum wurde am 14. Mai 1995 abgehalten. Zwei Tage später vollzog Iwan Titenkow, Lukaschenkos Wirtschaftschef, seinen berühmten Loyalitätsakt: Er kletterte persönlich auf das Dach des Regierungsgebäudes, riss die weiß-rot-weiße Flagge herunter, die dort gehisst war, und schnitt sie in Stücke. 

    Am 7. Juni – genau am Tag des Spiels zwischen Belarus und den Niederlanden – unterzeichnete Lukaschenko schließlich ein Dekret über die neue Staatssymbolik. Doch von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg, und das Weiß-Rot-Weiß verschwand nicht sofort aus dem offiziellen Gebrauch. So war auch die TV-Übertragung des Fußballspiels an diesem Tag von den weiß-rot-weißen Nationalfarben geprägt. Das ABFF-Emblem auf den Trikots der Spieler war ebenfalls in diesen Farben gehalten, und natürlich fanden sich auf den Tribünen genügend Fans mit der Flagge, die von den Behörden de jure bereits abgeschafft war. 

    Damals war das noch möglich. Zu Repressionen gegen die historischen Symbole ging Lukaschenko erst später über, und ein Vierteljahrhundert später wandert man dafür ins Gefängnis. Heute gilt die rot-weiß-rote Flagge tatsächlich als „extremistisches“ Symbol, was einer der Gründe dafür ist, warum das Staatsfernsehen im Voraus dafür sorgen wird, dass die dem Regime verhassten Farben dem Zuschauer nicht ins Auge fallen. 

    Verfall des belarussischen Fußballs 

    Der Weg, den der belarussische Fußball seither zurückgelegt hat, ist erstaunlich. Die Nationalmannschaft hat es zwar noch nie in die Endrunde einer Welt- oder Europameisterschaft geschafft. Im postsowjetischen Raum ist das aber bisher nicht nur Russland und der Ukraine gelungen, sondern auch Lettland, Georgien und Usbekistan, das sich gerade erst ein Ticket zur Weltmeisterschaft 2026 erspielt hat. 

    Erfolge feierte dafür die Jugendmannschaft. Drei Generationen (2004, 2009 und 2011) stürmten die EM, die Jüngsten gewannen sogar die europäische Bronzemedaille. Das ermöglichte ihnen etwas noch nie Dagewesenes: die Teilnahme an den Olympischen Spielen, die 2012 in London ausgetragen wurden. Auch belarussische Vereine hatten ihre Glanzmomente, allen voran der BATE Baryssau. Zwischen 2008 und 2016 nahm die Mannschaft regelmäßig an den Gruppenrunden in der Champions und Europa League teil. In dieser Zeit wurde in Baryssau ein modernes Stadion gebaut; Real Madrid und FC Barcelona, Chelsea und Arsenal, Juventus und AC Milan, Paris Saint-Germain und LOSC Lille reisten nach Belarus. Bayern München und AS Rom konnte BATE Baryssau auf dem heimischen Platz sogar schlagen. 

    Manche Spieler machten im europäischen Fußball von sich reden. Witali Kutusow wurde mit viel Pomp von BATE Baryssau verabschiedet zum bereits erwähnten AC Mailand eskortiert, Sergej Gurenko ging zu AS Rom, Alexander Gleb spielte für Arsenal und Barcelona. 

    Doch all das ist vorbei. Ganz langsam wurde der belarussische Fußball schlechter und schlechter, es kam zum Verfall. Und heute muss man feststellen: Die Nationalmannschaft ist in der Weltrangliste auf das Ende der ersten Hundert abgerutscht und hegt längst keine Ansprüche mehr weder auf EM noch auf WM; die Vereine träumen nicht mehr von der Champions und Europa League und freuen sich höchstens über einen seltenen Einzug in die Gruppenphase der drittklassigen Conference League; die Spieler werden nicht mehr von den besten westlichen Teams umworben, ein Vertrag irgendwo in Griechenland, Ungarn oder in der zweiten russischen Liga gilt als Erfolg. 

    Auch der Fußball zahlt die politischen Rechnungen 

    Auch der Fußballverband hat in dieser Zeit eine Negativentwicklung durchlaufen, die – wenig überraschend – parallel zur staatlichen verlief. 

