200 Tage Protest: Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und ihre Grundrechte. Derzeit vor allem in Mini-flashmobs, bei Abendspaziergängen in kleinen Gruppen … Die großen Straßenproteste sind mittlerweile verschwunden, was vor allem an den massiven Repressionen liegen dürfte, mit denen der Machtapparat Lukaschenkos gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Sei es gegen Journalistinnen wie beispielsweise Kazjaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa, die kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. (Sie hatten ein Live-Streaming eingerichtet von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern in einem Minsker Hinterhof zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag.) Sei es gegen Oppositionspolitiker wie Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antreten wollte, aktuell vor Gericht steht und dem 15 Jahre Haft drohen. Sei es gegen Musiker wie denen von der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies), die für ein Privatkonzert 15 Tage Haft aufgebrummt bekamen. Sei es gegen jegliche Graffiti oder Symbolik des Protests. Die 75-jährige Iraida Misko beispielsweise erhielt eine Geldstrafe von 175 Euro, weil sie an einer „nicht genehmigten Kundgebung“ teilgenommen haben soll. Als Beweis präsentierten die Justizbehörden ein Foto von Iraida Misko, auf dem sie ein weiß-rot-weißes Lokum, eine Süßigkeit, in der Hand hält.
Menschenrechtsorganisationen wie Libereco haben ermittelt, dass seit Beginn der Proteste über 33.000 Menschen inhaftiert wurden. 266 werden aktuell als politische Gefangene geführt. 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen. Es wurden über 1000 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Der Politologe Waleri Karbalewitsch analysiert, dass sich Belarus aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet, für deren Lösung das Regime nur eine Antwort hat: Gewalt und Repressionen. Er schreibt: „Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht.“ Wie es weitergeht, ist aktuell schwer zu sagen.
Aus Anlass des 200. Protesttages lassen wir die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in einem visuellen Rückblick Revue passieren. Es sind zweifelsohne Ausformungen eines historischen Selbstermächtigungsprozesses, mit dem die Belarussen nicht nur sich selbst, sondern auch die internationale Staatenwelt überrascht haben. Sie zeigen, dass die Sehnsucht der Belarussen nach Wandel nicht nur lange unterschätzt wurde, sondern auch, dass wir mehr auf dieses Land schauen müssen, dass wir Wissen brauchen, um entsprechende kulturelle und gesellschaftspolitische Codes und Entwicklungen entziffern und verstehen zu können.
Deswegen haben wir im November 2020 mit unserem Projekt begonnen: Belarus zu entschlüsseln, mit originären Texten, die wir dem deutschen Leser zugänglich machen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Politik, sondern wir unternehmen auch Ausflüge in die Literaturgeschichte – wie bei der Gnose über Janka Kupala – oder in die belarussische Staatswirtschaft. Wir haben viele Glückwünsche und Lobesbekundigungen zum Start des Projekts erhalten. Sonja Zekri hat uns in der Süddeutschen Zeitung wärmstens empfohlen, das Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks berichtete ebenfalls. Seit Anfang Januar hat sich neben der S. Fischer Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. auch ein neuer Förderer zu uns hinzugesellt, worüber wir uns außerordentlich freuen: Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) wird in Kooperation mit dekoder die wissenschaftliche Begleitung und Fundierung des Projektes unterstützen. So können wir beispielsweise unser Gnosen-Programm zu Belarus entsprechend ausbauen und vertiefen – mit Jakob Reuster als Gnosenredakteur auf unserer Seite.
Wir leisten Pionierarbeit. Damit wir das Projekt „Belarus entschlüsseln“ aber insgesamt auf solide Beine stellen können, die eine Langfristigkeit garantieren, brauchen wir vor allem Eure und Ihre geschätzte Unterstützung. Im Belarussischen nennt man solch eine kollektive Untersützungsleistung talaka. Früher kam sie zum Tragen, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, sie zu reparieren oder neu zu errichten. Bei uns ist glücklicherweise nichts abgebrannt, wir wollen etwas aufbauen. Deswegen werden wir in den kommenden Wochen über die sozialen Medien mit einer speziellen Spenden- und Unterstützungskampagne auf den Belarus-dekoder aufmerksam machen. Helft uns dabei! Reicht uns weiter, schreibt und erzählt von uns, und verschenkt eine Klub-Mitgliedschaft, oder gerne auch zwei.
Die ersten 15 eingehenden Spenden, die uns aufgrund – sagen wir – ihrer durchschlagenden Überzeugungskraft fröhlich und freudig stimmen, erhalten als kleines Dankeschön die CD The Red Book of Belarusian Music. Dabei handelt es sich um die erste Compilation belarussischer Musik, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Und zwar im Jahr 2006, als die Machthaber in Belarus gegen Musiker und Band vorgegangen sind: ein wirklich historisches Kulturstück also, das eigentlich längst nicht mehr erhältlich ist.
Für eure Unterstützung und Hilfe sagen wir jetzt schon: Danke und dzjakuj!
Wart Ihr schon einmal im russischen Dampfbad, der Banja? Das ist, wenn man aus der extremen und feuchten Hitze unmittelbar in die bittere Kälte des Eislochs wechselt. Wir waren gerade da und sind nun richtig schön durch- und ausgeschwitzt und mit einer unheimlichen Freude erfüllt. Gestern ist unser Longread zur Banja erschienen. Ein Jahr haben wir daran gearbeitet, mal mit Feuer und Flamme, wenn alles klappte, mal mit kaltem Wasser übergossen, wenn der Plan nicht realisierbar schien.
Nun sind wir angenehm erschöpft und mit Freude erfüllt. Der Banja-Longread ist online und wir laden Euch ein auf eine Reise in die Nebelwelten des russischen Dampfbades. Kommt mit! Taucht ein! Öffnet die schwere Holztür, dekoder führt euch in die mythischen Welten der Banja.
Diese Freude muss man aber genauer anschauen. Was für eine Art Freude ist es? Freude am Tun? Sicher! Ästhetische Freude? Auch! Aber auch eine andere, die dem dekoder-Geist immanent ist: Freude an der Komplexität. Und diese wollen wir teilen.
Viele Dinge sind komplex und gerade deswegen bereiten sie Freude. Freude, frei zu sein. Freude an der Vielfalt. Freude, zu wissen und zu denken. Selbstverständlich ist das jedoch nicht immer. Es ist ein Prozess. Also doch auch eine Anstrengung. Aber wie wäre es, wenn die Freude zuerst kommt?
Genau das wollen wir!
dekoder stellt die etablierten Mechanismen des Wissenstransfers in Frage und probiert neue Wege und neue Formate aus. Wir experimentieren mit Formen, Themen und Sprache. Und nun schaffen wir dazu auch einen größeren Rahmen. Ein Labor. Ein dekoder-lab.
dekoder-lab ist eine Initiative von dekoder.org, die in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Universität Basel entstanden ist. Sie ist aus dem Projekt Wissenstransfer hoch zwei hervorgegangen. Dabei schrauben wir an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus, entwickeln neue Formate, die eine komplexe (Osteuropa-)Welt nicht verkürzen, aber mit Freude erschließen. Wir schreiben, redigieren, coden, designen und zeichnen und teilen unsere Begeisterung für diese Welt. Der Aufbau von dekoder-lab wird von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius unterstützt.
Und unserer Idee nach soll dekoder-lab eine offene Plattform für alle bieten, die wie wir das Wissen als Wert empfinden und die andere für das Wissen begeistern wollen. Deswegen: Wenn ihr Ideen, Anregungen, Kritik (oder Lob!) habt, dann schreibt uns gerne an! Und vielleicht können wir sogar etwas gemeinsam machen?!
dekoder-lab@dekoder.org
Also: Kommt! Taucht ein! Öffnet die schwere Holztür des Wissens und geht zusammen mit dekoder-lab in eine volle Welt, die genau so komplex bleiben kann. Wir schätzen sie in ihrer Komplexität, weil sie eine Freude ist.
Das Gedicht Verlass nicht dein Zimmer (Ne wychodi is komnaty, 1970) ist wohl eines der bekanntesten Gedichte von Joseph Brodsky. Es ist beliebt, wird viel zitiert und einzelne Zeilen funktionieren in der russischen Sprache schon fast unabhängig vom eigentlichen Inhalt. Trotzdem scheint es auch vieldeutig zu sein und ist nur schwer einzuordnen und zu analysieren: Für die einen ist es ein ironischer und fast satirischer Text, der auf die rechtlosen und ängstlichen Sowjetmenschen in den Kommunalkas abzielt, für andere dagegen ein philosophisches und fast existenzialistisches Gedicht.
Eine neue Welle fast flächendeckender Bekanntheit erfasste das Gedicht im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns. Die Assoziationen mit Corona sind im Gedicht zu offensichtlich: Es beginnt mit dem Aufruf, das eigene Zimmer nicht zu verlassen und endet mit einem weiteren Appell:
„Barrikadier es / mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.“
Zum 25. Todestag Joseph Brodskys bringt dekoder das Gedicht in einer Neuübersetzung von Alexandra Berlina.
Verlass nicht dein Zimmer, sei nicht so unbesonnen. Du hast was zum Rauchen, was willst du noch mit der Sonne? Draußen ist alles sinnlos, vor allem Glück. Raus geht’s höchstens aufs Klo, und dann gleich zurück.
