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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #5

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Igor Chekachkov

    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov
    Marina, Kostja und Wlad kommen aus Kyjiw, zu dritt leben sie nun in einem Wohnheim in Lwiw, Juni 2022 / Foto © Igor Chekachkov

    IGOR CHEKACHKOV
    „Was macht das Gefühl von Zuhause aus – und was passiert, wenn man dieses Gefühl verliert?“ 

    [bilingbox]Als russland [sic!] die Ukraine überfiel, war ich gezwungen, meine Heimatstadt Charkiw zu verlassen. Ich bin nach Lwiw gegangen und habe ziemlich bald damit begonnen, das Leben der vertriebenen Menschen zu dokumentieren. Das Thema interessiert mich, weil ich jetzt selbst ein Vertriebener bin. Und indem ich Menschen fotografiere, die ihr Zuhause verlassen haben, hinterfrage ich auch meine eigene Position und meine Gefühle.

    Dieses Foto habe ich in einem Wohnheim aufgenommen, in dem Vertriebene leben. Marina, Kostja und Wlad sind Freunde aus Kyjiw. Sie haben gemeinsam Film studiert und sind zu Beginn der Invasion nach Lwiw gezogen. Jetzt leben sie zusammen in einem kleinen Zimmer in einem Wohnheim.

    Vor etwa zehn Jahren habe ich in Charkiw an der Fotoserie Daily Lives gearbeitet, die zeigt, wie Menschen zusammenleben und sich gemeinsame Räume teilen. Diese Serie setze ich heute in einem ganz anderen Kontext fort – ich dokumentiere, wie Menschen, die gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, in Notunterkünften zusammenleben. Als ich Charkiw gerade verlassen hatte, lebte ich in einem Haus in der Nähe von Lwiw mit etwa 20 anderen Vertriebenen zusammen. Dann zog ich an einen anderen Ort, und wir waren nur noch zu sechst. Diese Erfahrung machte mich neugierig darauf, wie andere Vertriebene zusammenleben.

    Ich versuche, die Grenzen der Dokumentarfotografie zu erweitern und neue Formen der Darstellung des Krieges zu finden. Dokumentar- und Pressefotografen leisten eine großartige Arbeit, aber es gibt viele von ihnen auf der ganzen Welt. Deshalb möchte ich experimentieren und mich auf persönlichere Themen konzentrieren. Ich habe das Gefühl, dass ich noch mehr Zeit brauche, um darüber nachzudenken, was gerade passiert, was ich damit machen kann und was dabei die Rolle des Fotografen ist. 

    Mit meiner Fotografie frage ich, was das Gefühl von Zuhause, von Heimat ausmacht und was passiert, wenn Menschen dieses Gefühl verlieren. Wie Werte sich wandeln, wenn wir mit etwas so Schrecklichem konfrontiert sind, wie sich unsere Persönlichkeit verändert. Das sind die Fragen, die ich mir selbst stelle, und auch den Menschen, die ich fotografiere.

    Kann Kunst eine Brücke bauen zwischen der Ukraine und russland? Ich hatte immer das Gefühl, dass Kunst der beste Weg ist, um Brücken zwischen Kulturen zu bauen, aber jetzt bin ich nicht mehr so optimistisch. russland hat so viele Dinge getan, um Hass in ukrainischen Herzen zu säen, und die Ukrainer werden für eine ganze Weile keine Brücken zu russland bauen wollen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen, solange russland weiterhin die Ukraine angreift. Die Menschen, die uns angegriffen haben, sind von der Kunst nicht berührt; die, die es doch sind, würden nicht in ein anderes Land einfallen. Deswegen denke ich, dass wir Künstler nicht viel tun können. Die Kunstwerke werden nie von Kreml-Politikern oder russischen Soldaten gesehen werden. Aber ich hoffe, dass Kunst – und Fotografie im Besonderen – helfen kann, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern.~~~When russia invaded Ukraine, I was forced to leave my hometown Kharkiv to western Ukraine. I’ve settled down in Lviv and shortly I started documenting displaced people. I am interested in this subject because now I am a displaced person myself, and by photographing people who left their homes I am also questioning my position and my feelings.

    This photograph was taken in the dorm, which is inhabited by displaced people. Marina, Kostya and Vlad are friends from Kyiv. They were studying cinematography together and moved to Lviv at the beginning of the invasion. Now they live together in a small room in the dorm. 

    About 10 years ago I was working on a “Daily Lives” series in Kharkiv, depicting how people live together and share common spaces. Now I continue this series in a very different context — I document how people who were forced to leave their homes and live together in shelters. When I just left Kharkiv I was living in a house not far from Lviv with about 20 other displaced. Then I moved to another place and there were just six of us. This experience made me interested in how other displaced people live together.

    I am trying to push the boundaries of documentary photography and searching for new forms of depicting the war. Documentary and news photographers are doing a great job, but there are plenty of them from all over the world and that’s why I want to experiment and focus on more personal topics. I feel that I still need more time to reflect on what is going on, what I can do with it and what is the role of the photographer now. 

    With my photography I am questioning what is the feeling of home and what happens when people lose it. How values change when we face something so dreadful and how it changes our personality. These are the questions I ask myself, as well as the people I photograph. 

    Can art build bridges between Ukraine and russia? I always felt that art is the best way to build bridges between cultures, but now I am not so optimistic. russia did so many things to plant hate in Ukrainians hearts and Ukrainians will not want to build bridges with russia for quite a while. At least I can’t imagine this happening while russia continues to attack Ukraine. People, who attacked us, are not touched by art; the ones who are will not invade another country. This is why I don’t think we (artists) can do much. The work of art will never be seen by Kremlin politicians or russian soldiers. But I hope that art, and photography in particular, can help to prevent this kind of disaster in the future.[/bilingbox]

    IGOR CHEKACHKOV

    1989 in Charkiw/Ukraine geboren. Begann 2008 zunächst als Fotojournalist zu arbeiten und fand schließlich zur Arbeit als künstlerischer Fotograf. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Maison de la Photographie, Lille
    2021 – Interphoto Festival, Białystok
    2021 – Mystetskyi Arsenal, Kyjiw
    2019 – Dongsung Market Art Project in Daegu/Südkorea
    2019 – Einzelausstellung während des Hybrid-Kunstfestivals, Madrid
    2019 – CEPA Gallery, Buffalo, New York
    2018 – EEP Berlin
    2017 – Fotofestival Odessa/Batumi

    PUBLIKATIONEN
    u.a. in British Journal of Photography, Bird in Flight, P3 uvm.


    Foto: Igor Chekachkov
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: dekoder
    Veröffentlicht am 13.07.2022

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  • Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

    Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

    Alexander Gronsky ist einer der berühmtesten russischen Landschaftsfotografen. Er fotografiert seit vielen Jahren Straßen, Brachflächen, Höfe und Plattenbauten. Seine Fotos werden in Berlin, Paris, Riga und New York gezeigt. 
    Gronsky blieb nach dem 24. Februar in Russland und fotografierte: in Stadtstraßen und Randgebieten. Der Fotograf sagt gegenüber Meduza, dass er gar nicht anders kann, als an Bekanntem anzudocken und so einen Weg aus der Starre zu finden. Was hat sich in Russland über diese Monate verändert? „Im Grunde nichts. Und gleichzeitig alles“, sagt Gronsky. „Allein das Datum verändert das Verhältnis zu den Bildern, verleiht einem normalen Motiv enorm viel mehr an Kontext.“

    Die folgenden Fotografien sind in Moskau entstanden, und zwar während der ersten drei Monaten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Alexander Gronsky schreibt dazu:

    „Ich habe geträumt, dass ein Atomkrieg begonnen hat, in Moskau drei Explosionen. Es ist klar, das war’s. Das war’s einfach. Ich kriege im Traum keine Panik, ich denke einfach nur, okay, dann geh ich los und knipse, wie sich alles verändert hat.

    Für mich ist dieser Traum wortwörtlich zu nehmen. Seit Anfang des Krieges fotografiere ich Moskau und spende die Fotos für Hilfsprojekte in der Ukraine. Dahinter steht kein besonderes künstlerisches Konzept, es ist einfach ein fassungsloses Sich-im-Kreis-Drehen. 

    Nichts hat sich geändert, und alles hat sich geändert. 

    Ich fotografiere, verschicke das Foto, jemand hängt es sich an die Wand und schickt jemandem, der es braucht, 150 Euro. Ganz schlichte Handlungen, die mir sehr helfen.“

    „За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“
    „За мир“ ( „Sa mir“) – „Für den Frieden“
    „Frühling – der Tag des Sieges naht“
    „Frühling – der Tag des Sieges naht“

    Fotos: Alexander Gronsky
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 07.07.2022

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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    März: Alexander Gronsky

  • Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #3

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ​​Jędrzej Nowicki

    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki
    Glassplitter in Charkiw, 19. März 2022 / Foto © ​​Jędrzej Nowicki

    ​​Jędrzej Nowicki
    „Ein Funken Licht, selbst in dunkelsten Zeiten“

    [bilingbox]Das Foto mit Glassplittern vor einem stark zerstörten Wohnblock im Bezirk Saltiwka in Charkiw hat mir wieder einmal gezeigt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einen Funken Licht gibt. Das Bild ist vom 19. März 2022. Charkiw befand sich damals mitten in einer brutalen Belagerung, und Saltiwka – einer der größten Schlafbezirke der Stadt – lag direkt an der Front. Tausende Bewohner von Charkiw lebten nur noch unter der Erde, die humanitäre Krise spitzte sich zu. Es war sehr bewegend und herzzerreißend, die zweitgrößte ukrainische Stadt zu dieser Zeit zu sehen. 

    Fast zwei Monate später fuhr ich wieder dorthin. Die russischen Truppen waren zurückgedrängt worden, Menschen kehrten zu den Ruinen ihrer Häuser zurück, das Leben normalisierte sich wieder. Es ist eine neue Normalität, doch war sie nicht von Dauer. Während ich diesen Text schreibe, steht Charkiw unter schwerem Beschuss – niemand weiß, was das bedeutet. Ist es einfach eine Mahnung der Russen, dass sie noch da sind, oder wollen sie vielleicht einen zweiten Totalangriff auf Charkiw starten? Also fahre ich wieder mit Helm und kugelsicherer Weste durch die Stadt. Erkundige mich ständig bei Einheimischen nach den sichersten Routen und Stadtteilen, wo es weniger gefährlich ist zu arbeiten.

    Kein einziges Leben wird zurückkommen, und es wird Jahrzehnte brauchen, bis dort wieder eine friedliche Region entstehen kann. Genau wie mein geliebtes Warschau Jahrzehnte brauchte, nachdem es vor 80 Jahren in Ruinen verwandelt wurde. Heute blüht der Flieder wieder und die Luft flirrt in den endlosen Sommernächten. Eine Stadt, die überlebt hat.

    Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, immer Licht im Dunkel zu finden, treibt mich an als Fotograf und fasziniert mich als Mensch.~~~This photograph of shattered glass laying in front of a heavily damaged block in the Saltivka district of Kharkiv reminded me that even in the darkest times there always is a glimpse of light. The picture was taken on the 19th of March. Kharkiv was back then in the middle of a brutal siege and the Saltivka district – biggest dormitory suburb of the city – was its very frontline. Thousands of Kharkiv’s residents moved to live underground and humanitarian crisis was a pressing issue. To see Ukraine’s second-largest city at that time was a moving and rather heartbreaking experience. I decided to revisit Kharkiv after nearly 2 months. Russian troops had been pushed back, people started coming to their ruined houses, life was getting normal back again. New normality it is though and it is not given forever. As I’m writing this text now Kharkiv is being heavily shelled – no one knows what this might mean. Whether it’s just a reminder from Russians that they’re still there or maybe they will attempt to prepare a second full-scale attack on Kharkiv? So again I find myself driving around the city in a helmet and vest. Constantly checking with locals safest routes and neighbourhoods where it is relatively safe to work. 
    No lives will be returned and rebuilding a peaceful region will take decades.  

    As it took decades for my beloved city of Warsaw – turned into ruins some 80 years ago now blooming with lilac, with the air vibrating with the noise of endless summer nights. The city that survived. 
    This deeply humane ability to always find light in darkness is what drives me as a photographer and fascinates me as a human being.[/bilingbox]

     

    JĘDRZEJ NOWICKI

    geboren 1995, lebt in Warschau/Polen
    Er ist ein Dokumentarfotograf mit Fokus auf Osteuropa und bislang vor allem auf Belarus. Er hat auch im Nahen Osten und in Afrika gearbeitet.


    AUSSTELLUNGEN, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2021 – World Report Award
    2021 – Luis Valtuena Award
    2019 – Ian Parry Scholarship


    PUBLIKATIONEN
    Le Monde, Die Zeit, Newsweek, The Guardian, The Wall Street Journal  uvm.


    Foto: ​​Jędrzej Nowicki
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 02.06.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

  • „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“ skandieren Pussy Riot auf ihrer Europa-Tournee Riot Days. Es ist eine Art Punk-Performance, immer wieder wenden sich Pussy Riot darin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, fordern ein Öl- und Gasembargo, alles untermauert von dokumentarischen Bildern und wummernden Elektrobeats.

    Die Tour, die am 9. Juni in Lissabon endet, begann am 12. Mai in Berlin. Erst kurz zuvor war Maria Aljochina eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. Seit September 2021 war sie unter Hausarrest, der in 21 Tage Haft in einer Strafkolonie umgewandelt werden sollte. Sie habe sich als Essenslieferantin verkleidet, erzählte Aljochina mehreren Medien, so sei sie entkommen trotz Polizeibewachung. Über Belarus sei sie in die EU geflohen, allein um von dort über die Grenze weiter nach Litauen zu kommen, habe sie drei Versuche gebraucht. Als Grund für die Flucht nennt sie in verschiedenen Gesprächen vor allem die Tournee, die sie unbedingt habe machen wollen, um gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu protestieren.

    Es sind nicht nur Aktivisten wie Aljochina, sondern auch Journalisten, Menschenrechtler, aber auch IT-Experten, die Russland seit dem 24. Februar 2022 in Scharen verlassen haben. Doch nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine werden unabhängige Akteure unterdrückt, die ohnehin autoritäre Entwicklung wurde über mehrere Jahre immer repressiver. Erste starke Einschnitte gab es nach den Bolotnaja Protesten 2011/12, massiv verschärfte sich das Vorgehen des Staates außerdem nochmal im vergangenen Jahr nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny: „Wer nicht Freund ist, ist Feind“, konstatierte damals die Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Im Zusammenhang mit diesen Protesten war Aljochina im September 2021 zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden, angeblich habe sie gegen „Hygienevorschriften“ verstoßen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Aljochina daraufhin als politische Gefangene an. 

