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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Fototagebuch aus Kyjiw

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Von Anfang März bis Ende April 2022 erzählt Mila Teshaieva auf dekoder aus ihrer Heimatstadt im Krieg. Ab dem 24. Juni 2022 ist dieses Fototagebuch in einer Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, zu sehen.

    Russische Version

    Staub steigt auf aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Borodjanka, 13. April 2022 / Foto © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Staub steigt auf aus den Trümmern eines zerbombten Hauses in Borodjanka, 13. April 2022 / Foto © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 24. April 2022

    [bilingbox]Über die letzten Wochen fahre ich jeden Tag in kleine Städte und Dörfer nordwestlich von Kyjiw.
    Vom ersten Tag an, als die russische Armee abzog und die Überlebenden aus ihren Kellern kamen, zitternd, um die enorme Landschaft des Todes um sich herum zu entdecken. Bis zum letzten Tag, an dem alle kaputten russischen Panzer von den Straßen entfernt und die meisten vorläufigen Gräber in den Gärten und Höfen ausgehoben sind. All diese letzten Wochen schweige ich mit meinem Tagebuch. Ich schweige auch mit mir selbst.
    Auch die Feuerwehrleute schweigen, die unter den Ruinen neunstöckiger Häuser in Borodjanka nach Leichen suchen. Auch die Freiwilligen schweigen, die mit Lastern kommen, um die Leichen aufzusammeln, die in schwarzen Plastiksäcken in einer Reihe liegen.
    Das Schweigen kommt, weil es unmöglich ist zu begreifen, was geschehen ist. Zu begreifen, dass es geschieht. Es gibt innen drin keinen Platz für Trauer, nicht einmal für Wut. Es ist, als wäre die riesige Betonmauer, die die Menschen in Borodjanka unter sich begraben hat, auch auf uns niedergestürzt, die wir Zeugen vom Danach sind. 

    In diesen letzten Wochen habe ich mich fast vollständig vom Fotografieren auf Video verlegt. Fotos waren nicht genug. Denn es gibt Menschen, die sprechen müssen. Solche, die in ihrem Haus die Demütigung durch Feinde erlebt haben, durch Feinde, in deren Macht es lag, zu töten oder zu verschonen. Wie gern würde ich all diese Menschen umarmen, wie gern würde ich ihnen ihr Fieber nehmen können. Ein Freund aus Berlin schrieb mir: „Komm weg von dort, um deines Lebens willen.“ Aber ich kann hier nicht weg. Dies ist kein Krieg von jemand anderem, ich kann nicht weg und vergessen – wo immer ich bin, ist er bei mir. Um mich herum offenbart sich meine eigene Geschichte. Und mir ist wichtig, das zu dokumentieren. Vielleicht spreche ich später darüber.~~~These last weeks, I am going every day to small cities and villages’ northwest of Kyiv. 
    Since the first day, when Russian army left and those remained survivors got out of the basements, trembling, to discover this immense landscape of death around them.  To the last day, when all rotten Russian tanks are removed from the streets and most of the temporary graves in gardens and yards are dogged out. All these last weeks I am silent with my diary. I am also silent with myself. 
    So silent are fire-workers, who are searching for bodies under the ruins of 9-store houses in Borodyanka.  So silent are those volunteers who come with track to pick up bodies lying in line in back plastic packs. 
    This silence comes from the impossibility to comprehend what happened. To comprehend that is happening. There is no place inside for grief, there is no even anger. Ist like this massive concrete wall that burried people in Borodyanka crushed down also on us, who witness the aftermath. 
    These last weeks I almost fully switched from photography to video. photography seemed to be not enough. Because there are others, who need to speak. those who went through humiliation of having enemy in their homes, enemy that had power to kill or spare. I wish I can hug all of them, I wish I can take away their fever. A friend from Berlin wrote me “get out of there, for the sake of life”. But I can’t get out. This is not someone else war, I cant leave and forget, wherever I go it stays with me. My own history is unfolding around me. This what is important for me to document now. I might speak about it later.[/bilingbox]


    Butscha, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Butscha, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 4. April 2022

    [bilingbox]An dem Abend nach Butscha erreicht mich eine Nachricht: Ein sehr lieber Freund hat in Mariupol sein Leben verloren. Mantas. Genial, gutaussehend, mutig und enorm großzügig, von Frauen geliebt, von Männer angebetet, fast wie ein Gott. Götter sollen unverwundbar sein, so hat er bis vor wenigen Tagen in Mariupol gedreht.
    An diesem Abend zerbirst mein Panzer in kleine Teile. Am Morgen höre ich, dass Russland die Fotos aus Butscha als Fake bezeichnet. Ich setze die Teile wieder zusammen und sichte meine Fotos von toten Körpern auf den Straßen. Ich bin mit einer komplexen Frage konfrontiert: Ich muss sie zeigen und ich muss dabei auf die Gefühle derer achten, die sie anschauen.~~~In the evening after Bucha I receive news: the very dear friend lost his life in Mariupol. Mantas. genius, handsome, fearless and uniquely generous,  loved by women and adored by men. almost like God. Gods shall be invulnerable that’s why he was filming in Mariupol until last days. 
    That night the panzer (броня) around me crumbles into pieces. In the morning I hear that Russia announced photos from Bucha being fake. I gather my pieces together and go through photographs of dead bodies on the streets. I face complex question here: I must show and tell what I saw and I need to care about feelings of those who see it. [/bilingbox]


    Butscha bei Kyjiw, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Butscha bei Kyjiw, 3. April 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. April 2022

    [bilingbox]Der Tod verfolgt mich derzeit. Ich weigere mich immer noch, ihn hereinzulassen, indem ich mich in eine Art Klumpen verwandle, mit nach außen gerichteten Dornen, die denen ähneln, die jetzt auf allen Straßen und Wegen meines Landes liegen. Doch als ich den letzten Kontrollpunkt vor der Straße von Kyjiw nach Shytomyr überquere, erwartet mich der Tod an jeder Ecke und flüstert mir zu: „Schau her, wende deinen Blick nicht ab.“ 

    Wir fahren auf schmalen Waldwegen nach Butscha und Irpin, fahren langsam, weichen Granatsplittern, Überresten russischer Panzer und Leichenteilen derer aus, die in mein Land kamen, um es zu zerstören. Am Ortseingang von Butscha stehen Reste einer Immobilienwerbung: Ihr Traumhaus im Wald. 

    Die schwarzen leeren Augen dieser Häuser blicken auf die Straßen, wo ein kleiner Bus mit der Aufschrift Cargo 200 fährt und Leichen aufsammelt. Die Männer, die mit Cargo 200 unterwegs sind, arbeiten schwer in den letzten Tagen, aber sie haben immer noch zu viel zu tun. Die von den Russen getöteten Menschen liegen überall, in Wohnungen, Häusern und Kellern, begraben in den Gärten, in verschiedenen Massengräbern in allen Ecken der Stadt. Ich gehe die Straße entlang, halte respektvollen Abstand, betrachte die Posen, in denen der Tod sie erwischt hat, und frage mich, was diejenigen gedacht haben, die beschlossen, ihnen das Leben zu nehmen.

    Die Überlebenden der Stadt kommen aus ihren Verstecken, viele lächeln fröhlich, als ob das neue Leben schon da wäre und alle Schrecken hinter ihnen lägen. Sie nehmen unsere Hände und bedanken sich dafür, dass wir gekommen sind, dass wir hinsehen, dass wir uns kümmern. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fehlen mir die Worte, hier habe ich nichts zu sagen. Die Menschen bekommen kleine Pakete mit Lebensmitteln und verschwinden wieder. 

    Der Tod schaut mir vom Straßenrand aus zu, wo noch vor einer Stunde die Leiche einer Frau mit rot lackierten Fingernägeln lag, die Reste der Immobilienwerbung knarren im Wind.~~~Death follows me these days. I still refuse to let it in, turning myself into some kind of lump, with spikes directed outside, spikes similar to those that lie now on all the roads and streets of my country. But as I cross the last checkpoint before the Kyiv Zhyitomir road, death is waiting me on every corner, whispering “look here, don’t turn your eyes away”. We are driving narrow forest roads leading to Bucha and Irpin, driving slow, avoiding shell fragments, remains of Russian tanks and body parts of those who came to my land to destroy it. At the entrance to Bucha, the piece of real estate advertisements reads “have your dream home in the forest”. Black empty eyes of those homes are looking to the streets, where small bus marked “Cargo 200” is moving along the town, collecting dead bodies from the streets. Several men doing their work with Cargo 200 are working hard those last days, but there are still too much to do for them. People killed by Russians are everywhere, in the flats, houses, and undergrounds, buried in the gardens, in various mass graves in all corners of the town. I walk along the street, keeping respectful distance, looking at the poses in which death caught them, wondering what was a thought of those who decided to take their life.

    Survivors of the town come out of their hideouts, many smile happily, like new life already here and all the horrors are behind. They take our hands, thanking for coming, for seeing, for caring. First time since beginning of the war I lack words, here I have nothing to say. People get small boxes with food and disappear again. Death is watching me from the side of the road, where the body of a woman with a red manicure was laying just an hour ago, and remnants of real estate advertisement creaks in the wind.[/bilingbox]


    Im Stadtviertel Podil, Kyjiw, 31. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Im Stadtviertel Podil, Kyjiw, 31. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 31. März 2022
    [bilingbox]Heute ist gefühlt der erste echte Frühlingstag. Und der erste Tag ohne Luftalarm, zumindest bis jetzt. Vielleicht hat beides zusammen die Straßen Kyjiws plötzlich so lebendig gemacht. Mädchen mit hohen Absätzen, Fahrradfahrer, wo waren die den ganzen letzten Monat? Die Stadt kehrt zur Normalität zurück, wenn das Wort „normal” überhaupt in Frage kommt. Die Stadtverwaltung hat gerade angekündigt, dass es schon ab morgen wieder kulturelle Veranstaltungen geben wird, ab 1. April, auch Kino und Theater. Allerdings mit dem Hinweis, dass sich bei erneutem Luftalarm alle Theaterbesucher umgehend in die Keller begeben sollen. Ich stelle mir vor, wie es ist, mit Hamlet im Bunker zu sitzen und scrolle durch die Ticketangebote.~~~Today feels to be the first real day of spring. And the first day when there were no air raid signals, at least so far. Maybe the combination of these two factors made the streets of Kyiv so alive. Girls on high hills, bicyclists, where they were all this last month? The city comes back to normality, as far as the word “normal” could be considered. The city administration just announced that Cultural Events will start as soon as tomorrow, April 1st, including cinemas and theater. Though with the note that with the renewed air raids all theater visitors should immediately move underground. I imagine sitting in the bomb shelter with Hamlet and start scrolling online tickets sales.[/bilingbox]


    Kyjiw, 27. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Kyjiw, 27. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder


    Kyjiw, 28. März 2022

    Jetzt geht der Krieg schon mehr als einen Monat. Ein Monat sind 30 Tage, und jeder Tag bringt Nachrichten aus dem ganzen Land, die der Verstand ablehnt zu begreifen. Jeden Tag sage ich allen, die ich in Kyjiw treffe, den sinnlosen Satz: „Alles wird gut.“ In diesem Satz gibt es ein Moment der Nichtakzeptanz dessen, was geschieht. Nichtakzeptanz als Überlebensinstinkt. Ich kann die von russischen Soldaten getöteten Kinder nicht in mich hineinlassen, verschließe mein Gehirn und meine Seele, damit ich nicht selber zu einer Brandstätte werde. Jeden Tag denke ich, dass das, was schon passiert ist, das Schlimmste ist, was geschehen konnte, mehr geht nicht. Und dann bricht ein neuer Tag an.

    In den letzten Tagen denke ich viel über das Leben und über Schuldgefühl nach. Ich möchte so sehr, dass die Menschen nach Kyjiw zurückkehren, ich freue mich wie ein Kind, das den Weihnachtsmann trifft, wenn ich in der Stadt ein wiedereröffnetes Café sehe. Doch nach dem Stolz und Glücksgefühl, dass das Leben weitergeht, überrollt mich ein Schuldgefühl. Schuld, in Kyjiw einen Kaffee zu genießen, während in demselben Moment ein Haus am Rande meiner Stadt brennt. Schuld, mit Freunden laut zu lachen, während tausende Menschen in meinem Land schluchzen vor Gram und Entsetzen. Meine Gedanken berühren sich mit den Gedanken vieler, die hier geblieben sind. Ein Monat Krieg ist sehr lang. Ich spüre, dass für mich persönlich der Verzicht auf die Freude des Augenblick, das Akzeptieren der mir selbst auferlegten Kriegsregeln eine Erniedrigung bedeuten, die ich nicht akzeptieren kann. Deswegen gehe ich mit meinem Morgenkaffee hinaus auf den Balkon und sage der Nachbarin, dass alles gut wird.


    Kyjiw, 20. März 2022. Tatjana, eine Freiwillige der Zoo Patrol in Kyjiw, rettet Haustiere aus verschlossenen Wohnungen. In den ersten Kriegstagen sind viele Menschen in Panik abgereist, weil sie dachten, dass sie nur ein paar Tage nicht da sein werden, haben sie ihre Katzen und Hunde in den verschlossenen Wohnungen zurückgelassen. In den letzten Wochen haben sie sich mit der Zoo Patrol in Kyjiw in Verbindung gesetzt und darum gebeten, die Tiere zu retten. © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
     

    Kyjiw, 21. März 2022

    In der vergangenen Woche werde ich in Kyjiw jeden Tag von der Sonne geweckt, die durch die kleinsten Spalten eindringt und mir keine Chance gibt, die Begrüßung des Morgens zu verpassen. Die Vorhänge an den Fenstern in Kyjiw werden nachts fest zugezogen, das ist die Verdunklung in der Stadt, in der mindestens achtmal am Tag Luftalarm heult, der begleitet ist von ohrenbetäubenden Salven der Luftabwehr. Das Geräusch des Luftalarms löst quälende Unruhe aus, eine Angst, die auf halbem Weg zwischen Brustkorb und Magen zu spüren ist.

    Ich verbringe diese Tage in Kyjiw mit sehr unterschiedlichen Menschen, mit Olga, einer Rentnerin, mit Freiwilligen von Zoo Patrol, mit Rischad, einem Friseur, und vielen anderen. Wo auch immer wir sind, beim Klang des Luftalarms fallen wir in Schweigen und schauen einander in die Augen, als würden wir prüfen, ob der Angstklumpen in uns auftaucht, dann atmen wir aus und arbeiten weiter. Über die 26 Tage, die der Krieg nun dauert, ist dieser kurze Moment des Aufkommens und der Überwindung der Angst zur Norm geworden, zur Notwendigkeit, um weiterzuleben, um die zu unterstützen, die es in diesem Moment noch schwerer haben als du. 
    Jeden Tag zur Mittagszeit erklingt aus den Lautsprechern auf dem Maidan ein altes Lied über die Liebe zu Kyjiw. Manchmal mischen sich die Klänge des Liedes mit dem Heulen des Luftalarms. Ich schaue mir die Menschen an, die vorbeigehen, wenn das Lied erklingt, das alle kennen, und in diesem Moment lächeln sie. Und die Sonne durchflutet die Stadt, die unbesiegbar ist.



    Kyjiw, 18. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Kyjiw, 18. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Lwiw, 15. März 2022

    [bilingbox]Ich übernachte in einer Wohnung zusammen mit meinen Freunden aus Kyjiw, die nach Kriegsausbruch nach Lwiw gezogen sind. Dort ist es ihnen schon in den ersten Kriegstagen gelungen medizinische Hilfsleistungen aus Israel zu organisieren, sie kaufen Medikamente und verteilen sie an Kliniken und Privatleute in der ganzen Ukraine. Shenka, Sersho, Ljocha, Julia – wir kennen uns alle schon lange, wir wurden älter, aber die Art unser Unterhaltung ist dieselbe – wir lachen jede Sekunde, über uns selbst, über die anderen, bei unserem Treffen jetzt ist es nicht anders.

    Am Morgen, wir sitzen auf dem Boden ihrer kleinen Küche und trinken gerade Kaffee, bekommt Shenka eine SMS von ihrer Mutter. Auf dem Handy ist ein Foto ihres Hauses in Kyjiw zu sehen, ein neunstöckiges Hochhaus aus der Sowjetzeit, vor nur einer Stunde ist eine russische Rakete eingeschlagen, das Haus steht in Flammen. Shenka guckt auf ihr Handy, ich sehe, wie ihr Gesicht einfriert, sie weigert sich, es zu glauben, sie ruft ihre Mutter an und sagt: „Nein, das ist nicht unser Haus.“ Ich höre die Stimme ihrer Mutter, ruhig und leise. „Es ist unser Haus“, sagt sie, „wir haben kein Zuhause mehr. Wir haben keine Geschichte mehr.“

    Shenka ist kein Mensch, der schnell aufgibt, sie sagt, macht nichts, kein Problem, wir gewinnen diesen Scheißkrieg und dann bauen wir uns ein neues Haus. Am Abend treibt sie eine Kiste Bier auf – die ihr freundlicherweise jemand gegeben hat, ein ziemlicher Schatz in diesen Tagen, in denen es in der Ukraine verboten ist, Alkohol zu verkaufen. Wir sitzen in ihrer Küche, wir konzentrieren uns nicht auf das, was gerade passiert ist, und wir lachen wieder.~~~I stay overnight in a flat with my friends from Kyiv, who since beginning of the war moved to Lviv and since first days of the war managed to organize stable system of donations from Israel for which they buy and distribute medicine for hospitals and individuals all over Ukraine. Zhenka, Serzho, Leha, Julia, – we know each other long time, we became older, but the style of our conversation remains the same – we laugh every second, at ourself, at others, and our current meeting is not different.
    In the morning we drink coffee sitting on the floor in their tiny kitchen as Zheka gets a message from her mom. On her phone is a photograph of their house in Kyiv, nine stores soviet house, Russian rocket hit it just an hour ago, the house is burning. Zheka looks at her phone, I see how her face gets frozen, she refuses to believe, she calls her mother saying “no, no, it’s not our house”. I hear her mother voice calm and quiet. „That’s it“, mother says, „we don’t have home anymore. We don’t have history anymore“.
    Zheka is not a person to fall in despair. she says -that’s nothing, no problem, we win this fck war and then we build us new house. In the evening she gets box of beer  – kindly given to her by someone, quite a treasury these days as no alcohol is allowed for sale in ukraine. We sit in their kitchen, we don’t focus on what just happened, and we laugh again.[/bilingbox]


     



    Lwiw, 14. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Lwiw, 14. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Lwiw, 14. März 2022
    [bilingbox]

    Ich habe Lwiw nie so überfüllt gesehen wie in diesen Tagen. Die Stadt wurde plötzlich zu einer neuen Hauptstadt des Tuns, ein weltweites Hub, wo alles und jeder ankommt und abfährt. Es beginnt schon an der Grenze, die ausländische Freiwillige zu Fuß in Richtung Ukraine passieren, während gegenüber Scharen von Frauen und Kinder darauf warten, auf die andere Seite zu gelangen. Überfüllte Züge mit Flüchtlingen aus dem Osten kommen an und fahren voll mit Soldaten und humanitärer Hilfe aus dem Westen wieder ab. Universitätsprofessoren sind damit beschäftigt, in einem Theater der Stadt Berge von Kinderkleidung und Spielzeug zu sortieren, während in einem schicken Restaurant tausende Brote für Soldaten geschmiert werden.

    Ich kam nach Lwiw, um mich nach einer ziemlich anstrengenden Zeit in Kyjiw etwas auszuruhen, aber hier ist keine Ruhe zu sehen; jeder, den ich treffe, ist damit beschäftigt entweder die Evakuierung von Leuten aus dem Osten oder die Lieferung von Rettungswesten in den Osten zu organisieren, alles in einem Rhythmus und Grad an Konzentration, wie sie vorher keiner dieser Menschen kannte. Es ist überwältigend und berührend gleichzeitig, ich fühle mich wie inmitten eines Ameisenhaufens, wo jeder seine Funktion kennt, alle zusammen für eine gemeinsame Aufgabe – das Ende des Krieges.~~~I’ve never seen Lviv as overcrowded as it is these days. It suddenly became some kind of new capital of action, worldwide hub where everything and everyone is arriving and departing. It starts already at the border, where foreign volunteers are walking into Ukraine, and just the opposite direction staying crowds of women and children waiting to get to the other side. Trains arrive overloaded with refugees from East and depart loaded by soldiers and humanitarian help from West. University professors are busy, sorting mountains of children cloth and toys in in a town theatre, while thousands of sandwiches for soldiers being prepared in a fancy restaurant.