Verlasse dein Zimmer nicht, mache nicht den Fehler. Ruf dir kein Taxi: Der Raum fasst keinen Zähler. Kommt dein Liebchen herein, höre nicht mal ein Wort aus dem rosa Maul. Schick sie gleich, noch bekleidet, fort.
Verlass nicht dein Zimmer. Tu so, als hättest du dich verkühlt. Was kann schon spannender sein als ein Tisch und Stuhl? Wozu dein Zimmer verlassen, wenn du nach einem Bummel Unverändert zurückkehrst – oder vielleicht verstümmelt?
Verlasse dein Zimmer nicht, stell das Radio laut. Tanz Bossa Nova im Mantel auf bloßer Haut. Auf dem Gang riecht’s nach Kohl und Skiern, Mai bis April. Du hast viele Wörter geschrieben. Noch eins wäre eins zu viel.
Verlass nicht dein Zimmer. Zeige dich nur dem Zimmer. Zürnt die Substanz der Form, macht es die Sache schlimmer. Incognito ergo sum. Nun, wie dem auch sei, verlass nicht dein Zimmer! Du lebst ja nicht in Versailles.
Sei kein Trottel! Sei einzigartig, wohl oder übel. Verlasse dein Zimmer nicht! Verlasse dich auf die Möbel, wachse in die Tapete, ins Zimmer. Barrikadier es mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus.
Joseph Brodsky, 1970 Übersetzerin: Alexandra Berlina Veröffentlicht am 29.01.2021
Für Joseph Brodsky war eine Reise nach Venedig immer mit Winter verbunden. In Leningrad hatte er mal auf eine Postkarte mit einer seltenen Ansicht – Venedig im Schnee – gezeigt und mit Bestimmtheit gesagt: „Das werde ich einmal sehen.“ Wie konnte er sich so sicher sein? Damals war Venedig für einen Sowjetbürger so unerreichbar wie der Mond. Zum 25. Todestag Joseph Brodskys bringt dekoder Fotos aus der Sammlung des Anna Achmatowa Museums in Sankt Petersburg, die Brodskys Freundin, die Historikerin Véronique Schiltz (1942–2019), in Venedig aufgenommen hat. Mit einem Essay von Zakhar Ishov.
Brodskys erzwungene Emigration aus der UdSSR hatte zumindest einen Silberstreif. Er konnte nun seinen Plan verwirklichen, Venedig im Winter zu besuchen. Im Herbst 1972 hatte Brodsky einen Lehrauftrag an der Universität von Michigan; er nutzte seine ersten Winterferien, um nach Italien zu fliegen. Von da an reiste er zwanzig Jahre lang fast jeden Winter nach Venedig, „mit der Häufigkeit eines aufdringlichen Traums“, wie er später in Watermark (1989) scherzte, seiner buchlangen Essay-Hymne an Venedig, einem ebenso aufrichtigen wie ausführlichen Bericht über seine Liebesbeziehung mit dieser Stadt.
„Venedig ist das immer schon Geschriebene, schon Gesehene, schon Gelesene“,1 meinte ein großer Literaturwissenschaftler. Wie kann man etwas Neues über den Ort sagen, der bereits von Shakespeare, Schiller, Byron, Puschkin, Wjasemski, de Régnier, James, Mann, Proust, Achmatowa, Pasternak und Mandelstam beschrieben wurde, um nur einige zu nennen? Die amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy schrieb: „,Ich beneide dich, dass du über Venedig schreibst!‘, sagt der Neuankömmling. ‚Ich bemitleide dich‘, sagt der alte Hase.“2 Brodsky gesellte sich so spät zu diesem Chor dazu, dass er den Vorteil des Nachzüglers hatte: Er musste nicht unter Einflussangst leiden. Er konnte es kaum erwarten, an dem großen Venedig-Buch mitzuschreiben. „Ich wollte meine Spur hinterlassen“, erinnerte er sich später.3
Beginnend mit der Weihnachtsromanze (1962) versuchte Brodsky, „jedes Jahr zu Weihnachten ein Gedicht zu verfassen, als eine Art Glückwunsch zum Geburtstag“. Da er Ende Dezember 1972 in Venedig ankam, war es kaum verwunderlich, dass sein erstes und vielleicht bemerkenswertestes venezianisches Gedicht, Lagune, als Weihnachtsgedicht begann. Es blieb aber nicht dabei – neben dem Weihnachtsthema finden sich dort auch Elemente eines Reiseberichts und einer lyrischen Auseinandersetzung mit dem frischen Trauma des Exils.
Das erste, was einem Neuankömmling in Venedig auffällt, ist, dass das Verhältnis zwischen terra ferma und dem Wasser hier umgekehrt ist. Petrarca nannte es einfach mundus alter [andere Welt].4 Und so greift Brodsky in seinem venezianischen Weihnachtsgedicht zu maritimen Metaphern: Die Pensione, die das lyrische Ich bewohnt, wird mit einem Kreuzfahrtschiff verglichen, das „in die Weihnachtsflut“ segelt; der Rezeptionist wird zum Kapitän am Steuer, und der einsame Gast auf dem Weg zu seinem Zimmer verwandelt sich in einen Passagier:
[bilingbox]I Drei strickende Omas im Foyer, so vertieft in die Leidensgeschichte Jesu. Der Fernseher dröhnt. Es treibt die Pension Accademia Heiligabend entgegen. Der Kosmos auch. Mit Jahresbelegen steht am Steuer der Mann von der Rezeption.
II Ein Gast kommt die Schiffstreppe hoch. Eine Flasche Grappa trägt er in seiner Tasche. Ein Niemand, ein Mantelträger. Er ist Heim- und kinderlos. Ihn vermissen die frischen Ruten, um ihm eins auszuwischen. Ansonsten wird er von keinem vermisst.
(„Lagune“, 1973, Nachdichtung von Alexander Nitzberg5)~~~I Три старухи с вязаньем в глубоких креслах толкуют в холле о муках крестных; пансион «Аккадемиа» вместе со всей Вселенной плывет к Рождеству под рокот телевизора; сунув гроссбух под локоть, клерк поворачивает колесо.
II И восходит в свой номер на борт по трапу постоялец, несущий в кармане граппу, совершенный никто, человек в плаще, потерявший память, отчизну, сына; по горбу его плачет в лесах осина, если кто-то плачет о нем вообще.
(„Лагуна“, 1973)[/bilingbox]
Folglich findet sich in der venezianischen Krippenszene ein Fisch statt eines Ochsen und ein Seestern statt des Sterns von Bethlehem; statt Jesu Wiege wippen nur die Boote im Wind. Schließlich isst der lyrische Held selbst eine Brasse statt des traditionellen Weihnachtsgeflügels:
[bilingbox] Boote sind Wiegen. Kein Schaf, kein Ochs stehen umher (mit den Strahlen-Fängen nestelt ein Seestern an den Behängen), sondern höchstens die Kräne des Docks.
V Wie früher: Mit gläsernen toten Fluten der Karaffe löschen wir feuchte Gluten vom Grappa. Statt einer Weihnachtsgans eine Weihnachtsbrasse. Uns speist dein Weiland im Wasser lebender Urahn, Heiland, in der Winternacht eines feuchten Lands.
(„Lagune“, 1973, Nachdichtung von Alexander Nitzberg)~~~лодки качает, как люльки; фиш, а не вол в изголовьи встает ночами, и звезда морская в окне лучами штору шевелит, покуда спишь. V Так и будем жить, заливая мертвой водой стеклянной графина мокрый пламень граппы, кромсая леща, а не птицу-гуся, чтобы нас насытил предок хордовый Твой, Спаситель, зимней ночью в сырой стране.