    Drei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine hat Maria Aljochina ein Interview gegeben für die YouTube-Sendung Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa). Mit der Journalistin Katerina Gordejewa, die bekannt ist für ihre tiefen und sehr persönlichen Interviews, sprach sie über ihren Weg als Aktivistin, über Zweifel, Schweigen und Angst – und darüber, wie sie selbst mit diesen Gefühlen umgeht. Das Gespräch ist auch eindrucksvolles Dokument des repressiven Systems in Russland kurz vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Über das Zweifeln

    Katerina Gordejewa: Stimmt es, dass du bis zu dem Morgen der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale gezweifelt hast, ob du mitgehen sollst?
    Maria Aljochina:
    Ja, zweifeln kann ich gut. Ich denke, ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich alles durchsprechen konnte, um mir im Laufe des Gesprächs über einige Dinge klar zu werden. Nicht nur, ob es richtig war, sondern insgesamt über die Ausdruckform dessen, was ich tue.

    Du hast mit deiner Freundin, der Bassistin, gesprochen, und bist am Ende mitgegangen und sie nicht. Hätte sie mitgehen sollen? 
    Ja, das hätte sie, sie hatte mit uns geprobt.

    Aber sie ist nicht mitgegangen.
    Nein, ist sie nicht.

    Und du schon.
    Ich schon.

    Wenn wir jetzt zurückspulen würden, würdest du wieder mitgehen?
    Natürlich würde ich wieder mitgehen! Du meinst wegen …

    … wegen der Konsequenzen. War es das wert?
    Was ist „es“?

    Na, der Auftritt … die vierzig Sekunden Song, das Video. 
    Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.

    Und fast zwei Jahre Gefängnis. War es das wert?
    Ja. Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können. Auch beim Absitzen, im Gefängnis und danach, es gibt immer etwas, das man besser machen könnte. Manches hätte man besser bleiben lassen. Aber sicher nicht unsere Aktion.

    Hättest du je gedacht, dass du dort im Westen reich und berühmt werden würdest, während du hier im Hausarrest auf einem Balkon mit Blümchen hockst und auf einen schick renovierten Spielplatz starrst?
    Ich bin ja nicht nur im Hausarrest … Ich war ja davor noch im Gefängnis. Das alles ist eine Art Zeugnis, ein lebendiges Zeugnis dessen, was hier vor sich geht. 

    Wofür hast du den Hausarrest bekommen?
    Das war ein Strafverfahren wegen eines Instagram-Posts mit dem Aufruf zu einer Solidaritätsdemo für Politgefangene, einer davon Alexej Nawalny. [Der offizielle Vorwurf lautet, dass Maria Aljochina gegen die Corona-bedingten Hygieneregeln verstoßen habe. Im September 2021 wurde sie deswegen zu einem Jahr Hausarrest verurteilt – dek]

    Welchen Status hast du gerade?
    Ich bin verurteilt.

    Derzeit bist du das einzige bekannte Mitglied von Pussy Riot, das in Russland geblieben ist, und eine der wenigen Angeklagten in den Hygieneprozessen, die nicht ausgereist sind. Warum bleibst du in Russland?
    Ich bleibe und ich lebe in Russland, weil es meine Heimat ist. Es ist meins. Eigentlich könnte man diesen tollen kleinen Zeitabschnitt zwischen Urteilsverkündung und Berufungsverfahren dafür nutzen, um abzuhauen. 

    Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können

    Aber das ist ein One-Way-Ticket. Das brauche ich nicht. Ich mag Tickets wirklich sehr, ich liebe es zu fliegen, ich steh voll auf Reisen, aber bitte in beide Richtungen. 
    Ich möchte nicht, dass mir jemand einen Arschtritt gibt und sagt: „Hau ab“. Sollen die doch selbst abhauen. [Im Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen, s.o. – dek]
     

    Vom Öko-Aktivismus zu Pussy Riot

    Wie warst du als Kind?
    Schwierig. Ich glaube, ich habe erst jetzt, im Hausarrest, bei dem ich sehr viel mit meiner Familie gesprochen habe, verstanden, wie schwer sie es eigentlich mit mir hatten.

    Deine Großmutter hat dich „der Geist des Widerstands“ genannt. Ab welchem Zeitpunkt würdest du über dich sagen, dass du alles anders gemacht hast als andere Kinder?
    Naja, ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt und … mich geweigert, etwas zu tun, solange man mir keinen Grund dafür genannt hat. 

    Wie hast du dich damals selbst gesehen?
    Ich hatte mich damals verliebt und fuhr mit dem netten Kerl per Anhalter ins Naturschutzgebiet Utrisch. Eine unvergleichliche Gegend im Süden Russlands. Wacholder- und Pistazienwälder, in denen verschiedenste Leute leben, alle möglichen Hippies, aber nicht nur Hippies. Dort haben wir eine Zeitlang gelebt, dann sind wir zurückgekommen, haben gearbeitet, irgendwann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin und [wusste, dass ich] das Kind behalten möchte. Ich habe ja sehr früh ein Kind bekommen, mit 18 beziehungsweise 19. 

    Ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt

    Die ersten Jahre war ich mit Philipp zu Hause, dann wurde es mir zu langweilig. Mit einem Kleinkind konnte ich mich für kein Präsenzstudium einschreiben, und ich habe nur zwei Orte in Moskau gefunden, wo man ein Fernstudium machen konnte. Irgendwann in der Mitte des Studiums habe ich im Internet gelesen, dass der Wald abgeholzt werden soll. Um da irgendeine Villa oder Datscha zu bauen. Ich habe mir zwei Adressen von Umweltschutzverbänden rausgeschrieben, WWF und Greenpeace, meinen Rucksack gepackt und bin losgefahren, um zu fragen, was ich tun kann, um das zu verhindern. 

    Bei einer Adresse hat man mich zum Teufel gejagt, bei der anderen habe ich einen tollen Menschen kennengelernt, Mischa Kreindlin, den Zuständigen für Naturschutzgebiete bei Greenpeace. Ich habe ihn gefragt, was ich tun kann. Er sagte: „Geh Unterschriften sammeln. Ich drucke dir die Formulare aus. Wenn du 5000 zusammen hast, kommst du wieder.“ Ich habe mir ein paar Leute als Verstärkung geholt und wir sind los, Unterschriften sammeln.

    Als wir damit fertig waren, habe ich gefragt: „Was kann ich noch machen?“ Es hieß: „Du kannst ein Piket machen.“ Damals durfte man noch diese Einzeldemos machen. Heute sperren sie dich wegen einem Einzelpiket für 30 Tage weg, aber damals war das noch ok.

    Zwischen „damals“ und „heute“ liegen gerade mal 15 Jahre.
    Ja. Und zwischen 2012 und 2021 liegen keine zehn, aber der Unterschied ist gigantisch. 

    Vom Öko-Aktivismus zu dem Pussy Riot-Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale ist es ein ziemlich weiter Weg.
    Wieso? Überhaupt nicht. Eine Freundin hat mich zu Pussy Riot gebracht, was damals noch die Gruppe Woina war. Sie haben mich in eine Garage eingeladen, in der sie zu der Zeit wohnten, das war so eine romantische WG der Leute von der Philosophischen Fakultät. 

    Bei Pussy Riot sah ich plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise

    Weißt du, meine Freunde, also die Leute von der Uni oder aus Lyrikgruppen, hatten so gar nichts mit den Leuten gemeinsam, die zum Beispiel zu den Pikets kamen. Das waren zwei unterschiedliche Welten, ohne jegliche Berührungspunkte. 
    Und hier sah ich jetzt plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise.


    ÜBER DIE REUE

    Stimmt es, dass man während der Ermittlungen [nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2011] von euch verlangt hat, Namen und Adressen der anderen Pussy Riot-Mitglieder zu nennen und ihr es nicht getan habt?
    Sie haben erst Nadja [Tolokonnikowa] und mich verhaftet, Katja [Samuzewitsch] ist später von selbst gekommen. Aus Solidarität. Der Schritt ging von ihr aus. 

    Und die anderen sind nicht gekommen.
    Nein. Aber jeder entscheidet selbst, ob er ins Gefängnis wandern will …

    Hat man von euch verlangt, die Namen der anderen zu nennen?
    Irgendwie schon … Was sie natürlich immer verlangen, alle Bullen, immer und überall, seit zig Jahrzehnten, ist ein Schuldeingeständnis. Das ist das Wichtigste.

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam

    Erst bringen sie dich in die Petrowka, danach erlassen sie einen Haftbefehl und bringen dich ins Untersuchungsgefängnis. Und wir sind in den Hungerstreik getreten, es war kalt. Von den Bettlaken bekam man dauernd einen kleinen Schlag. Dort gab es zum ersten Mal Handschellen, Gesicht zur Wand, Hände hintern Rücken, dunkle Zelle. Theoretisch gibt es natürlich ein Fenster, aber es ist völlig dicht durch diese Wimpern aus Metall. Tja, also all diese unerfreulichen Dinge. 

    Was sind Wimpern?
    Wimpern? Wie soll ich dir das erklären? Stell dir ein Fenster vor: Du hast den äußeren und den inneren Teil, außen sind solche … so eine Art Jalousien angebracht, starr sind die, aus Metall und immer geschlossen. Das sind Wimpern. 

    Was für eine nette Bezeichnung.
    Ja. Da gibt es viele nette Dinge. Dann kommt ein Polizist und fängt davon an, dass du ja ein Kind hast, erzählt von den anderen Beteiligten, von einem Schuldeingeständnis, davon, dass du nur jetzt mit Bewährung davonkommen kannst, ansonsten geht es in U-Haft und dann nie wieder raus, also entscheide dich mal. So läuft das.

    An einer sehr ergreifenden Stelle in deinem Buch heißt es: „Am Morgen schaute Philipp Wilde Schwäne im Fernsehen. ‚Ich bin bald wieder da‘, sagte ich und packte meinen Rucksack. Er war damals vier, es waren noch drei Monate bis zu seinem fünften Geburtstag. Ich sagte ‚Ich bin bald wieder da‘, zog die Tür hinter mir zu. Und kam nach zwei Jahren wieder.“ 
    Ich habe diese Stelle wieder und wieder gelesen und musste jedes Mal fast weinen. Ich verstehe nicht, was für ein Ziel du wohl hast, um diesem Ziel zwei Jahre vom Leben deines Sohnes, von vier bis sechs, zu opfern. 

    Du stellst die Frage falsch. Du stellst sie so, als hätten wir alle gewusst, dass es diese zwei Jahre werden, dass es Gefängnis wird, dass es ein Verfahren geben wird. Das wusste keine von uns. 

    Würdest du es nochmal machen, wenn du wüsstest, was dich erwartet?
    Ja. Erstens mag ich den Konjunktiv nicht besonders. Und zweitens: Entweder du bereust etwas aufrichtig oder eben nicht.

    Und du bereust es nicht?
    Nein. Tu ich nicht. Aber das ist nicht leicht.

    In den sieben Monaten U-Haft habe ich sehr viele Memoiren von sowjetischen Dissidenten gelesen, weil ich mir gedacht habe: Von wem, wenn nicht von ihnen, soll ich lernen? 

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam. Ich wollte gern nachlesen, was andere Menschen unter diesen Umständen gemacht haben, die vor uns dort waren. Denn das sind ja  Erfahrungen, man darf da ja nicht völlig unvorbereitet reingehen. 

    Wen hast du gelesen?
    Ehrlich gesagt habe ich Schalamow zum ersten Mal im Untersuchungsgefängnis gelesen. Es war eines der ersten Bücher, die man mir mitgebracht hatte. Damals haben wir erst angefangen zu verstehen, was Bücherübergaben sind. Ein Buch in die U-Haft zu bekommen, ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Denn sie lassen nichts durch, was irgendwas im Titel hat, das sie irritiert. Beispielsweise Hannah Arendts Abhandlung ging lange Zeit nicht, bloß weil darin das Wort „Revolution“ vorkam. Das konnte ich sehr lange nicht bekommen, weil sie dachten, es wäre eine Anleitung zur Revolution und keine historische Abhandlung. Sie sehen also irgendwo, vorn oder hinten drauf ein verdächtiges Wort und kassieren das Buch ein.

     

    KAMPF FÜR DIE RECHTE

    Hattest du die Idee, für deine Rechte in der Haft zu kämpfen schon in der U-Haft oder erst in der Strafkolonie?
    Heute, 2021 [das Interview wurde im November 2021 geführt – dek], leben wir verglichen mit 2012 in einer super anderen Zeit. Damals gehörten wir zu den ersten, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …

    Menschen aus der soften Realität, die plötzlich im Gefängnis gelandet sind?
    Ja, wir waren Politgefangene, deren Prozess die Leute wirklich schockiert hat. Heute, wenn Tausende hinter Gittern sind, ist so eine Aufmerksamkeit rein physisch gar nicht möglich, im Vergleich zu Zeiten, in denen nur ein paar Leute in Haft sind. 

    Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles

    Die Kommission für Menschenrechte kam zum ersten Mal in der U-Haft zu mir, als ich in der Quarantäne-Zelle war. Du kannst es dir ungefähr vorstellen: Ein Mensch ist zum ersten Mal hinter Gittern, tritt zum ersten Mal in Hungerstreik, das ganze Paket zum allerersten Mal. Man bringt dich in die Quarantäne-Zelle, um deinen Gesundheitszustand zu überprüfen. Pro forma, versteht sich. Die Polizisten wissen schon Bescheid. Was mit dir los ist. Danach wird entschieden: Entweder gehts in die allgemeine oder in die Extrazelle. 

    Mir ist aus deinem Buch in Erinnerung geblieben, der erste Hungerstreik wäre wie die erste Liebe.
    Ja, so etwas habe ich geschrieben. Die Menschenrechtler kamen zu mir, als ich das Gefängnis noch gar nicht wirklich gesehen hatte. Da haben mich bestimmte Dinge rein menschlich gewundert, wie wahrscheinlich jeden. Ich habe gezeigt, dass wir die Fenster mit Brotkügelchen abdichten, weil es so kalt ist. Da war nichts von wegen: „Ich erkläre dem System den Kampf und bin die neue Dissidentin des 21. Jahrhunderts.“ Es war einfach nur eine rein menschliche Aussage. Aber sie … das ist der große Unterschied bei den Leuten des Systems, sie fassen banale Ehrlichkeit als Kriegserklärung auf. Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles. Damit fängt es an. 