    I went to Lviv, to get some rest after quite intensive time in Kyiv but here is no rest visible; everyone I meet is busy, organizing evacuation of people from East or supply of life vests to East, in a rhythm and in a state of concentration not known to these people before. It’s overwhelming and touching at the same time, and I feel being inside anthill, where everyone knows its function, all together for one common task – the end of the war.[/bilingbox]


     



    Rajon Wassylkiw, 9. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Rajon Wassylkiw, 9. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 10. März 2022

    [bilingbox]Vor einigen Jahren hatten meine Freunde eine für die Ukraine untypische Geschäftsidee: Sie verwandelten ein völlig unbekanntes Dorf bei Kyjiw in ein Lavendelparadies. Sie begannen mit einem kleinen Hang neben dem Haus, jedes Jahr wurde die Fläche größer, sie lernten aus den Fehlern, freuten sich über Erfolge und schließlich – im vergangenen Jahr – hatten sie ihren ehrgeizigen Traum verwirklicht: Ein Lavendelpark, mit einer Brücke, einem Park, hingegossen in lilafarbenen Wellen über die Wassylkiwer Hügel. Dieses Jahr versprach wahrlich erfolgreich zu werden und sie für die Jahre der Arbeit zu belohnen.

    Wir kommen in ihr von Lavendelduft erfülltes Haus, in dem sie bleiben wie in einer Burg. Nach einer Explosion im Öllager im benachbarten Wassylkiw brachten sie ihre Kinder nach Rumänien und sind dann zurückgekehrt, nach Hause. Sergej patroulliert mit den Nachbarn jede Nacht durchs Dorf. Er hat keine Waffe, nur ein qualitativ hochwertiges Messer, mit dem er bislang noch nicht so recht umgehen kann und sich an den Händen verletzt. Julia hilft auf einer benachbarten Plantage beim Kleinschneiden von Pilzen, die dann in die Stadt gebracht werden, wo man auf Essen wartet. Sweta koordiniert die Evakuierung von Menschen aus Kyjiw. An den Abenden schalten sie das Licht aus, um keine Aufklärungstrupps anzulocken, und scrollen dann bei Kerzenschein durch die Berichte von der Front. Ab und zu fliegt etwas über das Haus hinweg und es gibt ein verzögertes Geräusch. Nach 14 Tagen Krieg haben meine Lavendelfreunde gelernt zu unterscheiden, was diese Geräusche mit sich bringen. Ich möchte gern bei ihnen bleiben, in diesem Haus, wo der Kaffee sehr lecker ist, wo es warm ist und nach Lavendel riecht.~~~Несколько лет назад мои друзья начали необычный для Украины бизнес: они превратили никому не известную деревню возле Киева в лавандовый рай. Начав с небольшого склона возле дома, они каждый год расширялись, учились на ошибках, радовались успехам, и в прошлом году, наконец, реализовали свою амбициозную мечту – открыли Лавандовый Парк, фиолетовыми волнами раскинувшийся на гектарах Васильковских холмов. Этот год обещал быть по-настоящему успешным и должен был вознаградить их за годы работы. 
    Мы приехали в ним, в их дом, пахнущий лавандой, ставший для них крепостью. После взрыва нефтебазы в соседнем Василькове они вывезли детей в Румынию и вернулись обратно. Сергей вместе с соседями каждую ночь патрулирует деревню. У него нет оружия, только очень хороший нож, которым он пока что не умеет пользоваться и то и дело ранит об него руки. Юля занимается нарезкой шампиньонов на дружественной соседской плантации; шампиньоны они отправляют в Киев, туда, где не хватает еды. Света координирует эвакуацию людей из Киева. Вечерами они выключают свет,  чтобы не привлекать диверсантов, и при свете свечей читают сводки с фронта. Время от времени над домом что-то пролетает и с запозданием доносится звук. За 14 дней войны мои лавандовые друзья научились различать, что несут в себе эти звуки. Мне очень хочется остаться с ними в этом доме, где очень вкусный кофе, тепло и пахнет лавандой.[/bilingbox]


     


     

    Zerstörtes Wohnhaus in Wassylkiw, südlich von Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Zerstörtes Wohnhaus in Wassylkiw, südlich von Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 9. März 
    [bilingbox]Seit meinen ersten Tagen in der Ukraine habe ich meine Gefühle für mich behalten und versucht, positiv in die Zukunft zu schauen, durch Tränen hindurch gelächelt, versucht, die zu trösten, die es brauchten. Ich habe mich an den Lärm der Luftangriffe gewöhnt und an den Lärm von Explosionen. Irgendwie habe ich den Krieg von mir weggehalten, doch nun dringt er langsam ein in Körper und Seele. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich mitten in einem Kreuzfeuer stand – der erste Kriegstraum seit meiner Ankunft. In meinem Traum fühlte es sich an, als hätte ich mich an den Krieg gewöhnt.~~~Since my first days in Ukraine I’ve kept my emotions inside, trying to be positive about future, smiling through the tears, trying to comfort those who needed it. I’ve got used to the sound of air attacks and to the sounds of explosions. Somehow I have been rejecting this war but now it slowly penetrates body and soul. Last night I had a dream about staying in-a cross fire, the first dream of war since my arrival here. And in my dream the war felt like something I got used to live with.[/bilingbox]



    Der Hof am Schutzraum, in dem seit 12 Tagen 310 Menschen leben. Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Der Hof am Schutzraum, in dem seit 12 Tagen 310 Menschen leben. Kyjiw, 8. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

     

    Kyjiw, 8. März

    [bilingbox]Es ist der 8. März. Ich spreche mit Menschen in einem Schutzraum. Ein Mann hat irgendwo Blumen gefunden. In rund einer Stunde wollen sie allen Frauen in dem Schutzraum Blumen schenken.~~~It’s 8 March. I am speaking with people in the shelter. A man found somewhere flowers. And in about an hour they want to present flowers to all the women in the shelter.[/bilingbox]


     


    Irpin © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 7. März 2022

    [bilingbox]Am Tag nach unserem Besuch in Irpin warteten schon Tausende Menschen unter der Brücke, um über den Fluss zu gelangen. Die Kämpfe sind in die Stadt vorgedrungen, der Kommandeur Sascha geht nicht mehr ans Telefon. Doch die Stadt ist noch nicht eingenommen.

    Gestern erzählte uns ein Kyjiwer Abgeordneter, sie würden versuchen, über einen humanitären Korridor für Zivilisten in Irpin zu verhandeln. Ein Abkommen wurde geschlossen, ein paar Stunden später wurde eine Gruppe von rennenden Menschen von einer Mörsergranate getroffen, acht Menschen starben.

    Bei Dämmerung hielten wir uns einige Kilometer entfernt von Irpin auf, als der Kommandeur der Gebietsverteidigung mit diesen Nachrichten aus der Stadt kommt. Er kann seine Tränen auch vor der Kamera nicht zurückhalten, als er uns von dem Horror erzählt, den er dort grad miterlebt hat.

    Heute, am 7. März sind wir wieder am Eingang zur Stadt. Die Schüsse sind so nah, dass ich nicht in die Nähe der Brücke gelangen kann. Einer nach dem anderen fahren die Krankenwagen von der Brücke von Irpin zum Stadtrand von Kyjiw, die letzten Bewohner sind evakuiert.

    Doch die Stadt Irpin ist noch nicht eingenommen.~~~

    Next day after our visit to Irpin, there were already thousands of people waiting under the bridge to cross the river. Fighting moved inside the town and commander Sascha was not picking up phone anymore. Still the town of Irpin hasn’t been taken. 

    On 6.03.22 a deputy of Kyiv told us they are trying to negotiate a humanitarian corridor in the city for civilians. Agreement has been made and some hours later, group of running people were hit by the flying mine inside the town, leaving eight people dead. In the dusk we were staying some kilometers away from Irpin, when the commander of territorial defiance came with these news from the town. He couldn’t keep tears even in front of camera telling of horrors he just witnessed there. 
    On 7.03.22 we approached the entrance of the town again. Gunshots were so close that I couldn’t get any close to the bridge. Ambulances were running once by once from Irpin bridge to edge of Kyiv, last people were evacuated.  
    Still the town of Irpin hasn’t been taken.[/bilingbox]


     


    Irpin, 4. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 4. März 2022

    Eine Brücke über den kleinen Fluss – der kürzeste Weg aus dem Zentrum von Kyjiw in die bewaldete Vorstadt Irpin – wurde von ukrainischem Militär am zweiten Kriegstag gesprengt. Momentan ist das der einzige Weg aus der Vorstadt heraus, in der rund 60.000 Menschen leben. In alle anderen Richtungen steht die russische Armee, erinnert mit minütlichem Beschuss höflich an ihre Anwesenheit.
    Wir möchten nach Irpin, dort erwartet uns Sascha Morkuschin, in Personalunion Bürgermeister und Kommandeur der Gebietsverteidigung. Das Treffen mit ihm in der unter Beschuss stehenden Vorstadt haben Freunde von Freunden organisiert, denn jetzt sind alle Freunde von Freunden auch deine Freunde. Der Weg zu dem Treffen ist nicht einfach. Nachdem du auf dem Weg Dutzende Kontrollposten passiert hast, kommst du zu der zerstörten Brücke, stellst das Auto ab, gehst unter die Brücke, überquerst das Flüsschen auf eilig verlegten Kieferbrettern, kletterst über Betontrümmer und wartest dann auf ein Auto, hinter dem Steuer Männer mit Maschinenpistolen, das dich an einen Ort bringt, von dem du sofort wieder verschwinden möchtest.
    Der Bürgermeister und Kommandant ist ein gutmütiger dicker Mann, der zusammen mit dem Chef des Wohnungsamtes, einem Tischlermeister, und anderen Menschen aus ähnlichen Berufsgruppen schon 10 Tage die Stadt verteidigt.
    Die Explosionen werden häufiger und wir ziehen uns langsam zurück zur Brücke. Aus Riwne sind Busse gekommen, von der dortigen Baptistengemeinde organisiert, um Menschen aus der Stadt zu holen – und viele von denen, die bisher nicht daran gedacht haben, sehen nun ein, dass das womöglich eine der wenigen Chancen zur Flucht ist.
    Der Übergang über den Fluss auf den dünnen Kieferbrettern ist immer stärker frequentiert, die Menschen tragen in Wolltücher gewickelte Hunde und Katzen, ein anderer hat ein super-schickes Fahrrad als einziges Gepäckstück, wieder einer schleppt ein paar riesige Koffer. Wie wenig Zeit bleibt gerade, um zu entscheiden, was man mitnimmt, wie wenig Kraft für diesen Weg, wie viel Angst vor dem Ungewissen. Sie balancieren über die dünnen Bretter so schnell sie können, dann eilen sie los, sehen mich nicht, obwohl ich direkt daneben stehe, und schlussendlich erreicht mich das Grauen, das hier und jetzt geschieht, ein unendlicher Schmerz dringt in mich ein, denn ich verstehe nicht, warum ihnen, warum uns dieses Grauen widerfährt.
    Und dann überkommt mich Zorn. Zorn auf die, die dieses Grauen hierher gebracht haben.


     

    Maidan, Kyjiw, 3. März 2022 / © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. März 2022, am Nachmittag

    [bilingbox]Kyjiw bereitet sich auf den Kampf vor. Es geschah über Nacht, wir sind aufgewacht und nun sind an fast jeder Ecke Barrikaden errichtet. Ich gehe zu einer hin, ungefähr hundert Menschen jeden Alters bewegen sich wie Ameisen, schnell, ruhig, organisiert. Alte Männer füllen gemeinsam mit jungen Hipster-Mädchen Flaschen mit Molotowcocktails. Andere bauen Mauern aus Autoreifen und Sand. Wir reden, wir lachen, ich umarme Menschen, die ich grad erst getroffen habe, wir versprechen uns, uns bald wiederzusehen. Dieser Moment gibt mir ein Gefühl der Ruhe, irgendwie verschwinden all meine Ängste und meine Zweifel darüber, ob ich nicht doch rechtzeitig fliehen sollte.
    Irgendetwas ist so richtig an diesen Menschen, die in der Stadt bleiben, die bereit sind zum Schlimmsten und voll Hoffnung auf das Beste. Ihre Kraft hat nichts Pathetisches, ihr Vertrauen ist überzeugend. Plötzlich fühle ich mich sicher mit ihnen, mit denen, die jetzt in Kyjiw sind, mit denen wir teilen werden, was als nächstes kommt.
    Ich treffe an diesem Tag so viele unterschiedliche Menschen, von zivilen Verteidigern bis hin zu einem Parlamentsabgeordneten, und alle sagen im Grunde dasselbe: Die Russen können Kyjiw zerstören, doch es ist nicht möglich, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören. Keiner von ihnen will sterben, aber keiner von ihnen ist willens zu kapitulieren.
    Es hat etwas Besonderes – diese Art von Freiheit, wenn du sie erstmal geschmeckt hast, wenn du sie erlebt hast, dann gibt es keinen Weg zurück.~~~Kyiv preparing for the fight. It just happened overnight and we woke up with barricades being constructed on practically every corner. I approach one of those, where around 100 people of all ages are moving like ants, fast, quiet, organized. Old men together with young hipster-looking girls are filling bottles with Molotov cocktail. Others build walls filled with car tires and sand. We talk, we laughs, I hug with people I just met, we promise to see us soon again. I feel calm from this moment, somehow all my fears and doubts of timely escape are going away.
    Something is very right with these people, who stay in town, who are ready for the worse but firmly hope for the best. Their strength is totally not pathetic, their confidence is convincing.  I suddenly feel safe with them, those who are now in Kyiv, with whom we might share what comes next.
    I meet with so many different people this day, from young civil defenders to a member of Parlament and all basically say same thing. Russians can destroy Kyiv but its not possible to destroy Ukraine and Ukrainians. Nobody of them wants to die but nobody agrees to surrender.
    There is something special about this essential sense of freedom, once you taste it, once you lived with it, there is no way back[/bilingbox]


     

    Wolodymyr Park, Kyjiw, 2. März 2022 © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder

    Kyjiw, 3. März 2022

    [bilingbox]Ich bin in Kyjiw, meiner Stadt, meiner Heimat, laufe durch die Straßen im Zentrum, wo fast jeder Stein eingeschrieben ist in mein Leben. Es ist kalt draußen und normalerweise würde ich gleich in eines der gemütlichen Lokale gehen, ein paar Freunde anrufen und ein Glas Wein mit ihnen trinken. Doch heute ist hier nichts normal. Ich bin die einzige, die hier über den Chreschatik spaziert, die Hauptstraße von Kyjiw. Die meisten Freunde von mir haben Kyjiw eilig verlassen, als die Stadt auf einmal jeden Tag und jede Nacht von Raketen getroffen wurde. Etwas Undenkbares passiert, etwas, das mein Gehirn sich weigert zu akzeptieren. Der KRIEG ist hier, in meinem Land, in meiner Stadt. 

    Am Tag des Angriffs entschied ich mich, nach Kyjiw zu fahren. Das dringende Bedürfnis hier zu sein hat nichts zu tun mit dem Berichten aus der heißen Zone. Wenn der Krieg in mein Zuhause kommt, möchte ich irgendwie zu Hause sein. Es geht hier nicht um Fotografie, es geht um mich, meinen Ort, meine Geschichte und die Geschichte der ganzen Welt, die derzeit hier stattfindet.
    Ich bin aufgewachsen im Bann der Geschichten meiner Großmutter, die die ganze Zeit während der Nazi-Besatzung von 1941 bis 1944 in Kyjiw war, und meines Großvaters, der Militärmusiker war und bis Königsberg und in die Mandschurei kam. Nie war Krieg für mich real, aber jetzt ist er hier. Meine Nichte und mein Cousin riefen mich am dritten Kriegstag an, als sie in den nördlichen Außenbezirken der Stadt unter Beschuss saßen, sie weinten vor Angst, baten dringlich, ich möge auf die Straßen von Berlin gehen und ihnen helfen, sie beschützen. Es waren Tausende auf den Straßen, rund um die Welt, aber kann das helfen?

    Ich laufe durch die Straßen im Zentrum von Kyjiw, leere tote Straßen einer Stadt im Krieg. Neben dem Gebäude der Stadtverwaltung steht eine alte Frau, allein. Als wir näherkommen, bittet sie uns dringlich, wir mögen helfen, die deutsche Kanzlerin zu erreichen, sie sagt, sie würde wissen, wie man Putin stoppt, die weiß es ganz sicher. Wir gehen weiter.~~~I am in Kyiv, my city, my home, walking the streets in downtown, where almost every stone is inscribed into my essence. It’s cold outside and normally I would soon sneak into one of cozy restaurants around and call some friends to join me for glass of wine. But today nothing is normal here. I am the only person walking on Khreschatik, the main street of Kyiv. Most of my friends have left the city in a rush, as rockets started hitting town every day and night. Something unthinkable is going on, something that my mind refuses to accept. The WAR is here, in my country, in my city.
    I took decision to go to Kyiv in the first day of attack. The urge to be here is not connected with reporting from the hot zone. But when war comes to my home I somehow want to be home. This is not really about photography, this is about me, my place, about my history and the history of whole world that currently happens here.
    I’ve grown up being fascinated by stories of my grandmother, who spent whole Nazi occupation in 1941-44 in Kyiv and my grandfather, who was an army musician and went as far as Königsberg and Manchuria. War never seemed real for me but now its here. My niece and my cousin called my on third day of the war, as they were sitting under shelling in the northern outskirts city, crying from fear, begging me to go to the streets of Berlin to help them, to protect them. There were thousands on the streets all around the world, but would it help?
    I am walking central streets of Kyiv, empty dead streets of town in the war. Next to the town administration an old woman stands, alone. As we approach, she begs us to help to reach german kanzler, she says she knows how to stop Putin, she knows for sure. We walk away.[/bilingbox]


     

    © Ostkreuz
    © Ostkreuz

    Mila Teshaieva ist in Kyjiw geboren und aufgewachsen. Seit 2010 lebt sie auch in Berlin. Seit 2004 arbeitet Mila Teshaieva an Langzeitprojekten auf den Gebieten der ehemaligen UdSSR, insbesondere widmete sie die letzten Jahre dem Kaukasus und der Region um das Kaspische Meer. Erschienen sind ihre Bilder auf den Seiten des Courrier international, British Journal of Photography, Time Magazine, Magazine Lightbox und vielen anderen. Für ihre fotografische Arbeit hat Mila Teshaieva bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.

    Publikationen (Auswahl):
    InselWesen, Kehrer Verlag, 2016
    Promising Waters, Kehrer Verlag, 2013

    Einzelausstellungen (Auswahl):
    MIT Museum Boston (USA 2018)
    Museum Europäischer Kulturen (Berlin 2017)
    Haggerty Museum of Art (USA 2015)
    Blue Sky Gallery (USA 2015) 
    Museum an der Westküste (Föhr 2014) 


    Foto: © Mila Teshaieva/Ostkreuz für dekoder
    Text: Mila Teshaieva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf

  • Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

    Polyphone Zeugen von Ende und Anfang

     „Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.“ Die Lyrikerin und Übersetzerin Hanna Komar wurde 1989 in Baranawitschy geboren und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen ihrer Generation in Belarus. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, mit welchen sprachlichen Mitteln das Geschehen in ihrer Heimat seit Beginn der Proteste im Sommer 2020 beschrieben und adäquat eingefangen werden kann: durch Poesie oder Prosa? Ist es überhaupt möglich, den Schrecken, den Horror, das Unvorstellbare so zu vermitteln, dass der Grundstein für eine Zukunft gelegt werden kann? Eine zutiefst existenzielle und aktuelle Frage, die auch aus dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie ein Mahnmal herausragt.

    Belarussisches Original
    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung” © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” © Tosla

    Belarus 2020/2021 – als Dokumentarpoesie: Diese literarische Form ist vor langer Zeit entstanden und lebte ihr heimliches Leben, beachtet vor allem von Redakteuren bei Literaturzeitschriften und in Akademikerkreisen bekannt, vornehmlich im Westen; lange war sie eine Randerscheinung und nicht anerkannt, umrankt von endlosen Diskussionen über ihre Herkunft und Verortung. Die amerikanische Dokumentarpoesie wurde beispielsweise in den 1920er-/1930er Jahren politisch, engagierte sich sozial, entwickelte sich vom reinen Lyrismus zu hybriden Formen und wandte sich der Geschichte, Folklore und Reportage zu.1 In Belarus geschah das 2020.

    Um ein neues Dokumentargedicht zu schaffen, müssen Ursprungstext und Ursprungstexte zunächst zerstört werden. Die Syntaktische Kompatibilität muss hinzugewonnen werden, der Sinn auf einer anderen Ebene konkretisiert.