(„Лагуна“, 1973)[/bilingbox]
Brodskys im sowjetischen antireligiösen Kontext so subversiver Brauch, dem Heiland zu huldigen, hatte weniger mit Religion zu tun als mit seinem Wunsch, an der „Weltkultur“ teilzuhaben.6 Wie sein Freund, der litauische Dichter und Gelehrte Tomas Venclova, erklärte, hatte sich Brodsky nie einer offiziellen Religion verschrieben.7 Und tatsächlich findet er an sich sogar „heidnische“ Züge – zum Beispiel in der Verehrung, nahezu Vergötterung, des Wassers: „seiner Falten, Runzeln und Wellen, und […] seines Grau“:8
Ich denke einfach, das Wasser ist ein Bild der Zeit, und in jeder Silvesternacht versuche ich, auf etwas heidnische Art, irgendwo am Wasser zu sein, am liebsten am Meer oder am Ozean, um das Entstehen einer neuen Portion, einer neuen Tasse Zeit zu beobachten.9
[bilingbox]Das gewaschene, gebügelte Laken der Bucht raschelt mit seinen Volants, und die farblose Luft verdichtet sich ganz kurz zu einer Taube oder Möwe …
(„San Pietro“, 1977, Nachdichtung hier und weiter, falls nicht anders genannt von Alexandra Berlina)~~~Выстиранная, выглаженная простыня залива шуршит оборками, и бесцветный воздух на миг сгущается в голубя или в чайку
(„Сан-Пьетро“, 1977)[/bilingbox]
Wenn die Farbe der Pflastersteine mit der Farbe gebratenen Fischs verglichen wird, denkt man vielleicht an die beliebten Fischrestaurants in dieser Gegend: „Das Straßenpflaster hat einen Hauch von gelbem / gebratenem Fisch.“ (San Pietro) In Watermark beschreibt Brodsky, wie er in einem anderen Teil Venedigs gegrillten Fisch genießt, und bekennt sich zu den einfachen Genüssen des venezianischen Lebens:
Ich kam aus einer kleinen Trattoria im entlegensten Teil des Fondamente Nuove. Ich hatte gegrillten Fisch gegessen und eine halbe Flasche Wein getrunken. […] Der Tag war warm, sonnig, der Himmel blau, alles wunderschön. […] Und auf einmal spürte ich: Ich bin ein Kater. Ein Kater, der sich gerade den Bauch mit Fisch vollgeschlagen hat. Spräche mich in diesem Moment jemand an, wäre meine Antwort ein Miau. Ich war absolut animalisch glücklich.10
Weniger bekannt ist, dass Brodsky 1977 nach Venedig gekommen war, um an der Dissens-Biennale teilzunehmen, einem einzigartigen und historischen Ereignis Nachkriegsitaliens. In diesem Kontext schrieb er eine Polemik gegen den berühmten italienischen Slawisten Vittorio Strada, der die Veranstaltung zu diskreditieren versuchte, um die sowjetische Regierung zu beschwichtigen.11 Dieser politische Hintergrund ist in dem Gedicht San Pietro jedoch nicht zu spüren. Wie Pawel Muratow – ein Kunsthistoriker des Silbernen Zeitalters, dessen Buch Italienbilder Generationen von russischen Reisenden inspirierte – treffend sagte, kann das Wasser Venedigs wie die „Wasser der Lethe“ beruhigen und vergessen helfen.12 Brodsky griff dieses Gefühl auf:
[bilingbox]denn nur das Wasser und es allein bleibt sich treu auf immer und ewig – unempfindlich gegen Verwandlung, flach, dort zu Hause, wo es kein Land mehr gibt. Und das Pathos des Lebens – mit Anfang, Mitte, immer dünner werdendem Wandkalender und schließlich Ende – verblasst angesichts der ewigen, seichten, farblos gekräuselten Wasserfläche.
(„San Pietro“)~~~только вода, и она одна, всегда и везде остается верной себе — нечувствительной к метаморфозам, плоской, находящейся там, где сухой земли больше нет. И патетика жизни с ее началом, серединой, редеющим календарем, концом и т. д. стушевывается в виду вечной, мелкой, бесцветной ряби. („Сан-Пьетро“)[/bilingbox]
Es ist eine alte Tradition, Sankt Petersburg mit Venedig zu vergleichen.13 Doch für Brodsky war Venedig kein bloßer Ersatz für seine Heimatstadt, in die er nach seiner Ausbürgerung 1972 nicht zurückkehren konnte. Das Wichtigste an Venedig war für ihn die enorme Kulturdichte,14 die er in seinen nächsten beiden venezianischen Werken, Venezianische Strophen I und Venezianische Strophen II erkundet, wobei er sich der Malerei und Musik metaphorisch bedient:
[bilingbox]IV
Hinter goldenen Schuppen, hinter der Fischfassade, findet sich Öl in Bronze, Klaviergeklimper, ein Dinggeflecht, Ja, da versteckt in sich, kiementief, die Dorade, die Forelle, der Hecht!
(„Venezianische Strophen I“, 1982)~~~IV За золотой чешуей всплывших в канале окон – масло в бронзовых рамах, угол рояля, вещь Вот что прячут внутри, штору задернув, окунь! жаброй хлопая, лещ!
(„Венецианские строфы I“, 1982)[/bilingbox]
Wie die meisten seiner russischen Vorgängerinnen und Vorgänger15 empfand Brodsky die Stille als eine der magischsten Eigenschaften Venedigs. Paradoxerweise schaffte er es, diese mit musikalischen Metaphern wiederzugeben, wobei er auch seinem venezianischen Lieblingskomponisten Vivaldi huldigte:
[bilingbox]Die Geigenhälse der Gondeln wiegen sich in dissonanter Stille.
In demselben Gedicht, Venezianische Strophen I, stellt Brodsky das nächtliche Venedig als Klangbild mehrerer Orchester dar, das die Stille spielt:
[bilingbox]VII So verstummen Orchester. Als versuchte die Stadt am Ende, einen Ton der Stille abzugewinnen … Und die Paläste schimmern wie Notenständer – im schwachen Flimmern. Nur ein Stern singt ganz hoch zwischen den Telegrafen- Leitungen, ein Falsett inmitten des tiefen Blaus. Unter ihm liegt einer aus Perm im Schlafe, und das Wasser rauscht ihm den Applaus.
(„Venezianische Strophen I“) ~~~VII Так смолкают оркестры. Город сродни попытке воздуха удержать ноту от тишины, и дворцы стоят, как сдвинутые пюпитры, плохо освещены. Только фальцет звезды меж телеграфных линий – там, где глубоким сном спит гражданин Перми. Но вода аплодирует, и набережная – как иней, осевший на до-ре-ми. („Венецианские строфы I“)[/bilingbox]
Mit dem Verweis auf Perm ist Sergej Djagilew gemeint, der aus dieser Stadt im Ural stammt. Der Vater des Ballet Russe verbrachte seine letzten Jahre in Venedig und wurde auf der Insel San Michele begraben. In den letzten Kapiteln von Watermark beschreibt Brodsky eine Gondelfahrt zur „Insel der Toten“, San Michele. Dieser Abschnitt liest sich wie ein Abschied von Venedig – und man spürt, dass dieser für Brodsky nahezu einen Abschied vom Leben bedeutet. Obwohl er Freud gegenüber skeptisch war, ist Brodskys lyrische Meditation über den Tod in Venedig erotisch gefärbt und bestätigt indirekt die Erkenntnisse des Wiener Arztes über die Zusammenhänge zwischen Eros und Thanatos:
… wir glitten in die Lagune und steuerten auf die Insel der Toten zu, auf San Michele. Der Mond stand außerordentlich hoch […] und das Gleiten der Gondel war absolut still. Das geräusch- und spurlose Gleiten des geschmeidigen Gefährts auf dem Wasser hatte etwas ausgesprochen Erotisches – als würde die Hand über die glatte Haut der Geliebten gleiten. Das Erotische lag darin, dass aus dieser Berührung nichts folgte. Das Wasser blieb unendlich und fast unbeweglich, die Liebkosung abstrakt.16
Nach seinem frühen Tod am 28. Januar 1996 wurde auch Brodsky auf dem Friedhof von San Michele begraben, in Anerkennung seiner tiefen literarischen Verarbeitung Venedigs. Solange er lebte, war Venedig Brodskys „irdisches Eden“. So nannte er die Stadt in seinem letzten venezianischen Gedicht, das er auf Russisch schrieb und selbst ins Englische übersetzte – nur wenige Wochen vor seinem Tod.17
Autor: Zakhar Ishov Übersetzerin: Alexandra Berlina Fotos: Véronique Schiltz († 2019)/Anna Achmatowa Museum in Sankt Petersburg veröffentlicht am 28.01.2021
1.Tanner, Tony (1992): Venice Desired, Oxford, S. 20 ↑
2.McCarthy, Mary (1963): Venice Observed, San Diego/New York/London, S. 12 ↑
3.zit. nach Brodskij, Iosif (1995): Peresečennaja mestnost‘: Putešestvija s kommentarijami, in: Vail, Petr (Hrsg.): Nezavisimaja Gazeta, Moskau, S. 170 ↑
4.wörtl. „Mundus alter Venetia dicta est.“, zit. nach Petrarca, Francesco: Epistolae familiares, in: Manilius, Sebastianus (Hrsg.): Liber XXIII, Letter XVI, Venedig: Johannes und Gregorius de Gregoriis, 13. September 1492, S. 88 ↑
5.deutsch: Brodsky, Joseph (2004): „Lagune“, in: Weihnachtsgedichte, München, S. 57, Nachdichtung von Alexander Nitzberg ↑
6.Brodskij, Iosif (1997): „Roždestvo: Točka otsčeta“, in: Roždestvenskie stichi, Nezavisimaja Gazeta, Moskau, S. 62 ↑
7.so auch Tomas Venclova: „Brodsky, ein gebürtiger Jude, gehörte formal keiner Religion oder bestimmten Konfession an, obwohl theologische Motive einen wichtigen Platz in seinem Werk einnehmen und die Entwicklung einer inneren Einstellung zu Gott für ihn ein wichtiges Bedürfnis war.“ Venclova, Tomas (2005): „Aleksandr Vat i Iosif Brodskij: Zamečanija k teme, in: Stat’i o Brodskom, Baltrus; Novoe izdatel’stvo, Moskau, S. 126 ↑
8.Brodsky, Joseph (1992): Watermark, London, S. 42-43 ↑
11.Brodskij, Iosif (1977): „Necessario per tutti questo dissenso“, in: Corriere della sera, 12.12.1977, S. 5 ↑
12.Muratov, Pavel P. (1999): „Venecija. Letejskie vody“ (1911-1912), in: Obrazy Italii, Moskau, S. 11: „Für uns, Nordländer, die durch die goldenen Tore Venedigs nach Italien eindringen, werden die Wasser der Lagune zu wahren Wassern der Lethe.“ ↑
13.sh.auch Toporov, V.N. (1990): „Italija v Peterburge“, in: Italija i slavjanskij mir: Sovetsko-ital’janskij simpozium in honorem Professore Ettore Lo Gatto, Moskau, S. 49-81 ↑
14.sh. auch Ishov, Zakhar (2015): Joseph Brodsky and Italy (PhD dissertation), Yale ↑
15.sh. auch Kara-Murza, Alexei (2001): Znamenitye russkie v Venetsii, Nezavisimaja Gazeta, Moskau ↑
Die politischen Freiräume werden fortschreitend eingeschränkt, aber kritische Stimmen gibt es weiterhin und immer wieder auch Protest. Dieser wird nicht selten von Musik begleitet, aber auch von ihr angetrieben. Jekaterina Lobanowskaja hat für 7×7 reingehört und die besten Protestsongs des Jahres gekürt.