    Wenn du dann in die Strafkolonie kommst, begreifst du das Ausmaß der Rechtlosigkeit der Menschen dort, und wie viele Möglichkeiten du im Vergleich zu ihnen hast, um dich zu wehren. 

    Weißt du, wie wenige Frauen dort Anwälte haben? Höchstens fünf Prozent. 

    Oxana Darowa, deine Anwältin, wie bist du an sie gekommen?
    Oxana ist eine super Anwältin. Und ein Mensch, ohne den ich in der ersten Strafkolonie gar nichts geschafft hätte. Ich habe sie durch die Menschenrechtler gefunden, an die sich meine Mutter gewandt hatte. Ein Zufall. Sie ist klasse. Sie hatte die Idee, gegen die Kolonie vor Gericht zu ziehen.

    Du bist der erste Mensch in Russland, der einen Prozess gegen eine Strafkolonie gewonnen hat. 
    Ja. Oxana hat die den Maßnahmen angefochten, die mir auferlegt wurden, denn sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht. 

    Maßnahmen anzufechten ist eigentlich ziemlich simpler Bullshit, der in zwanzig Minuten geprüft wird. Bei uns hat es jeweils acht Stunden gedauert. Drei von vier Maßnahmen haben wir erfolgreich angefochten. Das Gericht hat sie als rechtswidrig eingestuft. 

    Sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht

    Und weil ich in Zusammenhang mit den rechtswidrig auferlegten Maßnahmen schon das Kreisgericht in Beresniki als Plattform hatte, habe ich auch über andere rechtswidrige Dinge gesprochen, die in der Kolonie passieren. Und weil Menschen diese Informationen verbreitet haben, gab es irgendwann Kontrollen. Erst auf regionaler Ebene und später offenbar auch aus Moskau. Danach haben sie mich verlegt. Und eine kleine süße Hölle für mich veranstaltet, eine Reihe höllischer Durchsuchungen.

    Und da haben sie wegen dir die anderen bestraft …
    Genau. Sie haben Schlösser an die Türen der Gruppe gehängt, in der ich war. Dadurch konnten die Frauen beispielsweise nicht mehr in die Krankenabteilung, um Medikamente zu holen. Oder sonstwohin.

     

    ÜBER DIE FRAGE: WAR ES DAS WERT?

    Hattest du den Gedanken, dass du für etwas Abstraktes kämpfst? Während reale Menschen unmittelbar in deiner Nähe deswegen leiden? Nur weil du keine Ruhe geben kannst?
    Klar. Solche Gedanken lassen sich nicht vermeiden, und falls du es versuchst, erinnern sie dich schnell daran.
    Ja. Das ist schwer. Weil manche deswegen nicht auf Bewährung rauskommen und noch ein paar Jahre sitzen müssen.

    Und ihre Kinder nicht sehen.
    Und ihre Kinder nicht sehen. Einfach nur, weil ich in ihrer Gruppe bin.

    Fragst du dich an dieser Stelle, ob es das wert war?
    Natürlich.

    Und was sagen die Frauen, die es betrifft?
    Die Frage ist falsch gestellt. Eine Frau darf ihre vorzeitige Entlassung nicht verlieren, nur weil sie mit mir in einer Gruppe ist. 

    In Beresniki hast du erreicht, dass es für jedes Stockwerk ein Telefon gibt und nicht nur eins im Straflager, wo man nur einmal im Monat telefonieren darf, richtig? Du hast erreicht, dass es Fernseher gibt.
    Naja … Ich mag nicht, wenn du sagst, ich hätte es erreicht. Es war nicht ich, wir waren es. Allein hätte ich das nie geschafft.

    Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz

    Meine Anwältin, die Leute, die aus Moskau kamen, um mich zu unterstützen und über die Prozesse zu berichten. Ein bisschen auch die regionalen Menschenrechtler, die teils mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeiten, aber in dem Fall hatten auch sie sich eingeschaltet. 

    Und die Frauen, die keine Angst hatten, mit dir wenigstens eine zu rauchen …
    In Beresniki war das leider nur eine Person. Lena, eine junge Frau, sie hat einfach nur bestätigt, dass ich nicht lüge. In Nishni [Nowgorod] waren es schon fünf, die zu den Menschenrechtlern gegangen sind. Aber da sind die Menschenrechtler auch sehr cool. An anderen Orten weißt du, dass jemand zu dir kommt, mit dir redet und danach mit den Bullen saufen geht. Du lieferst dich nur ans Messer, du weißt, dass du etwas tust, womit du dir dein Leben sehr schwer machst, und der Pseudo-Menschenrechtler unternimmt nichts dagegen. 

    Gut, ihr habt also zusammen erreicht, dass es Fernseher, Telefone, Besuchsmöglichkeiten, Kopftücher und Lohn gab.
    Wir haben durchgesetzt, dass es Klokabinen gibt, bei denen man die Tür zumachen kann. Wir haben durchgesetzt, dass es in jeder Gruppe ein Telefon gibt, nicht nur zwei Stück im Klub mit einem Monat Wartezeit. Und es gab eine Reihe von Entlassungen.

    Und warme Kopftücher.
    Ja, die auch, ganz am Schluss. Die Kopftücher waren eigentlich das, womit alles anfing. Aber auch da hatte ich nicht vor, die Verwaltung irgendwie anzugreifen, ich hab den Menschenrechtlern einfach nur gesagt, dass wir minus 35 Grad haben und die uns irgendwelche Gazetüchlein geben. Und die Frauen bekommen keine Wolltücher, weil sie niemanden haben, der sie ihnen schicken würde. Und dass es vermutlich falsch ist, in den Ural Tücher aus Gaze zu liefern, weil wir bei minus 40 Grad draußen im Schnee zum Appell antreten müssen. Dafür musste ich in Einzelhaft. 

    Später wurdest du in eine andere Kolonie verlegt und bist dann per Amnestie freigekommen. Was ist aus den Tüchern, Telefonen und dem Lohn geworden?
    Nun ja … die Telefone kann man nicht so einfach abmontieren und wegschmeißen. Das haben sie also nicht getan. Aber ansonsten ist natürlich alles schlechter geworden. Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz. Ansonsten löst sie sich in Luft auf. 

     

    ÜBER DAS STRAFSYSTEM

    Warum hat es dich so aufgeregt, dass du amnestiert wurdest?
    Es hat mich nicht aufgeregt, aber … Amnestie, das ist … Was ist Amnestie streng genommen?

    Ein Akt der Barmherzigkeit durch den Staat.
    Eben. Ein Akt der Barmherzigkeit Putins. Also: Weil es totale Heuchelei ist, weil von einem großen „Akt der Barmherzigkeit und Begnadigung“ gesprochen wird, zwei Monate vor Ablauf unserer Haftstrafe und die sich groß auf die Fahnen schreiben, sie würde alle Frauen mit minderjährigen Kindern begnadigen, die unter Paragrafen einsitzen, die eine gewisse Schwere nicht übersteigen. Schlussendlich werden dann nur ein paar begnadigt. Außerdem weil ich diese Begnadigung nicht gebraucht hätte, ich hätte die zwei Monate schon noch irgendwie absitzen können. Weil völlig klar ist warum: Ich höre doch, was sie im Fernsehen sagen und weiß, warum sie das kurz vor den Olympischen Spielen tun. 

    Das Land, in das wir entlassen wurden, war ein völlig anderes als das, in dem man uns zuvor eingesperrt hatte – das war klar. Aber wir haben es nicht sofort verstanden. Sondern wahrscheinlich erst mit den ersten Überfällen.

    Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Kolonie?
    Russland ist sehr unterschiedlich. Erstens. Und zweitens: Das lässt sich nicht in einem Satz sagen … Es gab einfach Dinge, mit denen ich in diesem Ausmaß vorher nie zu tun gehabt hatte: Verrat zum Beispiel.

    Verrat unter den Häftlingsfrauen?
    Ja. Natürlich. Das schockiert. Dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es System hat, von beiden Seiten. Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren, sie zu verraten, ihr eine Rasierklinge in die Schublade zu schmuggeln, sie um ihre vorzeitige Entlassung zu bringen. Das alles bringen sie dir bei und es funktioniert.

    Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren

    Das ist ein System, das irreversible Folgen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch, insbesondere im heutigen Russland, nach vier oder fünf Jahren überhaupt keine Chance mehr hat, ein neues Leben zu beginnen. Man gewöhnt sich daran, so zu leben. Er landet wieder im Gefängnis. Das gilt für 70 Prozent. Warum? Weil das System dir nur beibringt, dort zu bleiben. Man gilt als vorbestraft, findet keine Arbeit, kann nicht mehr anders leben, ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden, dass es ein klares Koordinatensystem gibt, in dem man, um zu überleben, bestimmte Dinge tun muss. Und ich rede gar nicht von irgendeiner Wiedereingliederung, einem normalen Job oder sonst noch was, nicht mal vom schlichten Erhalt deiner Gesundheit ist die Rede. Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen.

    Ich freu mich sehr, wenn ich Ausnahmen sehe! Das ist wirklich ein super Fest! Wow! Ich bin tatsächlich nicht als einzige zu den Menschenrechtlern gegangen, sondern noch vier andere. Aber diese vier kassieren dann solche Repressionen und niemand kriegt es mit. Sie verlieren alles. Besuchszeiten, Telefonanrufe, sie kommen in Isolationshaft, in diesen Strafbunker …

    Du gehst zum Menschenrechtler, zeigst die Quittung von deinem Lohn über 300 Rubel – und dein Leben wird für den Rest der Strafzeit zur Hölle. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben. Und unsere Gesellschaft ist patriarchal, natürlich ist das politischer Wille, unsere die sogenannte „Regierung“. Und zwar immer mehr, das wird finanziell gefördert, über das Bildungssystem vermittelt, über die Propaganda, den staatlichen Kulturbetrieb und so weiter. Dementsprechend begreift sich die Frau nicht als handelndes Subjekt. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben

    Und im Gefängnis setzt die Verdrängung ein: Das alles passiert nicht mit mir; das bin nicht ich hier im Gefängnis, es muss ein furchtbarer Irrtum sein; ich habe falsch gelebt, einen Fehler gemacht, aber die Strafe ist schnell abgesessen, egal, was ich da für einen Mist erzähle, wie oft ich die anderen Frauen denunziere, mit denen ich von einem Teller esse, wie viel Lohn ich bekomme, egal, wie weit ich hier drin gehe, ich komme sehr bald raus und dann fange ich ein neues Leben an. 

    Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen

    Und was macht die Knastverwaltung? Sie setzt auf eine weitere klassisch patriarchale Methode: Du bist doch eine Frau, du hast Kinder, willst du zu deinen Kindern? Was spielst du dich dann so auf? Wenn du so weitermachst, streichen wir dir die Telefonanrufe und Besuchszeiten. Dann siehst du deine Kinder gar nicht mehr.

     

    STIMME FÜR DIE ANGEKLAGTEN: ÜBER DIE PLATTFORM MEDIAZONA UND ÜBER DIE ZENSUR

    Du bist Mitbegründerin einer der wichtigsten russischen journalistischen Plattformen: Mediazona. Wie ist sie entstanden? Ihr habt sie ja zu dritt gegründet, du, [Nadja] Tolokonnikowa und [Pjotr] Wersilow
    Wir haben erst die Sona Prawa (dt. Zone des Rechts) gegründet, aber nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass man nicht als Menschenrechtler aktiv sein kann, ohne zu sagen, was das ist..

    Aber hattet ihr die Idee in Haft oder erst draußen?
    Teils, teils, glaube ich. Die ganze Geschichte mit den Menschenrechten begann, als Nadja [Tolokonnikowa] und ich in die Strafkolonie kamen. Und gesehen haben, was da passiert. Denn keine von uns hätte sich das je vorstellen können. Es ist sehr leicht, im Stillen Böses zu tun, wenn es keiner mitbekommt. In einem abgeriegelten, dunklen Büro. Aber jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger. 

    Aber Mediazona wurde zum ausländischen Agenten erklärt [seit 6. März 2022 ist die Seite in Russland außerdem blockiert, zuvor forderte die Medienaufsichtsbehörde die Liquidation des Mediums wegen „Falschinformation“ über den Krieg in der Ukraine – dek]. Heute ist es das einzige Medium, das detailliert und fundiert über alle Gerichtsprozesse berichtet … Vermutlich wird es diese Möglichkeit mit dem neuen Status nicht geben oder wird sie merklich eingeschränkt werden?

    Die Möglichkeit über Gerichtsprozesse zu berichten, wurde grundsätzlich eingeschränkt, durch Manipulation, weil der Staat wegen Covid verfügt hat, dass die Verhandlungen nicht mehr öffentlich sind. Einfach so. Das ist ein gewaltiger Sprung in die Vergangenheit. Nicht-öffentliche Prozesse sind ein superkrasser Marker eines totalitären Staates.

    Jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger

    Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das ist. Deswegen sind die Probleme bei der Berichterstattung über die Prozesse sowieso schon da. Und dass sie Mediazona als ausländischen Agenten einstufen würden, war abzusehen. Für alle. 

    Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mich schockiert hat. Hat es nicht. Das war die logische Fortsetzung dessen, was der Staat gegenwärtig tut, leider. Ich bin zweifellos glücklich, dass wir Mediazona gegründet haben. Und dass sich in ein paar anderen Medien eine gewisse Tradition herausgebildet hat, über Häftlinge und Polizeigewalt zu berichten.

    Mit welcher Reaktion der Regierung würdest du dich wohlfühlen?
    Angenehm wäre mir, diese Regierung würde … sich schlicht verpissen. Und in den Knast wandern.
     

    ÜBER DIE ANGST

    Ich zitiere dich mal: „Angst ist eine Sache, die nicht objektgebunden ist. Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden.“ Wie übst du, deine Angst zu überwinden? 
    Eigentlich wachsen wir nur durch Überwindung. Wie sonst? Wenn du in einem Raum mit gepolsterten Wänden sitzt, wirst du wohl kaum Erfahrungen sammeln und daran wachsen. Im Prinzip hinterlässt jede Erfahrung Spuren.

    Aber die Angst ist ein grundlegender Selbsterhaltungstrieb. Wenn du leben willst, musst du ihm folgen.
    Aber … bist du es noch du selbst, wenn die Angst dein Handeln bestimmt?