    Bis 1999 wurde die Belaruskaja Federazija Futbola (ABFF) von dem demokratisch gewählten Fußballfunktionär Jewgeni Schuntow geleitet. Doch je mehr Lukaschenko seine persönliche Macht ausweitete, desto größer wurde sein Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Belarussen, und es ist wenig überraschend, dass es eines Tages auch den Fußball traf. Seit über 25 Jahren werden die Chefs des Verbandes de facto auf Geheiß des Herrschers ernannt. Auf den Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Luftfahrt Grigori Fedorow folgte der Staatssekretär des Sicherheitsrates, General Gennadi Newyglas, dann der stellvertretende Ministerpräsident und künftige Leiter der Entwicklungsbank Sergej Rumas, daraufhin der Parlamentsabgeordnete und Artillerieoberst Wladimir Basanow und schließlich der ehemalige Leiter des regionalen Exekutivkomitees von Witebsk Nikolai Scherstnew. 

    Weil die UEFA-Statuten es einem Staat untersagen, sich in die Angelegenheiten der jeweiligen nationalen Verbände einzumischen, stand der belarussische Fußball Ende der 1990er Jahre am Rande der internationalen Isolation. Lukaschenkos Druck auf Schuntow mit dem Ziel seines Rücktritts war so offensichtlich, dass man ein unzweideutiges Signal aus dem Westen sandte: So kann man seine Mitgliedschaft in der UEFA verlieren. Die Situation wurde irgendwie gelöst, man zog die entsprechenden Schlüsse, und nun erfolgt die Entlassung der ABFF-Chefs stets nach demselben unfehlbaren Schema: „auf eigenen Wunsch“. In der Regel beschließen die Wahlgremien des ABFF eine solche von oben verordnete Rotation einstimmig. 

    Genau so wurde just Scherstnew nach nur zwei Jahren im Amt von seinem Posten entfernt – das ist grade mal die Hälfte der offiziell vierjährigen Amtszeit. Unabhängigen Medien zufolge hatte ein verlorener Machtkampf im Apparat gegen den Sportminister Sergej Kowaltschuk zu dem „eigenen Wunsch“ geführt, der am 1. Juni „in Erfüllung“ ging. Gleichzeitig wollte man den regimetreuen Scherstnew nicht vor den Kopf stoßen und versetzte ihn auf den gut bezahlten Posten des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung. Medienberichten zufolge soll der Schützling des Ministers Jewgeni Bulaitschik, der Leiter der Abteilung für Sport und Tourismus des Minsker Regionalexekutivkomitees, nun den Vorsitz des ABFF übernehmen. 

    Staatsbeamte, Banker, Luftfahrtexperten, Generäle und Oberstleutnants – das sind die Leute, die seit vielen Jahren für den Fußball zuständig sind. Aus diesem Grund wurde das Haus des Fußballs, in dem der Verband seinen Sitz hat, eine Zeitlang ironisch als „Haus der Offiziere“ bezeichnet. Man kommt kaum umhin, diese Personalpolitik mit den miserablen Ergebnissen der belarussischen Mannschaften in Verbindung zu bringen. 

    Ein vergessener Held 

    Der Sieg der Belarussen über Holland ist so lange her, dass sich vieles radikal verändert hat. So darf Holland beispielsweise offiziell nur noch Niederlande genannt werden. Das Dynamo-Stadion wurde mehrfach umgebaut. Die jüngsten Baumaßnahmen 2018 kosteten umgerechnet fast 200 Millionen Dollar. Doch selbst das reichte offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des Landes nach einem angemessenen Stadion für die Nationalmannschaft zu befriedigen, und so bat Lukaschenko niemand geringeres als Xi Jinping um weitere Millionen – für den Bau einer entsprechenden Arena. 

    Der Vorsitzende der Volksrepublik China rückte das Geld heraus. Das Nationalstadion in der Nähe des Wanejew-Platzes in Minsk wurde sechs Jahre lang gebaut und erst kürzlich fertiggestellt. Lukaschenko bezeichnete den Bau als ein „Geschenk aus China“. Am 10. Juni [2025] spielte die belarussische Nationalmannschaft dort zum ersten Mal, und zwar gegen die russische Mannschaft, die für alle Wettbewerbe gesperrt ist [das Spiel ging 4:1 an Russland – dek]. Auch das ist sehr symbolträchtig. 

    In 30 Jahren hat der Dauerherrscher den belarussischen Sport in den Status eines internationalen Parias geführt. Der Fußball bleibt zwar die seltene Ausnahme, die nicht von der Isolation betroffen ist, aber auch er muss die politischen Rechnungen bezahlen. Nach der skandalösen Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem Blogger Roman Protassewitsch in Minsk sprach die UEFA ein Verbot aus, offizielle Spiele unter ihrer Schirmherrschaft in Belarus durchzuführen. Und so sind die belarussischen Mannschaften seit nunmehr vier Jahren gezwungen, für ihre Heimspiele Stadien im Ausland anzumieten, beispielsweise in Ungarn, Serbien oder Aserbaidschan. Wie lange das Nationalstadion deshalb faktisch leerstehen wird, kann heute niemand sagen. 