Noize MC – 26.04
Zum 34. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl veröffentlicht Noize MC das Musikvideo 26.04. Iwan Alexejew vergleicht darin die Geschehnisse von 1986 mit der ersten Welle der Coronavirus-Pandemie. Dem Musiker zufolge verhielten sich die Menschen im April 2020 genauso wie vor 34 Jahren: Sie bestritten die Gefahr des Virus, folgten nicht den Empfehlungen der Ärzte und trafen sich, als die Pandemie ihren Höhepunkt erreichte, mit Freunden und Verwandten zum traditionellen Schaschlik.
Der Musiker versprach, den gesamten Erlös aus der Veröffentlichung der Single 26.04. an den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung des medizinischen Personals WBlagodarnost zu spenden.
Max Korsh – Teplo
Die Single Teplo (dt. Wärme) wird einen Tag vor der Präsidentschaftswahl in Belarus veröffentlicht. Sie erzählt das Märchen von einem Weisen, der den Menschen die Sonne wegnahm und dafür Ordnung schuf, aber es zeigte sich, dass die Leute zwar nicht viel Wärme brauchen, wohl aber Sonnenauf- und -untergänge, um „Kraft zu schöpfen und zu träumen“.
Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse [Anfang August 2020 – dek] und den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften postete Korsh auf Instagram einen Beitrag, in dem er die Menschen dazu aufrief, damit aufzuhören – wofür man ihn in den sozialen Netzwerken kritisierte. Der Musiker äußerte sich im Weiteren nicht mehr zu den Protesten, kam jedoch am 15. August ins Minsker Untersuchungsgefängnis Okrestina, um die bei den Protestaktionen inhaftierten Demonstranten zu unterstützen.
Kasta – Wychodi guljat
Ein weiteres Musikvideo über die Ereignisse in Belarus – Wychodi guljat (dt. Komm mit spazieren) – bringt die Band Kasta im November 2020 heraus. Es zeigt einen Sicherheitsbeamten, der nach seiner Schicht nach Hause kommt und am Esstisch Blut an seinen Händen bemerkt, das sich nicht abwaschen lässt. Diese Szenen wechseln sich mit Aufnahmen ab, die zeigen, wie Menschen hinter den verschlossenen Türen der Justizbehörden misshandelt werden.
Schyma, ein Mitglied der Gruppe, berichtete in einem Interview mit Afisha, dass der zugrundeliegende Song Wychodi guljat bereits 2019 veröffentlicht wurde. Inspiriert wurden die Musiker dazu ursprünglich durch die Massenproteste in Russland, angefangen mit den Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2010. Lange Zeit konnte sich die Band nicht auf einen Inhalt für das Video festlegen. Die Idee kam dann infolge der Proteste in Belarus. Übrigens fanden am Tag der Veröffentlichung des Videos, am 15. November, in Belarus Kundgebungen unter dem Slogan „Ja wychoshu“ (dt. „Ich gehe raus“) statt. Es war der letzte Satz, den der Belarusse Roman Bondarenko schrieb, bevor er von Unbekannten in Zivil im Hof seines Hauses zusammengeschlagen wurde und daraufhin seinen Verletzungen erlag.
Pornofilmy – Album Eto proidjot
Im Februar 2020 präsentiert die Punkband Pornofilmy (dt. Pornofilme) das Album Eto proidjot (dt. Es geht vorbei), auf dem mindestens vier Titel auf politische Ereignisse und soziale Tendenzen im modernen Russland Bezug nehmen.
A nas dogonit ljubow (dt. Die Liebe wird uns einholen) ist die Geschichte eines Moskauer Soldaten der Russischen Nationalgarde, der sich in ein Mädchen verliebt, das im Gefängnis sitzt – weil es bei einer Kundgebung einen Plastikbecher nach ihm geworfen hatte. In dem Song Djadja Wolodja (dt. Onkel Wolodja, Koseform von Wladimir (Vorname Putins) – dek) geht es um einen Nachbarn, einen KGB-Oberst, der ordentlich die Daumenschrauben anzieht. Tschushoje gore (dt. Fremdes Leid) handelt davon, dass das, was im Land passiert, das Ergebnis des Schweigens und der Untätigkeit der großen Mehrheit ist.
Der zentrale Song des Albums ist der gleichnamige Titel Eto proidjot (dt. Es geht vorbei). Das Lied, das während der Moskauer Kundgebungen 2019 veröffentlicht worden war, wurde zur Protesthymne. So sangen Angehörige der Angeklagten und Aktivisten, die die Beschuldigten im Fall Seti (dt. Netzwerk) unterstützten, Es geht vorbei vor dem Gerichtsgebäude und den Mauern des Untersuchungsgefängnisses, in dem die Angeklagten festgehalten wurden.
Der Musikproduzent und -agent Oleg Rubzow über den Song:
„Ich mag die Band Pornofilmy überhaupt nicht, und ich könnte am Text des Songs sowohl ideologisch als auch ästhetisch einiges beanstanden, aber meiner Meinung nach entfaltete er dank der Verweise auf den Fall Seti eine enorme Wirkung. Und im Laufe des Prozesses wurde er immer wieder mit neuen Bedeutungen gefüllt. Ihn unter den Fenstern der behördlichen Einrichtungen zu spielen, wurde zu einem festen Ritual, er verfolgte buchstäblich die Akteure und Beteiligten des Prozesses und wurde bei den Sitzungen zu einem ähnlich unverzichtbaren Attribut wie die richterliche Robe oder die Worte ‚Bitte erheben Sie sich …‘. Eine solche gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von Realität und künstlerischem Ausdruck ist der Traum eines jeden Künstlers, der gesellschaftlich etwas bewirken will“, so der von 7×7 befragte Experte.
Ne neshnaja – Orgasm
Tatjana Mingalimowa, Autorin und Moderatorin des YouTube-Kanals Neshny redaktor, veröffentlicht am 24. November 2020 das Musikvideo Orgasm (dt. Orgasmus), in dem sie den Feminismus, die Rollenerwartungen an Frauen und das Selbstvertrauen besingt. Die Journalistin schrieb in ihrem Instagram-Account, sie habe davon geträumt, einen Titel zu machen, bei dem „sich Mädchen aufrichten und ihre innere Stärke spüren“. Ihrer Meinung nach wird den Mädchen schon in der Kindheit keine Selbstliebe eingeimpft, und daher rührt die Unsicherheit, die zu destruktiven Beziehungen, Abhängigkeiten und psychischen Traumata führt.
Shortparis – KoKoKo/Struktury ne wychodjat na ulizy
Das Musikvideo zu diesem Song veröffentlicht die Band Shortparis im September 2020. Die Musiker inszenieren darin Hahnenkämpfe, tanzen auf Ladentheken und hängen in der Schlachterei an Fleischerhaken. Viele dachten, das Video spiele auf die Ereignisse in Belarus an. Doch die Musiker wiesen diese Vermutungen in einem Interview mit der Zeitschrift Meduza zurück.
„Der Text des Liedes und das Skript zum Video entstanden in den ersten Monaten der Quarantäne und beruhen natürlich auf den Besonderheiten unseres Landes. Doch die weltpolitische Realität lieferte in Windeseile Ereignisse, die es fast unmöglich machten, keine Analogien zu ziehen. Wir sind der Meinung, dass die Darstellung aktueller Geschehnisse ein banales, verbotenes Verfahren ist, das in eine Sackgasse führt. Es vereinfacht das Denken und macht die Musik zu einem Diener der Gesellschaft, deshalb können wir nur müde mit den Schultern zucken, nachdem es zum dritten Mal in unseren Videoarbeiten Überschneidungen mit gesellschaftlichen Ereignissen gibt“, so die Künstler von Shortparis.
DDT – 2020
Die Band DDT zieht dagegen eine Bilanz für das Jahr 2020. In ihrem Song 2020 erinnern sich die Musiker an die Pandemie, die Isolation und daran, wie schwierig das vergangene Jahr mit all seinen Verwundungen und Verlusten war. Und obwohl „die Welt sich verändert hat und eine andere geworden ist“, lässt die jüngste Geschichte auf Besserung hoffen. Im Interview mit dem Korrespondenten von Nasche Radio sagte Juri Schewtschuk, es gehe in diesem Lied um Optimismus.
Original: 7×7Übersetzerin: Henriette Reisner erschienen am 15.01.2021
Journalisten in Belarus leben gefährlich. Vor allem seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 sind sie fast täglich staatlichen Repressionen ausgesetzt. Auch Festnahmen gehören zum Alltag.