    Schau mal, Mascha, du bist so klein, zierlich, jung. Glaubst du wirklich, dass es in deiner Kraft steht und in deiner Macht liegt, dieses ziemlich mächtige System zu besiegen?
    Nun, hängt davon ab, was du unter „besiegen“ verstehst. Natürlich habe ich keine Panzer und Granatwerfer, und der Fernsehturm von Ostankino gehört mir auch nicht. Das nicht. Aber ich habe ein Gewissen und den Wunsch, ich selbst zu bleiben. Mich selbst in meinem Handeln nicht zu belügen.

    Reicht das aus, um keine Angst zu haben? 
    Wie soll ich denn wissen, was ausreicht, um keine Angst zu haben. Das kann ich dir echt nicht sagen. Angst funktioniert ja nicht so, dass du plötzlich Angst vor meinetwegen Putin oder dem Gefängnis hast. Ein Mensch hat meistens Angst, weil er Angst hat, weil die Angst in seiner Seele auftaucht und beginnt an ihr zu nagen. Es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte, klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend, fühle mich bescheuert, aber wichtig ist, was du tust.

    Klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend

    Nachdem ich den Text herausgeschmuggelt hatte, den ich meiner Anwältin gegeben hatte, den Text über die Strafkolonie, musste ich vor jedem weiteren Termin zu einer gynäkologische Untersuchung. Du weißt, was gynäkologische Untersuchung heißt? Du musst auf einen gynäkologischen Stuhl und jemand wühlt in deiner Vagina herum. Das ist demütigend und unangenehm. 

    Und du hast keine Angst, da noch einmal durch zu müssen?
    Nein, habe ich nicht. Ich habe keine Angst. Aber diese Situation macht mich wütend. Und natürlich, wenn du dann noch deine Tage hast und die dich schon wieder auf diesen verfickten Stuhl zwingen, die Situation insgesamt, deswegen habe ich geweint.

    Und du bist bereit, für das alles dein Leben herzugeben?
    Wir sind hier ja nicht auf dem Markt.

    Dennoch.
    Wir sind nicht auf dem Markt.

    Gib mir eine klare Antwort. Glaubst du wirklich, dass du dieses System besiegen kannst, zu deinen Lebzeiten …
    Ich glaube nicht, dass ich es allein kann. Aber wenn jeder ein bisschen was tut, dann ist es schon machbar.

    Und glaubst du daran, dass es viele solche Leute gibt?
    Ich denke, dass Menschen sich gegenseitig inspirieren können, etwas zu tun. Und dann ist alles möglich.

     

    ÜBER RUSSLANDS ZUKUNFT

    Kann Russland eine Frau als Präsidentin haben?
    O, ich glaube, das wäre supercool … Zum einen, weil wir dann faire Wahlen hätten, und zum anderen, weil das wirklich großartig wäre. Ich denke, das würde uns als Land sehr guttun. Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies. Außer vielleicht Raissa Maximowna [Gorbatschowa]. Wir kennen nicht mal die Kategorie. 

    Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies

    Sieh dir westliche Länder an. Jedes Land hat eine First Lady. Sie ist meistens eine politische Figur, aber auch eine öffentliche Person, die sich oft der Wohltätigkeit widmet. Also auch eine Art Role Model. Wir haben nicht einmal das. Wir haben ein Verbot, ein regelrechtes Tabu über, wie heißt es so schön, das „Privatleben“ des Präsidenten zu sprechen, das für keinen denkenden Menschen je ein Role Model sein könnte. 

    Mal ernsthaft. Die ehemalige First Lady [Ljudmila Putina, von der Wladimir Putin inzwischen geschieden ist – dek] wurde wie Rapunzel vor allen versteckt. Und wirklich das gesamte Land wusste von mindestens einer Geliebten. Ist das eigentlich ok für einen Typen, der sich selbst bei unzähligen Interviews als echter Mann präsentiert?

    Er ist „mit Russland verheiratet“. Wärst du gern Präsidentin von Russland?
    Ich glaube, so groß bin ich noch nicht.

    Also, wenn du dann groß bist …
    Na, wenn ich groß bin, wäre es vielleicht ganz interessant, sich auch mit der klassischen Politik zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

    Such bitte was aus: Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
    Widersprechen die sich denn? Warum? Ich finde …

    Du kannst einen Schuldigen begnadigen oder bestrafen.
    Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich für Gerechtigkeit kämpfe, dabei würde ich nicht sagen, dass ich kein barmherziger Mensch bin. Ich bin nicht böse.

    Wahrheit oder Sicherheit?
    Wahrheit.

    Freiheit oder Stabilität?
    Das fragst du noch? Freiheit, natürlich. Aber die sollte der Stabilität eigentlich nicht widersprechen.

    Russland oder Familie?
    Warum muss ich zwischen meinem Land und meiner Familie wählen? Wo sind wir denn? Wir haben 2021, es ist das 21. Jahrhundert, warum sollen wir zwischen unserem Land und unserer Familie wählen müssen? Was ist das für ein Scheiß? Das darf nicht sein. Die Frage ist falsch gestellt. Falsch, mag ich nicht.

    Wenn sich die Frage irgendwann stellen sollte. Wenn du wählen müsstest, ob deine Liebsten bei dir sind sind und alles gut ist, oder …
    Oder was?

    Oder du bist für Russland.
    Warum kann ich denn nicht mit meinen Liebsten für Russland sein? Die sind ja auch für Russland.

    Weil ihnen was passieren könnte.
    Das ist doch Erpressung.


    Mitte Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen – dek.
     

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  • Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #2

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Robin Hinsch

    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch
    Einkaufszentrum Retroville, Kyjiw, 2022 © Robin Hinsch

    ROBIN HINSCH
    „Auf diesem Parkplatz könnten auch wir stehen“

    Ich bereise die Ukraine seit 2010. In meiner Serie Kowitsch untersuche ich, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. Ich fand und finde die Ukraine allein deshalb interessant, weil sie peripher und zentral zugleich ist und schon immer war. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion gab ein Ringen um Einfluss auf das Land, ob nun aus Ost oder West. Dieser Zustand der Identitätsfindung oder des – im etwas überspitzen Sinne – nation building ist, was mich an der Ukraine interessiert. 

    Als ich Anfang März in Lwiw ankam, lag allgemeines Unbehagen in der Luft, unterstützt vom Dröhnen des Bombenalarms. Doch die Situation blieb noch diffus. Dies änderte sich schlagartig, als die ersten Raketen auch in Lwiw einschlugen. Immer drastischer wurde dieses Bild, je weiter ich in den Osten fuhr. Nach einiger Zeit im Südosten des Landes beschloss ich, nach Kyjiw zu fahren. In dieser Zeit schlug ein Iskander-Marschflugkörper in das Einkaufszentrum Retroville ein und hinterließ einen gigantischen Radius der Zerstörung. 

    Für mich steht dieses Bild stellvertretend für diesen entpersonalisierten Krieg, den Schrecken und das Leid, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. Es ist ein Versuch im Betrachter, in der Betrachterin das Gefühl zu wecken, selbst auf diesem Parkplatz zu stehen.

     

    ROBIN HINSCH

    geboren 1987
    Er studierte Fotografie an der HfG Karlsruhe in der Klasse von Elger Esser, an der Hochschule Hannover bei Prof. Ralf Mayer und Prof. Rolf Nobel, an der HfBK Hamburg bei Silke Großmann und schloss sein Studium mit einem Master in Fotografie an der HAW Hamburg bei Prof. Vincent Kohlbecher ab. 

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Kowitsch, Galerie Melike Bilir, Hamburg, Eröffnung am 2. Juni 2022, 19 Uhr

    2022 – Gute Aussichten, Haus der Fotografie, Hamburg

    2021 – Fotofestiwal, Lodz

    2020 – Willy Brandt Haus, Berlin

    STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – PH Museum Photography Grant (Shortlist)
    2022 – Copenhagen Photo Award (Shortlist)
    2022 – Hellerau Portrait Award (Shortlist)
    2021 – Gute Aussichten Award
    2020 – Sony Grant

    PUBLIKATIONEN u.a. in Spiegel, CNN, Guardian, Rolling Stone, National Geographic, Süddeutsche Zeitung Magazin u.v.m.


    Foto: Robin Hinsch
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Veröffentlicht am 23.05.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

  • Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #1

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ELENA SUBACH

     

     

    Links: Eines der Zelte an der Grenze, in denen sich Flüchtlinge ausruhen, aufwärmen und medizinische Hilfe bekommen. Ushgorod, Ukraine, Februar 2022
    Rechts: Olena aus Charkiw in einem Schutzraum in Lwiw, ein kurzer Zwischenstopp auf ihrem Weg in die EU. Ukraine, April 2022
    Fotos © Elena Subach

    ELENA SUBACH
    „Wir spüren keine Zukunft mehr“

    [bilingbox]Ein Mensch aus Mariupol hat mir einmal gesagt: „Für die Evakuierung musste man eine andere Person werden – halb-leer und semi-neu. Anders hattest du keine Chance, aus der Stadt herauszukommen. Du wirst eine Person ohne Vergangenheit, denn sie wird dir weggenommen, ein Mensch, dessen Erinnerungen keine materielle Grundlage mehr haben. Du stehst ohne alles da, sogar ohne die Gräber deiner Eltern.“

    Die Fotos habe ich in Schutzräumen für Binnenflüchtlinge in Lwiw aufgenommen. Theater, Schulen, Bibliotheken, Kindergärten und Büros wurden in Schutzräume umgewandelt. Außerdem nehmen die Bewohner von Lwiw auch viele Menschen bei sich zu Hause auf. Lwiw in der Westukraine, die Stadt, in der ich lebe, ist heute ein wichtiger Fluchtort für mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges von zu Hause fliehen mussten. Einige von ihnen werden nach Hause zurückkehren können, einige nicht, weil es nichts gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Städte, aus denen sie kommen, sind womöglich dem Erdboden gleichgemacht, wie zum Beispiel Mariupol.

    In einem Team von Gleichgesinnten arbeite ich an einem Projekt, bei dem wir die Geschichten von Menschen aufzeichnen, die wegen des Kriegs gezwungen waren, von zu Hause zu fliehen. Das Ziel unseres Projekts ist eine Dokumentation mit Fakten und den tragischen persönlichen Geschichten dieser Menschen. Nach Fertigstellung wollen wir der Welt dieses Projekt zeigen, obwohl das wahrscheinlich noch lange dauern wird.

    Mein Ansatz beim Fotografieren ist mittlerweile ein anderer als in den ersten beiden Kriegswochen, als ich die Serie Chairs at the Border aufgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich dürfe den privaten Raum der Menschen nicht verletzten, denn es würde ihnen Zeit rauben, die sie brauchen, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Ich habe nicht gewagt, in ihre sowieso schon fragile und zerstörte Privatsphäre einzudringen, obwohl ich mir der historischen Bedeutung und Wichtigkeit des Moments bewusst war. Auch für mich selbst war alles seltsam, so dass ich mich auf die Suche nach Spuren der Anwesenheit von Menschen begab – das waren Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Ich habe einige Stillleben fotografiert. Stühle mit Gegenständen, die dort noch lagen. Das waren für mich Inseln inmitten der Wellen von Menschen, auf denen man innehalten und kurz ausruhen konnte.

    Mittlerweile höre ich den Geschichten von Menschen zu und fotografiere sie dann. Manchmal unterhalten wir uns mehrere Stunden, denn jetzt haben sie Zeit und das Bedürfnis, uns von sich zu erzählen. Sehr oft setzen sich diese Bekanntschaften fort. Wir haben ihre Kontaktdaten und versuchen zu helfen, wo wir nur können.

    So entstand auch dieses Portrait von Olena, 44. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn Jaroslaw (1 Jahr und 7 Monate alt) und ihrer Schwiegermutter aus Charkiw geflohen. Ungefähr zehn Tage nach Kriegsbeginn war Olenas Mann aus dem Haus gegangen, um nach Wasser für die Familie zu suchen. Auf dem Rückweg geriet er in ein Feuergefecht, fiel in ein durch eine Explosion entstandenes Erdloch und brach sich ein Bein. Der Krankenwagen erreichte sie wegen der scharfen Kämpfe in dem Gebiet erst nach zwei Tagen. Nach einem Monat im Keller wurde das Kind allmählich krank und Olena beschloss, die Stadt zu verlassen. Sie stiegen in einen Zug, der Menschen evakuierte, und kamen nach Lwiw. Ihr Mann und ihre Mutter blieben in Charkiw.

    Im Krieg erinnern mich die Menschen mehr und mehr an Bäume. Sie sind stark und mächtig, die Tiefe ihrer Wurzeln ist um Vieles größer als die Höhe ihrer Stämme. Doch nun werden diese Bäume entwurzelt und weggeworfen. Nicht jeder kann sich tief genug eingraben, um wieder Wurzeln zu schlagen, nicht jeder wird im Frühling blühen und im Herbst gelbe Blätter kriegen. Wir, alle Ukrainer, spüren keine Zukunft mehr. Alles, was wir noch haben, sind Fragmente der Erinnerung an das, was vor Februar geschah. Aber viele von uns haben nichts mehr.~~~One guy from Mariupol once told me, “In order to be able to evacuate from there, you had to become a different person—half-empty and semi-new. Otherwise, you had no chance to leave the city. You become a person with no past as it has been taken away, a person whose memories have no material basis. There is nothing you are left with, not even the graves of your parents.“
    The photos you can see here were taken in Lviv shelters for internally displaced persons. Theaters, schools, libraries, kindergartens, and offices have been converted into shelters. Moreover, Lviv residents also take in many people at their own homes. Today, Lviv in Western Ukraine, the city, where I live, has become a great refuge for more than 200,000 Ukrainians who have been forced to flee their homes because of the war. Some of them will be able to get back home, and some will not because there will be nowhere to return to. The cities where they lived may be wiped off the face of the earth, as is the case with Mariupol. 
    With a team of like-minded people, I am working on a project which deals with recording the stories of people who were forced to flee their homes because of the war. The end goal of the project is the creation of a document of recorded facts and tragic personal stories of those people. We aim to show this document to the world when the project is ready, although I understand that this may not happen soon.

    Now my approach to taking photos is different from what it was during the creation of Chairs at the Border series in the first two weeks of the war. At that point in time, I felt that I could not violate people’s private space, because it would take their time, which they would rather like to use saying goodbye to their relatives. I did not dare to interfere in their already fragile and ruined private space, although I understood the historicity and importance of the moment. Also, for me personally, everything was strange, so I looked for traces of people’s presence—the things which remained after they left. I took a number of still life photos. I photographed chairs with the objects left on them, since they seemed to me like islands among waves of people, that is, places where one could stop and rest for a moment.