    „Die teilzerstörte poetische Sprache bleibt ein System, sie hält die Verbindungen zusammen, die Objekte und Konzepte, Signifikanten und Signifikante aneinanderbinden, und vereint figurative Systeme verschiedener Spektren, um eine künstlerische Aussage zu schaffen, die dem System der betreffenden Welt angemessen ist.“2

    Ich zerstöre und transformiere, um zu retten.

    Um in die Zukunft von Belarus zu schauen, brauche ich andere Texte Menschen, weil mich schon allein das Wort lähmt – „Zukunft“. Der Ungewissheit und der Angst begegnen, sie durchleben, durch das Sieb der Freiheit seihen, um das ruhige, besonnene, hoffnungsvolle Gefühl der Erdung zurückzuhalten. In diesem Zustand ist es viel leichter zu leben, sich zu verändern und sie zu erschaffen – die Zukunft …


    Montage, Rhythmisierung, Fragmentierung

    „Bald werden wir siegen“, wiederholten wir bei jedem Treffen und planten das Leben für danach. Bücher herausgeben, Stücke inszenieren, tanzen gehen, die Arbeitsstelle wechseln, sich verlieben, ausschlafen … erst werden wir siegen – und dann. Bis zum ersten Marsch, bis Neujahr, bis zum Frühling, bis zum Jahrestag der Proteste …

    Mit diesem „bald werden wir siegen“ haben wir wohl den Moment hinausgezögert, an dem wir eine Entscheidung treffen und endgültig und unwiderruflich Verantwortung übernehmen müssen: Das Land wird uns gehören, und was dann? Dann können wir uns nicht mehr davor verstecken, wie unterschiedlich wir alle sind, wie stark unsere Beziehungen von einer Kultur des Zwangs und der Gewalt durchsetzt und vergiftet sind. Was, wenn wir uns in Friedenszeiten nicht einig sind und unsere Solidarität zur süßen Erinnerung wird, fast zu einem Traum?

    Seite an Seite marschierten Gläubige und Ungläubige, Menschen aus der LGBT-Community und Homophobe, Kinderlose und Abtreibungsgegner, Emigranten und Xenophobe, Feministinnen und Sexisten … Wir wollten auf diesem High bleiben, auf dem reinsten, qualitativ hochwertigsten Zeug. Der Siegesruf erschien uns als der Zauberstab, der mit einem Schlag alle Probleme löst. Doch mir scheint, dass die Mehrheit von uns eigentlich zurück zu den „Bouletten“ wollte – was auch immer hinter diesem Euphemismus steht: Das Kümmern um die Familie, Bücher schreiben, ein Geschäft führen oder viele andere Varianten und Kombinationen. Ist das nicht der Grund, warum so viele über diesen Wunsch empört waren? Diesen Wunsch, der da laut von demjenigen geäußert wurde, auf den wir so viele unserer Projektionen gerichtet hatten? 


    Vertikale Zwischenräume

    Das Gedächtnis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen willkürlich festzuhalten und wiederzugeben. Mit anderen Worten also die Fähigkeit, die uns erlaubt, Ereignisse, Gedanken, Gefühle und Konzepte sowie die Verknüpfungen zwischen ihnen zu erinnern. 
    Oktober 2021. London, Innenstadt. Ich stehe vor der Universität und unterhalte mich mit einem Studenten aus Moldawien – über die Veränderungen in seinem Land nach 30 Jahren Kampf, über die erste Präsidentin, auf die man wirklich bauen kann, über Belarus. Ich erzähle sehr emotional – wie auf der Bühne, einem Podium – das ein Gewicht hat, das über einen längeren Zeitraum hinweg Stück für Stück in Richtung Abgrund verschoben wird, früher oder später hinunterfällt. Ich beende gerade den Gedanken und drehe mich in Richtung Fahrbahn, als gegenüber eine Reihe großer, dunkelgrau-grüner Autos halten. Mein Atem stockt. Ich weiß, dass hinter mir eine Tür ist und dass ich dorthin fliehen kann. Mir ist klar, dass das keine Gefangenentransporter sind und dass keine Spezialeinheiten herausstürzen werden. Sie sind nicht wegen mir da, sie wollen niemanden holen. „Atme, Liebes, atme, mach bloß kein Drama.“


    Blackouts

    Das kollektive Gedächtnis formt Identität und Handlungen einer Gemeinschaft und gibt ihr die Möglichkeit, in der Zukunft Fehler zu vermeiden.3

    Wir sind so, wie es uns beigebracht wurde: „unglückliche Wichte, naiv, hilflos; unser Kreuz ist schwer und wir müssen es tragen, bis wir das Ende des Regenbogens finden …“ Eine kurze Zusammenfassung des Lehrplans in belarussischer Literatur, einer zielgerichteten Politik zur Austreibung der Freiheit und der Lebenslust. So sind wir aufgewachsen, so lebten wir im Zustand der erlernten Hilflosigkeit, der Unsicherheit bezüglich unserer Fähigkeiten, unseres Rechts, Fragen zu stellen, Nein zu sagen, andere Lösungen zu suchen, etwas Besseres zu fordern. So funktionierte unser kollektives Gedächtnis. 

    Das, was wir jetzt schreiben, und das, was die neuen Menschen lesen werden, wird unser neues kollektives Gedächtnis ausmachen. In dieser neuen Etappe sind die Protagonist:innen reifer und lassen nicht zu, dass ihre Erfahrungen abgewertet werden. Sie haben die Sache zu Ende geführt und können es sich erlauben, den Ton zu diktieren. Diktiert – ich bin bereit, euch durch mich erzählen zu lassen, wie groß eure Angst war und wie ihr sie überwunden habt. 


    Übertragungen, Worttrennungen, Streichung

    Die Zukunft ist ein Bedürfnis höherer Ordnung, das du nicht befriedigst, solange die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind – zum Beispiel die Vergangenheit. 

    Am 17. September 2020 verließ ich nach 9 Tagen Haft das Gefängnis in Shodsina. Bei der Festnahme hatte ich keine Angst, die Angst kam später – die Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Am 27. September saß ich eine Stunde lang in Minsk am Fenster und beobachtete durch die Bäume hindurch, was am Platz vor der Stele passiert, las die Nachrichten von den Gefangenentransportern und den Festnahmen auf dem Weg zum Protestmarsch und hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Dann zog ich dunkle Sachen an, eine alte Jacke, um die es nicht schade war, und ging hinaus. Wie eine warme Brise wehte er mir ins Gesicht, der Strom der Menschen, die zur Stele liefen: ruhig und ausgeglichen, selbstbewusst. Menschen, die (noch) wussten, warum sie aus dem Haus gegangen waren – um sich die Zukunft zurückzuholen. 

    Eine Zukunft gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist wie dein Elternhaus, in dem noch die Tapeten aus deiner Kindheit an den Wänden kleben, wo dein einäugiger Plüschhase sitzt, wo du in den Schubladen deine alten Tagebücher findest, in denen du deine erste Liebe und den ersten Betrug beschrieben hast, in die du Zeitungsausschnitte mit deinen Lieblingsgedichten geklebt hast, und auch die Blütenblätter der ersten Rose, die du geschenkt bekommen hast. An diesen Ort kannst du kommen, ein Stück frisches Weißbrot in Himbeermarmelade tauchen, Kräuter in der alten Emailletasse aufbrühen und dich in den Schnee vor dem Fenster vertiefen, wie er wirbelt, fliegt und taut … An diesem Ort ist es still und sicher. Dorthin kannst du zurückkehren, wenn du das Gefühl hast zu vergessen, wer du bist.

    Wenn du häufig umziehst, weil du kein eigenes Haus hast, bewahrst du keine Dinge auf: Tagebücher, Fotoalben oder Kleider deiner Mutter, Beweise dafür, dass du dir deine Kindheit und deine Erinnerungen nicht ausgedacht hast. Wenn du in deinem eigenen Haus wohnst, bewahrst du solche Dinge auf, stellst sie gut sichtbar auf, voll Stolz. Wer sich in seinem Heimatland als Hausherrin oder Hausherr fühlt, dem können die Geschichte und die Erinnerung nicht gestohlen werden. Aber ich wache auf mit dem Gedanken an die Liste mit hunderten Mitarbeiter:innen von Kultureinrichtungen, die entlassen werden sollen, und denke mit Schrecken: Wer wird dann im Maxim-Bahdanowitsch-Museum arbeiten? … Was, wenn sie alle Archive vernichten? Alle, wirklich alle … Haben die Museumsangestellten daran gedacht, haben sie alles gescannt … alles, wirklich alles …

    Uns wird ständig die Vergangenheit gestohlen, deshalb können wir sie nicht loslassen. Wir binden uns mit Ketten an sie, wie Umweltschützer:innen – wenn ihr unseren Wald roden wollt, dann nur zusammen mit uns. Es ist nicht möglich, das loszulassen, was man nie zur Genüge hatte – du suchst es in anderen Sprachen, Landschaften, in der Sicherheit und den Möglichkeiten, aber die Vergangenheit wird dir immer einen Schritt voraus sein. 


    Lückenlosigkeit

    Einer der Sonntagsmärsche; Menschen mit Flaggen, Musik, Plakaten und Sprechchören bewegen sich flott die zentrale Straße entlang. Ich beneide sie um die treffenden, witzigen und ironischen Plakate. Ihre Poesie, Pointiertheit, Prägnanz. Jemand stimmt einen Sprechchor an – ich stimme ein. Welch Erleichterung, dass man bei dieser Prüfung aus vorgegebenen Varianten wählen kann, anstatt eigene zu schreiben. Ich fühle mich wie ein kleiner, leuchtender Zombie.

    Wofür bin ich auf die Straße gegangen? Zuerst habe ich nicht darüber nachgedacht, es musste einfach sein. Hingehen und sehen, wie es wirklich sein kann – mein Belarus. Einen Beitrag leisten, um ein ideales Projekt Wirklichkeit werden zu lassen. Seitdem sage ich immer zuerst „Belarus“, bevor ich meinen Namen nenne. Weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und mich selbst?

    Die Zukunft ist dort, wo ich einen eigenen Namen habe. Wo ich das Recht habe, zu sein. Wo die Welt einfach dadurch besser ist, dass ich mir selbst treu bleibe. Wo ich die Möglichkeit habe, das zu tun.

    Ich konnte mir keine Zukunft vorstellen – aber ich ging auf die Straße für die Möglichkeit eine zu haben. 


    Der polyphone Zeuge

    Ich verstumme. Ich habe viel geredet, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe Angst, dass wir es nicht schaffen, das Begonnene zu Ende zu bringen … Das ist es, was ich auszusprechen fürchtete.

    „Die Wahrheit ist immer ein realer Schritt zur Befreiung.“4 Die Wahrheit soll und darf nicht nur mir gehören, und ich bin nicht die Einzige, die etwas zu sagen hat. Die Zukunft ist ein Dokumentargedicht, das wir, die so unterschiedlich sind, gemeinsam geschrieben haben. 

    Ein Land ohne Rudimente 
                                                der menschenverachtenden Sowjetler!
              Männer können händchenhaltend auf dem Prospekt spazieren gehen!
    Alle sprechen Belarussisch!                           Katzen und Hunde werden nicht vernichtet!
               Sozialstaat,                                          Keine Ideologie! 
               Kein paternalistischer Abklatsch!
                                                             Keine Scheuklappen!
    Entscheidungen treffen, die die Mehrheit interessieren!
                                                  Die belarussische Jugend eröffnet für sich die Zivilisation!
    Ohne Massenbesäufnisse und Alkoholismus!
        Das Alphabet kehrt zur lateinischen Schrift zurück und die unierte Kirche steht wieder auf!     
          Hofgemeinschaften!         
                                                        Betriebe – Gemeinschaften der Arbeiter!
               Ökologisches Handeln!
    Die Literatur, die in dieser Zeit entstanden ist, wird zum Symbol und Vorbild in uns
    unbekannten Sprachen für uns unbekannte Menschen !
                                                                                                 Glückliche Omas und Opas!
                                                                           Gesetz!
    Singen, tanzen und umarmen auf allen Straßen und Plätzen!
                                                     Keine Xenophobie in den unabhängigen Medien!
                                                                                        Eine große sonnige Familie!
                                         In Schulen und Universitäten – Vielfalt der Selbstverwaltung!
                             Eine gerechte Gesellschaft!
    Du hast keine Angst vor Blicken, strengst dich nicht an, nicht gesehen oder bemerkt zu werden, an keinem Ort, von niemandem …!             
                                            Soziale und kulturelle Inklusion!
          Wir sind zusammen eine demokratische Familie!
    Die Menschen auf der Straße wundern sich nicht über das freundliche Wort eines Fremden!
                Alle Bereiche werden auf Grundlage der Menschenrechte reformiert und gegründet!

                                 – Man darf es nicht aussprechen, es wird sonst nicht wahr.
                                 – ?
                                 – Das galaktische Imperium.
                                 – ?
                                 – Die Wahrheit, natürlich.

    Die Autorin dankt allen, die ihre Träume und Vorstellungen von Belarus‘ Zukunft mit ihr geteilt haben. 


    1.Nowoje literaturnoje obosrenije: Exponirowanije i issledowanije, ili Tschto proischodit s subektom w nowejschei dokumentalnoi poesii: Mark Nowak i drugije 
    2.Suchowei, Darja (2008): Grafika sowremennoi russkoi poesii, Sankt Petersburg 
    3.Hirst W./Yamashiro JK./Coman A. (2018): Collective Memory from a Psychological Perspective 
    4.Karlas Scherman, „Blukanez“ 

    Weitere Themen

    DIE FREMDEN

    Zukunftsnostalgie

    Minsk-21, Transitzone

    Brief an Papa

  • Debattenschau № 84: Holocaust-Gedenken an russischen Schulen

    Debattenschau № 84: Holocaust-Gedenken an russischen Schulen

    In ganz Russland wird rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar eine „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“ veranstaltet. Der 27. Januar 1945 ist für Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zudem ein symbolisches Datum: Es war die Rote Armee, die an diesem Tag das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit hat. Im Vorfeld dieses Jahrestages war in Russland nun eine Debatte um das Gedenken an den Schulen im Land hochgekocht.  

    1. Was genau wird diskutiert?

      Den Schulen kommt in Russland für die Gedenkwoche an den Holocaust eine gewichtige Rolle zu. Unterstrichen wurde das bisher dadurch, dass es einen vom russischen Bildungsministerium festgelegten Termin im offiziellen Bildungskalender gegeben hat – als Ausgangspunkt für Schulprojekte und Veranstaltungen zum Holocaust. Tatsächlich ist es so, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sich stark nach solchen Vorgaben aus dem Ministerium, also „von oben“, richten. Doch dieser Termin sollte zum aktuellen Schuljahr wegfallen – was unter Vertretern der jüdischen Gemeinde, Historikern und Bürgerrechtlern Empörung ausgelöst hat. Erst einen Tag vor dem weltweiten Gedenktag hat das russische Bildungsministerium seinen Beschluss revidiert und das Datum kurzfristig wieder aufgenommen.
      Gut möglich, dass die Debatte dies mitbefördert hat. Angestoßen wurde sie Ende des Jahres auf der Internationalen Konferenz zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus Die Zukunft schützen in Moskau.

    2. Warum ist das so wichtig?

      Man muss sich vergegenwärtigen, welche Bedeutung der Gedenkwoche in Russland zukommt: Sie wird seit mittlerweile acht Jahren mit zahlreichen Veranstaltungen, Lesungen, Filmvorführungen und Gesprächsrunden begangen und gibt dem Holocaust in der Erinnerungsarbeit einzigartigen Raum. Nicht nur mit Blick auf das weltweite Gedenken, sondern weil die Opfer auch millionenfach in den von Nazis besetzten Gebieten der früheren Sowjetunion systematisch ermordet wurden, also auch auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Gerade Schulen spielen in der landesweiten Gedenkwoche und in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine wichtige Rolle – deshalb hat das Thema so hohe Wellen geschlagen. Auch der Menschenrechtsrat hatte sich eingeschaltet und an Präsident Wladimir Putin appelliert.
      Zu Sowjetzeiten war der Holocaust nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, da die sowjetische Führung Opfer zu „friedlichen Sowjetbürgern“ und „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ nivellierte; den Holocaust also aussparte.
      Zugleich ist der 27. Januar für Russland im Kontext des Zweiten Weltkriegs aus einem weiteren Grund ein zentrales Datum: An diesem Tag gelang 1944 nach rund 28 Monaten die Befreiung Leningrads aus der Blockade.
      In Russland gab es in den vergangenen zehn Jahren eine weit größere Offenheit für die differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Holocaust. Unterschiedliche Akteure haben das in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gefördert, darunter jüdische Organisationen, Gemeinden sowie das Zentrum Holocaust, das die traditionelle Gedenkwoche mitorganisiert. Als Motor gelten ebenso zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, darunter Hobbyhistoriker oder Geschichtslehrer, die dafür sorgen, die Verbrechen regional aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. 

    3. Und nun?

      Präsident Putin hat auf die Kritik reagiert und gesagt, es sei „offensichtlich“, dass an die Gräueltaten der Nazis an der jüdischen Bevölkerung erinnert werden müsse: „(…) das sollten wir natürlich im Gesamtbild der Verbrechen, die die Nazis in der Welt und in unserem Land begangen haben, nicht vergessen.

      Putin hatte dahingehend keine konkrete Zusage gemacht; kurz vor dem Internationalen Gedenktag ließ das russische Bildungsministerium allerdings mitteilen, dass der Tag wieder in den Bildungskalender aufgenommen wird. 

    dekoder zeichnet die Debatte nach, die es rund um den Wegfall des Termins gegeben hat. Historiker und Vertreter der jüdischen Gemeinde fragen sich: Ist der Wegfall des Datums im Bildungskalender Ausdruck eines großpolitischen Shifts in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik? Oder kann man an einen „technischen Fehler“ glauben, wie vom Bildungsministerium zwischenzeitlich mitgeteilt? Wie steht es damit um das Gedenken an den Holocaust in russischen Schulen? Und welche Folgen kann das für das Wissen zum Holocaust bei den Schülerinnen und Schülern haben?

    Kehren wir nicht zum alten Ideologem zurück?

    Ilja Altman, Historiker und Mit-Gründer des Zentrums Holocaust, ging in einem Gastbeitrag in der Nesawissimaja Gaseta der Frage nach, was das für den Umgang mit dem Holocaust insgesamt heißen könnte:

    [bilingbox]Warum wurde also der 27. Januar aus dem Bildungskalender gestrichen? Als wir im Juni davon erfuhren, wandten wir uns an Bildungsminister Sergej Krawzow. Ein paar Monate lang versicherten die Mitarbeiter dem Zentrum Holocaust, dass es sich um einen technischen Fehler handle. Im September fragten wir wieder beim Bildungsministerium nach – mit der Bitte um eine offizielle Antwort. Die erfolgte im Oktober. In dem Schreiben hieß es, es gebe in unserem Land bereits einen Gedenktag am 22. Juni, und ein neues Datum sei hinzugekommen: der 19. April zum Gedenken des Genozids am sowjetischen Volk. Nach Ansicht des Ministeriums genüge das, um aller Opfer des Nationalsozialismus gebührend zu gedenken. 
    Eine solche Interpretation der nationalsozialistischen Politik in den besetzten sowjetischen Gebieten verdient eine eigene Diskussion. In Russland bildete sich in den vergangenen zwei Jahren eine Tendenz heraus, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – in den Nürnberger Prozessen so qualifiziert – als „Genozid am sowjetischen Volk“ zu bezeichnen. Die Verwendung dieses Begriffs nach dem Prinzip der Staatsbürgerschaft der Opfer anstelle ihrer ethnischen Zugehörigkeit höhlt unserer Meinung nach seinen Gehalt komplett aus.

    Schulbehörden erhielten im Frühling dieses Jahres [gemeint ist 2021 – dek.] didaktische Empfehlungen für einheitliche Stundenentwürfe zum 19. April. Es ist kein Zufall, dass es darin hieß, den Genozid am sowjetischen Volk hätten die Nazis und ihre Gehilfen an der friedlichen Bevölkerung ungeachtet ihrer Nationalität und ethnischen Zugehörigkeit vollzogen. Kehren wir damit nicht zu dem Ideologem zurück, dass nicht Juden, sondern „friedliche sowjetische Staatsbürger“ in Babyn Jar und in den zahllosen anderen Gräben auf den besetzten Gebieten ermordet wurden?~~~Так почему же дату 27 января изъяли из календаря? Узнав об этом в июне, мы обратились к министру просвещения Сергею Кравцову. В течение нескольких месяцев сотрудники Минпроса убеждали центр «Холокост», что это техническая ошибка. В сентябре мы повторно обратились в Министерство просвещения с просьбой дать официальный ответ. Он последовал в октябре. В письме сообщалось, что в нашей стране есть День памяти 22 июня и появилась новая дата – 19 апреля, День памяти геноцида советского народа. По мнению министерства, этого достаточно для того, чтобы почтить память всех жертв нацизма.