Wie aber sieht die belarussische Medienlandschaft aus? Wie frei können Medien berichten? Woher beziehen die Menschen ihre Informationen? Und sprechen belarussische Medien immer nur po-russki? Ein Bystro von Ingo Petz in neun Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
1. Wie sieht die belarussische Medienlandschaft generell aus?
Die ist zumindest auf dem Papier recht breit gefächert. Das Fernsehen spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle, wird aber immer mehr von Internetmedien und seit vergangenem Jahr zunehmend von Messenger-Diensten abgelöst. Die Rolle von Radio und gedruckten Medien nimmt – wie in den meisten Ländern – deutlich ab. Die wichtige Unterscheidung für Belarus liegt darin, ob die Medien unabhängig oder staatlich sind. Dabei bedeutet staatlich nicht öffentlich-rechtlich. Das heißt: Gerade die wichtigsten TV-Sender oder -Unternehmen wie ONT, BT oder CTV gehören direkt dem Staat oder Holdings, an denen Ministerien oder andere staatliche Strukturen beteiligt sind. Diese Medien werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Präsidialverwaltung oder das Informationsministerium haben mitunter direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Redaktionen und vor allem auf die politische Berichterstattung, die in erster Linie für Propagandazwecke genutzt wird.
2. Gibt es überhaupt unabhängige Medien?
Was heißt „unabhängig“? Natürlich gibt es privatwirtschaftlich finanzierte Medien – als Fernsehen, Radio, Zeitung oder Zeitschrift, und vor allem im Internet; nicht alle, aber viele davon sind auch inhaltlich unabhängig. Eine echte Unabhängigkeit ist in autoritären Staaten eh nur schwer umzusetzen, wenn bei heiklen Themen Gefängnis oder Geldstrafen drohen. Stichwort: Selbstzensur. Zudem arbeiten sogenannte oppositionelle Medien nicht unbedingt nach journalistischen Standards, sondern betreiben nicht selten eine Art Gegenpropaganda. Dennoch ist die kritische journalistische Berichterstattung in den vergangene Jahren deutlich professioneller geworden. Und das, obwohl die Medien einer restriktiven Registrierungsregelung unterliegen. Damit Medien arbeiten können, müssen sie sich nämlich beim Informationsministerium anmelden. Diese Registrierungspflicht ist ein mächtiger Kontrollmechanismus für die autoritäre Staatsführung. Unter den sogenannten (finanziell) unabhängigen Medien befinden sich aber vor allem TV-Unterhaltungsprogramme, kommerzielle Radiosender, Tierzeitschriften, Tourismusportale oder sonstige unverfängliche Formate.
3. Aus welchen Medien holen sich die Belarussen ihre Informationen?
Vor allem aus dem Fernsehen und aus dem Internet. Die ältere Generation guckt laut Umfragen immer noch sehr viel Fernsehen. Dabei sind die populärsten Informationskanäle ONT, RTR Belarus, Belarus 1, NTV Belarus, Belarus 2 oder CTV staatlich und somit Teil der offiziellen Propaganda. 60 bis 74 Prozent der Belarussen informieren sich Umfragen zufolge auch im Netz. Online haben die unabhängigen Medien eine wesentlich stärkere Präsenz als offline. Unter den Top Ten der wichtigsten Online-Informationsportale finden sich mit tut.by, Naviny, Belsat, CityDog und The Village Belarus vor allem kritische, journalistische Formate, zu deren Nutzern hauptsächlich jüngere und mittelalte Menschen gehören. Je jünger die Menschen also sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen, und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen.
4. Welche Bedeutung haben die russischen Staatsmedien in Belarus?
Zentrale Programme des russischen Staatsfernsehens sind in Belarus Teil des landesweit empfangbaren Fernsehens. Teilweise werden die Inhalte eins zu eins übernommen, teilweise für das belarussische Publikum anders zusammengestellt, wie bei den Sendern NTW und RTR Belarus. Der Sender ONT ist eine Art belarussisch-russisches Joint Venture, das Inhalte der russischen Sender Perwy Kanal oder Wremja nutzt. ONT und RTR Belarus gehören zu den reichweitenstärksten Kanälen des Landes: Damit finden die Sichtweisen des Kreml in Belarus eine weite Verbreitung. Die belarussischen Ableger der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty gehören zudem zu den meistgelesenen Zeitungen. Und Sputnik.by – Teil der gleichnamigen staatlichen russischen Nachrichtenagentur – ist eines der populärsten Internetmedien in Belarus. Hinzu kommt die Kreml-Finanzierung von deutlich prorussischen Portalen im Internet. Russland hat also grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus.
5. Wie frei können unabhängige journalistische Medien arbeiten?
Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen ist, hat er sofort damit begonnen, die unabhängige Presse an die Kandare zu nehmen. Zunächst wurden Zeitungen und Zeitschriften über findige Rechtswege verboten, Journalisten festgenommen und mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt. Die Zensur war indirekt: über fingierte Vorwürfe und Anklagen wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Die Methode wird auch aktuell angewandt: Wie beispielsweise bei der Initiative Press Club Belarus, deren führende Koordinatoren im Dezember 2020 aufgrund angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen wurden. Zudem gibt es mittlerweile sehr viele Gesetze, die nur den Sinn haben, die Arbeit von Journalisten und Medien zu behindern. Während der aktuellen Proteste sind Journalisten direktes Ziel von OMON und Spezialeinheiten: Seit August 2020 gab es fast 400 Festnahmen von Journalisten. Internetseiten werden blockiert und gestört, bei investigativen Beiträgen spricht das Informationsministerium Warnungen gegen Medien aus, was zur Schließung führen kann. Reporter ohne Grenzen führt Belarus auf Platz 153 im aktuellen Index für Pressefreiheit.
6. In welcher Sprache senden und veröffentlichen die Medien in Belarus?
Überwiegend auf Russisch. Es gibt Medien, die beide Sprachen – also Russisch und Belarussisch – nutzen. Wie beispielsweise die unabhängige Zeitung Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), die älteste, noch als klassisches Druckerzeugnis erscheinende sogenannte Oppositionszeitung. Aber auch Internetmedien für ein jüngeres Publikum wie 34Mag, CityDog oder The Village Belarus nutzen dieses sprachliche Zwitterformat. Selbst die älteste belarussische Zeitung Nasha Niva, die allerdings nicht mehr als gedruckte Zeitung erscheint, veröffentlicht ausgewählte Beiträge seit ein paar Jahren auch in einer russischen Übersetzung. Nur der in Prag ansässige Sender Radio Svaboda, der von Geldern der US-Regierung finanziert wird, oder das Internetmedium Novy Chas publizieren auschließlich auf Belarussisch. Die Internetseite des in Warschau ansässigen Senders Belsat, den vor allem der polnische Steuerzahler finanziert, gibt es auf Russisch und auf Belarussisch. Im Fernsehen von Belsat sprechen zumindest Moderatoren nur Belarussisch; im belarussischen Staatsfernsehen wird fast durchgehend Russisch gesprochen, und im staatlichen Radio teilweise auch Belarussisch.
7. Welche Rolle spielen die jungen Nischenmedien im Internet?
Unabhängige Medien wie 34Mag, CityDog oder Kykyhaben in den vergangenen 15 Jahren sowohl zur Diversifizierung und Professionalisierung des belarussischen Journalismus beigetragen als auch zu einer Professionalisierung des Medienmanagements. Das zeigt, dass man mit Nischenmedien auch unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen eine nachhaltige Entwicklung erreichen kann. Allein das Stadtmagazin CityDog hat pro Monat laut eigenen Angaben über 650.000 Nutzer. Hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Informationsaufbereitung darf man diese Medien nicht über-, aber auch nicht unterschätzen: Schließlich liefern sie den Echo- und Reflexionsraum für die Selbstentfaltungs- und Freiheitssehnsucht junger Menschen, die autoritären Systemen grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Zudem zeigen diese Medien einen generellen Trend: Gerade im Internet sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche neue, auch lokale Medien entstanden, wie beispielsweise das Portal Hrodna.Life. Diese jungen Medien setzen auf eine enge regionale Bindung zu ihrem Publikum.
8. Haben die aktuellen Proteste die belarussische Medienlandschaft und die Mediennutzung verändert?
Infolge der Proteste, aber auch infolge der Coronakrise, die der belarussische Staat miserabel managt, lassen sich ein paar Trends ausmachen: Die staatlichen Medien haben Umfragen und Analysen zufolge grundsätzlich einen massiven Vertrauensverlust erlitten. Die Leute machen sich auf die Suche nach alternativen Informationsmöglichkeiten, vor allem im Internet, was den unabhängigen Informationsmedien und journalistischen Kanälen zugute kommt. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien nun gesellschaftspolitische Beiträge liefern. Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischen Niveau. Zudem scheint die in autoritären Systemen bei unabhängigen Journalisten stark verankerte Selbstzensur im Moment kaum noch eine große Rolle zu spielen.