    Now I listen to people’s stories before taking their photos. Sometimes we talk for a few hours because now they have time for it and feel the need to tell us about themselves. Very often these acquaintances have a continuation. Having the contacts of the people, we try to help them as much as possible. 
    This is a portrait of Olena, 44. She fled Kharkiv with her young son Yaroslav, who is 1 year and 7 months old, and her mother-in-law. About 10 days after the start of the war, Olena’s husband left home to find and bring water to the family. On the way back, he came under gunfire, fell into a pit left after the explosion and broke his leg. The ambulance was able to reach them only in 2 days, because fierce battles were fought in their area. After a month of hiding in the basement, the child began to get sick and Olena decided to leave the city. They boarded an evacuation train and arrived in Lviv. Her husband and mother stayed in Kharkiv.

    In wartime, people remind me more and more of trees. They are strong and powerful, the depth of their roots is many times greater than the height of their trunks. However, now these trees are uprooted and thrown away. Not everyone can bury themselves enough to take root again, not everyone will bloom in spring and turn yellow in autumn. Now, all of us Ukrainians no longer feel the future. All we have left are the fragments of memories of everything that happened before February. But many of us have nothing left.[/bilingbox]

     

    ELENA SUBACH

    geboren 1980 in Tscherwonohrad, Ukraine
    Wirtschaftsstudium an der Staatlichen Universität Wolyn
    Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalgalerie Lwiw, Kuratorin, visuelle Künstlerin

    AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)

    2022 – Home again, Willy-Brandt-Haus, Berlin

    2022 — In Ukraine, Gallery at Dobbin Mews, New York

    2021 — Odesa Photo Days festival, Who is next to you?, Museum of Odesa Modern Art

    2019 — City of Gardens, EEP Berlin (Einzelausstellung)

    2019 — Woven Matter at Unseen, Amsterdam

    2019 — Fotofestival Lodz


    PUBLIKATIONEN u. a. in Weltkunst, SZ Magazin, Vogue Polska, Guardian (UK)


    Fotos: Elena Subach
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am: 10.05.2022

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    Maxim Shbankou, 1958 in Minsk geboren, hat sich unter anderem mit seinen scharfen und scharfsinnigen Polemiken als Kulturkritiker und -forscher einen Namen in seiner Heimat Belarus gemacht. Zudem ist er einer der Organisatoren des Filmfestivals Bulbamovie, das zwischen 2011 und 2015 in Warschau veranstaltet wurde. In einem Essay voller popkultureller Reminiszenzen, den Shbankou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geschrieben hat, vollzieht er den geistigen und kulturellen Aufbruch des unabhängigen Belarus nach, den er sich als junger Mensch in der Sowjetunion ersehnt hatte. Ein Aufbruch, der aber häufig konträr zu dominierenden politischen Entwicklungen und erzkonservativen Geisteshaltungen verlief. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und einer Radikalisierung des politischen Systems in Belarus ergründet er, was das Versprechen der Zukunft überhaupt noch wert ist und bedeuten kann:  „Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.“

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla

    Die Zeitrechnung endete 2020 und George Orwell verging vor Neid. Die Endzeitliteratur wurde vom belarussischen Nachrichtenstream auf den Müll verfrachtet. Gleichzeitig schwanden auch alle anderen Gruselschriften – vom Prozess über Einladung zur Enthauptung bis hin zum Archipel GULag. Das Happy End verreckte, der Himmel voller Diamanten erwies sich als schwarzes Loch. Nirgends konnte man hinschauen. Nirgends konnte man abschreiben. Alle Partituren zurück auf Null. Meme der Saison: Bleib stehen! Hab Angst! Alle auf Stopp. Alles auf Stopp. Nein, die Erde dreht sich weiter. Kaffeepausen laut Plan. Und da Winter ist, wird wahrscheinlich auch wieder Sommer. Nur werden an diesem Bahnhof keine Fahrkarten nach Morgen mehr verkauft. Ob es je welche gab, ist unklar. Vielleicht liegt es daran, dass es gar kein Bahnhof ist. Bloß eine Eisbude neben einem Provinzzirkuszelt.

    Wenn ich darüber nachdenke, dann hatte ich niemals eine Zukunft. Wobei – niemals. Das halbe Leben auf jeden Fall. Was sagten sie uns immer? „Schau, wenn du mal groß bist …“ Und dann? Nichts. Dann bist du eben groß. Als ich klein war, verfrachteten sie mich in den Kindergarten, man musste lange fahren, mein Physiker-Vater kam immer zu spät ins Institut. Später die Schule, ich laufe auf die Kreuzung, stürze mit dem Knie aufs Eis, es tut weh, da kommt ein schwarzes Auto. Bremst gerade noch. Uff. Noch mal heil davon gekommen. Ich schaffe es noch zum Unterrichtsbeginn. Weiter – höher. Neue Kurse. Alles fremd. Wozu? Weil es so sein muss. Zwei Jahre Wehrdienst. Uni. Dissertation (war langweilig, daher brauchte ich nur die Hälfte der Zeit). Professur. Hochzeit. All sowas eben.

    Die Zukunft schufen andere: die kommunistischen Zombies von den Paradenporträts, die Chefs in spitzen Schuhen und glänzenden Anzügen, die kühnen Baumeister, die das alte Minsk komplett auskämmten, und die Kulturschmuggler, die pünktlich frische Dosen Rock’n’Roll-Gift ins kommunistische Paradies schmuggelten. Kurz gesagt alle, die wenigstens ein bisschen Einfluss hatten und den globalen Rahmen auf den eigenen Eifer zuschnitten. Sicherlich nicht ich – ein Statist in Jeans in einem Theaterstück unter fremder Regie. Ein frischer Ziegelstein in einer Mauer ungewissen Zwecks. Vielleicht Supermarkt, vielleicht Mausoleum.

    Ich habe die Zukunft nicht bestellt, die Zukunft hat mich bestellt. Und es blieben nur drei Möglichkeiten: sich als Bahnschwelle unter diesen Zug legen, vor der Lok herrennen oder an den Rand zu treten. Für jeden Bewohner des Sowjetreichs der späten 1970er Jahre war in der Zone fremder Geräusche und transzendenter Signale, im Bereich der Kultur, die bis an den Rand gefüllt war mit Produkten der Lebensaktivität ausländischer Programmierer, eine Form der Präsenz normal, in der an erster Stelle und unvermeidlich der Pioniereid stand. Dann folgte – das Anderssein des Teenagers. Und schließlich für die dreistesten – die reife und bewusste Abkehr. Praktiken der Selbstidentifikation außerhalb des Systems. Aus der Trias Sex, Drugs and Rock’n’Roll lag das erste noch im Dunkeln, das zweite war unerreichbar. Dafür haute die dritte Komponente mit voller Wucht rein.

    An die Stelle des „Zeit, voran!“ unter rotem Banner – schon damals völlig entleert vom Heldenpathos der Anfangszeit und eingetauscht gegen gestammelte Gesänge von hohen Tribünen – trat die private kulturelle Gestaltung: Welche helle Zukunft bitteschön sollte da sein? Welcher Kommunismus? Welche Subbotniks? Die Zeit drehte und kurvte herum. Sie zerstob zu den Tracks von Led Zeppelin und den Mantren der Doors. Der einzig wichtige Tagesplan war das Programm des polnischen Radiosenders. Wo seit ihrem Erscheinen Tag für Tag die komplette Pink-Floyd-Platte The Dark Side of the Moon lief. 

    Im Land des feierlichen Auf-der-Stelle-Tretens war uns ein kulturelles Plateau zugeteilt, auf dem alles mit Verspätung ankam. Aber doch, oh Wunder, genau rechtzeitig. Lennon und McCartney begann ich vom Ende an zu hören: mit der Kollage  des Weißen Albums und dem Grand Finale Abbey Road. Sobald wir die Tonbandkopien in die Hände bekamen, ging es los. Und so lief es weiter. Eine gebundene Fotokopie der Nowy-Mir-Ausgabe von Meister und Margarita fand ich auf einer Parkbank im Stadtzentrum. Ein exzellenter Platz, um den teuflischen Kater mit der Browning lieben zu lernen. Meine weißen T-Shirts färbte ich in einer Schüssel in der Küche, zu einem Knoten verschnürt – wie die britischen Hippies in der zerfledderten Zeitschrift Anglia

    Während die irren Planer uns Perspektiven formten, lebten wir in unserem selbstgemachten Heute. Das reichte uns vollkommen zum Glück.

    Hier, in diesem Standbild des Welpendunstes gab es kein Gefühl des Kontrollverlustes. Denn es gab überhaupt keine Kontrolle. Von der Komsomol-Versammlung liefen wir direkt zu den strawberry fields. Dort blieben wir und fingen Käfer und pafften Pusteblumen. Ausflippen im abgekoppelten Waggon.

    Wir erwarteten keine Siege, weil der Sieg schon in unseren zotteligen Köpfchen stattfand. Die schwache Selbstidentifikation sprengte jeden Wunsch, Prozesse zu leiten und in Fünfjahresplänen zu denken. Wichtiger war herauszufinden, was da auf der neuesten Kassette der Stones stand – Family oder Country Joe? Und wer hatte sich eigentlich diesen Jungen namens Bananan ausgedacht?

    Die Manöver der Staatspitze und das Lächeln vom Mausoleum beherrschten die ersten Spalten der Zeitungen. Letztlich bedeuteten sie aber nicht mehr als die Stunde Morgengymnastik im Radioprogramm. Selbst als Gorbatschow kam. Die Perestroika klang wie eine idiotische Rochade der Regierung. Plus die eingeschalteten Abgeordnetenmikrofone in unserem grenzenlosen Neubaugebiet. Die Zeit gewann nicht an Tempo. Sie gaben einfach Solschenizyn zurück, gaben Brodsky heraus und tauschten in Karabach Sowjetmief gegen Bleikugeln. 

    Die Volksfronten? Sie kämpften für ein schlecht retuschiertes Gestern und ein trübes Heute. Eigentlich wie ihre Gegner auch. Der Unterschied lag in der Farbe der Flaggen und dem Heldenportfolio. Wieder keine Zukunft. Es war unklar, wer aufrief und unklar, wozu. In diesen Film wollte ich nicht: Ich hatte schon meinen eigenen. Die Choreografie der Reformierer und der Konservierer erschien wie ein Kampf der Papierdrachen, während ich Jimi Hendrix hörte.

    Und was kam dann? Dann kam das Gestern. Immer dasselbe, nur dass anstelle des rotgebannerten sowjetischen Morgen das belarussische Kolchosen-Retro zu uns kam. Das, was sich heute aktiv als polizeilich-militärischer Triumph hervortut.

    Die große Zeit blieb nicht stehen, sondern begann ihren eigenen Schwanz zu jagen wie ein beklopptes Kätzchen. Erst kamen die Demonstranten. Dann die Gefangenentransporter. Dann wurden Kredite verteilt und die Zinsen wucherten. Danach wieder Demonstranten. Und noch mehr Gefangenentransporter. Und fünfzehn Tage für einen Repost. Und dann durfte selbst die Kartoffel das Land nicht mehr verlassen. Und in der Ukraine sind wieder „Nazis“.

    Damals aber, an der Jahrhundertwende, war in der netten Kulturwelt alles greller und bunter. Wir durchforsteten die Archive und studierten das Verpasste. Der Eiserne Vorhang hatte sich irgendwohin verzogen. Die Zensur war eingetrocknet. Für Rock’n’Roll wurde man nicht mehr verhaftet. Europa kam näher, die Grenzen wurden transparenter. Die Bohème bekam britische Journale, schwarze Jeans und polnische Platten. Vor diesem Hintergrund des popkulturellen Glücks war es den abgesonderten aktiven Bürgern noch gleichgültiger, wohin die Machtspitze uns manövrierte. Gleichgültig und unverändert unklar.

    Die Bewegung im Stil der lässigen beautiful People blieb die beste Technik des psychischen Wohlbefindens und ein sicherer Selbstschutz vor den weiteren Mobilisierungen. Die minimalen Karriereoptionen und null Einflussmöglichkeiten auf die bestehende Ordnung wurden vollständig kompensiert durch die Absage des Staates, sich in deine persönlichen Pläne einzumischen. Man konnte weiterhin als Dekor leben, da immer mehr Dekor hinzukam. Der Lebensraum deiner Transitträume erstreckte sich von Porto bis Stockholm.
    Doch hier geht es wieder nicht um die Zukunft. Nicht ums Morgen. Denn all dieser Jazz ertönte hier und jetzt. In unseren unteren Etagen.
    Und wer weiß, was die da oben rauchten? Und ob dort überhaupt noch jemand am Leben war?

    Man kann das leicht als stagnierenden Stupor oder nationale Depression betrachten. Als abgekartetes Spiel der sozialen Stabilität: „Ihr lasst nichts anbrennen – wir üben keinen Druck aus.“ Doch ich würde eine solche Ordnung eher als kulturelle Gleichgültigkeit bezeichnen. Als flackernde Präsenz einzelner Piratensender dort, wo Störsender nicht hin reichen. 
    Ja, das ist ein Spiel mit Metaphern, aber keine verbale Effekthascherei. Einfach nur der Versuch Bedeutungsnuancen mit Wortkonstruktionen zu erfassen. Der hybride Zustand kulturellen Tauchens mit Übergang zum emotionalen Strudel. 

    Dabei haben auch Sinnbrüche einen Sinn. Und in parallelen Sphären findet sich manchmal Licht. So hatte auch unsere nach dem grenzwertigen Präsidenten benannte Provinzdiktatur ihre samtene Periode. Irgendwo in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts ergab sich eine inoffizielle Parität zweier Unabhängigkeiten – derjenigen der Basis und derjenigen der Spitze. Die stille Anerkennung der gegenseitigen Unvereinbarkeit des Old-School-Regimes und der neuen kreativen Klasse. Wir können so gut ohneeinander, dass wir einander nicht auf die Mokassins treten. 
    Nahe, aber nicht zusammen. Eine scheinbar integrierte Nation. Bis zum ersten Protest. Bis zur ersten Verhaftung.