    Подобная трактовка нацистской политики на оккупированной территории СССР заслуживает отдельной дискуссии. В России в последние два года активизировалась тенденция называть воинские преступления и преступления против человечности – именно так они были квалифицированы Нюрнбергским трибуналом – «геноцидом советского народа». Трактовка этого термина по принципу гражданства, а не этнической принадлежности жертв, на наш взгляд, полностью выхолащивает его содержание.

    Не случайно в методических рекомендациях, которые получили органы образования весной этого года по проведению единых уроков 19 апреля, говорилось о том, что геноцид советского народа нацисты и их пособники проводили независимо от национальной и этнической принадлежности мирных жителей. Не возвращаемся ли мы к идеологеме, что не евреи, а «мирные советские граждане» были казнены в Бабьем Яру и бесчисленных ярах на всей оккупированной территории?[/bilingbox]

    erschienen am 05.12.2021, Original

    Es findet sich alles in den Geschichtsstunden

    Auf ein formelles Gesuch des Menschenrechtsrates, den Gedenktag als Termin in den Bildungskalender wieder aufzunehmen, äußerte sich das russische Bildungsministerium bei RIA Nowosti noch vor wenigen Wochen ohne eine Zu- oder Absage. Stattdessen wurde auf bestehende Lehrpläne verwiesen:

    [bilingbox]‚Der Große Vaterländische Krieg, die Helden und Verteidiger des Vaterlandes, die von der Nazi-Armee begangenen Verbrechen gegen die Menschheit, der Generalplan Ost, die Nazi-Politik des Genodzids und Holocausts, Raub und Vernichtung von Kulturgütern durch die faschistischen Invasoren – all das durchzieht das Curriculum, wie sich sowohl an den Unterrichtsvorlagen zeigt, als auch an den konkreten Geschichtsstunden, wie sie an den Schulen im ganzen Land stattfinden. Darunter fallen auch Unterrichtseinheiten des allrussischen Curriculums sowie Aktionen und Veranstaltungen‘, heißt es in einer Presseerklärung.

    Mit dem Beschluss des Bildungsministeriums der Russischen Föderation vom 23. Oktober 2020 wurde das Konzept für den Unterricht „Russische Geschichte“ in den allgemeinen Bildungseinrichtungen der Russischen Föderation genehmigt, heißt es weiter in der Erklärung.

    Das Konzept folgt konsequent einem historisch-kulturellen Standard und enthält Ergänzungen, die das Wesen des NS-Besatzungsregimes in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Mechanismen der Nazi-Propaganda, die ethnischen Säuberungen in den besetzten Gebieten der UdSSR, die Tragödie der sowjetischen Kriegsgefangenen, den Massenmord an Kriegsgefangenen, die medizinischen Experimente an Gefangenen in den NS-Konzentrationslagern und Ghettos sowie die Verschleppung sowjetischer Menschen nach Deutschland widerspiegeln, betont der Pressedienst.~~~"Великая Отечественная война, герои и защитники отечества, преступления против человечества, учиненные нацисткой армией, план "Ост", нацистская политика геноцида и холокоста, разграбление и уничтожение культурных ценностей фашистскими захватчиками – все эти вещи проходят сквозь школьную программу, что отражено как примерными программами, так и реальными уроками истории, проводимыми в школах по всей стране, включая серии всероссийских уроков, акций и мероприятий", – отмечается в сообщении пресс-службы.

    Решением Коллегии Минпросвещения РФ от 23 октября 2020 года одобрена Концепция преподавания учебного курса "История России" в образовательных организациях Российской Федерации, реализующих основные общеобразовательные программы, говорится в сообщение.

    В Историко-культурный стандарт, являющийся составной частью Концепции, внесены дополнения, отражающие сущность нацистского оккупационного режима на захваченных территориях СССР, характер нацистской пропаганды, этнические чистки на оккупированной территории СССР, трагедию советских военнопленных, массовое уничтожение военнопленных, медицинские эксперименты над заключенными нацистских концентрационных лагерей и гетто и угон советских людей в Германию, подчеркивает пресс-служба.[/bilingbox]

    erschienen am 01.12.2021, Original

    Auf das Gedenken gespuckt 

    Alla Gerber ist Vorsitzende der Stiftung Holocaust in Russland und seit Jahrzehnten in der Erinnerungsarbeit zum Holocaust aktiv. Auf den Wegfall des Termins reagierte sie empört:

    [bilingbox]Damit wird auf das Gedenken an sechs Millionen Leben gespuckt, die die Nazis ausgelöscht haben, und ebenso auf die Befreier des Konzentrationslagers. Der 27. Januar ist ein international anerkanntes Datum, an dem man der Opfer des Holocaust und der Helden des Widerstands gedenkt, der Tag der Befreiung von Auschwitz. ~~~«Это плевок в память о 6 миллионах жизней, загубленных нацистами, о тех, кто освобождал концлагеря. 27 января – международно-признанная дата, день памяти жертв Холокоста и героев сопротивления, дата освобождения концлагеря Аушвиц.»[/bilingbox]

    erschienen am 03.12.2021, Original

    Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

    Juri Kanner, Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses, meinte, dass Schülerinnen und Schüler dadurch weniger über den Holocaust lernen. Bisher bot der Gedenktag für Schulen, Lehrerinnen und Lehrer den Anlass, am Gedenktag ausgerichtet spezielle Unterrichtseinheiten anzubieten. Kanner äußerte die Befürchtung, dass dies nun – andersrum – sogar eher ausgespart werden könnte:

    [bilingbox]Das Streichen dieses Datums aus dem Bildungskalender entzieht Lehrern die normative Grundlage für ihren Unterricht zur Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust, die in Russland seit 2015 alljährlich begangen wird, dieses Jahr in 75 Regionen. Entsprechende Schulstunden können jetzt jederzeit vom Direktor verboten oder – wenn er erst im Nachhinein davon erfährt – mit Disziplinarmaßnahmen bestraft werden. 

    Und was kommt dabei heraus? Tapetenkleister?

    Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? Das ist kein Scherz, sondern der Titel eines Films, der mit Unterstützung des Russischen Jüdischen Kongresses gedreht wurde. Erstmals wurde er 2013 beim 35. Internationalen Filmfestival in Moskau gezeigt. Der Film hatte eine enorme Wirkung und zog eine lebhafte Debatte nach sich. Worum ging es in dem Film? Die Schwestern Xenia und Jewgenia Karatygin aus der Oblast Wladimir hatten an der Fernsehshow Besumno krassiwyje des Senders Mus-TV teilgenommen und auf die Quizfrage Was ist der Holocaust? geantwortet, das sei ein Tapetenkleister. Die Originalsequenz mit dieser Antwort wurde zum Youtube-Hit. Der Regisseur Mumin Schakirow machte die beiden ausfindig und fuhr mit ihnen nach Auschwitz. Er filmte ihre Reaktionen auf das, was sie dort sahen. Der Film war sehr erfolgreich, sowohl in Russland als auch international. Am 22. Juni 2016 wurde Holocaust – ist das ein Tapetenkleister? auf NTW gezeigt.   

    Ich hoffe, dass es in Russland heute weniger Leute gibt, denen der Holocaust unbekannt ist. Das ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft.~~~Исключение даты из образовательного календаря лишает нормативной базы учителей, проводящих в школах уроки во время «Недели памяти жертв Холокоста», которая с 2015 года проходит в России ежегодно, и в этом году охватила 75 регионов. Любой директор школы теперь может запретить такой урок или — узнав о нем постфактум — наложить на учителя дисциплинарное взыскание.

    И что мы получим? Клей для обоев?

    ‘Холокост — клей для обоев?’ — это не шутка, а название снятого при поддержке РЕК фильма, премьера которого прошла в 2013 году на 35-м Московском международном кинофестивале. Фильм произвел ошеломляющий эффект и вызвал волну обсуждений. Напомню сюжет. Сестры Ксения и Евгения Каратыгины из Владимирской области, участвуя в программе «Безумно красивые» на канале «Муз-ТВ», на вопрос викторины «Что такое Холокост?» ответили, что это клей для обоев. Фрагмент с этим оригинальным ответом попал в топ youtube, а кинорежиссер Мумин Шакиров разыскал сестер и отвез девушек в Освенцим. Снял их реакцию на то, что они увидели, как пережили. Фильм имел большой успех и в России, и за границей. 22 июня 2016 года фильм «Холокост — клей доя обоев» был показан на НТВ.

    Надеюсь, сейчас в России все меньше людей, которые не знакомы с историей Холокоста, и это результат многолетней совместной работы государства и гражданского общества.[/bilingbox]

    erschienen am 08.12.2021, Original

    Das vornehme Schweigen aus dem Ministerium

    Der Historiker Artjom Rudinzki setzte sich damit auseinander, warum der Holocaust zu Sowjetzeiten im Kriegsgedenken keinen Platz fand – und wundert sich über das russische Bildungsministerium heute:

    [bilingbox]… [Der Menschenrechtsrat – dek] empfahl dem Bildungsministerium, diesen Gedenktag wieder in den Bildungskalender aufzunehmen. 
    Die Beamten [dort – dek] hüllten sich bezüglich ihrer Gründe in vornehmes Schweigen. Anstelle einer deutlichen Antwort lehnten sie das Gesuch formell bürokratisch mit einem Schreiben ab. Die Kernaussage: Der Lehrplan enthalte bereits alles, was notwendig sei, und im Bildungskalender befänden sich auch ohne Holocaust genügend Jahrestage. 

    In der Sowjetzeit war alles klar: Der Holocaust wurde aufgrund des staatlichen Antisemitismus, des Bruchs mit Israel und des Kampfs gegen den Zionismus (den man für einen Handlanger des amerikanischen Imperialismus hielt – oder umgekehrt) verschwiegen. Über die massenhafte Vernichtung der Juden sprach man nicht, und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. 
    Die Besatzer haben bestialisch gewütet und das gesamte sowjetische Volk niedergemetzelt. Doch in erster Linie traf es die Juden. Die hatten überhaupt keine Chance. Ghettos und Vernichtungslager wurden speziell für sie errichtet. Das zu erwähnen, passte aber nicht in das starre Schema der sowjetischen „Geschichtspolitik“. Eine unpassende Klammer.

    Gott behüte, dass wir dorthin zurückkehren.

    Der Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ist der 27. Januar 1945, der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Er war Symbol und Meilenstein unserer Befreiungsmission in Europa. Und es gibt keinen Grund, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen.~~~И предложил Минпросвету восстановить в школьных программах этот день памяти. Чиновники о причинах своего решения скромно умолчали. Вместо внятного ответа, если выражаться бюрократическим новоязом, «отписались». Смысл такой: в школьной программе все, что надо, отражено, а в календаре образовательных событий и воспитательной работы хватает дат и без Холокоста.

    В советские времена все было ясно. Холокост замалчивали из-за государственного антисемитизма, разрыва отношений с Израилем, борьбы с сионизмом, который считался подручным американского империализма (или наоборот). О массовом уничтожении евреев не говорили, а если говорили, то сквозь зубы. Оккупанты зверствовали страшно, и осуществляли геноцид всего советского народа. Но евреи были приоритетом. У них вообще не было шанса. Гетто и лагеря уничтожения создавали специально для них. Упоминание об этом не влезало в прокрустово ложе советской «исторической политики». Не та скрепа.
    Не дай бог к этому вернуться.

    Международный день Холокоста – это 27 января 1945 года, день освобождения Освенцима Красной армией. Это знаковое событие, один из символов нашей освободительной миссии в Европе. И нечего вычеркивать его из памяти.[/bilingbox]

    erschienen am 03.12.2021, Original

    Zusammenstellung: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Ruth Altenhofer, Friederike Meltendorf

    Diese Debattenschau wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

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  • Brief an Papa

    Brief an Papa

    Nasta Mancevich, 1983 in der belarussischen Kleinstadt Wilejka geboren, debütierte als Lyrikerin und Autorin im Jahr 2012 mit dem Buch Ptuschki (dt. Vögel), das in Belarus für viel Aufsehen sorgte, weil es unter anderem gleichgeschlechtliche Liebe thematisierte. In diesem Text für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft umkreist sie die schwierige Situation in ihrer Heimat Belarus, die seit den Protesten im Jahr 2020 in einer schweren und lähmenden historischen Krise feststeckt. Dabei verbindet sie persönliche Beobachtungen und Reflexionen mit Erinnerungen an ihren Vater und an schmerzhafte Ereignisse, die man durchstehen muss, um womöglich zu einer lebensbejahenden Zukunft zu gelangen.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla


    Als ich geboren wurde, hast du mir ein Gedicht geschrieben:

    für naszja 

    es ist dezember. schnee fällt dicht,
    der erste schnee, mein kind, 
    auf dein gesicht, 
    dein lachen spielt mit warmem lächeln,
    noch fern dein erstes wort,
    dein erster satz.
    doch jetzt schon wärmt an diesem wintertag
    dein lächeln unsere gesichter.

                                                          12.12.83

    du – der mensch, der mir dieses gedicht geschrieben hat – hebt mich als fünfjährige mit seinen großen händen über seinen kopf und wirft mich mit aller kraft zu boden, weil ich zum rausgehen kein kleid anziehen will

    von deinen schlägen mit dem gürtel oder dem schlauch des staubsaugers bleiben noch lange spuren auf meinem kleinen körper zurück

    du, der in rage alle poster von den wänden meines zimmers reißt – ich weiß den grund nicht mehr – 

    und du, der mich nun(mehr) 38-jährige nach mutters geburtstag zum bahnhof begleitet, leicht betrunken, und meinen rucksack auf den gepäckträger des fahrrads legt, das du neben dir her schiebst

    ich sage: „komm papa, ich trag ihn selbst, er ist nicht schwer“, aber du glaubst mir nicht. dir erscheint er schwer, weil all dein schmerz, deine schuld und deine liebe darin liegen.

    Jetzt weiß ich, Papa, was du wohl fühlen musst.

    Ich weiß, wie es ist, einem nahestehenden Menschen Schmerz zuzufügen. Hätte dir jemand am Anfang, als du dieses Gedicht schriebst, von diesem Schmerz erzählt – um nichts in der Welt hättest du es geglaubt. Ich weiß, wie unerträglich groß der Wunsch ist, die Zeit zurückzudrehen, alles wieder an den rechten Platz zu rücken, sich selbst zu betrügen, zu tun, als sei nie etwas geschehen – nur um diesen Schmerz nicht spüren zu müssen.

    Nachdem du mich auf den Boden geworfen hattest, konnte ich einige Minuten lang nicht atmen – offenbar war ich auf den Solarplexus gefallen, sodass mir der Atem stockte – ich weinte aus allen Gründen auf einmal – Schreck, Schmerz, Kränkung, aber allen voran – aus Angst, nicht mehr atmen zu können. Ich verstand nicht, was vor sich geht, wusste nicht, wann das aufhören würde, wie lange ich aushalten muss, ob meine Zeit dafür reicht, ob meine Kinderlunge groß genug ist, um den Moment noch zu erleben, an dem ich wieder Luft holen kann.

    Auch jetzt schnürt es mir die Luft ab, da ich mich entschließe, endlich darüber zu sprechen, überzieht mich mit eisigem Schauer, als würde ich, wenn ich diese Dinge ausspreche, dich und unsere Familie verraten, und dazu habe ich kein Recht. Und ich weiß nicht, ob meine Luft jetzt ausreichen wird, um weiterzusprechen, aber ich möchte es versuchen, auch wenn es eine zerrissene, verworrene Geschichte wird – ich brauche dich bei mir, um sie durchzustehen, um sie beenden zu können und nicht vor Scham und Angst zu sterben. Ich brauche dich. Bleib stehen. Lauf nicht weg. Bleib stehen und zähle, wie lange ich die Luft anhalten kann. Bleib stehen und zähle, während ich dich erstarrt mit erschrockenen Augen anblicke, während ich allein durch die gepeinigte und unerträglich schöne Herbststadt laufe und laufe, während ich diesen Text schreibe.


    Im Jahr 2000 zog ich nach Minsk, mit 17 Jahren. In eine fremde Stadt, zu der ich keine Geschichten oder Erinnerungen hatte, mit der mich nichts verband. Mein gesamtes Gedächtnis war in Wilejka geblieben, doch jetzt ist auch hier ein Ort für mich gewachsen – ich lebe nun schon 21 Jahre in Minsk, den größeren Teil meines Lebens. Die Fenster meiner Wohnung gehen zur Banja hinaus, aus der im September 1999 Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski traten und seitdem nie wiedergesehen wurden. Ich denke jedes Mal daran, wenn ich aus dem Haus trete, zur Metro oder zum Einkaufen, und an der Banja vorbeilaufe. Ich weiß, wo das passiert ist, weil mein Papa mir diese Geschichte erzählt hat, als ich zum Studium nach Minsk zog – als etwas, das ich wissen sollte. Wir saßen in der Küche und er sagte es genau so: „Du solltest das wissen …“ Vor einem Jahr tauchte an dem Gebäude in der Fabritschnaja Straße 20 in Minsk die Aufschrift auf „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen …“ Heute prangen an dieser Stelle auf einer weißen Mauer zwei sorgfältig gemalte, blass-beige Quadrate. Ich weiß, was sich darunter befindet.

    Jetzt ist ganz Minsk für mich voll solcher Spuren. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die menschenleere Stadt, der Wind verweht die herabgefallenen Blätter, hebt sie mutig und selbstbewusst in die Luft, sie wirbeln vor mir herum, als würden sie mir voll Ergriffenheit alle durcheinander von etwas erzählen wollen – ich fahre über die kleine Brücke über die Swislotsch, die Brücke ist rot-grün angemalt, und ich erinnere mich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch in anderen Farben gestrichen war – doch jetzt fällt es mir sogar leichter, über diese rot-grüne Brücke zu radeln, als wenn gar keine Spuren geblieben wären. Ich weiß, was diese Spuren bedeuten. Für mich symbolisieren sie unseren Schmerz. Es tut mir weh, über diese Brücke zu fahren. Und das ist besser, als gar nichts zu spüren; als so zu tun, als wäre gar nichts geschehen.

    Wir sitzen in der Küche meiner Minsker Wohnung, und während das Wasser im Kessel aufkocht, beschließe ich, dich zu fragen – warum hast du mich geschlagen? Es ist eine rhetorische Frage, wahrscheinlich steht eher das Bedürfnis nach einer Bestätigung dahinter, dass du dich ebenfalls daran erinnern kannst. Deine Antwort berührt mich, und ich glaube sie dir, ob sie ehrlich war – ich weiß es nicht. Dann stelle ich die zweite Frage – wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du mich wieder schlagen? Diese Frage ist auch unsinnig, weil die Zeit zurückzudrehen das einzige ist, was wir in unserem Leben nicht tun können. Doch du beantwortest sie. Du sagst – nein. Wir schweigen. In dieser Pause spüre ich, wie etwas Lebendiges auftaucht, wie Bedeutung anwesend ist, die das Schweigen und die Leere ausfüllen, bis Worte herausfließen … Du sagst – ich wurde auch geschlagen. Du bist mein Papa. Ich bin dein Kind. Doch entgegen jeder Logik und allen Gesetzen der vergehenden Zeit erkenne ich deinen Schmerz jetzt, wenn ich in deine mit Tränen gefüllten Augen schaue.


    Man muss lernen zu warten. Das ist das Schwierigste – zu warten ohne die Hoffnung, dass das Warten sich lohnt, man muss Demut lernen, aber nicht resignieren, – nur dann entsteht die Möglichkeit der Verbindung mit etwas Unbekanntem – dem, was man nie im Detail zu betrachten vermag, was immer einen Augenblick eher wegrutscht, als einzelne Eigenschaften für dich sichtbar werden. Mir fällt es unglaublich schwer, diesen Text zu schreiben, ich schlage mich gleichsam bis aufs Blut durch dorniges, dichtes Gestrüpp; und immer, wenn es scheint, als sei irgendwo vor mir ein Licht in Sicht, und die Geschichte beginnt, eine scheue Gestalt anzunehmen – erschrecke ich wieder und erstarre vor Entsetzen. Mein Atem reicht nicht aus, um diesen versprengten Erinnerungen Struktur zu geben, um alles zusammenzufügen. Und dann bitte ich für mich selbst um Geduld und Vertrauen – den Raum und die Zeit.

    Ich habe zwei Familienerinnerungen, die als Bilder in meinem Kopf zum Leben erwachen – in denen wir zusammen sind, zu viert, wie auf einem Foto.

