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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. Kunstkritiker Anton Dolin hat sie für Meduza besucht. 
     

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 81 x 61 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo

    Heute, da alle Augen auf die Ereignisse in der Ukraine gerichtet sind, könnte man in der umfassenden Retrospektive des Fotografen Boris Mikhailov eine opportunistische Geste sehen. Doch der 84-jährige Charkiwer gilt längst – spätestens seit Anfang der 1990er Jahre – als lebender Klassiker und als ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat. Von allen Preisträgern des renommierten Hasselblad Foundation Awards (so etwas wie der Nobelpreis für Fotografie), stammt er als Einziger aus dem postsowjetischen Raum. Boris Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt.

    Ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat

    Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Mikhailov in der UdSSR verbracht, dann ging er nach Deutschland, wo er auch heute noch lebt. Er bezeichnet sich jedoch ausschließlich als Ukrainer. Und wer würde ihm da widersprechen.

    Er dokumentierte den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit so schonungslos und poetisch wie kein anderer. Mikhailov fasst seine Bilder stets in Zyklen oder Serien zusammen: U Semli (Am Boden, 1991) ist inspiriert von Gorkis Na dne (dt. Am Boden bzw. Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe). Sumerki (Dämmerung, 1993) wirkt wie durchdrungen von blauem Dunst. Das monumentale Promsona (dt. Industriegebiet, 2011) entstand im Donbass. Und Tschai, Kofe, Kaputschino (dt. Tee, Kaffee, Cappuccino, 2000–2010) ist eine scharfsichtige Chronik des postsowjetischen Chaos in seiner Heimatstadt Charkiw.

    Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt

    All diese Bilder sind noch bis 15. Januar 2023 in der Pariser Retrospektive zu sehen. Nach einem Besuch der Ausstellung scheint es, als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich.

    In der UdSSR dokumentierte Mikhailov unermüdlich die sapreschtschjonka – also alles, was verboten war (russ. sapret – Verbot). Weil man bei ihm Aktaufnahmen fand, verlor er seine Arbeit als Elektroingenieur. Er war immer darauf aus, das Unscheinbare, Ungeschönte – scheinbar Zufällige – aufzuspüren und sichtbar zu machen. In der Fotoserie Luriki (1971–1985) kolorierte und „verschönerte“ Mikhailov wiederum fremde Familienfotos. Und in SozArt (1975–1985) hübschte er auf diese Weise seine eigenen Reportagefotos von Demonstrationen und anderen offiziellen Veranstaltungen auf.

    Sehr eindrucksvoll ist die Krassnaja serija (dt. Rote Serie, 1968–1975), die die offiziöse Sowjetwelt als ein Sammelsurium von wunderlichen Sonderlingen und Monstern à la Hieronymus Bosch zeigt. So ist Mikhailov bereits in seinen frühen Arbeiten ohne viele Worte mit seinen Zeitgenossen in einen Dialog über Ästhetik und Zweck der Kunst getreten.

    Die Bruchstelle zwischen Sein und Bewusstsein spürt der Fotograf in der Serie Soljanyje osera (dt. Salzseen, 1986) auf. Sie zeigt Urlauber in der Gegend bei Slowjansk: Das Wasser des Stausees, in den die umliegenden Fabriken ihre giftigen Abfälle kippten, hielten die Menschen ganz aufrichtig für heilsam, seinem Schlamm schrieben sie Wunderqualitäten zu. Doch Mikhailovs Bandbreite erschöpft sich bei weitem nicht im grotesken Verlachen des einfachen Bürgers. Die Serie Tanzy (Tanz, 1978) dokumentiert eine Tanzveranstaltung im Charkiwer Stadtpark mit so viel Liebe und Ehrfurcht, dass man die müden, zerknitterten, vom Dauerstress zermürbten Helden dieser Bilder sofort umarmen möchte.

    Mikhailovs gesammeltes Werk umfasst auch Arbeiten, die den Ereignissen auf dem Maidan gewidmet sind. In der höchst beeindruckenden Serie Teatr wojennych deistwi. Akt II. Antrakt (dt. Kriegsschauplatz. 2. Akt. Pause, 2013–2014) wirkt es, als würde er die Tatsachen heranzoomen, ihnen einen neuen Maßstab verleihen.