    Es war eine wunderbare Welt an der Welt vorbei. Ein choreografierter, ineinandergreifender Übergang von Hochtechnologie und Machtbalett. Hi-Tech-Dancing im Affenhaus. Die Außerirdischen sind schon angekommen und lassen sich bereitwillig als Minderheit und rein dekorative Rasse halten. 

    No News from Belarus / Foto  © Alexander Komarov, 2010
    No News from Belarus / Foto © Alexander Komarov, 2010

    No News from Belarus – wie ein belarussischer Künstler melancholisch konstatierte. Wieder Sowjetunion, nur durchtrainiert. Zwei ausgebremste Realitäten – den administrativen Wahnsinn und das kreative Hub – nähten Staatssicherheit und Venediger Biennale periodisch aneinander. 
    Auf die Schnelle. Situativ. Notdürftig. Thema hinbiegen und Problem abhaken, solange niemandem Leid zugefügt werden musste.

    Was geschah im stürmischen Jahr 2020? Bruch der Konventionen. Die oberste Etage krachte unter Schreien, Schimpfen und Schüssen runter. Wahrscheinlich bildeten sie sich ein, dass der Keller den Umsturz angezettelt hatte, um zum Penthouse zu werden. Vielleicht war es an einem gewissen Punkt auch so. Wirklich, wie kann man nicht das Penthouse sein wollen? Das wollen doch alle.

    Der aufgebrachten Vertikale der trüben Macht waren zwei einfache Ideen nicht zugänglich. Erstens: Es gibt nichts Schlechtes an der Horizontalen. Und zweitens: Der größte Feind der Vertikalen ist die Vertikale selbst. Eine aggressive Gopnik-Band hat die Führung des Landes ruiniert, schuld aber sollten die sein, die Mandarinen schälen oder einfach das Kinderzimmer neu tapezieren wollten.
    In der Folge wurde nicht darüber gestritten, wo man leben wollte, sondern mit wem man sein will. Alles ist ganz einfach: Sie können uns nicht vergeben, dass wir ohne sie zurechtkommen. 

    Die Kolchos-Elite wird von ihrer eigenen Geistesarmut, ihrer aggressiven Selbstverliebtheit und der völligen Phantasielosigkeit erstickt. Daher der Wille, alles zurückzudrehen. Wo es noch verständlich war. Aufzeigen, dass die horizontalen Menschen ein statistischer Fehler sind. Alles, was in diesen unglücklichen, vom Fernseher ramponierten Köpfen ankommt: „Sie lieben uns nicht, weil sie gekauft wurden“. Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.

    Worin liegt also der Sinn einer belarussischen Perspektive? Darin, dass hier keine für alle gültige Version entstanden ist. Die Nation lebt dauerhaft im dauerhaften Ungleichtakt. Tür an Tür, aber in verschiedene Richtungen.

    Fast wie die Konstellation in Berlin: S-Bahn versus U-Bahn. Verkehr auf verschiedenen Ebenen. Oben der Versuch zu regieren – eine (scheinbar) pragmatische Polit-Choreografie und/oder ein hysterischer Tanz kriegspropagandistischen Vokabulars. Unten – das private Mosaik aus Bruchstücken des vergangenen Lebens. 
    Die Züge fahren nicht nur auf verschiedenen Ebenen. Sie fahren in verschiedene Richtungen und mit unterschiedlichen Passagierzahlen. Es gibt grundsätzlich nie einen Zug für alle. Auch die Waggons sind verschieden. Und dabei geht es nicht um besser oder schlechter. Es sind verschiedene Systeme von Organismen. Verschiedene Lebensformen. Wie Fische und Kaninchen. 
    Die Zukunft wächst gleichzeitig in alle Richtungen. Es kann nie nur eine geben. Zum Glück. 

    Und nun kommt das Wichtigste: Die Zukunft gibt es nicht deshalb, weil jemand sie besser als ein anderer erdacht hat. Sie ist kein Plan und kein Szenario. Sie ist ein gegebener Verlauf jenseits toter Konzepte. Ein anderes Leben, das keine Angst hat sich zu verändern. Die natürliche Erfahrung eines vorübergehenden Bewohners instabiler sozialer Verschiebungen. Ihr Sinn ist die Unschärfe der Route und ein nicht offensichtlicher Bedeutungshorizont. Der Zustand der offenen Suche und der permanenten Degustation von Optionen.

    Sie kann nicht regiert werden, und sie hat keinen Chef. Sie ist eine unumkehrbare Abfolge von Dias und ein permanentes Upgrade von Inspirationsquellen und Energieressourcen. Die echte Zukunft killt unsere Illusionen. Und sie gelingt niemals hundertprozentig. Die Zukunft ist der Anstieg von Problemen und Katastrophen. Ein Training am Komplizierten. Oder Dramedy Non-Stop.    

    Die Zukunft gibt es nicht, weil sie schon da ist. Und unser allgemeines Theater bleibt Theater, nur kann man die Show jetzt anschauen, ohne die Angst kotzen zu müssen. Was rettet? Wir haben das Recht auf eine Stimme, Bewegungsfreiheit und Zutritt zur Bühne. Was stört? Genau dasselbe.
    Gut daran – regelmäßiger Spielerwechsel, die Freiheit abzuhauen, der Effekt der Mitleidenschaft und die ständige Wahl der Helden der Saison. Schlecht ist, dass ständig jemand den Einsatz verpasst, in den Saal platzt, die Rolle verwechselt und scharf drauf ist rumzuballern.

    Heute lebt jeder sein Morgen – so gut er kann – für sich. Die Nation ist keine Paradeabordnung, sondern einfach ein gut ausgestattetes Feld für gemeinsamen Jazz. Statt einer verängstigten Kaserne – ein zerfranster Stapel bunter Identitäten. Postkino. Telegram-Style für die posttotalitäre Gesellschaft.
    Apokryphen sind unvermeidlich. Mutationen erwünscht. Dezentralisierung garantiert.

    Das totalitäre Theater brennt – aber im Großen und Ganzen gibt es niemanden, der ihm nachweinen würde. Außer Feuerwehrleuten, Platzanweiserinnen und Jongleuren ballistischer Raketen.
    Die Matrix ist zerlegt. Die Kreativität ist geblieben. Sie haben nichts mehr miteinander zu schaffen.

    Stellt euch die Titanic vor, deren Decks wie ein Strandhaus im Hurricane auseinanderfliegen. Welche gemeinsame Zukunft sollten sie haben? Sie haben nichts gemeinsam: Ozean, Sturm, Eisberg. Und eine absolut vorhersehbare Scheiße. Deren Fahrplan wiederum für jedes Deck ein anderer ist. Die Bedeutung dieser Zukunftsversion liegt am Ende einer gemeinsamen Route und eines gemeinsamen Märchens. Und auch im gemeinsamen Unglauben an Märchen und Märchenerzähler. Nein, die Bullshit User werden bleiben. Aber die Realität wird sie schnell korrigieren.

    Sie kommt auf Putins Panzern angefahren und bringt die nächste Brigade derer, die mit einer ausgedachten Vergangenheit vergiftet wurden. Um sie in kalten ukrainischen Feldern zu vergraben. Oder sie führt dich in der Geschützpause raus zum Rauchen. Damit du die Sterne am Himmel zählst – Gold auf Blau. Und dich freust, dass du die Morgendämmerung noch erlebst.

    Was eint? Was verbindet uns alle in diesen Erschießungsstürmen? Keine neue Ganzheit, sondern ein neuer Schwall von Brüchen. Die Stabilität der Instabilität. Wir sind schon morgen. Weiter zu denken ist unmöglich.

    Die Bewohner der Gegenwart wurden in eine unerwartete, katastrophal schöne Konstellation geworfen – Flüchtlinge und politische Gefangene, Schützen und Poeten, Performer und Cyber-Partisanen, IT-Jedi und Straßencellisten, rebellische Gastronomen und Underground-Künstler – sie alle werden nicht durch ein neues Zirkuszelt gerettet, sondern durch seine glänzende Abwesenheit.
    Zeit für aufrechten Aufbau und messerscharfe Wahl. Die Möglichkeit für seltsame Reime und spontane Konsonanzen. Ein mosaikhaftes Draußen. Raum der situativen Kollaborationen. Logik der Easy Riders.

    Nächster Orientierungspunkt? Zugluft und Mangel als Zone des persönlichen Antriebs und der privaten Obsessionen verstehen und lieben.
    Der grundlegende Sinn? Kontrolle über die eigene private Situation. Einrichtung der Selbstbestimmung. Der persönlichen – also der öffentlichen.
    „Imagine there’s no heaven …“ Der bebrillte Beatle Johnny-John wusste, was er sagen sollte. 
    Es ist einfacher, in einen leeren Himmel zu fliegen.

    Wie also existieren? Leben nach der verbrannten Show. Sich schärfen für eine neue Welt. Schusswaffen und Messer verbinden. Asche kosten. Hülsen aufsammeln und Matrizen begraben.
    Es gibt keine Kanons, es gibt einen Baukasten der Bedeutungen. Einen Garten sich gabelnder Pfade. Jeder ist sein eigener Borges. Jeder ist sein eigener Buddha.
    Danke, Chaos. Die Ordnung tötet sich selbst.

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  • „Niemand wird das Russland jemals verzeihen”

    „Niemand wird das Russland jemals verzeihen”

    Swjatoslaw Wakartschuk ist Sänger und Frontmann der ukrainischen Rockband Okean Elzy, die im ganzen Land große Popularität genießt. Seit Beginn des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, reist Wakartschuk durch das Land, um Konzerte zu geben. Er ist in der Metro von Charkiw aufgetreten, als die Menschen dort vor den Bombenangriffen Schutz suchten, hat vor dem mit Sandsäcken geschützten Denkmal von Herzog de Richelieu in Odessa gesungen oder sich mit Flüchtlingen in Lwiw getroffen. 

    Das belarussische Nachrichtenportal Zerkalo.io hat mit Wakartschuk, der bis 2020 auch politisch aktiv war, über seine Straßen- und Unterstützungskonzerte gesprochen, über sein Land im Krieg und auch über Belarus, wo er und seine Band ebenfalls sehr bekannt sind. Dazu gibt es ein paar Videos aus dem Repertoire von Okean Elzy.

    Zerkalo: Wo sind Sie derzeit?

    Swjatoslaw Wakartschuk: Ich war in Charkiw, Saporishshja, Cherson, Mykolajiw, Odessa und Kyjiw. Seit zwei Tagen bin ich in der Westukraine, in Lwiw. Ich habe Militäreinheiten, Freiwilligenzentren und Polizeistationen besucht. Morgen fahre ich in Städte, die näher an Kampfzonen liegen. Für diese Woche habe ich noch etwas Großes vor, ich kann aber aus Sicherheitsgründen keine Details zu meiner Reiseroute nennen. Ich habe schon Memes gesehen darüber, wie schnell ich durch die Ukraine fahre, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich: Wir schlafen wenig, stehen früh auf und kümmern uns sorgfältig um die Logistik.

    Haben Sie Sicherheitspersonal dabei?

    Ja, ein kleines Team, aber ich möchte nicht sagen, wer das ist.

     
    Swjatoslaw Wakartschuk singt sein Lied „Wse bude dobre (Alles wird gut) für Ukrainer, die in den Westen ihres Landes geflohen sind.

    Haben Sie bedacht, dass Ihre Ermordung oder Kriegsgefangenschaft für die russische Regierung ein Glücksfall wäre?

    Krieg ist Krieg. Man denkt nicht daran, was mit einem selber passieren kann, sondern was aus unserem Land und unseren Kindern wird. Tut mir leid, wenn das pathetisch klingt, aber so ist es. Es muss einem klar sein, dass es derzeit nirgendwo in der Ukraine sicher ist. Man sollte nicht glauben, dass man in der Nähe der Front einem höheren Risiko ausgesetzt ist als sagen wir mal in Lwiw. Vor ein paar Tagen flogen Raketen in einen Bezirk von Lwiw. Davor wurde der Truppenübungsplatz Jaworiw in der Oblast Lwiw unter Beschuss genommen (laut regionalen Behörden kamen dabei 35 Menschen ums Leben, 134 wurden verletzt – Anm. d. Red.). Die Russen bombardieren die gesamte Ukraine, sie setzen alles ein, was geht. Sie schießen auf zivile Ziele und normale Leute, töten Frauen und Kinder, zielen auf Geburtskliniken und Altersheime. Anders als einen Nazismus des 21. Jahrhunderts kann ich das alles nicht nennen. In diesem Moment denkt man nicht an sich. Die Frage, ob mir jemand etwas antun kann, finde ich während eines Kriegs um unsere Unabhängigkeit – zumal ich Offizier bin (Leutnant – Anm. d. Red.) – fehl am Platz. 

    Was hat Sie auf dieser Tour am meisten erschüttert?

    Glauben Sie mir – da gab es viel. Am meisten vielleicht das Kinderkrankenhaus in Saporishshja. Die Ärzte ließen mich auf die Intensivstation, wo sie vor meinen Augen Kinder versorgten, die in einem humanitären Korridor, der sie aus Mariupol evakuieren sollte, beschossen worden waren. Da war ein Mädchen namens Mascha, ein Teenie, ungefähr 14 Jahre alt. Ein paar Stunden vor meiner Ankunft hatten sie ihr ein Bein amputiert. Sie war in Tränen aufgelöst – aber nicht vor Schmerz, sondern weil sie begriff, wie es jetzt mit ihr weitergeht. Ein junges, hübsches Mädchen, das plötzlich ein Bein verliert, nur weil irgendwelche wahnsinnigen Blutsauger im Kreml mit Filzstift auf der Karte ihre Angriffsziele markieren und einen Krieg vom Zaun brechen. Das ist einfach richtig furchtbar.  

    Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben 

    Im selben Krankenhaus traf ich einen kleinen Jungen von zwei oder drei Jahren. Er spielte mit Autos und war physisch unversehrt. Aber das Kind hatte beide Eltern verloren. Er hat keine Mama und keinen Papa mehr … Das ist kaum auszuhalten. Da weißt du, dass du das niemals verzeihen wirst. Da kann die russische Propaganda sonst was verbreiten. Goebbels war ein Anfänger im Vergleich zu dem, was die sich heute erlauben. Sie hören und sehen die Realität nicht. Vielleicht wollen sie es einfach nicht. Ich habe aufgehört, ihre Taten zu analysieren. Niemand wird das Russland jemals verzeihen. Und die Verantwortung wird nicht nur Putin tragen, sondern alle russischen Staatsbürger, die das zugelassen haben.