9. Kann man in Bezug auf die Proteste von einer Telegram-Revolution sprechen?
Der Messenger-Dienst Telegram spielt aufgrund seiner Verschlüsselungstechnik sicherlich eine sehr große Rolle bei den Ereignissen in Belarus, vergleichbar zu den sozialen Medien während des Arabischen Frühlings. Journalistische Medien betreiben längst alle ihre eigenen Telegram-Kanäle. Zudem findet man dort Kanäle von Initiativen, Organisationen oder Fachexperten, die der Informationsverbreitung und Meinungsbildung dienen. Vor allem für die visuelle Abbildung der Proteste und der Verbreitung von Videos hat der von Exil-Belarussen aus Polen betriebene Kanal Nexta eine gewaltige Bedeutung. Da ausländische Korrespondenten so gut wie gar nicht vor Ort sind, der Staat belarussischen Korrespondenten ausländischer Medien die Akkreditierung entzogen hat und die Arbeit vor Ort grundsätzlich schwierig ist, fehlen häufig visuelle Eindrücke. Vor allem diese Funktion übernimmt Nexta. Der Kanal hat über 1,7 Millionen Abonnenten. Insgesamt kann man sagen: Ohne Telegram wüssten die Belarussen und auch die Menschen in Westeuropa sicherlich wesentlich weniger über die Vorgänge in Belarus.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
In seinen international ausgezeichneten Serien erkundet Fotograf Alexander Gronsky die Peripherie. Er zeigt die Städte abseits der Zentren und jenseits der Idylle, den Übergang zwischen Beton und Grün in einer Serie wie Pastoral. In der Serie 2018 geht er in die Vororte zweier Städte: Moskaus und Sankt Petersburgs. Und wirft in urbanen Triptycha sehr gegenwärtige Fragen auf.
„Wenn früher jemand in eine fremde Stadt kam, fühlte er sich einsam und verloren: andere Häuser, andere Straßen, ein anderes Leben. Aber heute ist alles anders. Wer in eine ihm unbekannte Stadt kommt, fühlt sich dort wie zuhause. In welchen Unsinn sich doch unsere Vorfahren verstiegen. Sie mühten sich mit jedem architektonischen Projekt wieder [von Neuem] ab. Aber heute bauen sie in jeder Stadt ein typisches Kino Raketa, in dem man einen typischen Spielfilm sehen kann.“
Beginn der sowjetischen Neujahrskomödie Ironie des Schicksals (Ironija sudby, 1975)
Der sowjetische Kultfilm Ironie des Schicksals (Ironija sudby) von Eldar Rjasanow, der am Neujahrsabend spielt und an diesem Abend fest im Fernsehprogramm etabliert ist, zeigt schon im kurzen Zeichentrick-Vorspann die Eroberung des Sowjetimperiums durch die Chruschtschowki, die Plattenbauten. Die Auswechselbarkeit der Platte wurde bald zur Metapher der sowjetischen Gesellschaft. Der vielschichtige Neujahrsklassiker Ironie des Schicksals aber greift die Allgegenwart der Platte humoristisch auf und macht sie zur Grundlage einer schicksalhaften Verwechslung.
In seiner Serie 2018 zeigt Alexander Gronsky in urbanen Triptycha und Diptycha Moskauer und Petersburger Vororte von Heute – ein Ironija sudby der Fotografie. Die Fotografien funktionieren als strenge Kompositionen des immer Gleichen genauso wie als spielerische Suchbilder (finde den Unterschied!).
Wie oft in seinen Arbeiten ist Gronsky in der Peripherie, an den Rändern unterwegs und lässt die Grenzen verschwimmen: Moskau oder Petersburg? Ernst oder Ironie? Monotonie oder Vielfalt, die im Detail liegt? Alltag oder Kunst? Wie viel Sowjetunion ist noch? Und was ist Schönheit? „Gute Fotografie“, sagte Gronsky mal in einem Interview, „ist jene, die Fragen aufwirft.“
Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps.
Am vierten Advent widmet sich Thomas Wiedling, Klubmitglied und Literaturagent, Iwan Bunin und dem Phänomen der Neuübersetzung von Klassikern – gut nachzuerleben bei den diesjährig verschärften Bedingungen unterm Weihnachtsbaum. Ein Lockdown-tauglicher Geschenktipp, zu bestellen beim Verlag, in der Buchhandlung Ihres Vertrauens oder bei Ihrem lokalen Online-Händler.
Die Bunin-Ausgabe, die im Dörlemann-Verlag erscheint, ist etwas Besonderes: Sie präsentiert das Werk chronologisch, beginnt jedoch mit einer Ausnahme. Der schmale Eröffnungsband Ein unbekannter Freund (2003) setzt quasi mitten im Werk Bunins ein, mit einer einzigen Erzählung von 1923 sowie Bunins Eindrücken der Nobelpreisverleihung von 1933. Außerdem ist dieser Band noch nicht von Dorothea Trottenberg übersetzt wie alle folgenden, sondern von Swetlana Geier, die zu einer ganz anderen Generation von Literaturübersetzerinnen zählt. Als wolle diese Bunin-Ausgabe gleich zu Anfang selbst vorführen, dass Klassiker für jede Generation neu übersetzt werden sollten.
Die Stafette wird mit Band 2 (2005) übergeben, Bunins Revolutionstagebuch von 1918/19 Verfluchte Tage. In der editorischen Reihenfolge eine erneute, aber freilich würdige Ausnahme und ein nötiger Paukenschlag, denn diese fast berühmteste Publikation Bunins ist in Trottenbergs Deutsch eine Erstübersetzung. So wie in den Folgebänden viele Erzählungen Bunins zum allerersten Mal auf Deutsch erklingen. Das ist eine weitere Besonderheit dieser Bunin-Ausgabe.
Trottenberg übernimmt den Übersetzungsstab von Geier, doch sie übernimmt nicht Geiers Ton. Sie schlägt einen eigenen an, der aufs Erste gar nicht so geschmeidig zu klingen scheint wie bei Geier. Und hier sind wir bei der nächsten Besonderheit dieser Ausgabe: Sie lässt den Leser nicht nur über diese wunderbaren Übersetzungen staunen, ganz egal, ob von Geier oder Trottenberg. Sondern sie lässt den Leser auch über eigene Lese- und Hörgewohnheit staunen. Wer die russische Literatur liebt, dessen Lesegehör hat sich meist an den großen russischen Klassikern gebildet. Im Russischen werden Erzählungen „kleine Prosa“ genannt im Gegensatz zur „großen Prosa“ des Romans. Und nun kommt mit hundert Jahren Verspätung diese großartige Bunin-Ausgabe daher mit ihrer „kleinen“ Prosa und flüstert ins Ohr: „Vergiss, woran du dich bisher geschult hast, vertraue mir. Ich will dich nicht umschulen, doch ich will dir die seltene Gelegenheit geben, nochmal neu an und mit mir zu wachsen.“
Und noch etwas ganz Besonderes an dieser Bunin-Ausgabe: Jeder einzelnen Textübersetzung liegt quasi die russische Urfassung, möglichst nah am Entstehungs- oder Erstveröffentlichungszeitpunkt, zugrunde – und nicht spätere Bearbeitungen durch Bunin. So wie die gesamte Bunin-Ausgabe bei Dörlemann – mit den genannten Ausnahmen – Band für Band Bunins Schaffensjahren und -perioden chronologisch folgt und nicht der Veröffentlichungsreihenfolge durch Bunin selbst. Und das erlaubt eine buchstäblich atemberaubende Lektüre, ähnlich dem Nacheinanderhören nach opus-Zahl und Nummerierung von allen Streichquartetten eines Komponisten (um im Vergleich mit einer „kleinen“ Form zu bleiben). Bei Schriftstellern sind opus-Zahlen unüblich, doch bei der Dörlemann-Ausgabe helfen die Jahreszahlen außen auf den Bänden. Wer zum ersten Mal zu Bunin greift, darf aber – ausnahmsweise – gern mit dem neu erschienenen zehnten Band Leichter Atem. Erzählungen 1919 beginnen. Darin fällt der Übersetzerin das Atmen ganz besonders leicht. Und dem Leser das Versprechen, danach gleich von ganz vorne anzufangen mit dem ganzen Bunin.
Thomas Wiedling vertritt als Literaturagent eine Vielzahl russischer Autoren außerhalb Russlands, darunter auch – seit einer komplizierten Klärung von Bunins Rechtsnachfolge vor einigen Jahren – das Werk von Iwan Bunin außerhalb Russlands und Frankreichs.
Auch am vergangenen Sonntag beim Marsch der Freiheit konnte man wieder hören, wie Demonstranten diese Losung schrien: Shywe Belarus!, Es lebe Belarus! Zudem sieht man den Ausruf auch immer wieder auf Wänden, Plakaten oder Fahnen. Es ist nicht so, dass diese Beschwörungsformel erst seit dem Beginn der Proteste im Sommer in Belarus populär geworden ist. Auf Kundgebungen und Demonstrationen der Opposition gehört sie schon lange zum Standardrepertoire, um seinen Protest gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auszudrücken und die Souveränität der Republik Belarus zu betonen.
Aber woher stammt diese Losung eigentlich? Wann hat sie sich entwickelt? Und in welchen unterschiedlichen Kontexten wurde sie seitdem verwendet? Auf diese Fragen gibt der Historiker Denis Martinowitsch für das belarussische Medienportal tut.by eine Antwort.
Der Historiker Alexej Kawka sieht den Ursprung dieses Ausspruchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als manche Teilnehmer am Aufstand von Kastus Kalinouski die Parole benutzten: „Wen liebst du? – Ich liebe Belarus. – Ganz meinerseits.“ Doch die genaue Wortkombination trat erstmals am Ende eines Gedichts von Janka Kupala auf: „Ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!“, entstanden in den Jahren 1905 bis 1907, als damals im Russischen Reich gerade eine Revolution im Gange war.
Wer liebt nicht dieses Feld, den Wald, den grünen Garten, die schnatternde Gans! Der Wirbelsturm, der hier manchmal klagt – ist ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!