    Das erste dieser Bilder trägt das Datum Mai 1986; Papa läuft aus einem Wäldchen auf uns zu. Als das Atomkraftwerk von Tschernobyl explodierte, war ich fast drei Jahre alt. Mit Mama und der noch ganz kleinen Shenja waren wir für den Sommer zu Oma und Opa, Mamas Eltern, in das Dorf Radkow in die Oblast Gomel gefahren. Nach drei Tagen kam Papa, um uns zurück nach Wilejka zu holen. Selbst kann ich mich an diese Geschichte nicht erinnern, doch aus Mamas Erzählungen kenne ich sie in allen Einzelheiten – es ist eine jener Familiengeschichten, die ich so oft gehört habe, dass es mir scheint, als hätte ich das alles auch gesehen:

    Wir waren ja für den Sommer da, zur Erholung, wir dachten – es ist Sommer, wir sind im Dorf – Gras, frische Luft. In der Stadt waren wir arm, es gab nicht so viel zu essen, aber im Dorf gab es alles, aus den Gärten, überall … Wir wollten den ganzen Sommer bleiben. Aber dann kam es anders – am 26. fuhren wir hin, und drei Tage später schon wieder zurück. Am ersten Mai waren wir dabei, irgendwas auf dem Hof zu graben oder zu pflanzen, vielleicht machten wir die Beete oder verbrannten Abfall … Da schaue ich, und sehe jemanden aus dem Wäldchen zu uns laufen, sieht aus wie Sascha. Dabei weiß ich doch, dass er erst gestern oder vorgestern noch weggefahren ist. Und ich denke – warum ist er zurückgekommen? Und er rennt, da aus dem Wäldchen, ganz sicher ist er es … Das kann er nicht sein, denke ich mir … Warum sollte er? Und er fliegt … Und sieht genau aus wie unser Papa. Da kommt er näher – und er ist es! Als er in Wilejka angekommen war, hatte er Radio Svaboda gehört. Und die sagten was ganz anderes. Und als er genug gehört hatte, ist er noch am selben Tag sofort zu uns gefahren – hat freigenommen und ist los zu uns. Damals gab es ja noch nicht diese Telefone, du konntest nicht Bescheid sagen – am besten bist du selbst hingefahren. Ich war so erschrocken. Warum bist du hier? Was bist du hergekommen? Und er sagt: „Schnell, packt zusammen, wir fahren.“ Er war ja verantwortungsvoll, er kam, um uns zu holen. Wir hatten da noch von nichts gehört. Und er war gekommen und nahm uns mit. Als wir in Minsk ankamen, war dort schon alles voll mit Menschen, riesige Schlangen, und wir standen, alle wurden überprüft – die Schilddrüse, die Kleidung … Alle, die aus dem Zug kamen, wurden überprüft. Ich weiß noch, manche warfen sogar ihre Schuhe weg, die Kleidung musste man auch ausziehen. Bei uns war alles in Ordnung. Der Akzjabrski-Rajon war sauber geblieben. Dort zog es einfach vorbei. Aber Sascha hatte das alles im Radio gehört … Er konnte ja nicht wissen, dass der Akzjabrski sauber ist. Damals dachten alle – je näher, desto schlimmer.“

    Das zweite Erinnerungsbild entstand 20 Jahre später, im März 2006. Wir gingen zum Platz, Papa, Shenja und Lena, das Mädchen, das ich liebte und mit der ich damals zusammen war. Mama und Papa waren nach Minsk gekommen, um an der Wohnungstür zu stehen und meine Schwester und mich nirgendwo hinzulassen. Aber weil das nicht funktionierte, wurde vom Familienrat beschlossen, dass Papa mit uns geht, und Mama zu Hause bleibt und die Nachrichten verfolgt. Ich weiß noch, wie Mama Shenja und mir vorm Hinausgehen half, Zeitschriften in den Hosenbund zu stecken, die die Schläge der Schlagstöcke abmildern sollten. Später erfuhr ich, Lenas Freundin habe erzählt, ihr sei klar gewesen, dass wir uns bald trennen würden, als sie uns beide damals zusammen auf dem Platz sah – weil ich Lena so angesehen hätte, wie sie mich nicht ansah. Manchmal wünschte man sich die Fähigkeit zu haben, in die Zukunft zu schauen, um richtige Entscheidungen zu treffen, um zu wissen, worauf man sich einstellen oder wie lange man noch warten muss; ich hätte sie also damals in Lenas Augen sehen können (ihre Freundin konnte es ja), doch ich habe überhaupt nichts gemerkt. Als könnte man die Zukunft nur erkennen, wenn man in die Vergangenheit schaut. So wie ich jetzt.

    Ein Schneesturm ist aufgezogen. Die unvermittelt niederbrechende Naturgewalt lässt alles leicht irreal erscheinen, es fühlt sich an, als öffne sich eine Art Portal – und wir alle, die jetzt auf dem Platz stehen, sind in eine andere Dimension versetzt, haben die Möglichkeit, uns selbst als andere wahrzunehmen, als die, die wir sein könnten, oder die wir in Gedanken sind, oder die wir vielleicht irgendwo noch sind. Gerade eben war da noch nichts, und mit einem Male ist alles ringsum mit einem weißen Schneeschleier bedeckt, ich schaue jetzt durch ihn hindurch und versuche zu erkennen … Eine meiner Kindheitserinnerungen, die mit Papa verbunden sind, ist wie wir zusammen Fotos entwickeln. Wir schlossen uns in der kleinen Küche unserer Wilejker Wohnung ein, ein zauberhaftes rotes Licht erfüllte den ganzen Raum, durch die Schüssel mit dem Entwickler zogen wir eins nach dem anderen die leeren Blätter des Fotopapiers und begannen zu zählen, bis wir Zeugen des Wunders wurden – wenn aus dem Nichts auf dem weißen Papier das Bild erkennbar wurde … So schaue ich jetzt in mein Gedächtnis und sehe wie aus dem Nebel langsam Silhouetten auftauchen, wie auf einer aus leichten, weißen Körnchen aufgeschütteten Fotografie … Vielleicht ist da Shenja, die auf Papas Schultern sitzt wie in der Kindheit, um weiter als alle anderen sehen zu können. Vielleicht bin da ich, die daneben steht und fragt – Und? Vielleicht antwortet sie mir: „Sehr viele“. Vielleicht ruft Papa plötzlich: „Es lebe Belarus!“, und ich schaue ihn an als würde ich ihn nicht wiedererkennen, oder vielleicht ist es auch umgekehrt – überwältigt vom plötzlichen Erkennen denke ich – warum schreibst du eigentlich keine Gedichte mehr, Papa?


    Im März dieses Jahres habe ich begonnen, Tagebuch zu führen, um mir klar zu werden, wie ich meine Stummheit überwinden kann, wie ich mir selbst das Sprechen erlauben kann, wenn um mich herum so furchtbare Dinge geschehen, wie ich das Unaussprechliche lernen kann auszusprechen? Schreiben ist peinlich. Jedes Wort, das du jetzt in dem Moment schreibst, während um dich herum weiterhin Menschenleben zunichte gemacht werden, erscheint überflüssig und fehl am Platz. Es scheint, als hätten meine inneren, internalisierten Aufseherinnen einen Weg gefunden, mir endlich ganz legal den Mund zu stopfen. Vielleicht muss ich gerade deswegen und genau jetzt versuchen weiterzuschreiben. Seit Beginn meiner Tagebuchaufzeichnungen haben die Jahreszeiten gewechselt – ich habe beobachtet, wie der Frühling kam und alles ringsum mit Leben erfüllt, und wie der Herbst mit der erneuten Mahnung anbrach, dass alles irreparabel endlich ist. Ich erinnere mich gut an diese Verbindung mit den Jahreszeiten, weil in meinem Tagebuch Kerben geblieben sind  …

    Am 29. März waren in Belarus 322 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 12. August waren in Belarus 631 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 29. September waren in Belarus 702 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 28. Oktober waren in Belarus 833 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Gerade ist ein wunderbarer goldener Herbst, seine Schönheit tut fast ein wenig weh, ebenso die Unmöglichkeit, diese Schönheit vollkommen aufzunehmen, sie mit jemandem zu teilen, und das Vorgefühl ihrer Endlichkeit. Ich sage „ein wenig“ nicht, weil dieses Wort den Grad meines Gefühls beschreibt, sondern weil es das Gefühl mildern und mit seiner sachten Anwesenheit umhüllen soll. „Ein wenig weh“ – das sagst du, wenn du nur Wörter zu Hilfe rufen kannst. Es ist unmöglich, zwei Wirklichkeiten gleichzeitig zu fassen – den Frühling, der unausweichlich kommt und alles ringsum mit Leben erfüllt und gleichzeitig den Terror im Land, wenn alles Menschliche und Lebendige weiter vernichtet wird. Man kann dieser Aufspaltung unmöglich entkommen, nur so kann die Psyche sich retten – indem sie Teile von sich abspaltet. Diese Spaltung gibt es auch in mir – das Leben, das aus mir erwächst, trotz allem, und das Konzentrationslager, dem ich nicht entfliehen kann.


    Noch eine mit Papa verbundene Kindheitserinnerung ist, wie er die Sekunden zählt, während ich beim Baden in der Wanne tauche. Das war unser Ritual, das den langweiligen Vorgang des Badens spannend und interessant werden ließ. Papa nahm die Uhr vom Handgelenk, gab mir ein Zeichen, ich holte tief Luft und tauchte unter … Mit aller Kraft versuchte ich, es länger auszuhalten, wollte meine Stärke beweisen – schau, wie lange ich die Luft anhalten kann, wie stark und geübt ich bin, schau, Papa, was ich alles kann. Alle Ungeheuer, alle Monster, alle bösen Menschen verschwanden, wenn ich auf dem Grund des Schaumbads lag, das Zimmer von heißem Dampf erfüllt, und Papa dastand und beobachtete, und ich wusste, dass er auf mich wartet.

    Auch jetzt liege ich wie unter Wasser und halte die Luft an, manchmal scheint mir, dass mir kaum noch Luft geblieben ist, dann stelle ich mir vor, dass du wie in der Kindheit neben mir stehst und weiterzählst – während ich auf dem Grund der von Schmerz und Leid gefluteten Stadt liege, mir Raum zu geben versuche und diesen Text schreibe – ungeschickt, wie es nur einem Kind gelingt, und solange die Kraft und der Platz in meiner Lunge ausreicht – ich weiß, dass du weiterzählst, mir Zeit verschaffst – um hier zu sein, wenn ich endlich auftauchen kann, wenn ich endlich wieder Luft holen kann.

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    „Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet.“ Das sagt der belarussische Rockmusiker Lavon Volski im ersten Teil des Gesprächs mit dem Online-Medium Kyky. In diesem spricht er über den langjährigen kreativen Widerstand, den er und andere Musiker und Bands gegen Machthaber Alexander Lukaschenko leisteten, über Auftrittsverbote und über die Wandlungen in der Politik der Machthaber gegenüber Kultur und Musik. 

    Im zweiten Teil des Interviews lässt Volski die 2000er Jahre Revue passieren, dann geht es hinein in die Gegenwart und in die Zeit der Ereignisse nach dem 9. August 2020, die das ganze Land,  und so auch die Kulturszene, in eine tiefe Krise gestürzt haben. 

    Marija Meljochina: Welches Fazit ziehen Sie aus den 2000er Jahren?

    Lavon Volski: Für mich war es eine sehr erfüllte Zeit. Einerseits gab es von 2004 bis 2008 durchgehend Verbote, vorher konnten wir aber noch Krambambula gründen und damit das Territorium der ironischen Popmusik entern. Das brachte uns noch größere Bekanntheit und erweiterte unser Publikum. Der Song Hoszi gefiel völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch Funktionären. Außerdem begann in den 2000er Jahren die Zeit der Konzerte für Firmen, die es vorher bei uns nicht gegeben hatte. Danach, den Verboten sei Dank, reisten wir ins Ausland. Wir tourten durch ganz Polen, waren in Deutschland und Schweden, ich war einige Male zu Auftritten in den USA. Verbote erhöhen das Interesse.

    2010 kam es dann zu den Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl (ploschtscha) und deren Niederschlagung – danach versank das Land für zehn Jahre förmlich in einer Unzeit. Erzählen Sie uns von dieser Phase.

    Damals war klar, dass das Tauwetter vorbei war. Die dunklen Zeiten begannen wieder. Ich habe N.R.M. damals nicht verlassen, es war ein bisschen anders. Wir hatten einfach eine Pause, es gab keine Konzerte. Die Band traf sich zum Proben ohne mich und ohne mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr erst aus der Presse, dass N.R.M. beim Rok-karanazyja-Festival ohne mich auftreten würden. Das war ein ziemlicher Schock, vor allem vor dem Hintergrund der Situation im Land. Ich sagte den Auftritt online ab, aber das hielt die Band nicht davon ab. Kurz; es war, wie es war. Für mich war das alles unerwartet und stressig, es hat noch lange gedauert, das zu verarbeiten. 

    Es gab die Information, dass die Band nach dem Treffen mit Praljaskouski Angebote bekam, bei staatlichen Festivals zu spielen, Sie das aber ablehnten. Das war die Ursache für den Konflikt, und N.R.M. entschied, ohne Sie zu spielen.

    Das ist eine verkehrte Darstellung – es gab keinen Konflikt in dieser Hinsicht. Nach dem Treffen in der Präsidialadministration wurde fast direkt im Anschluss ein staatliches Festival mit dem idiotischen Titel Bela Music initiiert. Dort sollten alle bekannten Rockmusiker auftreten. Und als ich die Anfrage erhielt, lehnte ich ab. Nicht genug, dass wir zu diesem Treffen gegangen waren, jetzt wollten sie uns auch noch dieses staatliche Festival anheften, um zu zeigen, dass in Belarus mit der Rockmusik jetzt alles super läuft. Ich habe die Teilnahme am Festival aus ideologischen Gründen abgesagt, aber niemand verstand das, ehrlich gesagt. Nach dieser Praljaskouski-Sache hatte ich eine so harte Zeit, dass ich 2009 bei N.R.M. eine Pause einlegte. Ich bat alle darum, für eine gewisse Zeit nicht aufzutreten, weil ich das Gefühl hatte, dass wir etwas verraten hatten. Den Musikern gefiel diese Pause natürlich nicht.

    Sie sagten, 2017 gab es eine Entspannung, als die Schwarzen Listen abgeschafft wurden.

    Ja, 2017 begann sich die Situation langsam wieder in Richtung eines leichten Tauwetters zu entwickeln, aber es erreichte nicht das Freiheitsniveau wie in den Jahren 2008/2009. Man konnte in der Prime Hall spielen, aber nicht im Stadtzentrum von Minsk, beim Schwedischen Tag zum Beispiel. 2018 wandte sich die schwedische Botschaft sogar an die Stadtverwaltung mit der Bitte, dass Krambambula auftreten dürfe, erhielt aber eine Absage.

    Wie kam es zu diesem Tauwetter? Was war 2017 passiert?

    Ich denke, da wurden wieder irgendwelche demokratischen Kräfte aktiviert. Einige Leute glaubten, dass es möglich sei, in den Machtstrukturen jemanden zu überzeugen. Damals entstand auch der Minsker Technologiepark und Ähnliches …

    „We are not afraid to dance“: Promotion-Video der Band Krambambula aus dem Jahr 2011

    War dieses Jahrzehnt – 2010  bis 2019 – in Ihren Augen eine Zeit des Stillstands, eine Unzeit für das Land, die Kultur und die Musik?

    Das würde ich nicht sagen. Es passierte immer was, nur wussten nicht viele davon, weil es sich parallel zur Machtstruktur abspielte. Es erschienen neue Alben, neue Musikpreise, es gab die Portale Tuzin Hitou und Experty.by. Zudem gab es auch noch die Musikkritik, zwar sehr begrenzt, aber es gab sie. Das war ziemlich spannend – du hast ein Album rausgebracht, zum Beispiel Drabadzi-drabada, und konntest eine Rezensionen dazu lesen, wenn du Lust hattest. Aber mit dem Album in deinem Land aufzutreten war in diesen Jahren schon nicht mehr möglich. Wir haben alle Alben in Vilnius präsentiert.

    Danach, 2017, kam das Tauwetter, man konnte auftreten, sogar bei großen Konzerten, aber es blieb der Eindruck, dass das nur temporär ist. Und so war es. Die Erfahrung zeigt, dass jedes neue Verbot strikter daherkommt als das vorangegangene. Daher werden die aktuellen Verbote meiner Ansicht nach erst dann verschwinden, wenn dieses Regime weg ist.

    Wie wurde 2020 möglich?

    Indem die Pandemie kam und die Machthaber zeigten, wie weit sie vom Volk entfernt sind. Früher wurde immer gepredigt, dass der einfache Mensch der wichtigste Wert sei. Doch hier zeigte sich nun, dass die Machthaber sich wie Aristokraten gerierten, wie ein Adel neuer Art mit Krönchen. Was, eine Pandemie? Nehmt den Traktor und Schnaps, ha-ha, wie lustig. Aber in den Familien spielten sich Tragödien ab: Hier erkrankte ein Bekannter, dort ein Verwandter. Da begann im ganzen Land die Selbstorganisation, die Freiwilligenbewegung – die totale Mobilisierung der Bevölkerung zum Kampf gegen die Pandemie, die die Regierung nicht ernst nahm. Deshalb ging das Volk  schon selbstorganisiert in diese Wahlen. 

    Nach den Wahlen kam dann ein völlig unerwartetes Ausmaß der Gewalt. Das Volk hatte in den letzten 15 Jahren gelernt, parallel zur Regierung zu existieren, ohne jegliche Berührungspunkte. Man meinte, dass sie uns nicht anrühren, und wir sie nicht anrühren – und gut. Alle bauen sich Wohnungen, Häuser am Stadtrand, erhöhen ihren Wohlstand. Wenn ein Bekannter ohne Grund in einer ominösen Angelegenheit verhaftet wurde, war das blöd, aber was soll’s. Dann wurde noch jemand verhaftet, aber der hatte sich dann womöglich in die Politik eingemischt, was wir natürlich nicht machen, also alles gut. 

    Ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen

    Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen. Viele verstanden, wie es wirklich stand. Einerseits bin ich froh, dass es so gekommen ist, andererseits ist es sehr schade für diese Leute, weil sie jahrzehntelang gelebt haben, ohne zu sehen, was um sie herum geschieht.

    Sie wollten nicht sehen und nicht hören und sagten nur: „Ach hör doch auf damit.“ Aber nun kamen sie praktisch in jedes Haus.

    Das Einzige, was ich absolut nicht erwartet hätte, ist diese Menge an weiß-rot-weißen Fahnen und „Lang lebe Belarus!“. Ich dachte, das sei für immer eine Sache von ein paar Tausend Leuten, die immer die Flagge, das Wappen und das Motto verwenden. Aber plötzlich zeigten hunderttausende Belarussen die Flagge und damit auch, was Sache ist.

    Haben Sie damals im August an den Erfolg der Revolution geglaubt? Oder hatten Sie eine Ahnung, wie alles enden wird?

    Euphorie gab es zweifellos – ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen. Danach waren Pascha Arakeljan und ich mit einer Initiative unterwegs, um die Leute in den Menschenketten zu unterstützen. Wir kamen mit Gitarre und Saxophon, spielten kurze Konzerte, aber es war klar, dass man nur mit Konzerten nicht siegen kann. Man sagt ja nicht einfach „Hau ab“ – und dann packen die ein und hauen ab …

    Ist die Revolution verloren?

    Was soll ich sagen, das ist eine recht komplexe Frage, aber ich würde das nicht so formulieren. Erstens war es kein Spiel, bei dem es ums Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt eine Volksmasse, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden ist und eine Minderheit, die alles beim Alten belassen möchte – was aber nicht möglich ist.

    Das war ein Aufbegehren des Volkes 

    Sehen Sie sich als Sänger der Revolution?

    Ich betrachte mein Schaffen in einem weiteren Sinn, aber alle Musiker, die zu dieser Zeit in den Höfen gespielt haben, waren Sänger der Revolution. Aber gibt es Revolutionen ohne Waffen? Das war einfach ein Aufbegehren des Volkes. 

    Sind Sie für radikalere Handlungen?

    Nein, ich bin für friedlichen Protest – das Volk war in keiner Weise für den bewaffneten Widerstand vorbereitet. Das ist eine sehr ernste Sache, ich wünsche mir kein solches Szenario, es wäre sehr tragisch. So etwas muss auch reifen, die Bolschewiki haben sich jahrelang vorbereitet, einige Untergrundnetzwerke aufgebaut und so weiter. Es ist eine Sache von Jahrzehnten, eine wirkliche Revolution vorzubereiten, mit Anwendung von … Das ist nicht unsere Variante, scheint mir. 

    Haben Sie Belarus für immer oder nur temporär verlassen?

    Temporär. Ich bin im Sommer 2021 ausgereist und habe nichts mitgenommen. Nach den Konzerten in Polen kehre ich wahrscheinlich zurück. Aber unter dieser Regierung wird es keine normalen Auftritte in Belarus mehr geben.