    Die Pariser Ausstellung trägt nicht zufällig den Titel Ukrainisches Tagebuch: Ein eigener Saal ist Mikhailovs Fototagebuch gewidmet, das er schon sein ganzes Leben führt. Hier sind die Serien nicht chronologisch angeordnet – das liegt daran, dass viele der Bilder im Laufe von 20 bis 30 Jahren entstanden sind.

    Als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich

    In der Exposition mischt sich das Epische mit dem Lyrischen. Auf der einen Seite ist da der Zyklus Soljanyje osera, auf der anderen – der Krymski snobism (Snobismus auf der Krim, 1982), in dem der Künstler voller Selbstironie seine eigenen, ganz orthodox-sowjetischen Ferien am Meer zeigt. Auf der einen Seite das metaphysische Wjaskost (dt. Klebrigkeit, 1982), dessen Titel allein schon den Geist des Stillstands atmet, auf der anderen – das avangardistische Neokontschennaja dissertazija (dt. Unvollendete Dissertation, 1984), in dem Mikhailov eine unfertige wissenschaftliche Arbeit, die jemand weggeworfen hat, als Ready-Made benutzt und die Seitenränder mit wie zufälligen Fotos und philosophischen Kommentaren spickt.

    Ein eigener Raum ist der Skandal-Reihe Istorija bolesni (dt. Krankengeschichte, 1997–1998) gewidmet: Sie zeigt Portraitaufnahmen von Obdachlosen, die durch Mikhailovs Kameraobjektiv an die tragischen Helden von Caravaggio oder Rembrandt erinnern. Von manchen provokanten Arbeiten möchte man den Blick abwenden, aber es geht nicht – sie brennen sich augenblicklich ins Gedächtnis ein, verbleiben dort wie Narben. Die Fähigkeit, das Sakrale im Profanen zu sehen, das Ergreifende im Abstoßenden, das Schöne im Hässlichen – das ist es, woran man ein großes Talent erkennt.

    Die provokante Serie von Selbstportraits Ja ne Ja (dt. Ich bin nicht Ich, 1992), in der der Künstler nackt mit Dildos vor der Kamera posiert, ist im Stil eines Slapstick-Stummfilms gehalten. Oder die nach heutigem Maßstab noch gewagtere Serie Esli by ja byl nemzem (dt. Wenn ich Deutscher wäre, 1994): Mikhailov richtet die Kamera mit derselben bestechenden Ehrlichkeit und demselben vernichtenden Sarkasmus auf sich selbst wie auf seine Umgebung.

    Letzten Endes lässt sich das Subjektive nicht vom Objektiven trennen, deshalb dokumentiert ein wahrer Fotograf die Wirklichkeit immer in dem gleichen Maße, in dem er sie bricht. Hervorragend illustriert wird dieser Gedanke in der Dia-Show Wtscheraschni Buterbrod (dt. Butterbrot von gestern, 1960er–1970er Jahre), in dem „mangelhafte“, ausgemusterte Aufnahmen sich zum psychedelischen Soundtrack von Pink Floyd abwechseln und plötzlich eine unerwartete, oft frappierende Schönheit entfalten.

    Den Schlussakkord der Ausstellung bildet eine weitere Dia-Show: das prophetische Ispytanije smertju (dt. Prüfung durch Tod, 2014–2019), das von der modernistischen Architektur eines sowjetischen Krematoriums inspiriert ist.

    Die Ausstellung präsentiert die künstlerische Biografie des Fotografen als von einer Idee durchdrungen, die besonders heute wichtig und wertvoll ist: Mikhailov zeigt, wie komisch, verletzlich und unvollkommen der menschliche Körper, der Krankheit und Alter unterworfen ist, sein kann. Und doch ist er stärker als die vermeintliche Unerschütterlichkeit ideologischer Konstrukte und der Schönheitsideale, die sie propagieren.

    Die Bilder des Maidan fügen sich in diesen Gedanken gut ein: Sie handeln nicht von einem mystischen „Volk“, sondern von Menschen, die in der Lage sind, Trugbilder zu besiegen, allen voran den Mythos von der großartigen sowjetischen Vergangenheit. Mikhailov ist im Laufe seines langen Lebens Zeuge verschiedener Epochen geworden. Es bleibt zu hoffen, dass er bald das Ende des Krieges dokumentieren wird, der jetzt in seiner Heimat, der Ukraine, geführt wird.  