    In den vergangenen Jahren haben die Teilnehmer des Spiels gegen die Niederlande ihre aktive Karriere beendet und sind merklich gealtert. Einige von ihnen ereilte ein tragisches Schicksal, so auch den Helden des legendären Spiels Sergej Gerasimets. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere lebte der Ex-Fußballer in St. Petersburg, wo er als Trainer arbeitete. Der gebürtige Kyjiwer mit belarussischem Pass unterstützte während der Ereignisse 2020 offen die Proteste in seiner zweiten Heimat. Er nannte die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen eine „Farce“ und empörte sich über die Polizeigewalt auf den Straßen. Am 26. September 2021 starb er überraschend im Alter von 56 Jahren. Die Gründe wurden nie offiziell bekannt gegeben, aber es gab Vermutungen, dass sein Tod mit dem Fußball in Verbindung stehen könnte. An jenem Abend stand Gerasimets’ Mannschaft in St. Petersburg vor einem entscheidenden Spiel, was für den Trainer eine große nervliche Belastung darstellte. 

    Das runde Jubiläum des Sieges über die Niederländer in Belarus könnte aus noch einem anderen Grund von offizieller Seite übergangen werden: aufgrund der unliebsamen staatsbürgerlichen Haltung des Schützen des einzigen, siegreichen Treffers. Wenn dem so wäre, würde es wohl niemanden wundern. 

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  • Flucht de force mit Tscheburaschka

    Flucht de force mit Tscheburaschka

    Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben. 

    Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben. 

    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat
    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat

    „Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja. 

    Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“ 

    Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“ 

    Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa. 

    Festnahme in Belarus 

    Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“ 

    Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.  

    Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.  

    „Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“ 

    Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft. 

    „Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“

    Die Flucht nach Georgien über Russland 

    Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“ 

    Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“ 

    Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. 

    Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf. 

    Der nächste Plan: Richtung Ukraine 

    Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder. 

    „Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod. 

    „Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja. 

    Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.     

    In „Kriegsgefangenschaft“ 

    Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.  

    „Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.   

    „Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“ 

    „Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“  

    Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar – dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.    

    Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk  

    Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“ 

    Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.  

    „Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß. 

    „Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“    

    Trennung und zurück nach Belarus 

    So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen. 

    „Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“ 

    Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.  

    „Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“ 

    Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“. 

    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat
    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat

    Hiobsbotschaft in der Freiheit 

    In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.  

    2024 wurde bei Alexander Krebs diagnostiziert.  

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  • „Ich mache Exiljournalismus, bin aber nicht im Exil“

    „Ich mache Exiljournalismus, bin aber nicht im Exil“

     

    Unabhängige Journalisten und Medien hatten es in Russland unter Putin nie leicht, seit dem Beginn der russischen Vollinvasion existiert in dem Land allerdings gar keine Pressefreiheit mehr: Die meisten unabhängigen Medien sind als „Agent“ oder „unerwünscht“ stigmatisiert. Zahlreiche Ermittlungsverfahren, Prozesse und Haftbefehle gegen Journalisten sind anhängig, sogar im Exil sind sie politischer Verfolgung ausgesetzt.  

    Trotz aller Gefahren arbeiten dennoch einige unabhängige Journalisten und Medien weiterhin im Land selbst. Der Monolog einer anonymen Journalistin, die aus Russland für Meduza schreibt, ist auch Teil der Ausstellung NO, die Meduza bis 6. Juli 2025 in Berlin zeigt. 

     

    Meine Freunde und Bekannten kennen mich unter einem Namen, meine Kollegen und Informanten unter einem ganz anderen. Keinem von ihnen kann ich die ganze Wahrheit über mich erzählen. Die ersteren sollen nicht wissen, welcher Betätigung ich nachgehe. Letztere sollen keine Einzelheiten aus meinem persönlichen Leben erfahren – wo ich geboren bin, wo ich studiert und gearbeitet habe. Kurzum: Das Leben einer Journalistin, die für unabhängige Medien arbeitet und dabei in Russland bleibt, ähnelt eher einem Agentenfilm. 

    Gewöhnlich läuft alles routinemäßig, aber manchmal gibt es Komplikationen. Auf dem Geburtstag einer engen Freundin streckt mir ein Unbekannter die Hand entgegen: „Hallo, ich bin Ljoscha.“ Ich muss erst einige Sekunden nachdenken, wie ich mich vorstellen soll, mit meinem echten Namen oder mit meinem Pseudonym. Dabei versuche ich zu bewerten, ob dieser neue Bekannte potenziell ein Protagonist einer Geschichte werden könnte – davon hängt ab, welchen Namen ich ihm nenne. 