    Wie wird sich die Situation in Belarus entwickeln? Müssen wir auf die Generation der Davongekommenen warten, damit sich etwas ändert, oder tritt der Wandel schon früher ein?

    Meine Intuition hat mir immer gesagt – nach den Wahlen 2001, 2006 und 2010 – dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber es ist noch über zehn Jahre weitergegangen. Deshalb würde ich meiner Intuition nicht sonderlich trauen. Im Moment denke ich, dass man ein Land nicht über viele Jahre in einem solchen Spannungszustand halten kann. Zum einen, weil es sehr teuer ist. Zum anderen, weil die Menschen den psychologischen Druck nicht aushalten – auch die, die diesen Druck ausüben.

    Lassen Sie uns fantasieren – wann kommt das neue Belarus? Wie stellen Sie sich dieses Land vor?

    Das kann tatsächlich jederzeit passieren – schon morgen. Zuerst einmal müssen in diesem Land absolut alle Grobiane aus allen Machtebenen entfernt werden, die ganze Regelreiterei in allen Bereichen, begonnen mit der Schule. Damit es nicht nur darum geht, einfach ein Häkchen zu setzen, wie man sagt, wenn überall bloß Formulare ausgefüllt werden. Ob das ein Arzt, ein Lehrer, ein Polizist oder ein Ermittlungsbeamter ist – du musst eine ungeheure Menge an Zetteln ausfüllen, aber das Eigentliche wird nicht gemacht, es geht nur um Papierkram. Das muss geändert werden. Alle Behörden müssen durchleuchtet werden, alle Mitarbeiter müssen überprüft werden. All diese Fälschungen, Manipulationen der Statistik, dieser totale Unfug, die übergebührliche Brutalität und Gewalt bei den Festnahmen – das gab es in der gesamten Zeit dieser Regierung. Doch erst jetzt haben die Menschen es gesehen, hat die große Masse es gesehen. Deshalb muss alles grundlegend reformiert werden.

    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat
    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat

    Und zum Schluss: Was möchten Sie den Belarussen noch sagen oder wünschen?

    Zunächst einmal bin ich den Belarussen und meiner Stadt sehr dankbar für das, was ich 2020 erleben durfte – ich hätte nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen. Mein Verhältnis zu Minsk war sehr abgekühlt. Mir schien, die Menschen sitzen nur und schauen zu, wie die Regierung das aufbaut, was einfach nur furchtbar mit anzusehen war. Aber als die Stadt erwachte, fand ich meine Liebe zu Minsk wieder. Ich fand den Glauben an das Volk wieder. Und ich bin sicher, dass man dieses Blatt nicht mehr wird wenden können. Man muss nur ein bisschen warten, wollte ich immer sagen – aber man muss nicht warten, jeder muss einfach das tun, was von ihm abhängt.

    „Warte nicht, es gibt keine Überraschungen“

    Tatsächlich eine widersprüchliche Aussage – für mich war 2020 die Zeit der großen Überraschungen. Ein Musikreporter schrieb mir damals: Wir würden gern euer Konzert aufzeichnen, lasst uns noch die Wahlen abwarten, danach werden die Leute wie immer ein paar Tage in Depressionen sinken, und dann machen wir den Termin. Ich antwortete: „Okay, dann machen wir es wie immer.“ Aber dann kam alles ganz anders: Eine Überraschung folgte der anderen.

    Ich hoffe, uns erwartet in naher Zukunft eine große Überraschung. 

    Höchste Zeit! So viele Menschen denken dasselbe! Vielleicht erfüllt ja der Weihnachtsmann unseren größten Wunsch? In den letzten 27 Jahren hatten die Überraschungen ja immer eher negativen Charakter.

    [Das Interview wurde im November 2021 geführt – dek]

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    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Lavon Volski gehört zu den bekanntesten und wandlungsfähigsten Rockmusikern in Belarus. Viele seiner Lieder sind zu unterschiedlichen Zeiten zu Hymnen einer Protestkultur geworden, die sich den Machthabern um Alexander Lukaschenko widersetzt. Wie viele andere hat auch er sein Land im vergangenen Jahr wegen der massiven Repressionen nach den Protesten infolge des 9. August 2020 verlassen; aktuell wohnt er in Polen.
    Das belarussische Online-Medium KYKY hat mit Volski ein langes Gespräch geführt, in dem er die Rolle der Rockmusik im unabhängigen Belarus reflektiert, die Auftrittsverbote in den vergangenen 20 Jahren, Lukaschenkos Ideologie und eigene Fehltritte. dekoder veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.

    Teil 1

    Marija Meljochina: Lukaschenka ist seit 27 Jahren an der Macht, und Sie haben seinen Werdegang miterlebt. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen den Weg von der relativen Freiheit der 1990er hin zur heutigen Militärdiktatur beleuchten. Beginnen wir 1994, als Belarus seine Staatlichkeit etablierte. Gab es damals Freiheit?

    Lavon Volski: Zu Beginn der 1990er Jahre entstand Freiheit gerade erst, Rockmusik war nicht mehr verboten, alles war erlaubt. Diese Politik währte von 1991 bis 1994, die Zeit der sogenannten Beinahe-Demokratie. Nach Lukaschenkas Machtantritt behielten die Bürokraten die Entscheidungsmuster vom Ende der 1980er Jahre noch eine Weile bei: Musik durfte nicht verboten werden, denn sie war „Arbeit mit der Jugend“: Besser, sie flippen mal bei einem Konzert aus, als dass sie Klebstoff schnüffeln. Aber einige Lokalzaren und -chefs, zum Beispiel im Exekutivkomitee von Mahiljou, führten doch Verbote ein, das war aber eher eine Ausnahme von der Regel. Sicher gab es auch mal Stunk, wenn jemandem etwas gar nicht gefiel. Aber es hatte nicht das Ausmaß, das dann in den 2000er Jahren begann. 

    In einem Interview sagten Sie, dass in den 1980ern niemand an die sowjetische Ideologie geglaubt hat. Letztlich hat sich Lukaschenka aber genau diese Ideologie zu eigen gemacht, und die Menschen glaubten ihm. Wie ist dieses Paradox zu erklären?

    Er hat anfangs mit dem Nostalgiefaktor gespielt. Das war ein sehr riskanter Schachzug, aber er war erfolgreich. Zu Beginn bewies er als Politiker durchaus Talent. Es war natürlich absolut unmöglich, in einem einzelnen Mitgliedstaat die Sowjetunion zu bewahren. Der Großteil der Bevölkerung wollte aber meiner Ansicht nach auf keinen Fall wieder neue Führer vom Typ Kebitsch, die ununterbrochen stehlen. Als die Stimmen also zwischen diesen beiden Kandidaten verteilt wurden, bekam Lukaschenka die Mehrheit, weil die Menschen nach dem Prinzip entschieden: „Ganz egal, Hauptsache nicht das, was vorher war.“ 

    Lukaschenka setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes

    Ich würde auch nicht sagen, dass seine Ideologie sowjetisch war. Seine Rhetorik war, was man „für das einfache Volk“ nennt: „Esst euer Stück Wurst, trinkt eure 150 Gramm Schnaps, geht wählen und stimmt für mich.“ Das war nicht „Sawok“, sondern vielmehr ein Spiel mit einfachen Gefühlen. Die Sowjetideologie war anders: Alle sind Brüder und Schwestern, alle verdienen gleich. Natürlich wurde das nur postuliert und fand in der Realität nicht statt. Lukaschenka dagegen postulierte: Ihr werdet viel verdienen, ihr werdet eine Wohnung haben, ein Auto, eine Datscha – er setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes. Darüber sprach man zu Sowjetzeiten üblicherweise nicht, das war schlechter Ton.

    Lukaschenkas Versprechen „500 für alle“ stammt also schon aus dieser Zeit?

    (lacht) Es gab dieses Versprechen, das Beste aus der Sowjetzeit zurückzubringen. Aber ich denke, dass die Menschen eher an regulären Renten und hohen Einkommen interessiert waren, an einem Anstieg des Lebensniveaus. Sie wollten diese Banditen und kriminellen Businesstypen überall loswerden. Deshalb gefiel ihnen, dass da einer kam und „Ordnung schafft“, einer, der alle das Fürchten lehrt.  

    Was ist Ihnen aus den ersten Amtsjahren Lukaschenkas in Bezug auf den Kulturbereich in Erinnerung?

    Für mich, und auch für viele andere Künstler, war das eine Katastrophe. Es war sofort klar, was für ein Mensch er ist. Und wie das bei uns so läuft, wurden sein Geschmack und seine Ansichten sofort auf das gesamte Land projiziert. Das war eine riesige Tragödie für die Kultur, aber alle hofften, dass es nicht lange dauern würde.

    Wurden die Schrauben sofort angezogen?

    Nein, es gab alles: verschiedenste Künstlervereinigungen, ausländische Galerien, Ausstellungen und Buchläden. Aktuelle Kunst. Es gab Theatervereine, viele ausländische Gäste, auch selbst konnte man zu Festivals ins Ausland fahren. Wen gab es damals? Krama, Ulis, Novae Neba, Mroja, Mjaszowy Tschas aus Nawapolazk. Es gab auch Bands aus Mahiljou und Hrodna, zum Beispiel Deviation oder Kaljan, aus denen später irgendwelche modernen Anarchopunkfolk-Formationen hervorgingen. Informelle Literaturvereinigungen entstanden, gaben Bücher heraus. Es gab alles, ohne Verbote.

    „Radio Svaboda“: der legendäre Song der Band Ulis aus dem Jahr 1990, der den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty besingt.

    In der Bilanz, wie würden Sie Ihre 1990er Jahre kurz zusammenfassen?

    Da muss man trennen: Bis 1994 und nach 1994 – das waren schon zwei völlig verschiedene Zeiten mit komplett unterschiedlichen Werten. Bevor die Epoche des Autoritarismus und der Diktatur begann, gab es in den ersten drei Jahren seit 1991 meiner Ansicht nach eine nicht vollständig ausgeprägte Demokratie. In dieser Zeit arbeitete ich beim Jugendradiosender 101,2, wo auch viele Parteikader unterwegs waren. Sie waren empört über das, was wir machten. Sie hätten alles gern halbwegs neutral gehabt, aber wir sprachen schwierige Themen an, und dann auch noch in der „orthodoxen“ belarussischen Sprache, der Taraschkewiza. Deshalb wurde unser Chef oft irgendwohin einbestellt, und man schrieb uns Briefe, dass der Sender geschlossen werden müsse.

    In den 1990ern saßen auf den Schlüsselpositionen absolute Sowjetmenschen: einheitsgraue Jacketts, „was auch passiert“, „Hauptsache der Plan wird erfüllt“. Damals dachte man, dass sie langsam verschwinden würden. Aber es kam anders. Anrüchige und geistlose Menschen mit nicht mal sowjetischen, sondern stalinschen Ansichten krochen auf die zentralen Positionen.

    1994 begann dann eine neue Zeit, in der zum Beispiel plötzlich seltsame Staatsleute im alten Büro des Schriftstellerverbandes in der Frunse Straße 5 auftauchten, um mitzuteilen, dass sich dieses Gebäude im Besitz der Präsidialverwaltung befindet und man also entweder Miete zahlen oder „den Ort räumen“ müsse. Auch die zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen privatwirtschaftlichen Strukturen wurden verfolgt – wer sich nicht schnell neu aufstellte, machte sich zum Feind.

    Das war eine sehr aufwühlende Zeit unter dem Vorzeichen der Katastrophe. Andererseits hat für mich wahrscheinlich gerade um 1994 eine sehr produktive künstlerische Reaktion auf all diese Ereignisse eingesetzt – ich schrieb viele wehmütige Songs, lyrische und Prosatexte. Bis dahin hatte ich – wie in einer verkehrten Welt – irgendwie stillgestanden.

    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.
    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.

    Kommen wir nun zur Epoche der 2000er Jahre, in denen Sie schon im ganzen Land Berühmtheit erlangen und Ihr Album Try tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) erscheint.

    Die Epoche der Nullerjahre war vollkommen anders. Seit etwa 1995 oder 1996 waren wir in einer kleinen Minsker Szene bekannt. Ab und zu fuhren wir auch nach Hrodna oder Wizebsk – dort lief es in einem kleinen Kreis auch gut. Als Anfang der 2000er das Album Try tscharapachi erschien, wurden wir sehr bekannt. Das Album war in einem professionellen Studio aufgenommen worden und nicht mehr in der Garage. Darüber hinaus wurde es landesweit vermarktet – in jedem Kiosk konnte man eine Kassette oder CD von N.R.M. kaufen. Die vorangegangenen Alben waren nur im Minsker Laden Kowtschog in der Philharmonie verkauft worden. Wir gingen dann auch zum ersten Mal auf Tour. Deshalb änderte sich in den 2000er Jahren die Situation komplett.

    Die alten Fans haben uns nicht verziehen, dass wir nun für die Massen spielten. Sie schrieben uns im Internet, dass wir früher echten Rock gespielt hätten und jetzt verpoppt seien. Kurz gesagt, es war eine hektische Zeit: ständig Auftritte, Videodrehs, Interviews – ich musste mich förmlich zerteilen.

    Ab wann wuchs der Druck auf die Andersdenkenden? Können Sie sich an den Moment erinnern, als plötzlich Konzerte abgesagt wurden?

    Die ersten Anzeichen gab es schon 1995 – gemeinsam mit anderen Rockbands waren wir zum Festival für geistliche Musik Mahutny Bosha nach Mahiljou eingeladen. Der Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Sumarau, war gegen unseren Auftritt. Wir standen praktisch schon auf der Bühne, als er auf den Platz rannte und mitteilte, alles sei abgesagt.

    Ein Songschreiber darf sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden

    Das zweite Mal war im Sommer 2004 nach dem Auftritt einer Reihe von Bands im Hundepark am Bangalore-Platz. Das Konzert war dem zehnjährigen Jubiläum des Regimes gewidmet. Wir spielten alle – und danach ging es los, wohl auf Weisung von ganz oben, es tauchten die Schwarzen Listen auf und eine ganze Reihe von Bands wurde verboten. Damit war mit einem Mal alles vorbei: keine Interviews mehr in staatlichen Medien – in all diesen Teenie-Magazinen und Talkshows. Es blieben nur die unabhängigen Massenmedien, von denen es zu diesem Zeitpunkt noch viele gab. Später kam es dann vor, dass in Maladetschna 200 Leute aus dem Zug stiegen und direkt zum lokalen Klub liefen, wo N.R.M. einen Underground-Gig spielten.

    Hatten Sie Angst, dass Sie für solche Konzerte ins Gefängnis kommen, dass man Sie abholen kommt?

    Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet. Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn. Wir gingen auch zu Kundgebungen, aber das war ja kein bewaffneter Kampf. Ich habe auf alles reagiert, weil ich glaube, dass ein Songschreiber sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden darf. Um für ein Underground-Konzert in den Knast zu kommen, war der Grad der Absurdität damals noch nicht hoch genug. 

    Obwohl ihr auf der Schwarzen Liste standet, habt ihr euch 2007 mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung getroffen. Warum?  Zu welchen Erkenntnissen seid ihr nach diesem Treffen gelangt?

    Das war ein total blöder Schritt – das Treffen hätte gut ohne mich stattfinden können. Ich ging nur hin, um einen Blick auf diesen „Hort des Bösen“ zu werfen. Tatsächlich hätten sie mich nicht eingeladen, wenn ihrerseits nicht irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Damals gab es Prozesse in Richtung einer leichten Demokratisierung, um das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Deshalb begannen sie mit dem Einfachsten: die verbotene Musik zurückzuholen.

    Damals kam ein findiger Mitarbeiter auf mich zu, den ich schon mehrfach getroffen hatte. Er arbeitete beim Staatsfernsehen, ein ganz normaler junger Typ. Er rief an und fragte: „Wie würden Sie reagieren, wenn die Verwaltung Ihnen ein Treffen anbietet?“ Ich antwortete, ich sei nicht sicher, aber vielleicht würde ich hingehen. Heute weiß ich, dass ich nicht hätte gehen dürfen. Sie versprachen uns, dass es keine schwarzen Listen mehr geben würde, weil das unzivilisiert sei. Falls wir mit Verboten konfrontiert würden, könnten wir in der Verwaltung anrufen und sie würden das klären.

    Das war 2007, im Jahr 2009 wurde dann Pawel Latuschka Kulturminister. Er setzte sich aktiv gegen die schwarzen Listen ein. Aber wenn ich es recht verstehe, sind die Listen nie verschwunden? Oder gab es doch ein Tauwetter?

    2009, als Latuschka Minister war, gab es diese Listen nicht. Im Prinzip gab es sie aber immer, die Programmdirektoren der staatlichen Radio- und Fernsehsender hatten sie einfach auswendig gelernt. Damit hatten sie richtig gelegen, denn 2010 tauchte die Liste wieder auf, zudem um das Fünffache länger. Ab diesem Moment konnte man nicht einmal mehr Underground-Konzerte geben. Es wurde Druck auf die Leitung und die Besitzer der Einrichtungen ausgeübt, die Konzerte erlaubt hatten. Sie wurden angerufen, erpresst, bedroht, mit Hygienekontrollen überzogen und mit üblen Strafzahlungen belegt. Diese Maßnahmen gab es bis 2017.

    Wenn Lukaschenka Sie heute zu einem persönlichen Treffen einladen würde, würden Sie hingehen?

    Natürlich nicht – man muss sich mit keinem von denen treffen, nie. Wozu auch? Ich habe den Fehler einmal gemacht. Wie ein Kind bin ich in die Präsidialverwaltung gegangen, um etwas Interessantes zu erleben. Aber sie brauchten mich nur, um ein Häkchen zu setzen, um dem Westen zu zeigen, dass alles gut wird.

    Die Fortsetzung des Interviews veröffentlicht dekoder am 11. Januar 2022.

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    Das Jahr 2021 stand in Russland im Zeichen zunehmender Repression – gegen die politische Opposition und gegen unabhängige Akteure generell. Das jüngste Vorgehen gegen die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial ist ein Ausdruck davon. Bedeutend stärker betroffen als in den Jahren zuvor sind auch Medien und sogar einzelne Journalisten. Mehr als 80 von ihnen wurden seit April auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. 

    Manche Medien – wie VTimes – stellten daraufhin den Betrieb ein, andere – wie Meduza, Republic oder Doshd – versuchen ihre Arbeit dennoch fortzusetzen. Auch einzelne Journalisten gehen unterschiedlich damit um, als „ausländischer Agent“ gelistet zu sein: Manche machen weiter, andere gehen ins Ausland oder suchen einen neuen Beruf. Das Label bedeutet bürokratische Hürden – so muss man zum Beispiel vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium senden, wofür man als juristische Person registriert sein muss. Man ist verpflichtet, den Behörden Daten über Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. „Ausländischer Agent“ zu sein ist aber vor allem ein soziales Stigma.

    Vor diesem Hintergrund ist auch die Entscheidung des Nobelkomitees umso bedeutender, das mit dem Friedensnobelpreis am kommenden Freitag, 10. Dezember, auch Dmitri Muratow auszeichnet. Muratow ist Chefredakteur der Novaya Gazeta, die seit den 1990er Jahren als Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland gilt.

    Meduza fragte Journalistinnen und Journalisten, auch solche, die selbst als „ausländischer Agent“ gelistet sind oder für „Agenten-Medien“ arbeiten: Warum arbeiten Sie weiterhin als Journalist? Und spüren Sie sowas wie journalistische Solidarität?

    Xenia Mironowa
    Korrespondentin von Doshd

    Xenia Mironowa vor dem Untersuchungsgefängnis Lefortowo / Foto © Soi für Meduza
    Xenia Mironowa vor dem Untersuchungsgefängnis Lefortowo / Foto © Soi für Meduza

    Ich weiß nicht, warum ich immer noch Journalismus betreibe. Mein Partner [der Journalist Iwan Safronow] sitzt wegen seiner journalistischen Arbeit seit eineinhalb Jahren in U-Haft [in Lefortowo]. Der Sender Doshd, bei dem ich arbeite, gilt als „ausländischer Agent“. Viele meiner Journalistenfreunde mussten das Land verlassen. Jeder normale Mensch hätte wohl schon längst den Beruf gewechselt. Aber ich kann nichts anderes – und vor allem will ich es gar nicht.

    Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird 

    Es ist schwer, wenn du kein direktes Ergebnis deiner Arbeit siehst. Du rettest keine Menschen aus brennenden Häusern. Hast nicht einmal das Recht, ihnen etwas zu versprechen – Hilfe, oder die Aussicht, dass alles gut wird. Es ist schwer, wenn du siehst, wie deine Interviewpartnerin während des Gesprächs bei lauten Geräuschen zusammenzuckt, weil ihr mit 18 Jahren Drogen untergeschoben wurden und sie statt an die Uni in eine Strafkolonie kam. Und du weißt, dass ihr diese Zeit und ihre Gesundheit niemand je ersetzen können wird. Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird. 
    Aber wenn du von einer Frau, die ihr Kind verloren hat, eine Nachricht bekommst, in der sie sich überschwänglich bei dir bedankt, dann vergisst du das nie. 

    Es gibt Fälle, wo es Journalisten gelang, ein Problem zu lösen oder etwas zum Besseren zu wenden. In Russland wird das natürlich mit jedem Monat schwieriger, aber daran sind nicht die Journalisten schuld. Auch im Schach kannst du nur schwer gewinnen, wenn du dich an die Spielregeln hältst, während der Gegner dir das Brett um die Ohren schlägt.  



    Jelena Kostjutschenko
    Korrespondentin der Novaya Gazeta

    Jelena Kostjutschenko im Büro der „Novaya Gazeta“ / Foto © Soi für Meduza
    Jelena Kostjutschenko im Büro der „Novaya Gazeta“ / Foto © Soi für Meduza


    Ich betreibe weiterhin Journalismus, weil ich das einfach gern mache. Du erlebst ganz Unterschiedliches, triffst unterschiedliche Leute, siehst, was in der Welt passiert. Darüber schreibst du dann und bekommst sogar Geld dafür. Ich finde das super. Eine tolle Arbeit. 
    Und die Bedrängnis, mit der wir konfrontiert sind, macht die Arbeit nicht weniger toll. Nur leider steigt der Preis. Ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen. Noch dazu arbeite ich bei der Novaya Gazeta, bei uns war es immer schon ***** [schwierig//hart]. Wir hatten nie diese friedliche Zeit wie die Journalisten anderer Medien. 

    Ich sehe den Beweis, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert

    Bei der Novaya Gazeta, wurden immer wieder Kollegen umgebracht. Zwei Frauen wurden getötet, die über Tschetschenien schrieben – direkt hintereinander: Zuerst Anna Politkowskaja, woraufhin Natalja Estemirowa das Thema übernahm, bis sie ebenfalls getötet wurde. Jetzt hat Elena Milashina ihren Job übernommen. Dass sie noch am Leben ist, sehe ich als Beweis dafür, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert. 
    Journalistische Solidarität sieht bestimmt ziemlich radikal aus. Wenn ein Kollege getötet, inhaftiert oder sonstwie an seiner Arbeit gehindert wird, muss man seinen Platz einnehmen und das, was er gemacht hat, weiterführen. Auf diese Art zeigen wir den Leuten und den staatlichen Strukturen, die uns Journalisten am Arbeiten hindern wollen, dass es keinen Sinn hat, uns zu töten, Zeitungen zu schließen oder uns das Label „ausländischer Agent“ anzuhängen.          


    Iwan Golunow
    Korrespondent von Meduza

    Iwan Golunow / Foto © Soi für Meduza
    Iwan Golunow / Foto © Soi für Meduza

    Warum sollte man 2021 keinen Journalismus betreiben? Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort. 
    Eigentlich hat es immer Leute gegeben, die etwas gegen Journalisten haben. Denen nicht gefällt, wie sie schreiben und was sie schreiben. Das war immer schon so und wird immer so sein. Zu manchen Zeiten führt das zu mehr Repressionen, und manchmal ist der Druck geringer. Alle erinnern sich gern an die schönen 1990er Jahre, als angeblich Pressefreiheit herrschte, wie es aus heutiger Perspektive scheint. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Geschichten mit [den Morden an den Journalisten] Dimitri Cholodow, Larissa Judina und etlichen anderen in diese Zeit fallen. 

    Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich es jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort


    Es gab also immer Leute, die irgendwie Einfluss auf die Medien nehmen wollten. Was soll man da machen? 25 Jahre warten? Ist doch auch blöd. Man muss tun, was man kann, soweit es die Situation erlaubt. 

    Was mir 2019 passiert ist, war ein wunderbares Beispiel für journalistische Solidarität. Damals haben sich alle Journalisten zusammengetan, egal, für welche Medien sie tätig waren – für unabhängige oder staatliche. [Ähnliches] geschieht mit der Haft von Iwan Safronow, da gibt es in den Regionen viele lokale Initiativen. Ich glaube an die journalistische Solidarität. Und an die Solidarität der Leser mit den Journalisten. Ich glaube sogar an die Solidarität der Personen, über die geschrieben wird, mit den Journalisten, weil ich das alles am eigenen Leib erfahren habe. 



    Maria Shelesnowa
    Redakteurin, die zum „Medium, das als ausländischer Agent fungiert“, erklärt wurde

    Maria Shelesnowa vor dem Justizministerium / Foto © Soi für Meduza
    Maria Shelesnowa vor dem Justizministerium / Foto © Soi für Meduza

    Warum ich immer noch als Journalistin tätig bin – eine schwierige Frage. Ich glaube, darauf kann ich jetzt keine hundertprozentig rationale Antwort geben. Wenn man logisch überlegt, wäre es wohl vernünftiger, was anderes zu machen.   
     
    Ich kann wahrscheinlich schwer auf etwas verzichten, was ich viele Jahre lang gemacht habe und sehr gerne mache. In meiner ganzen Zeit als Journalistin habe ich nie – freiwillig und ernsthaft – an einen anderen Beruf gedacht. Nichts anderes ist mir je so organisch vorgekommen – obwohl ich mir nach der Erklärung zum „ausländischen Agenten“ schon die Jobanzeigen für Supermarkt-Kassiererinnen angesehen habe. Sagen wir so, ich wollte mir und meinem Beruf noch eine Chance geben.   

    Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, den Mut nicht zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen

    Ich war als Journalistin nie besonders heroisch – ich war nie Kriegsreporterin, habe keine Korruptionsfälle aufgedeckt, die in ihrem Zynismus ungeheuerlich sind, habe mich nicht Hals über Kopf in den undurchdringlichen Unbilden unseres Lebens vergraben und so weiter. Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, nicht den Mut zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen, Euphemismen zu meiden und die Dinge beim Namen zu nennen.    

    Wenn ich aber doch an konkrete Dinge denke, dann waren meine unfreiwilligen Kündigungen das Schwerste. Wenn dir klar wird, dass das, was du tust und wofür du in diese Redaktion gekommen bist, aufgrund von Umständen, die außerhalb deiner Macht stehen, völlig unmöglich wird, und dir nichts anderes übrig bleibt, als deinen letzten Text abzugeben und zu kündigen. Und auch wenn du weißt, dass das die einzig richtige Entscheidung war, ist es trotzdem schwer, und dieses Gefühl trägst du lange mit dir herum. Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Erfahrung allein bin, aber in den letzten zehn Jahren musste ich zweimal so vorgehen. Das letzte Mal 2020, als die Vedomosti, bei der ich gearbeitet habe, einen neuen Inhaber und einen neuen Chefredakteur bekam – und klar wurde, dass das jetzt eine ganz andere Zeitung wird. 

    Insgesamt hatte ich in zehn Jahren drei verschiedene Arbeitsplätze. Zweimal habe ich schweren Herzens selbst gekündigt, das Dritte war Projekt, dessen Tätigkeit unser Staat als „unerwünscht“ betitelte und kurzerhand dichtmachte. Tja, mein Resümee ist ein bisschen düster.  


    Ilja Asar
    Korrespondent der Novaya Gazeta

    Ilja Asar / Foto © Soi für Meduza
    Ilja Asar / Foto © Soi für Meduza


    Vor ein paar Tagen habe ich Material über den 15-jährigen Jaroslaw Inosemzew gesammelt, der beschuldigt wird, in einer Wolgograder Schule einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Ich schreibe dieses Jahr schon zum zweiten Mal über ihn. Nach dem ersten Bericht wurde Jaroslaw aus der Psychiatrie (wohin er aus der U-Haft überstellt worden war) nach Hause entlassen. Ich hoffte (naiv, wie ich war!), dass die Sache im Sand verlaufen würde, aber drei Monate später warfen sie ihn wieder in den Knast. Jaroslaws Mutter hat mir geschrieben, dass die Richterin nach dem – in meinen Augen absolut unmenschlichen – Hafturteil in ihrem Dienstzimmer saß und heulte.    
    Seit einer ganzen Weile schon geht mir das Bild dieser weinenden Frau in der Robe nicht aus dem Kopf, die einen Schüler in den Knast steckt (der niemandem etwas getan hat und es höchstwahrscheinlich auch nicht vorhatte), einfach weil der FSB so tun muss, als würde er Shootings vereiteln.

    Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk

    Wir können über solche Dinge nicht schweigen – und erst nicht über Folter in Strafkolonien oder dem stalinistischen Regime in Tschetschenien und dergleichen. Wir müssen darüber schreiben. Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk. Und ich sage das nicht um des Pathos’ willen – es ist leider die Wahrheit. Und man darf sich nicht einfach umdrehen, den Laptop zuklappen, weggehen und vergessen.  

    Deswegen habe ich die Frage „Warum betreibst du weiterhin Journalismus“, die mir Meduza gestellt hat, zehn Mal gelesen – und ihren Sinn nicht verstanden. Das ist doch absurd. Wieso „Warum“? Was denn sonst? Klar, wenn wir mit Kollegen bis nach Mitternacht in der Kneipe hocken, dann jammern wir gern über Erschöpfung und Burnout, über die unerträgliche Belastung durch fremdes Leid, über die Sinnlosigkeit unserer Arbeit, über die eigene Unzulänglichkeit und zu guter Letzt das mickrige Einkommen.
    Aber alles hinschmeißen und aufhören? Im Ernst? Und was dann? In die PR, ins Politconsulting, ins Business? Nein, wenn ich genauer überlege, habe ich diese Option nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und je schwerer die Zeiten, desto höher die Motivation weiterzumachen.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch die MatKat-Stiftung

     

     

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  • Blick in das Innere von Belarus

    Blick in das Innere von Belarus

    Bunt bestickte Kissen und Tücher, Teppiche an den Wänden, grelle Fototapeten und Plüschtiere, Gardinen mit traditionellen Mustern und Ornamenten – dazwischen ältere Frauen mit Kopftüchern oder Männer mit Schirmmütze. Ein belarussische Fotograf reist seit Jahren durch seine Heimat und fotografiert die traditionellen Inneneinrichtungen und Wohnräume von Dorfbewohnern, die sich durch eine Mischung aus Folklore, Tradition und Modernität auszeichnen und viel über das ländliche Belarus erzählen. Es ist eine Kultur, die zusehends verschwindet. 

    Der Fotograf, der mehrfach für seine Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, hat sich vorgenommen, diese Kultur fotografisch zu bewahren. In seiner Fotografie und Kunst beschäftigt er sich häufig mit Fragen von Identität, Brauchtum und archaischen Ritualen in seiner Heimat. 

    Mohnblumen auf Tassen und Tischdecken: Bei Wjaljanzіna Wassiljeuna Tscharnuschewitsch, zuhause im Dorf Chwajensk im Süden von Belarus / Foto © Anonym

    dekoder: Wie ist Ihr Fotoprojekt  Traditioneller Wohnraum entstanden?

    Fotograf: Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ich bei der Arbeit an anderen Fotoprojekten wie beispielsweise Pahanstwa (dt. Heidentum) beobachten, wie das belarussische Dorf sozusagen visuell verschwindet: die Farben der Häuser und Einrichtungen, die alte Art, Wohnraum gemütlich zu gestalten, die Wände mit den Familienfotos. Damit verschwindet auch die Bedeutung der Familie, in der die Traditionen und ein bestimmtes Wertesystem wichtig waren. In jedem Haus gab es eine Bilderwand mit Ikonen und Fotos aller Verwandten; gestickte oder handgenähte Ruschniki und Bilder, handgewebte oder handgeknüpfte Wandteppiche. Diese Kultur verschwindet zusehends, zusammen mit der ältesten Generation. Wenn die Großmutter stirbt, werfen die Kinder und Enkel praktisch alles weg und renovieren das Haus nach ihrem Geschmack, bis die alte Ästhetik vollständig zerstört ist. 
    Und mir als Fotograf ist klar: Wenn dieses Thema in Belarus niemand aufgreift, wenn das niemand dokumentiert und systematisiert, dann wird eine riesige Inselwelt der visuellen Kultur verlorengehen. Im Moment liegt das Projekt wegen Corona natürlich brach: Wenn ich, Gott behüte, infiziert in ein Dorf kommen würde, dann würde im schlimmsten Fall das ganze Dorf sterben.

    Wie finden Sie die Häuser mit solch außergewöhnlichen Einrichtungen?

    In jedem meiner Projekte gibt es eine Art Lotsen. In diesem Fall begann alles mit der alten Kazjaryna Pantschenja aus dem Dorf Pahost, das im Südosten von Belarus liegt. Mit ihr verbindet mich eine herzliche Freundschaft. Ihr stehen im Umkreis von 50 Kilometern alle Türen offen! Als Respektsperson kommt sie wirklich überall rein, alle kennen sie. Sie sagt dann einfach mal: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“
    Für mich ist das ein großes Glück, weil ich nicht stundenlang alles erklären und Vertrauen aufbauen muss. Das verkürzt die Aufwärmphase auf fünf Minuten, und das ist viel wert: So kann ich pro Tag sieben bis zehn Fotos machen. Wenn ich einfach die Dörfer abklappern würde, würde ich eine, höchstens zwei Sessions pro Tag schaffen. 
    Außerdem ist es wichtig, überraschend bei den Leuten aufzutauchen, dann sieht das Inventar natürlich aus. Manchmal verwandelt sich ein Haus vor deinen Augen in ein mustergültiges Vorzeigearrangement, alles wird aufgeräumt und geputzt – aber solche Fotos passen nicht in mein Projekt, die mache ich nur so und schenke sie den Hausbewohnern. Die Traditionellen Wohnräume sind etwas anderes. 
    Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie. Ich möchte vielmehr zu den Wurzeln der Fotografie zurückkehren, den Dreck und die Details einfangen, die man normalerweise nicht sieht. Ganz zu Beginn war das der wichtigste Unterschied der Fotografie zur erhabenen Kunst der Malerei – das Festhalten und die Produktion von Realität in ihrer authentischen Form. 

    Wie ist diese spezielle Form der Inneneinrichtung in Belarus entstanden?

    Man kann sagen, es ist eine Kombination aus den materiellen und kreativen Möglichkeiten der Hausleute und den jeweiligen regionalen Traditionen. Aber es gibt definitiv immer Elemente, die in ganz Belarus gleich sind: sehr viele Familienfotos in einem gemeinsamen Rahmen, die praktisch alle Generationen zeigen, gestickte traditionelle Ornamente oder Alltagsszenen. Die Farben der Wände sind dagegen überall anders. Während man im östlichen Belarus immer bunte Tapeten hat und viele bunte, handgewebte Wandteppiche und Ruschniki aufhängt, sind die Wände im Westen einfarbig, meistens grün oder blau. Und weil zwei Kriege nicht nur die Menschen getötet, sondern auch ihre Holzhäuser zerstört haben, sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände ärmlich und spärlich und wiederholen sich oft von Haus zu Haus.

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land – findet man diese Form der Einrichtung nur in Dörfern oder auch in Städten?

    Wie in anderen Ländern ist auch in Belarus der Prozess der Urbanisierung, der vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges von der sowjetischen Führung vorangetrieben wurde, noch nicht abgeschlossen. Derzeit leben nur 25 Prozent der Menschen in Dörfern, drei Viertel der Bevölkerung sind Städter. 
    Spricht man über die Dynamik, so war das in den letzten 60 Jahren eine Revolution: 1959 haben noch 5,5 Millionen Menschen im Dorf gelebt und 2,5 Millionen in der Stadt. Das heißt, heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Es kommt deswegen vor, dass die Kinder der Dorfbewohner die visuelle Kultur der älteren Generation auch in die Stadt mitgebracht haben. 

    Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie in ihrem Wohnzimmer fotografieren wollen?

    Na ja, für sie bin ich irgendein Herr Wichtig aus Minsk, der mit einem fertigen Foto im Kopf ankommt und nur ins Haus reingehen muss, den Bewohner hinsetzen, die Fenster schließen, damit das Licht stimmt – und fertig. Die Aufnahmen selbst sind schnell gemacht, fünf bis zehn, maximal 15 Minuten. Es gibt daher auch nicht wirklich ein Gespräch: Drehen Sie den Kopf, setzen Sie sich aufs Bett, danke für die Aufnahmen. Und wohin soll ich die Fotos schicken – denn praktisch alle Teilnehmer bekommen entwickelte Fotos geschenkt. In vielen Fällen waren die Leute schon gestorben, wenn ich ihnen ein paar Monate später die Fotos bringen wollte … 

    Findet man auch bei der jüngeren Generation solche Inneneinrichtungen?

    Ich glaube, es gibt bei uns kein Traditionsbewusstsein, und angesichts des rasenden Tempos der Urbanisierung fehlte das vielleicht schon von Anfang an. Jede Generation der letzten 100 Jahre hat gelernt, an einem neuen Ort zu leben, unter neuen Bedingungen und mit einem anderen Lebensstandard, und vor allem: immer in einem neuen Haus. Die Großeltern lebten in einem Holzhaus im Dorf, ihre Kinder zogen in ein Zimmer im Wohnheim oder in eine Chruschtschowka, deren Kinder wiederum wohnten erst mal in einer Mietwohnung und erwarben oft erst später Eigentum. Aber bevor sie einzogen, machten sie auf jeden Fall Euroremont, kauften Möbel von IKEA und brachten Hängedecken aus Plastik an. So ganz pauschal gesagt. Niemand wollte das alte Zeug erben, wo man sich doch in Belarus für eine ländliche Herkunft immer geniert hat, was ein zusätzlicher Grund dafür war, die visuelle Kultur des Dorfes hinter sich zu lassen. 
     

    Zwischen bestickten Kissen auf dem Sofa: Wolha Nikalauena Mahnawez und ihr Ehemann, der das Dorfoberhaupt ist, in Kudrytschy / Foto © Anonym

     

    In Chwajensk: Tamara Lukjanauna Tscharnuschewitsch in ihrem Wohnzimmer / Foto © Anonym

     

    Matrona Filipauna Kaschkewitsch vor einer Panorama-Fototapete, in Pahost, mehr als 100 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Anonym

     

    Ruschniki, Kissen, Plüschtiere – Kazjaryna Pantschenja in Pahost. Wie der Fotograf im Interview erzählt, öffnete sie ihm viele Türen in den Dörfern im Umkreis: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“ / Foto © Anonym

     

    In Pahost Iwan Zimafejewitsch Shochna an einem Holztisch, hinter ihm ein Wandbild mit Fransen / Foto © Anonym

     

    Im Süden von Belarus, im Dorf Chlupin: Hanna Akimauna Totschka. Unter dem Rahmen mit Familienbildern hängt ein Zettel mit groß gedruckten Notrufnummern / Foto © Anonym

     

    Hanna Ryhorauna Shuk vor einer modern tapezierten Wand. Auf den Sesseln liegen traditionelle Häkeldeckchen, Saruddse / Foto © Anonym

     

    Im Dorf Láchauka: Hanna Kirylauna Tschapjalewitsch auf ihrem Sofa / Foto © Anonym

     

    Schwerer Wandteppich, leichte Kissen: Maryja Michailauna Sankewitsch in Pahost / Foto © Anonym

     

    Mit Zierkissen und Stickdecken lieber zurückhaltend: Iwan Iwanawitsch Lewanjuk in seinem Haus / Foto © Anonym
    Vor Kissenburgen: Wolha Dsmitryjeuna Jakuschewitsch im Dorf Tschernіtschy / Foto © Anonym

     

    Rotes Telefon, geblümte Gardinen: Maryja Paulauna Holad in Chwajensk  / Foto © Anonym

     

    „Im Westen sind die Wände einfarbig“, sagt der Fotograf. Bei Maryja Filipauna Mamai im Dorf Saruddse sind sie in Brauntönen gehalten / Foto © Anonym

     

    Iryna Franzauna Simnizkaja in ihrem Haus im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Litauen vor holzvertäfelter Wand in Grün / Foto © Anonym

     

    „Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie“, sagt der Fotograf. Krywitschy: Dorfbürgermeister Mikalai Serafimawitsch Lewadouski in seinem Haus / Foto © Anonym

     

    Kanstanzinauka im Nordwestenvon Belarus: Nadseja Iwanauna Katowitsch auf ihrem Sofa, das mit Häkeldeckchen dekoriert ist / Foto © Anonym

     

    Maryja Michailauna Kusmitsch mit ihrer Katze in ihrem Haus in Pahost / Foto © Anonym

     

    Ikonenbilder umhüllt von einem Ruschnik: Natalja Dsmitryjeuna Kusmitsch vor ihrer Küchenwand in Pahost / Foto © Anonym

     

    Zwischen geblümten Vorhängen: Michail Sacharawitsch Tschetschko in Pahost / Foto © Anonym

    Fotos: Anonym
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team (das Interview wurde schriftlich geführt)
    Veröffentlicht am 18.11.2021

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    Das Zauberding

    Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers.
    Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.