     
    Der Song „Obiimy“ (Umarme mich) aus dem Jahr 2013 gehört zu den bekanntesten Liedern von Okean Elzy.

    Ergeben sich Ihre Straßen-Auftritte zufällig?

    Ehrlich gesagt: Nur ein Auftritt war geplant, alle anderen waren spontan. Sie glauben ja wohl nicht, dass das Klavier auf dem Bahnhof in Lwiw extra für mich aufgestellt wurde? Das stand schon vorher da, ich habe es gesehen und beschlossen loszuspielen. Oder in der U-Bahn von Charkiw: Die Gitarre haben Freiwillige aufgetrieben in der Hoffnung, dass ich irgendwas spiele. Sie brachten sie mir und sagten: „Hier.“ Da konnte ich natürlich nicht nein sagen. Der einzige geplante Auftritt war in einer Stadt in der Westukraine, wo es viele Freiwilligenzentren und Flüchtlinge gibt. 

    Worüber sprechen Sie mit den Leuten bei solchen Begegnungen?

    Wir überlegen, wie wir siegen können und was wir dafür tun können, wie wichtig es jetzt ist, füreinander da zu sein. Ich bedanke mich bei den Menschen. Erzähle, was ich in anderen Städten gesehen habe. Versuche, auch physisch zu helfen. Unsere Crew bringt außerdem humanitäre Hilfe. Die einen brauchen Antibiotika, die anderen sitzen in den Metrostationen und freuen sich über Musik, und wieder andere brauchen beides. Einige Mitglieder der Band Okean Elsy leisten in Lwiw Freiwilligenarbeit, jeder macht sich nützlich. Alle bemühen sich, den Sieg herbeizuführen. 

    Was für Fragen stellen Ihnen die Menschen?

    Fragen zu ganz einfachen, handfesten Dingen: Wie man in der Westukraine fußfasst, wie man irgendwo hinkommt, wie es bei uns aussehen wird, wenn der Krieg vorbei ist. 

    Sogar die, die Angst haben und durch den Krieg eher in eine Depression gefallen sind, wünschen der Ukraine einen baldigen Sieg. Aber die meisten Menschen sind positiv gestimmt. Möglicherweise hilft uns der Hass, der in unseren Herzen keimt, stark zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass dieser Hass nach unserem Sieg verschwindet. 

    Wofür machen Sie das alles?

    Ich kann nicht anders. Das ist mein Land, ein anderes habe ich nicht. Und ich liebe es. Wahlfreiheit und Würde – das sind für mich die wichtigsten Werte im Leben. Ich sehe, dass die Ukraine sie zu ihren zentralen Werten gemacht hat und wir sie jetzt verteidigen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann wird sie ein russischer Soldat mit seinem Stiefel zertreten, und ich werde meinem kleinen Sohn nicht zeigen können, dass wir in unserem Land das erreicht haben, wonach wir gestrebt haben. 

     
    Okean Elzy gaben zwei Tage vor Ausbruch des Krieges ein spontanes Konzert auf einer unter Straßenmusikern beliebten Fußgängerbrücke in Kyjiw.

    Sie sind oft in Belarus aufgetreten. Welchen Eindruck hatten Sie damals von unserem Land?

    Ich habe vom belarussischen Publikum immer Liebe und Unterstützung gespürt, keine Feindseligkeit. Für uns war eine Reise zu euch immer ein großes, freudiges Ereignis. Bis zu den Protesten 2020, danach sind wir nicht mehr in Belarus aufgetreten. 

    Es zerstört die Zukunft von Belarus, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt

    Hat sich Ihre Einstellung nach dem Krieg verändert?

    Ich hoffe, dass es in Belarus sehr viele echte Patrioten gibt, denen klar ist, dass es eure Zukunft zerstört, wenn euer Land sich in einen Krieg hineinziehen lässt. Ich bitte die Belarussen nicht um der Ukraine willen, auf die Straßen zu gehen und Soldaten und Panzer zu stoppen. Macht das für Belarus, in eurem eigenen Interesse. Wenn Putin und Lukaschenko euch in einen blutigen Krieg schicken, werden eure Soldaten in der Ukraine getötet. Und niemand wird sich dafür entschuldigen.          

    Letzte Frage: Wird alles gut?

    Da bin ich mir sicher, dass alles gut wird [das sagt er auf Ukrainisch, gleich dem Titel seines Liedes, s.o. – dek]. Wenn in der Ukraine das Gute und die Freiheit siegen, dann ist das gut für die ganze Welt, auch für euch, unsere Nachbarn. Das zu verstehen ist wichtig. Es lebe die Ukraine!

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  • Novaya Gazeta: Cover mit Chuzpe

    Novaya Gazeta: Cover mit Chuzpe

    Titelseiten gedruckter Zeitungen und Zeitschriften spielen seit jeher eine besondere Rolle im Journalismus. Das gilt unvermindert auch im Online-Zeitalter. In Russland ist es vor allem die unabhängige Novaya Gazeta, die nach wie vor auch als Printausgabe erscheint (allerdings in anderem Format und nicht mehr täglich), und mit ihrer schlagkräftigen wie feinfühligen Covergestaltung stets aufs Neue überrascht – selbst unter aktuellen Zensurbedingungen. dekoder präsentiert eine Auswahl aus der jüngsten Vergangenheit.

    „Zombiekiste zeigt Risse live im Ersten Kanal“ (16.03.2022)

    Marina Owsjannikowa hatte als Redakteurin des Staatssenders Erster Kanal während der Nachrichten ein Plakat hochgehalten – „Kein Krieg“ (das Wort zeigt die Novaya entsprechend der neuen Gesetzgebung nur verpixelt) und „Glaubt nicht der Propaganda – hier werdet ihr belogen“. Nach einer Geldstrafe droht ihr nun ein Strafverfahren – in den Sozialen Medien wird sie als Heldin gefeiert. Und Zombiekiste: Das ist ein anderes Wort für den Fernseher mitsamt den Staatskanälen.


     

    „Ausgabe der Novaya nach allen Regeln des geänderten Strafgesetzbuchs in Russland“ (09.03.2022)

    Der Krieg darf nicht Krieg genannt werden: Nach einer kurzfristigen Strafrechtsänderung drohen Haftstrafen bis zu 15 Jahren auf die Verbreitung von „Falschinformationen“ über Russlands „Militäroperation“ in der Ukraine. Zahlreiche unabhängige Medien schließen oder werden geblockt – die Novaya entscheidet sich, unter den Bedingungen der Kriegszensur weiter zu berichten.  
    Vor dem Atompilz sind vier Tänzerinnen aus Tschaikowskis Schwanensee zu sehen: Während beim Putsch am 19. August 1991 Panzer durch Moskau rollten, zeigte das sowjetische Fernsehen klassische Musik und Ballettaufführungen. Schwanensee gilt seitdem als Chiffre für die Vertuschung der Wahrheit. Auch Doshd nutzte die Anspielung und verabschiedete sich mit ebendieser historischen Schwanensee-Aufführung vor seiner Sperrung am 3. März 2022. 


     

    „Russland. Bombardiert. Die Ukraine.“ (25.02.2022)

    Einen Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erscheint die Novaya mit dieser Titelseite – die wegen der Zensurgesetze, die am 4. März von Putin unterschrieben wurden, im Archiv der Zeitung nur noch verpixelt zu sehen ist. Die Ausgabe erscheint zweisprachig – auf Russisch und Ukrainisch.


     

    „Sie hat uns keine Wahlen gelassen“ (04.08.2021)

    Ella Pamfilowa, einst auch in liberalen Kreisen geachtete Stimme für soziale Belange und Menschenrechte, leitet seit 2016 die Zentrale Wahlkommission Russlands, die zum Inbegriff für Wahlfälschungen wurde. Auch vor der Dumawahl 2021 steht sie massiv in der Kritik.


     

    „Harte Nuss“ (14.09.2020)

    September 2020, ganz Belarus ist erfasst von riesigen Protesten nach der gefälschten Präsidentschaftswahl. Machthaber Lukaschenko spricht immer wieder von Strippenziehern aus dem Westen und bemüht sich um Hilfe aus Moskau. Er präsentiert ein angeblich abgehörtes Telefonat zweier Agenten aus Berlin und Warschau mit Namen „Nick“ und „Mike“: Dem Gespräch zufolge wurde Nawalny gar nicht vergiftet und die ganze Geschichte nur geschaffen, um Putin von einer Einmischung in Belarus abzuhalten. Lukaschenko habe sich, so die Gesprächspartner, als „harte Nuss“ erwiesen. Die Episode sorgte in der Netzwelt für Spott und Hohn wegen ihrer zweifelhaften Glaubwürdigkeit. 


    Weitere Titelseiten der Novaya auf Instagram, im Archiv der Zeitung und hier:

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    Best-Of 2020

    dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 23.03.2022 mit freundlicher Genehmigung der
    © Novaya Gazeta

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    Der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou, geboren 1964 in der belarussischen Stadt Homel im Südosten des Landes, ist einer der prägendsten Denker und Intellektuellen der jüngeren Ideen- und Geistesgeschichte seiner Heimat. Für seine Lyrik und Essays wurde Babkou vielfach ausgezeichnet. Er hat sich eingehend beschäftigt mit der Bedeutung des belarussischen Kulturraums als europäischer Grenzregion und als Raum, der zwischen oder am Rande von Imperien lag und liegt. Dabei geht es ihm immer wieder um die Bedeutung für die Ausformung einer nationalen Identität und kulturellen Selbstverortung. Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erörtert Babkou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft in seinem Essay die ideengeschichtliche Einordnung dieser Zeitenwende, die Europa erschüttert. Es gehe vor allem um die Verteidigung der Diversität, schreibt er. Es sei „ein Krieg für die Diversität. Ein Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa“.

    Belarussisches Original

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    1. Krieg und Frieden

    Es existiert die Ansicht, dass die Philosophie die Dinge komplizierter macht, als sie wirklich sind. Aber auch so etwas gibt es: Die Dinge an sich sind uns unbekannt, und die Philosophie zeigt sie komplizierter, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheinen.

    Es gibt jedoch Kontexte, in denen möchte man klar und deutlich sein. Daher beginne ich mit Definitionen. 

    Wenn wir über die „Russische Welt“  sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).

    Die heutige „Russische Welt“ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine „geopolitische“ Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland „gerechnet werden“ muss. 

    Diese postkoloniale Kränkung reift schon seit Längerem heran. Entsprechende Symptome findet man seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Doch der Übergang zur brutalen und aggressiven Phase geschah so abrupt und unerwartet, dass es ein wirklicher Schock für Intellektuelle war – sowohl in Russland als auch in Europa. Selbst heute kann ich nicht eine richtungsweisende Arbeit nennen, ob nun auf Deutsch oder Französisch, die über den Versuch der situativen Beschreibung der Ereignisse und Schuldzuweisungen hinausgeht und hinter dem ideologischen Konzept eine bestimmte Denkweise erkennt und ihre Funktionsweise versteht.

    Beschreibt doch bitte Grundlagen und Konzepte und stellt dann endlich die Frage nach der neuen Epoche, in die wir aus unseren fröhlichen Postmodernismen und bedeutend weniger fröhlichen Postkommunismen nun hineingeraten sind. 

    Einen Text, der die Praktiken imperialen Denkens kritisch reflektiert oder gar dekonstruiert, anstatt nur Risiken und Folgen zu kalkulieren. Das Imperium findet zuallererst im Geiste, in den Köpfen und Texten statt, erst danach beginnt es sein Wirken in der politischen und wirtschaftlichen Realität. Das Imperium, das sind nicht nur Armee, Geheimdienste und Kolonialverwaltung. Es sind auch Werte, Emotionen und kulturelle Codes. Ein Weltbild, das als universell aufgedrückt wird.

    Noch bedeutsamer ist, dass in der aktuellen intellektuellen Sphäre Europas nicht nur reflektierende Texte fehlen. Es fehlt auch der Ort, von dem eine solche Reflexion ausgehen könnte. Und eine Sprache, in der diese kritische Reflexion stattfinden könnte.

    Es mutet seltsam an, denn im gesamten 20. Jahrhundert war in Europa eine Überproduktion kritischer Theorie zu beobachten. Heute verstehen wir jedoch auch ohne weitere Argumente: die Hegemonie der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, selbst Sloterdijks zynische Vernunft und Žižeks Glanznummern zu Lacan, sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben. 

    Und nun sind wir bereit, die Wahrheit auszusprechen: Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir betreten haben.

    ***

    Hier entsteht die Verlockung zu sagen: Einer der Denkorte, von dem aus die Zukunft sichtbar wird, ist heute die osteuropäische Grenzregion. 

    Und die Sprache, in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.

    Denn gerade das ist das Erstaunlichste: Ungeachtet zweier Jahrhunderte permanenter Arbeit des Imperiums ist die osteuropäische Grenzregion nicht nur nicht verschwunden, nicht im Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation aufgegangen, sondern hat sogar ihre paradigmatische Andersartigkeit gestärkt.

    So zeichnet sie sich heute weniger durch Regionalität, sondern als wirkliches Alternativkonzept zur „Russischen Welt“ aus. 

    In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog. 

    Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarussischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.

    *** 

    In Belarus hat die kritische Dekonstruktion des östlichen Nachbarn eine lange intellektuelle Tradition, chiffriert in grundlegenden Mythen der Identität, sie beginnt letztlich mit dem belarussischen Projekt an sich. Letzteres ist nicht einfach ein Standardprojekt des Nation Building mit zentralem Fokus auf dem sozialen Aspekt (soziale Befreiung des belarussischen Dorfes), sondern auch ein explizit antikoloniales Projekt (diese Befreiung ist nicht möglich ohne die Strukturen des imperialen Jochs zu demontieren).

    Begonnen bei Adam Mickiewicz, der als erster in der hiesigen Tradition das Imperium kritisiert (vor allem in der Ahnenfeier (Dziady), aber auch in den Büchern des polnischen Volkes und seiner Publizistik der 1830er Jahre), später Janka Kupala, dessen Tuteischyja (Die Hiesigen) ein klassisches Beispiel für Literatur ist, die ein koloniales Trauma bearbeitet, Ihnat Abdsiralowitsch und Uladsimir Samojla, die eine entsprechende Metaphysik der belarussischen anti- und postkolonialen Handlungsmacht erarbeitet haben, bis hin zu Sjanon Pasnjaks klassischem Text Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren und eine ganze Reihe postkolonialer Analytik vom Ende der 1990er Jahre, – die belarussischen Intellektuellen stellen wieder und wieder die passenden Fragen und geben immer neue Antworten.