    Wie eine pathologische Lügnerin 

    Manchmal komme ich mir wie eine pathologische Lügnerin vor. Da erzählt mir jemand persönliche Dinge, und ich kann ihm nicht mit Gleichem antworten, ja nicht einmal andeuten, dass ich etwas nicht vollständig erzähle. Das zieht einen runter, ich schäme mich ständig. Als ich mir ein Pseudonym ausdenken musste, kam ich mir völlig bescheuert vor. Ich musste mir aus dem Nichts einen Namen ausdenken. Und dann habe ich verschiedene Phasen durchgemacht, um das zu verarbeiten: von Enttäuschung und Trauer bis zu unglaublicher Wut und Müdigkeit. 

    Ich habe die seltene Möglichkeit, wichtige Dinge zu tun, ohne der Zensur zu begegnen. Und anders als meine Kollegen, die das Land verlassen mussten, lebe ich weiter bequem in meiner gewohnten Umgebung. Gleichzeitig fühle ich mich fast wie eine Hochstaplerin. Was ich betreibe, ist Exiljournalismus, unabhängiger Journalismus. Ich selbst bin aber nicht im Exil. 

    Ich habe viele Bekannte, die immer noch in Russland für Medien arbeiten, die der Zensur unterliegen. Diese Journalisten kämpfen weiterhin um jedes Komma, und aus ihren Texten werden weiterhin Passagen herausgestrichen, die die Redaktion nervös machen. Mir passiert das nicht: Aus meinen Texten werden nur die langweiligen Sachen herausgestrichen, es gibt keine Zensur. 

    Natürlich gibt es für die Redaktion objektive Gründe, sich wegen meiner Sicherheit Sorgen zu machen. Journalisten werden in Russland wirklich verfolgt, zu Geldstrafen und Freiheitsentzug verurteilt. Um das zu vermeiden, befolge ich Sicherheitsprotokolle. Die Nummer meines Anwalts habe ich für alle Fälle auswendig gelernt. 

    Die Protokolle zu befolgen, ist mitunter schwierig. Mit der Redakteurin etwa bin ich über Signal im Kontakt. In Russland funktioniert das aber nicht ohne VPN, was nicht sehr bequem ist. Andere Messengerdienste nutzen wir nicht – aus Sicherheitsgründen. Auf meinem Telefon habe ich drei verschiedene VPN. Wenn es bei einem hängt, schalte ich auf einen anderen um. Ständig muss ich mit diesen Diensten jonglieren, und es kommt sogar vor, dass ich ganz ohne Verbindung bin. Dann hat meine Redakteurin unglaublichen Stress und denkt, dass sie mich irgendwo herausholen muss. Sie macht sich um meine Sicherheit sehr viel stärker Sorgen als meine Mutter oder ich selbst. 

    Keine Angst 

    Unabhängige Journalisten können in Russland jederzeit auffliegen, aber lange Zeit habe ich überhaupt keine Angst gehabt. Ich habe mich sogar gefragt, ob das nicht psychisch krank ist, dass ich keine Angst habe. Dann stellte sich allmählich doch die Angst ein, und zwar umso stärker, je öfter Freunde und Verwandte fragten, ob ich keine Angst habe, und ob ich ausreichend Sicherheitsmaßnahmen treffe. Irgendwann bat ich sogar, dass sie mich das nicht mehr fragen. Ich schaue einfach automatisch aus dem Augenwinkel, ob mich jemand verfolgt, ob es um mich herum verdächtige Leute gibt. Und wenn ich mich davon überzeugt habe, dass das nicht der Fall ist, lebe ich mein Leben und mache meine Arbeit. 

    Zu Beginn des Krieges dachte ich, dass die Leute den Krieg unterstützen, weil sie nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Damals druckte ich mit meiner Freundin zusammen Antikriegsplakate mit Parolen wie „Wir brauchen Liebe, und nicht Krieg!“ und klebte sie in den Straßen des Moskauer Stadtzentrums. 

    Es kam vor, dass wir gerade mal einige Dutzend Meter weitergegangen waren und jemand bei den Plakaten anhielt und sie abriss. Das war keiner von den kommunalen Behörden, sondern jemand ganz gewöhnliches, gut angezogen, wahrscheinlich gebildet und wohlhabend. Das hat mich stark demoralisiert. Das Problem besteht also weniger darin, dass Journalisten nicht die Wahrheit über den Krieg berichten können, sondern vielmehr darin, dass die Menschen, denen wir diese Wahrheit berichten, sie nicht hören wollen. 

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