           

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 61 x 81 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wjaskost, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 30 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie , 1991. Silbergelatine-Abzug, Sepia getönt, 11,5 x 29,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    National Hero, 1991. C-Print, 120 x 81cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Ja ne ja, 1992. Silberabzug, 30 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 15 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie « Salt Lake », 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Soljanyje osera, 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print, 130 x 180 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print, 172 x 119 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Tagebuch-Serie, 1973–2016. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 29,7 x 21 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris

    Original: Meduza
    Fotos: Boris Mikhailov
    Text: Anton Dolin
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 01.12.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

  • Gegen die Nostalgie

    Gegen die Nostalgie

    Der russische Fotograf Max Sher lebt im Exil in Berlin. Er fotografiert die Stadt – hauptsächlich den Westteil – und interpretiert das, was er entdeckt, als postsowjetischen Raum. Doch das ist keine Nostalgie, wie er sagt, sondern Zeichen eines Übergangs im Leben – für ihn und für hunderttausende andere Menschen, die Russland verlassen haben.

    Die Serie ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.

    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher
    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher

    „Ich habe diese Fotos in Berlin mit einem alten Handy gemacht, hauptsächlich im ehemaligen Westteil der Stadt.

    Schon seit einigen Monaten ist Berlin mein neues Zuhause. Davor war ich 10 Jahre in Moskau, 13 Jahre in Piter (die Petersburger mögen dieses Wort nicht), 12 Jahre in Kemerowo und die ersten 11 Jahre im spätsowjetischen Leningrad.

    Man könnte meinen, diese Bilder seien ‚Symptome‘ von Nostalgie: Darauf sind Orte und Details der urbanen Landschaft festgehalten, die jedem aus der ehemaligen UdSSR irgendwie vertraut vorkommen.

    Nostalgie ist überhaupt eines der wichtigsten Themen für die migrantische Kultur. Doch alles mit Nostalgie Verbundene wirkt auf mich höchst anachronistisch – vielleicht wegen meines eigenen halben Nomadenlebens. Obwohl ich in allen Dokumenten jetzt Immigrant oder Migrant bin, bevorzuge ich für mich die Bezeichnung ‚Expat‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung, frei von allen Konnotationen: ein Mensch, der einfach ex patria, außerhalb seines Geburtslandes, lebt. Zudem ist die Bezeichnung, auch wenn das vielleicht persönlich und symbolisch ist, eine Herausforderung für die etablierte Hierarchie unter den verschiedenen Kategorien von Zuwanderern. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. Dieser Blick hat sich innerhalb eines Jahrzehnts geformt, während meiner Erkundungen im Bereich der Landschaftsfotografie und während meiner Reisen durch den postsowjetischen Raum (der Begriff ist veraltet, doch einen anderen gibt es wohl leider noch nicht). Und infolge dieser ‚déformation professionelle‘, dieser eigenartigen künstlerischen Entstellung, erfasst mein Blick in der Landschaft Berlins nun ähnliche Orte und Details, auch wenn sie nicht gerade typisch für die Stadt sind. Im Übrigen sehen die nur dann ‚postsowjetisch‘ aus, wenn man sie oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Ähnlichkeit.

    Vielleicht ist es so, dass ich mit Hilfe dieser Flashbacks eine weitere Lebensphase abschließe und eine neue beginne.“

    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher

    Fotografie: Max Sher
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.11.2022

     

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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  • „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Wegen der Gewalt und der Repressionen in Belarus, sei es gegen Andersdenkende, sei es gegen Aktivisten, haben zehntausende Belarussinnen und Belarussen ihre Heimat verlassen. Auch im Zuge des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kehrten viele ihrer Heimat den Rücken. So ist im Ausland eine neue Diaspora entstanden, die aktiv versucht, von außen einen Demokratisierungsprozess weiterzuentwickeln, um bei einer etwaigen politischen Öffnung die neuen Impulse in Belarus selbst zu nutzen. Das in Warschau ansässige Künstlerkollektiv Heartbreaking Performance hat sich dabei der persönlichen Ebene vieler im Exil Lebender gewidmet und in einer Fotoausstellung das Gefühl von Heimweh thematisiert. In diesem Visual zeigt dekoder eine Auswahl von Bildern aus dieser Ausstellung und die Gründerin der Künstler-Gruppe, Ana Mackiewicz, beschreibt die Motivation für das Fotoprojekt.

    dekoder-Redaktion: Wie ist die Idee zu der Ausstellung entstanden?