    Hin und wieder glaubt man schon, dass es davon zu viel in der Kultur gäbe. Dass die zentrale Aufgabe sei, „das Imperium zu vergessen“, endlich zur Normalität überzugehen und zu erinnern, dass wir „alle gemeinsam zu den Sternen fliegen“.

    Doch jedes Mal, wenn die Intellektuellen sich an die Umsetzung dieser Aufgabe machen, wendet sich die Geschichte erneut, und wie am Murmeltiertag wachen wir auf, im Bett mit dem Imperium, erinnern uns qualvoll an den Vortag und versuchen zu begreifen, wie all das noch enden wird.

    *** 

    Vorreiter bei der Adaption der westlichen postkolonialen Theorie für die osteuropäische Grenzregion war die ukrainische Diaspora. Der Australier Marko Pavlyshyn, die Amerikanerin Oksana Grabowicz und andere verfassten zu Beginn der 1990er Jahre erste Texte, in denen sie aufzeigten, dass Frantz Fanon, Edward Said und sogar Homi K. Bhabha, dass all das auch um uns geht. Die Entstehung einer ukrainischen Theorie verdanken wir zwei Kiewer Intellektuellen: Oksana Sabuschko und Mykola Rjabtschuk. Sie waren es, die die postkolonialen Studien aus dem akademischen Ghetto befreit und in eine Logik und Strategie für die Kultur verwandelt haben, in eine Kulturpolitik. Konzeptuell war die Ukraine seit dem Ende der 1990er Jahre bereit für die Situation „nach dem Imperium“.

    In der russischen Intellektuellenszene ist die Situation weniger erfreulich. Nur drei Beispiele möchte ich anführen. 

    2006 erschien in Moskau die russische Übersetzung von Edward Saids Orientalismus in einem Verlag namens Russkij Mir (dt. Russische Welt). Im Vorwort wurde darauf hingewiesen, dass Said Palästinenser sei, den Westen kritisiert und daher, wenn nicht Verbündeter, so doch sicher „Weggefährte“ unseres Imperiums sei. Unerwähnt blieb an dieser Stelle jedoch, dass Saids Buch die Entstehung eines der stärksten und effektvollsten Diskurse befördert hatte, in dem das Imperium (alle Imperien) kritisiert und dekonstruiert wird. 

    Im selben Jahr, 2006, inszenierte das Bolschoi Dramatitscheski Teatr (BDT) in Sankt Petersburg das Stück Translations von Brian Friel. Der Autor der russischen Version, Michail Stronin, gab dem Stück den Titel Nushen perewod (dt. etwa Es braucht (eine) Übersetzung). Friels Stück wird an Universitäten schon lange als Klassiker postkolonialer Literatur behandelt. Es zeigt, wie die imperiale Macht gewaltsam den Raum überschreibt, indem sie nicht nur die Geografie und kulturelle Tradition zerbricht, sondern auch die Lebenswelten der Bewohner. Insofern kann seine Botschaft nicht unpassender verstanden werden als mit „Perewod nushen“.

    Und das letzte Beispiel: 2011 erschien in Cambridge Alexander Etkinds Buch Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, in dem der Autor anstrebt, den intellektuellen Apparat der postkolonialen Studien an die intellektuelle Geschichte des Russischen Imperiums anzupassen. Ich sage es gleich: Bei aller Sympathie für den Autor und die Verdienste des Buches an anderen Stellen – sein postkolonialer Teil ist ein komplettes Fiasko. Der Autor steigt direkt mit der kolonialen Annahme ein, „ganz Russland kolonisiere sich selbst“, wodurch er nicht nur andere konzeptuelle Perspektiven marginalisiert und verdrängt, sondern auch alle Völker und Gebiete, die das „Glück“ hatten, sich innerhalb Russlands zu befinden.

    Diese drei Geschichten sind bezeichnend für das Verständnis der russischen intellektuellen Szene der letzten Dekaden. In meinen Augen sind sie Teile einer Kette, zeigen ein und dieselbe kulturelle Logik und denselben Denktypus.

    Und alle drei Geschichten zeugen von Nichtbegegnung. Nicht nur mit Said, Friel und den akademischen postkolonialen Studien. Sondern vor allem den nächsten Nachbarn – Belarus und der Ukraine.

    2. Fische und Menschen

    „Ich bin kein Fisch, ich bin Ichthyologe“, sagte der Redner.

    Das war ein Scherz unter Profis. Wir saßen in einer geschlossenen Zoom-Konferenz, einem Seminar, und diskutierten einen Vortrag über die belarussische Revolution. Er war relativ kurz. Die erste halbe Stunde zur Kultursoziologie (um die Instrumente festzulegen). Danach zehn Minuten über den August 2020 (um den Kontext herzustellen). Zum Schluss wurde es konzeptuell: Es war eine Revolution des Visuellen. Sie hatte keinen sozialen oder politischen Inhalt außer der eigenen phänomenalen Performativität. Das Volk zeigte sich einfach selbst. Trat auf die Bühne der Geschichte. Spazierte durch ihre Straßen und Gassen.

    Mir verschlug es die Sprache. Dann folgte ein Anflug von Hysterie. Nicht nur, weil das alles der Wahrheit entsprach – genauso hatten wir es gemacht. Sondern auch, weil dies eine These war, die ein guter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen gewesen wäre. Für Fragestellungen. Aber der Redner beendete damit seinen Vortrag und seine weiterführenden Gedanken galten lediglich den Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Erkenntnisse.

    Zweifel konnte es ohnehin nicht geben. Der Redner war ja ein Ichthyologe.

    ***

    Für die hiesigen Ichthyologen brach eine wunderbare Zeit an. Und sie hatten sie verdient. Jahrzehntelang hatten sie weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung erfahren. Die letzte Diktatur, die entnationalisierte Nation. Seltsam, dass ihr überhaupt noch lebt. Dann kam 2020 und rückte alles wieder an seinen Platz. 

    Jetzt konnten sie Vorträge und Mitteilungen schreiben, Konferenzen organisieren, Sammelbände herausgeben. Die Revolution wurde zum Modethema. Vorher war sie offensichtlich vorbei, zu Ende, ein totes Objekt. Man konnte Monographien schreiben, ohne zu befürchten, dass das Finale die Erkenntnisse in Frage stellen wird.

    Mit den Fischen war es schon schwieriger. Wir fühlten uns gar nicht so optimistisch.

    ***

    Vor unseren Augen zerfielen alle Versuche zu verstehen, was mit uns passiert. Wir hatten das Seminar von Anfang an geleitet und hatten alle Stadien durchlaufen. Von Euphorie und Erhabenheit der ersten Treffen, über den Willen zum Wissen während der Kulmination, bis zur Sorge und Depression während der Pogrome.

    Am Anfang standen Ideen und Muster für jeden, es schien, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Dann begannen die exklusiven Spiele. Alle wollten ihr Stück von der Ruhmestorte abbeißen.

    Die Feministinnen schrieben, es sei eine weibliche Revolution. Und verließen das Land.

    Die progressiven Liberalen schrieben, das sei ihre Revolution, sie habe alle befreit und nun seien alle frei. Die Konservativen waren misstrauischer. Sie bezweifelten zwar den Heldenmut des Volkes nicht, doch die Anführer und deren Richtung passten ihnen nicht. Und so schwankten sie: Mal lobten sie das Volk, mal schimpften sie auf die „zufälligen Anführer“.

    Es gab noch die Kreativen. Die hatten eigene Versionen.

    Das Tragikomische an der Situation war, dass alle recht hatten. Die Feministinnen, die Progressiven, die Konservativen, selbst die Poeten.
    Die Revolution gab allen mehr als möglich. Aber nur für eine gewisse Zeit.

    Diese Zeit ist nun offensichtlich vorbei. Und das war furchtbar. Dass die Dinge, die auf der Bühne der Revolution wie Gold und Glitter aussahen, im Licht der neuen Epoche nur Tand und Blendwerk sind.

    ***

    Das alles kulminierte, und sank dann sanft wieder ab in den Bereich des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Alles kehrte an seinen Platz zurück. Man konnte sich umschauen und Bilanzen ziehen. Es war kein Anblick für schwache Nerven.

    Wir waren am Boden. Über den Asphalt malmten russische Panzer. Es war unklar, ob die Okkupation lange dauern würde oder ob es noch eine Chance gab.

    Die exklusiven Spiele kamen zur Ruhe. Niemand schrieb mehr, dass „wir“ das waren. Wirklich. In den Gefängnissen saßen über tausend Häftlinge. Die eine Hälfte des Landes hasste die andere Hälfte aufrichtig. Von Emotionen überwältigte Journalisten schrieben vom Krieg.

    Wie sind wir dahingekommen? Nach den Rosen und Umarmungen, den Teepartys in den Innenhöfen und den süßen Träumen vom Sieg. Und noch eins. Eine Frage, die wir uns kaum zu flüstern trauten.

    Wer übernimmt die Verantwortung für all das?      

    ***

    Der Fischwitz ist gut, schrieb ich in den Chat.
    Nur bin ich kein Ichthyologe. Ich bin ein Fisch.
    Und es scheint höchste Zeit zu sein, sich in die Tiefe zu verdrücken.

    ***

    Noch gestern erinnerte Minsk an das Paris der Zwischenkriegszeit: Cafés eröffneten und schlossen wieder, Bücher und Performances sprudelten förmlich, IT-Leute halfen Katzen und Hunden, die Mittelklasse kaufte Wohneigentum und reiste durch die Welt.

    Wie und warum ist all das verschwunden?

    Wie und warum konnte eine Macht, die schon fast gewonnen, alle Formen des Widerstands in sich vereint hatte, plötzlich das eigene Projekt zerstören und mutigen Schrittes in den Selbstmord gehen und nebenbei noch alle ins Giorgio-Agamben-Konzentrationslager schicken?

    Das liegt alles an ihm, sagt A. Dem Chef der Gazprombank. Man muss ein völliger Idiot sein, um zu glauben, dass er wirklich gewinnen wollte. Von der Revolution ganz zu schweigen. Bestenfalls, wenn wir optimistisch sind, hätte er zehn Prozent geholt und einen Sitz im Parlament. Mit weißen Bändern und Russlands Unterstützung.

    Das Schlimmste wäre, wenn es ihm gelungen wäre. Dann hätten wir nicht mehr zwei Seiten im Land, wie jetzt, sondern nur noch eine. Die Gefängnisse wären auch voll, aber dort würden „eure ganzen Nationalisten“ sitzen.

    Das ist alles Verschwörungstheorie, sagt B. Das kann nicht sein.

    Ja, Verschwörung, stimmt A. zu. Aber das kommt vor.

    ***

    Der Postkommunismus ist halt vorbei, sagt C.

    Jahrzehntelang Katastrophen und Enttäuschungen, die wir mit Süßigkeiten kompensiert haben. Fast dreißig Jahre haben sie uns angefüttert. Emotionen, Erwartungen. Noch ein bisschen, dann siegen wir. Die Macht wird unsere sein.

    All das war verlockend. Wenngleich von Beginn an klar war: Dieses „wir“, das siegen wird, gibt es nicht. Und die Macht wird niemals „unsere“ sein. Sobald „Unsere“ dahingelangen, passiert etwas Seltsames mit ihnen, das sie sofort zu „Nicht Unsrigen“ macht. 

    Es begann mit dem Gefühl der Freude. Die Zukunft ist ganz nah, bei unseren Nachbarn ist sie schon angelangt. Man musste nur die Hausaufgaben gut machen. So sein wie alle.

    Dann schreiben die Historiker, dass die Mittelklasse im Westen seit 1972 im Niedergang begriffen sei. Dass hinter den Fassaden Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dass alles modert. Und seit 2008/09 bröckelt es in aller Öffentlichkeit. Dass Osteuropa sich zu früh gefreut hat, als es mit der altersschwachen Barkasse den Luxusliner erreichte, auf dessen Oberdeck ein Orchester spielt. Denn das sei die Titanic.

    Das Böse erkennt man nur mit dem Mikroskop, sagt C., das ist die Hauptsache. Das ist die wichtigste Erkenntnis, für uns und die ganze Welt. Plötzlich veränderten sich die Dioptrien und alle konnten es in seiner ganzen Widerwärtigkeit sehen: Auf der Welt herrscht das Böse. 

    ***

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil jemand sie sich ausgedacht hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    Was auch immer die Ichthyologen schreiben, ich kenne das Geheimnis der belarussischen Revolution. Doch davon spricht man nicht einmal im Flüsterton. Denn ausgesprochene Worte verändern sofort ihre Bedeutung. Und Geschriebenes trifft es erst recht nicht. Und dennoch.

    Es war ein Aufstand der Fische. Die Revolution der Antipolitik.

    Kein Sturm, keine Machtübernahme. Sondern ein erfolgreicher Auszug aus der Festung. Eine Flucht in die Zukunft.

    Die Vergangenheit ist immer ein soziales Projekt. Eine kollektive Erinnerung, leicht zu manipulieren. Mit der Zukunft ist es komplizierter. Die Zukunft ist eine Hoffnung. Eine Bestrebung. Und vielleicht ein Glaube.

    Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil  sie sich jemand ausgedacht hat oder konstruiert hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.

    In diesem Lichte ist das ziellose und sinnlose Durch die Straßen Gehen gar keine so dumme Beschäftigung: Sich die Zukunft zurückholen – das war der wahre Inhalt des revolutionären Laufs.

    Wer da hinausgegangen ist, kehrt nicht wieder zurück.  

    ***

    Nur das hat wirklich Sinn, in jeder Revolution: das Unmögliche zu fordern. 

    Gemeinsam mit dem Wind auf den Höhen sein, gemeinsam mit der Welle die Mauern abtragen, gemeinsam mit den Wolken die Freiheit üben.

    Mit nichts übereinstimmen, losgelöst gehen. Stets aufgeschlossen sein, nie dagegen.

    Sich den Naturgewalten nicht entgegenstellen, sondern ihre Stärke nutzen.

    Neue Regeln schreiben, um mit Vernunft zu leiten.

    Geopolitik und Post-Wahrheit verbieten.

    Journalisten einen Pflichtkurs in Mediation verpassen, wenn sie mit Emotionen handeln.

    Im Grundschulunterricht immer wiederholen:

    Wir sind keine Ichthyologen. Wir sind Fische.

    3. Untergegangen

    – Herr Präsident, was ist mit Russland geschehen?
    – Es ist untergegangen.

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