Aber nicht nur Janka Kupala, auch andere Dichter, die in der Zeitung Nasha Niva publizierten, verwendeten aktiv diesen Spruch. Kein Wunder, dass im Editorial einer Ausgabe von 1911 stand:
„Die belarussische Nationalbewegung wächst, die armseligen, in Vergessenheit geratenen belarussischen Dörfer erwachen zu einem neuen, eigenständigen Leben; unsere Städte und Ortschaften erwachen und werden ihrer nationalen Namen gewahr. Es erwacht die riesige, kriwitschische Weite mit unseren Äckern, Wiesen und Wäldern, und in den Liedern unserer Volkssänger erschallt, dass Belarus lebt!“.
Wie wurde diese Losung vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet?
Sehr aktiv. Aber bevor wir diese Frage beantworten, machen wir einen kleinen Exkurs. 1917 fand in Minsk der Erste Allbelarussische Kongress statt. Die belarussischen Staatsbeamten betonten immer wieder dessen große Bedeutung. „Diese Volksversammlung hat die zentralen Werte erkennen lassen, die für uns bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben: ein eigener Staat, dessen sozialer Charakter und das Faktum, dass nur das Volk, sein Wille, seine kollektive Vernunft und seine politische Führung ein echter Quell der Unabhängigkeit sein können“, erklärte Alexander Lukaschenko 2017.
„Erstmals seit vielen Jahrhunderten zeigte das belarussische Volk seinen Willen zur Selbstbestimmung, und erstmals wurde die Idee einer belarussischen Staatlichkeit geäußert. Aus dieser Idee, der Idee des Allbelarussischen Kongresses, geht die Praxis der Allbelarussischen Versammlungen hervor“, sagte Igor Marsaljuk ebenfalls 2017 in einer Sendung des Staatsfernsehens ONT. Auf eben diesem Kongress erklang die Losung „Es lebe das freie Belarus!“. Bis zum Krieg behielt die Losung in der Belarussischen SSR ihre Bedeutung bei. Nur dann in der Variante „Es lebe das sowjetische Belarus!“. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Losung noch verwendet, wie auf dem Plakat zu sehen ist.
Wie wurde die Losung während des Krieges verwendet?
Der Verweis auf die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation ist ein Lieblingsmotiv der belarussischen Propagandisten. Leider lässt auch der habilitierte Geschichtswissenschaftler Igor Marsaljuk es nicht aus.
„Man kann sich natürlich auf Verse von Kupala oder Pimen Pantschenko beziehen, in denen diese Wendung vorkommt. Aber wenn wir nicht von der Wortverbindung sprechen, sondern von der Grußform, dann sehen wir in den Statuten des Weißruthenischen Jugendwerks, dass man als Rangniederer auf den Ranghöheren zuging, ihn begrüßte mit: Es lebe Belarus und dabei die Hand zum Hitlergruß hob. Die Antwort darauf war kurz und bündig: Es lebe. Dieser Gruß wurde, genauso wie Sieg heil!, während der deutsch-faschistischen Besetzung der BSSR kanonisch und in weiterer Folge zu einer konstanten, alltäglichen Formel der belarussischen Emigration in Kanada und den Vereinigten Staaten“, sagte Marsaljuk auf CTV.
Während des Krieges gab es im besetzten Belarus tatsächlich eine solche Organisation mit dem Namen Weißruthenisches Jugendwerk. Sie wurde 1943 gegründet, ein Jahr vor der Befreiung. Und ja, ihre Mitglieder grüßten wirklich mit Hitlergruß. Doch auf ihrem Höhepunkt hatte die Organisation gerade mal 12.600 Mitglieder, von denen noch dazu später ein Teil zu den Partisanen überlief. Doch gleichzeitig wurde diese Losung auch auf der anderen Seite der Barrikaden verwendet. „Verfechter der BSSR und später auch Partisanen und Untergrundkämpfer im Zweiten Weltkrieg riefen: ‚Es lebe das sowjetische Belarus!‘“, schrieb 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja. Während des Krieges entstand ein Marschlied der belarussischen Partisanen. Ein kurzes Fragment daraus zitierte E. Tumas vom Lehrstuhl für Chor und Gesang der Belarussischen Universität für Kunst und Kultur. Wir bringen einen längeren Ausschnitt:
Niemals wird erliegen den heftigen Bränden unser großes und ruhmreiches Land. Auf in den Kampf für die Heimat, Genosse, schließ dich den Partisanen an. Am preußischen Henker für Dorf und Haus ruft das Volk zur Rache auf. Zum Angriff bereit sind die Waldsoldaten, Granaten krachen, Gewehre donnern – es lebe Belarus! Es lebe hoch!
Dieser Text ist in der Werksammlung von Pimen Pantschenko zu finden, einem Klassiker der belarussischen Literatur. Es handelt sich um eine Übersetzung des vom russischen Dichter Alexej Surkow verfassten Partisanenmarsches. Der Band, in dem das Gedicht erschien, wurde 1981 in einer Auflage von 17.000 Stück veröffentlicht. Die Losung Es lebe Belarus irritierte niemanden.
Wie der Slogan „Es lebe Belarus“ wieder aktuell wurde
Nach dem Krieg wurde die Losung in der Emigration aktiv verwendet, während sie in der BSSR in den Hintergrund trat. Aktuelle Bedeutung erlangte sie durch die Belarussische Nationale Front (BNF) und die politischen Ereignisse Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Doch nach dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ereilte die Parole Es lebe Belarus dasselbe Schicksal wie die weiß-rot-weiße Fahne: Die staatlichen Medien begannen, sie ausschließlich mit der Opposition im Allgemeinen und der BNF im Besonderen zu assoziieren. Diese Wahrnehmung herrschte lange Zeit vor und beeinflusste die Haltung eines Teils der Gesellschaft zu nationaler Symbolik und zu dieser Losung.
In den 2010er Jahren kehrte der Slogan wieder auf die Tagesordnung zurück. Die Opposition im ursprünglichen Wortsinn war praktisch zur Gänze vernichtet. Die Parteien (auch die BNF) hörten in diesen Jahren auf, das politische Geschehen mitzugestalten. Gleichzeitig traten anderweitig politisch aktive Belarussen bei politischen Aktionen weiterhin mit nationaler Symbolik auf und skandierten Es lebe Belarus! In der Folge wurden sowohl die nationale Fahne als auch die Losung nicht mehr nur der Opposition zugeordnet. Zumal: Ab dem Jahr 1990 erschien sie regelmäßig als Slogan auf der Titelseite der Narodnaja Gaseta, einer Publikation des Parlaments. Der oben erwähnte Igor Marsaljuk ist übrigens Abgeordneter des Repräsentantenhauses. Seit den 1990er Jahren ist einiges an Zeit vergangen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die bereits im unabhängigen Belarus zur Schule ging, Geschichte und Literatur des eigenen Landes gelernt hat und in der Lage war, selbst ihre Schlüsse zu ziehen. „Für Belarus!, Es lebe Belarus! oder Blühe, Belarus! – im Grunde ist das alles dasselbe mit anderen Worten. Ist es denn so außergewöhnlich oder gar – das fehlte gerade noch – das exklusive Recht bestimmter Parteien, seinem Land Wohlergehen zu wünschen, zu betonen, dass es lebt (und nicht im Sterben liegt und nicht untergeht – Gott bewahre!)? Soll das heißen, ein normaler Mensch, der mit Politik nichts am Hut hat, darf nicht einmal ein paar schöne Worte über sein eigenes Land verlieren?“, stellte 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja die rhetorische Frage. „Heimatliebe, Nationalbewusstsein oder, wenn man so will, ‚Bewusstheit‘ sind heute der Normalzustand jedes Belarussen.“
Beim Marsch der Nachbarn, der am vergangenen Sonntag in zahlreichen belarussischen Städten stattfand, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 420 Personen inhaftiert. Diesmal fanden Protestzüge und andere Aktionen in vielen unterschiedlichen städtischen Bezirken statt – eine neue Taktik, die verhindern soll, dass die Sicherheitskräfte gegen eine zentral organisierte Demonstration vorgehen können.
Belarus kommt weiterhin nicht zur Ruhe. Der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko weigert sich sich seit August, mit der Bürgerbewegung und mit dem Koordinationsrat der Opposition Gespräche aufzunehmen. Auch die Äußerungen Lukaschenkos vom vergangenen Freitag konnten die Lage nicht beruhigen. Der 66-Jährige hatte gesagt, dass er unter einer neuen Verfassung nicht mehr als Präsident zur Verfügung stehen werde. Eine mögliche Verfassungsreform wird seit Wochen diskutiert, von der Opposition allerdings als Täuschungsmanöver kritisiert. Am Vortag war Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu einem Kurzbesuch in Minsk gewesen. Auch er hatte Verfassungsreformen eingefordert.
Solch tiefgreifende gesellschaftspolitische Prozesse äußern sich nicht nur in Musik, Kunst und Kultur, sondern auch in der Sprache. Anja Perowa hat für das belarussische Medienportal tut.by eine Erkundungstour unternommen – zu den neusten sprachlichen Ausformungen der Protestkultur.