    © Instagram/carouselzarya
    © Instagram/carouselzarya


    Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu. 

    Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.   

    © Instagram/Carouselzarya
    © Instagram/Carouselzarya

    Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn.
    Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft. 

    © Instagram/Carouselzarya
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    Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an. 

    „Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“

    Siggi, dreht die Kurbel des Karussells:
    „Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“ 

    „Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“

    Sanjok, Erfinder des Karussells:
    „In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. 
    Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen.   
    Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie.
    Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“    

    „Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“

    Jura, DJ:
    „Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht.     
    Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage. 

    Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.

    „Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
      
    Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.  

    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya
    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya

    „Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“

    Olelis:
    „Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln.
    Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.           

    Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“

    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya
    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya

    „Das Moskauer Meer“

    „Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.

    Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“

    © Instagram/Carouselzarya
    © Instagram/Carouselzarya

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  • Zukunftsnostalgie

    Zukunftsnostalgie

    Alexey Bratochkin, geboren 1974, gehört zu den bekanntesten Intellektuellen in Belarus. In seinen messerscharfen Analysen geht er den kulturhistorischen Verwerfungen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen auf den Grund, die seine Heimat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 durchlaufen hat. Dies tut er auch in diesem Essay, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen von Zukunft für Belarus in seiner Geschichte seit der Sowjetunion bestimmend waren und wie diese möglicherweise helfen können, eine Zukunft zu schaffen, die ohne den bis heute prägenden Autoritarismus auskommt.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Der Protestsommer 2020 brachte die Idee der Zukunft nach Belarus zurück. Menschenmassen in Minsk und anderen Städten demonstrierten die Absicht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen – ein Recht, das das autoritäre Regime ihnen abgesprochen hatte.

    Der französische Historiker François Hartog erforscht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gemeinschaften und der Kategorie Zeit. Er verwendet den Begriff „Geschichtlichkeitsmodus“ (régime d’historicité), um zu zeigen, wie in unterschiedlichen Gemeinschaften Vorstellungen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft generiert werden: von dem Versuch, die Grundlagen fürs Leben im Goldenen Zeitalter zu finden, also in einer idealisierten Vergangenheit, über Bestrebungen, die Zukunft nahe heranzuholen und mit dieser „futuristischen“ Aufgabe zu leben, bis hin zu einer Dominanz der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft bestimmt. 

    Wenn man über die belarussische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre spricht, so kann man sie anhand wechselnder Zukunftskonzepte beschreiben, von denen es in meiner Generation schon mehrere gegeben hat.

    Wir haben verschiedene Versionen einer kollektiven Zukunft erlebt, überlebt, aufgegeben und uns enttäuscht von ihnen losgesagt. Eine dieser Zukünfte prägte uns in der UdSSR, doch diese Zukunft Nr. 1 war 1991 zu Ende. Die Zukunft Nr. 2 stellte sich dann in den 1990er Jahren ein, sie war optimistisch und utopisch, wenn auch der sowjetischen diametral entgegengesetzt. Diese Zukunft wiederum fand einen autoritären Ersatz in der Zukunft Nr. 3, die jedoch 2020 endgültig in sich zusammenstürzte. Und so stehen wir vor einer neuen Version der Zukunft, der Zukunft Nr. 4. Was erwartet uns?

    Zukunft Nr. 1

    Bis heute ist die übliche Sichtweise, dass die UdSSR in einem besonderen, futuristischen Geschichtlichkeitsmodus beziehungsweise Zeitbezug existierte – eine Gesellschaft, deren Entwicklung von der Zukunft, vom Aufbau des Kommunismus, bestimmt war. Natürlich gab es auch hier Nuancen – doch eigentlich war das Bild der offiziellen Zukunft alternativlos.

    Für mich, wie für viele andere meiner Generation – die formal der vom Kulturanthropologen Alexei Yurchak beschriebenen letzten sowjetischen Generation der Mitte der Siebziger Geborenen angehörte – war eine spezielle Wahrnehmung der Zukunft ein enorm wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens. 

    Was hatten wir damals für eine Vorstellung von unserer, der persönlichen und der kollektiven, Zukunft? Technokratische Phantasien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mischten sich mit ideologischen Postulaten des sowjetischen Marxismus und (in unserem Fall) einer kindlichen, etwas infantilen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Gleichzeitig war diese Zukunft unmittelbar bedroht: Jeden Moment konnte ein Atomkrieg mit dem kapitalistischen Westen ausbrechen.

    Der Glaube an regelmäßige Raumflüge in naher Zukunft existierte in meiner sowjetischen Kindheit in den frühen 1980er Jahren Seite an Seite mit der Propaganda für das ultimative soziale Bestreben der Sowjetbürger – den Aufbau des Kommunismus (und das war die richtige Zukunft).

    Das in der Sowjetunion beliebte Genre der Science Fiction enthielt nicht nur utopische Beschreibungen einer positiven Zukunft – es war ein Ergebnis der Zensur. In der UdSSR durften keine Dystopien veröffentlicht werden (der Roman 1984 von George Orwell kursierte im Samisdat), sodass dieses Genre zum Teil durch Science Fiction ersetzt wurde. Auch in den offiziell veröffentlichten Büchern fand sich immer Platz für Anspielungen auf soziale Probleme, und eine Reihe sowjetischer Phantasten, etwa die Brüder Strugatzki, trieben diese besondere Sprache zur Perfektion. Die sowjetischen Dissidenten der 1960er Jahre sahen die Zukunft kritisch, und Andrej Amalrik schrieb einen fast prophetischen Text: „Überlebt die UdSSR bis 1984?“ 

    1988 erschien im noch sowjetischen Belarus, in der Zeit von Gorbatschows Reformen, Andrej Mrys satirischer Roman Notizen von Samson Samossui aus dem Jahr 1929. Der Autor dieses Romans wurde in den 1930er Jahren politisch verfolgt und sah sich vor seinem Tod gezwungen, Briefe an Stalin mit der Bitte um Begnadigung zu schreiben. In seinem Roman beschrieb er einen „neuen Sowjetmenschen“, der auf groteske Weise alle Anweisungen der Staatsmacht erfüllte und darauf seine Karriere aufbaute. Diese Satire kann man auch als Beschreibung einer gescheiterten Utopie lesen – des Misserfolgs der Bolschewiki bei der Erschaffung einer sozialistischen Zukunft. In gewisser Hinsicht war das eine Dystopie, wenn auch als Satire verkleidet. Seitdem sind dystopische Motive in der belarussischen Literatur äußerst selten.  

    Jelena Swetschnikowa, die dystopische Texte in der belarussischen Literatur erforscht, schreibt in ihrer Dissertation, dass das Genre der Dystopie in Belarus erst in den 1980er, 1990er Jahren zu finden ist. Sie konstatiert einen spezifischen Charakter der dystopischen Zukunftsvisionen in Belarus: „Kulturelle, politische und soziale Veränderungen werden in der belarussischen Dystopie negativ bewertet.“ Die Propaganda sprach vom Kommunismus, die Schriftsteller hingegen schrieben konservative, patriarchale Bücher, die Modernität und Urbanität kritisierten und zur Rückkehr in eine vorindustrielle Harmonie aufriefen.

    Konservativismus kann man hier als Reaktion auf die radikalen sozialen Veränderungen und die rasend schnelle Modernisierung interpretieren, die in der Stalinzeit und in den 1960er bis 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Die Transformation ging schnell vonstatten und hinterließ eine schwer beschädigte Vergangenheit, die in der sozialen Imagination der Intellektuellen keinesfalls zu einer wahrhaft optimistischen Zukunft werden konnte. 

    Einer der erfolgreichsten Filme der spätsowjetischen Populärkultur war die fünfteilige Fernsehserie Gast aus der Zukunft aus dem Jahr 1985, in dem auch Michail Gorbatschows Perestroika begann. In diesem für Schüler gemachten Film kommt Moskau im Jahr 2084 vor: Die Menschen bewegen sich in individuellen Flugzeugen fort, zwischen Planeten verkehren regelmäßig Raumschiffe, es gibt einen Apparat zum Gedankenlesen et cetera.   

    Die Handlung jedoch spielt fast ausschließlich in der Vergangenheit, im Moskau des Jahres 1984: Kolja Gerassimow, ein einfacher Pionier, seine Freunde und Alissa, ein mit Superkräften ausgestattetes Mädchen aus der Zukunft, versuchen, einen Gedankenleseapparat zurückzuholen, den Weltraumpiraten entführt haben. Das Leben 1984 ist leicht ironisch dargestellt – seltsame Erwachsene, das ewige Problem mit der Mangelware und ein ziemlich alltägliches Leben der Sowjetmenschen, das wenig von der Präsenz von Weltraumtechnik spüren lässt. Durch die Gegenüberstellung von Moskau 1984 und der strahlenden Zukunft 2084 konnte das Publikum sich fragen: Wie kann eine solche Zukunft das Ergebnis jener Gegenwart sein, die wir jetzt um uns haben?

    Der für Kinder gedrehte Film erzählt recht blumig eher von Erwachsenen und der Unmöglichkeit einer Zukunft, von Zynismus, Zweifel und Kritik und von den Hoffnungen der älteren Generation, die im Leerlauf zwischen dem irgendwann verblichenen Optimismus und dem Realsozialismus der 1970er und 1980er Jahre aufgewacht sind. Die Zukunft bringt durch ironische Gegenüberstellung die Probleme der Gegenwart zur Geltung, deren Lösung jedoch utopisch, unmöglich bleibt.

    Am Ende des Films erklingt das Lied Prekrasnoje daljoko (dt. Das Schöne ist weit weg), in dessen Text die Zukunft gebeten wird, „nicht grausam zu sein“ – und fast alle Heldinnen und Helden bleiben im Jahr 1984. Das Lied wurde unfassbar populär und ikonisch für mehrere Generationen; es transportiert eine besondere Stimmung – fast ein Gebet, dass unsere Kinder besser leben mögen als wir. Es trägt auch eine besondere Nostalgie in sich – eine Zukunftsnostalgie über etwas, das nie eingetroffen ist, aber so wahrscheinlich erschien, fast schon greifbar, fast real.   

    Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 setzte den technokratischen Zukunftsphantasien ganz plötzlich ein Ende und rückte die Probleme der Gegenwart wieder in den Mittelpunkt. Der Zerfall der UdSSR 1991 war nicht nur das Ende des sowjetischen Projekts mit seinen utopischen Zukunftsvisionen, sondern bot für viele auch eine neue kollektive Idee – die Rückkehr zur Normalität in Form von Verwestlichung, Markt und Demokratie.  

    Zukunft Nummer 2

    Der belarussische Alltag veränderte sich nach 1991 schnell und radikal. Das Bild der kollektiven kommunistischen Zukunft war verschwunden: An seine Stelle trat ein Gefühl von Freiheit, Chancen, aber auch Besorgnis, sowie von individuellen Perspektiven (zumindest für jene, die Ressourcen für Veränderungen hatten oder wenigstens die Hauptressource – ihre Jugend). Das gemeinsame Wertesystem kollabierte, die gewohnten sozialen Strukturen begannen sich aufzulösen, und eines der wichtigsten Kriterien für sozialen Erfolg wurde Geld. 

    Ganz plötzlich verlieh das Geld der Zukunft eine Materialität – sie war nun objektiviert, individualisiert und drückte sich darin aus, wie und was man konsumieren kann. Gleichzeitig war die Zukunft nicht mehr ganz Zukunft, also etwas, das man sich nur schwer bis ins Letzte vorstellen kann. Sie hat sich maximal der Gegenwart angenähert, in der man so leben muss, dass man jetzt Geld verdienen kann und am sozialen Erfolg beteiligt ist.  
    Eines der Symbole dieser Gegenwarts-Zukunft sind die Kleider-, Haushalts- und Technikmärkte in den belarussischen Städten, die in den 1990er Jahren fast spontan entstanden – in Sportstadien, auf Plätzen, auf denen früher sozialistische Kundgebungen abgehalten wurden, und überall, wo auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bestand. Auf diesen Märkten arbeiteten Menschen, die von ruinierten staatlichen Betrieben, wissenschaftlichen Instituten und Schulen entlassen worden waren.  

    Die Märkte waren gerammelt voll mit neuen Waren aus dem Ausland. Die Nachfrage war stabil und mit Versuchen verbunden, durch Konsum neue soziale Zugehörigkeiten zu markieren. Dieser übersteigerte Konsum war bestimmt auch eine unbeabsichtigte Folge des sowjetischen Traums vom Aufbau des Kommunismus – die Zukunft muss man endlich nicht mehr aufschieben, endlich kann man leben.

    Und während auf Alltagsebene die Zukunftsträume sehr pragmatische Formen annahmen, entwickelten sich auf Ebene des intellektuellen und politischen Lebens eigene Vorstellungen davon, wie man schneller zu einem Belarus der Zukunft kommt, zu einem demokratischen, europäischen Land, das sich einfügt ins politische Weltsystem, das seine Bipolarität und Zweigeteiltheit während des Kalten Krieges endlich abgelegt hat. Auch der gefeierte Besuch von US-Präsident Bill Clinton 1994 in Belarus war eine symbolträchtige Episode im Verschwinden des gewohnten Feindbilds, das in der Sowjetzeit geprägt wurde und als dessen Finale eine „nukleare Apokalypse“ im Fall eines Krieges mit dem Westen erwartet wurde. 

    Die Ideen der ersten Jahre der Unabhängigkeit von 1991 bis 1994 transformierten sich zu einer Idee der „Nationsbildung“, zu Versuchen, endlich ein Land und eine Gesellschaft zu entwickeln, die alle Kriterien eines Nationalstaats erfüllen, der die Idee des Imperiums besiegt und überlebt hat. Identität wurde zur Politik (wie immer), die Geschichte wurde nun „aus einer nationalen Perspektive“ diskutiert, und es entstanden neue staatliche Strukturen und Institutionen. 

    Wenn wir uns jetzt an diese Zeit erinnern, sprechen wir von der Naivität dieser Gesellschaft, die überzeugt war, man könne alle Institutionen reformieren und die alten Probleme innerhalb kurzer Zeit loswerden. Aus dieser Naivität entstand jedoch allmählich die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen und politischen Lebens. 

    Die Jahre 1991 bis 1994 waren turbulent; es gab keinen Zweifel, dass die Dynamik unumkehrbar war – es schien kein Zurück mehr zu geben. Und auch hier drängt sich wieder der Gedanke der Naivität auf – viele dachten damals, die Freiheit würde sich von selbst einstellen, man müsse sich darum nicht sonderlich kümmern. Die Gesellschaft dachte nicht mehr so intensiv an die Zukunft wie früher, die Zukunft war da, und das genügte. Weniger Utopien, mehr Pragmatik, und die Überzeugung, alles laufe bestens. Wir waren endlich unabhängig, das war das Wichtigste. Doch paradoxerweise wandelte sich die Zukunft, als wir aufhörten aktiv darüber nachzudenken, in eine Diktatur. 

    Zukunft Nr. 3

    Lukaschenkos Regime, das 1994 begann, erschien vielen wie eine Diktatur aus der Vergangenheit, alle sahen darin das Sowjetische. Was auch Lukaschenko selbst unterstützte: Solange nostalgische Bilder aus der Sowjetzeit dafür eingesetzt werden konnten, wurde das auch doppelt und dreifach getan, mindestens bis Anfang – Mitte der 2000er Jahre.

    Später nutzte die Staatsführung die sowjetische Vergangenheit nur noch selektiv. Als wichtige symbolische Ressource wurde nur noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg maximal genutzt, angepasst an die Bedürfnisse der neuen (alten) politischen Klasse. 

    Und was wurde aus der Idee der Zukunft? Im Unterschied zur sowjetischen Idee einer kommunistischen Zukunft mit ihrem Utopismus und ihrem Globalismus sowie im Unterschied zur Atmosphäre des Übergangs und der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beschränkte sich die Idee der Zukunft unter der Herrschaft Lukaschenkos auf eine einfache propagandistische Formel: Ohne Lukaschenko hat das Land keine Zukunft.

    Die 2000er Jahre begannen mit der Gründung des Museums der modernen belarussischen Staatlichkeit, das so gut wie nichts vom Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzählte, nichts über die Zeit vor Lukaschenkos Amtsantritt. Seitdem dominiert die Auslöschung der Vergangenheit, das Schweigen über die politischen Querelen in den 1990er Jahren und darüber, dass es damals eine Alternative zu Lukaschenko hätte geben können. Zu Lukaschenko gab und gibt es nun keine Alternative mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. So, wie es auch die Zukunft selbst nicht gibt. Die Vergangenheit wurde zensiert, die Zukunft auf die Frage reduziert, wie lange Lukaschenko leben wird, und übrig blieb eine Gegenwart, in der politischer Populismus die Hauptrolle spielte. 

    Zur wichtigsten Losung in Belarus wurde das Wort „Stabilität“. Stabilität bedeutete die Unveränderlichkeit des politischen Regimes und jener zwiespältigen Atmosphäre, die sich im Land entwickelte, als viele ihrer Bürger zwar verstanden, was Autoritarismus bedeutet, ihn aber trotzdem nicht als Katastrophe empfanden und bereit waren sich anzupassen. Alle verzettelten sich im autoritären Alltag, im Konsum und auf der Suche nach Nischen zum Überleben. 2013 berichteten die Medien, dass Werbeflächen im Zentrum von Minsk von jemandem mit Plakaten „Diese Stabilität ist wie der Tod!“ überklebt wurden. Diese Kunstaktion brachte das Geschehen auf den Punkt. 

    In den 2010er Jahren entstand ein neuer Mythos, der eine Illusion der Zukunft erzeugen sollte – der Mythos vom „IT-Land“. Die IT-Sphäre hatte sich abseits der staatlichen Planung entwickelt, doch die Regierung schaffte es trotzdem, sich diesen Trend auf die Fahnen zu schreiben, nicht zuletzt dank der Lobbyarbeit von Vertretern der Branche. Der neue High-Tech-Park in Minsk sollte als Argument dafür dienen, dass Autoritarismus fähig zur Modernisierung ist und Belarus einer digitalen Zukunft entgegensieht. Die Proteste im August 2020, die vor dem Hintergrund eines fast vollständigen Internet-Shutdowns passierten, zogen auch unter diese Geschichte von der digitalen Zukunft einen Schlussstrich.    

    Zukunft Nr. 4

    Die Proteste des Jahres 2020 machten die Legitimität des autoritären Regimes zunichte, das als Antwort Gewalt zum zentralen politischen Werkzeug und zur Grundlage des Systems machte. Die Atmosphäre in Belarus schwankt heute zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das bestehende System kann sich noch halten, aber eine Zukunft hat es nicht (nur die Vergangenheit wird ausgenutzt und Gewalt angewendet).

    Wie können wir uns heute in Belarus die Zukunft vorstellen? Welche Fragen stehen an? Einige von ihnen betreffen die politische Praxis: Welcher Weg führt aus dem Autoritarismus heraus, was wird mit unseren Institutionen und Vorgehensweisen, welchen Preis werden wir zahlen müssen? Wird es uns gelingen, das Erbe der Diktatur zu verdauen und ein System zu erschaffen, in dem Diktatur nicht mehr möglich sein wird? Wird dieses System auch demokratisch, sozial gerecht, inklusiv sein, werden wir in der Lage sein, horizontale Strukturen und Verbindungen aufzubauen? Wird es uns außerdem gelingen, über den politischen Pragmatismus hinauszugehen und allen unseren Bemühungen mehr Gewicht und mehr Sinn zu verleihen?

    Diese Fragen stellen sich wohl viele im Land schon jahrelang mit unterschiedlicher Intensität. Und all diese Jahre hindurch sehen wir Versuche, auf die Bilder einzuwirken, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aussehen – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Verschwinden der sowjetischen Utopie der kommunistischen Zukunft und des nationalen Projekts der Unabhängigkeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre schufen eigene Zukunftsnostalgien unterschiedlicher Zukünfte (und Vergangenheiten). 

    Die Proteste von 2020, Repressionen, Gewalt und der 2021 fortgesetzte Widerstand haben die Diskussion über die Zukunft wieder aufgebracht und vermitteln das Gefühl ihrer Wiederkehr. Gelingt es uns, diese Chance zu nutzen, oder bleibt es bei einer weiteren Nostalgie, einem weiteren nicht realisierten Projekt kollektiver Zukunft?   

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