Bänder (russ. lenty). Der Protest der Belarussen äußert sich nicht nur in gemeinsamen Spaziergängen. Es kommen dabei auch rot-weiße Bändchen aus unterschiedlichen Materialien zum Einsatz. Möglicherweise wäre das Volk nie darauf gekommen, hätte es nicht den stillschweigenden Kampf der Autoritäten gegen die Symbolik der Protestierenden gegeben. Als die weiß-rot-weißen Flaggen von den Balkonen entfernt wurden (übrigens noch vor den Wahlen), haben die Belarussen einen neuen Trick entwickelt – indem sie sie eben aus Bändchen bastelten, die schwerer zu entfernen sind.
Bussik (russ. busik). Dasselbe wie Kleinbus. Konkret bezeichnet dieser Begriff die Fortbewegungsmittel der Silowiki. In der Regel sind es die Modelle Volkswagen Transporter T5, Ford Transit (auch Custom), Mercedes-Benz Sprinter und spezielle Volkswagen Crafter. Die Fahrzeuge sind farblich meist dunkel, gelegentlich auch weiß oder silber. Solche Fahrzeuge wurden natürlich auch früher von Spezialeinheiten verwendet, doch vermutlich nicht in solchen Mengen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Wort entstanden: „Bussophobie“. Sie tritt auf, wenn man einen Bussik sieht und befürchtet, in diesen hineingezerrt zu werden.
Drahtzieher (russ. kuklowody). Da gibt es tschechische, amerikanische, litauische, ukrainische. Kurz – alle möglichen. In gewisser Hinsicht sind Drahtzieher die, die sich den Kosmonauten entgegenstellen. Doch wurden sie nie gesehen. Obwohl Alexander Lukaschenko der festen Überzeugung ist: Sie existieren. Das hat er bereits am 10. August verkündet: „Ein Gespräch zeigte uns, dass Drahtzieher am Werke sind. Eine der Linien von Drahtziehern führt nach Tschechien. Schon heute wird unser vereintes Hauptquartier aus Tschechien verwaltet, wo – verzeihen Sie mir – diese Schafe sitzen, die nichts verstehen, was man von ihnen will […] Sie hören nicht auf zu drücken und zu fordern: Bringt die Leute auf die Straße und führt Verhandlungen mit den Machthabern über eine freiwillige Machtübergabe.“ Die Belarussen zeigten sich nicht ratlos und druckten schnell „Geld von den Drahtziehern“ – das sind Dollarnoten mit den Bildern von Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Alexander Lukaschenko, mit Ratten und Kartoffeln, was sich auf unterschiedliche Ereignisse und Witze bezieht.
Hündchen (russ. sobatschka). In den August fiel die Zeit der Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Die Teilnehmer riefen eine ganze Reihe von Losungen. Vom einfachen „Be-la-rus!“ bis zum Mem „Batka voran, das Volk geht mit dran“. Doch am liebsten schrien die Belarussen „Sa Batku“ (dt. Für Batka), die in Massenchören in die Forderung „So-batsch-ku!” (dt. Ein Hündchen!) mutiert. Selbstverständlich erschien sofort nach dieser Entdeckung ein Video, auf dem vor die Antwort der Demonstranten Fragen montiert wurden wie: „Wen werden wir füttern?“ Das Hündchen natürlich.
Jabating. Ironische Bezeichnungen für Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Geht zurück auf den Slogan „Ja/My Batka“ (dt. Ich/Wir sind Batka). Manche denken, dass russische Polittechnologen und Propagandisten ihn sich ausgedacht haben, da die Belarussen Lukaschenko fast nie so nennen (außer freilich Natalja Eismont). Sehr schnell verkürzten Internet-Scherzkekse die Losung der Demonstranten zu einem donnernden „Ja Batka“. Dann gab es bald darauf die bekannten Jabatki (als Bezeichnung für die Teilnehmer der regierungsfreundlichen Kundgebungen) und Jabating (eine eben solche Kundgebung).
Kette (russ. zep). Wir sprechen von Solidaritätsketten, die häufig aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadtteilen nicht nur von Minsk, sondern in ganz Belarus entstehen. Wer weiß: Vielleicht wurde der gängige Satz „Mehr als drei dürfen sich nicht versammeln“ erdacht, weil man so etwas vorausgeahnt hat? Denn: Zwei Menschen sind noch keine Kette, aber drei – durchaus. Die größte Kette dieser Art war wohl die Menschenkette am 22. August. Sie verlief von der Okrestina bis Kuropaty.
Kosmonauten (russ. kosmonawty). Wer das ist, das seht ihr auf dem Foto. Meistens bezeichnet dieses Wort OMON-Kräfte in Uniform und mit Helm. Die volle Ausrüstung umfasst außerdem Schulterprotektoren, Handschuhe, Ellbogenschützer und ähnliches Gedöns, wie Gamer es nennen würden. Der Grund für ihren Spitznamen ist offensichtlich – ihre Uniform erinnert wirklich an einen Raumanzug.
Oliven (russ. oliwki). So nennt man im Volksmund die OMON-Mitarbeiter in ihrer olivgrünen Kleidung. Die Existenz einer Uniform in solch einem Farbton ist kein Geheimnis, man hat sie früher sogar im Fernsehen gezeigt. Jetzt haben wir hier dargelegt, warum man die OMON-Leute frank und frei „Oliven“ nennen darf und keine Angst haben muss sich zu vertun. Übrigens nennen die Leute die Silowiki in ihren schwarzen Standardklamotten auch Ölbäume und Johannisbeeren – ein komplettes Feinkostgeschäft findet sich hier.
Partisanieren (russ. partisanit). Das Wort hat seine Bedeutung nicht wesentlich verändert, eher erlebt es eine Renaissance. Die, die „partisanieren“, gehen nicht etwa zu Protesten, sondern beteiligen sich an Untergrundaktivitäten. Zum Beispiel drucken sie Wandzeitungen, verteilen Flugblätter, kleben Sticker und helfen Freiwilligen. Oder sie hängen an sehr ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen auf.
Prostituierte und Drogensüchtige (russ. prostitutki i narkomany). Sprich: Protestierende und Demonstranten. So nannten sich irgendwann die Belarussen selbst auf Anregung von Lukaschenko. Die „Drogensüchtigen“ tauchten am 10. August auf, als auch die Geschichte mit den Drahtziehern geschah. Daher kamen dann auch die „Schafe“. Mit den Prostituierten ist es ein bisschen komplizierter. Über sie hatte Lukaschenko schon vor der Wahl gesprochen, am 4. August, hatte aber niemanden wirklich so genannt: „Wir, der Staat – werden den Kampf im Internet nie gewinnen, da das gelbe Schmuddel-Presse ist. Wir können uns nicht auf ein derart vergilbtes Niveau hinunterbegeben und alle, die uns nicht gefallen, – entschuldigen Sie den Ausdruck – Schlampen und Nutten nennen.“ Offensichtlich passten die Prostituierten dermaßen gut zu den Drogensüchtigen und Schafen, dass man entschied, sie doch einzureihen.
Shodino. Wenn jemand in der zweiten Hälfte 2020 gesagt hat, dass er nach Shodino fährt, war das höchstwahrscheinlich nicht einfach eine Vergnügungsfahrt in die Stadt in der Nähe von Minsk. Was hinter den Worten „in die Okrestina kommen“ stand, wussten die Belarussen auch früher, aber in das Gefängnis Nr. 8 in Shodino wurden nicht so viele festgenommene und inhaftierte Minsker gebracht. Doch jetzt ist die Adresse Sowjetskaja 22A wohlbekannt bei denen, die Briefe dorthin schreiben. Und wohlbekannt ist auch, was Maria Kolesnikowa eben dort für die unglaublichen Belarussen durchmacht.
Spazierengehen (russ. guljat). Dank der legendären Nina Baginskaja, die zum Symbol des Prostestes wurde, haben die Belarussen einen neuen Satz gelernt: „Ich gehe grad spazieren.“ Genau das sagte die Rentnerin im August, als Vertreter der Sicherheitskräfte plötzlich Fragen hatten, an sie und ihre Flagge. Heute sagen viele Belarussen, wenn sie auf Protestaktionen sind, nicht, dass sie demonstrieren. Sie gehen grad spazieren. Und die Hauptsache dabei ist, dass allen völlig klar ist, was das heißt. In den Chats der einzelnen Bezirke lautet daher die Frage oft: „Wollen wir heute spazierengehen?“
Teestündchen (russ. tschajepitije). Die Zusammengehörigkeit der Belarussen vor dem Hintergrund der diesjährigen Ereignisse ist in ein neues Gesprächsformat mit den Nachbarn eingeflossen: das Teestündchen. Erst gab es Stadtteil-Chats auf Telegram(noch so eine Erscheinung aus 2020), wo sich Leute miteinander unterhielten. Doch sehr schnell wurde das alles entvirtualisiert und man traf sich: trank Tee, brachte Torten und andere süße Sachen mit, lud Musiker ein und tanzte zu Livemusik. Kurz, es war herzig. Besonders berühmt für seine Teestunden im Hof wurden der Stadtteil Nowaja Borowaja, der Hof beim Platz des Wandels, Grushville und die Feste in der Osmolowka.
23.34. Ist keineswegs eine Uhrzeit, sondern die Nummer des Paragraphen für Ordnungswidrigkeiten. Den Inhalt kennt mittlerweile fast jeder Belarusse, deswegen werden wir hier nichts erklären. Wenn ein Freund erzählt, dass man ihn „nach 23.34“ verurteilt hat, muss man ihn nichts weiter fragen. Er war spazieren, denn: Es gab bisher noch keinen Präzedenzfall, wo ein Jabating mit diesem Paragraphen geahndet wurde