    Ana Mackiewicz: Die Idee zu der Fotoausstellung kam mir vor etwas mehr als einem halben Jahr, noch vor Kriegsbeginn. Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Straßen meiner Heimatstadt Minsk vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe. Ich kann nicht zurück dorthin, ich würde festgenommen werden für das, was ich in der Immigration mache – wegen meiner Kunst, meines Engagements und dafür, dass ich die Wahrheit sage. Und ich dachte: Seltsam, ob das wohl allen so geht, wenn sie ihre Heimat längere Zeit nicht sehen? Ich kenne noch ein Phänomen: Wenn wir eine Person sehr lange nicht sehen, vergessen wir nach und nach, wie sie aussah, auch wenn sie uns wirklich nahestand. 
    Ich habe dann angefangen, die Menschen danach zu fragen und festgestellt, dass es nicht nur mir so geht. Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer. Deshalb dachte ich: Vielleicht könnten Fotos von ihren Lieblingsorten ihnen ein bisschen helfen?

    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz
    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz

    Sie bezeichnen die Ausstellung als exhibition-experience. Was ist damit gemeint?

    Als ich anfing, Freunden und einigen Unterstützern von der Idee zu erzählen, meinte jemand: Warum eigentlich nur Fotos? Warum nicht das Ganze mit allem Drum und Dran? Und ich dachte: Stimmt, ich möchte den Menschen wirklich gern das Gefühl geben, zu Hause zu sein, auch wenn sie nicht dorthin können. Ein Minsk 2.0, etwas, das ihnen hilft, damit abzuschließen, um Kraft zum Weitermachen zu finden. Das heißt nicht unbedingt, dass sie die Sehnsucht vergessen, eines Tages zurückzukehren. Du musst eine Geschichte beenden, damit eine neue anfangen kann und Heilung möglich ist. Wir haben versucht, die Atmosphäre von Minsk nachzubilden und den Menschen das Gefühl zu geben, als seien sie dort – und doch in Sicherheit, anders als in der Stadt, die sie irgendwann in den beiden letzten Jahren verlassen haben. Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, in dem sich Menschen, die dort gewohnt haben, liebevoll an die Stadt erinnern, eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und sogar einen Raum, wo man weinen oder seine Lieben anrufen kann. Also wirklich ein Erlebnis, wenn man so will. Wir haben schon ein paar Geschichten gehört. Die Menschen haben ihre Häuser und ihre Balkone erkannt, ein Freund von mir hat auf einem Foto sogar seine Mutter entdeckt!

    Die Gruppe, die die Ausstellung initiiert hat, nennt sich Heartbreaking Performance Art Group. Was ist das für eine Gruppe und wie ist sie entstanden?

    Als die Proteste begannen, habe ich sofort angefangen, Protestkunst zu machen. Manchmal allein, manchmal zusammen mit anderen, die sich für das Projekt interessierten. Nach einiger Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sich das alles um eine Idee dreht: Kunst als Aktivismus, als Werkzeug, um Menschen und die Welt zu verändern. Und ich wusste, diese Idee wird ihren Weg zu den richtigen Leuten finden, und die Leute werden zu ihr finden. Das Projekt erhielt den Namen Heartbreaking Performance. Ich wollte einen Namen, der klar aussagt: Wir machen keine schicke „philosophische“ Kunst, bei der es fast schon den Betrachtern überlassen bleibt, was sie sehen wollen. Wir machen Kunst, die zählt, die einen Sinn ergibt. Kunst, die zu Empathie und Selbstreflexion aufruft und die Menschen wachrüttelt. Wir haben unterschiedliche Projekte: Filme, Konzerte, Performances, Ausstellungen. Verschiedene Menschen, die mit einer dieser Formen arbeiten, stoßen für die Dauer eines Projekts zu uns und gehören während dieser Zeit auch zu Heartbreaking Performance. Und einige haben sich entschieden, über das Projekt hinaus dabei zu bleiben, was mich wirklich freut. 

    Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, (…), eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und einen Raum, wo man weinen kann

    Wie wurden die Fotografen für das Projekt ausgewählt?

    Einige kannte ich schon, und außerdem hat mir jemand, der sich in der belarussischen Fotografieszene sehr gut auskennt, geholfen, Leute zu finden. Manche haben uns auch angesprochen, weil sie unsere Insta-Kampagne gesehen haben. Leider konnten wir nicht alle einbeziehen, weil wir die Prints selbst finanziert haben und auch der Museumsraum nicht sehr groß war. Wenn wir nach Belarus zurückkehren, machen wir hoffentlich regelmäßig tolle Ausstellungen mit all diesen großartigen Künstlern, die sich an uns gewandt haben.
    Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr. Wir haben Instagram-Postings zu den Teilnehmenden gemacht, und ich habe alle gebeten, ein paar Sätze zu Minsk zu schreiben – was immer sie möchten. Und diese Texte waren wirklich allesamt herzerwärmend. 

    Stammen Sie selbst aus Minsk?

    Ja, ich bin aus Minsk. Ich habe diese Stadt von Beginn unserer Beziehung an geliebt, sie ist wie Mutter oder Vater für mich. Wie schon gesagt, ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe, manchmal träume ich von ihr. Es ist sehr schwer, nicht dorthin zurück zu können. Einige meiner Freunde in Belarus verstehen das nicht: „Du bist doch in Sicherheit, warum siehst du das so negativ? Du hast schon vor Jahren entschieden fortzugehen, also was soll das Theater?“ Nun, das ist eine etwas längere Geschichte. Kennst du diese Filme, wo die Helden vor die Wahl gestellt werden: Entweder du gehst mit den Außerirdischen und siehst deine Heimat nie wieder, oder du bleibst und wirst den Weltraum nicht sehen? Ich habe es nie wirklich verstanden, wenn jemand beschloss, alles zurückzulassen und auf Nimmerwiedersehen fortzugehen. Ich würde mich von mir aus nie so entscheiden. Die Ereignisse in Belarus 2020 haben dazu geführt, dass das ohne mein Zutun entschieden wurde. Ich hatte plötzlich keine Wahl mehr. 

    Und warum sind Sie letztlich fortgegangen?

    Ich bin aus Belarus fortgegangen, um meiner Musik-Karriere willen – die Kultur hat es dort leider schwer, wie immer in Diktaturen. Ich bin vor Jahren hierher nach Polen gekommen, und obwohl ich zur Hälfte Polin bin, konnte ich wegen meines Imigrantinnenstatus hier leider nie wirklich Karriere machen. Ich habe es in anderen Ländern versucht, und ich glaube, ich hätte es auch geschafft. Aber Corona hatte andere Pläne mit mir, so wie mit allen Künstlern überall auf der Welt. Wie auch immer, vor dem 9. August 2020 konnte ich manchmal nach Hause fahren, um Freunde und Familie zu sehen. Als die Proteste losgingen, dachte ich, dass es mit der Diktatur bald vorbei ist. Aber selbst wenn ich das nicht geglaubt hätte, hätte ich dasselbe getan. Ich wurde Aktivistin und machte aktivistische Kunst. Laut und ohne Scheu, Gesicht zu zeigen. Es gab keine Briefe oder Hinweise, dass ich festgenommen würde, wenn ich nach Belarus gehe. Aber ich habe vieles getan, wofür Leute dort im Gefängnis sitzen. Niemand kann sich dort einen Augenblick lang sicher fühlen, der hier in Warschau auch nur an Demonstrationen teilgenommen hat. Sie verhaften die Leute einfach willkürlich. Am liebsten würden sie wohl alle einsperren, die mit dem, was sie tun, nicht einverstanden sind, selbst Kinder, aber dafür haben sie ja Kinderheime.  
    Also: Ja, mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden, der Ort, wo ich immer wieder zu mir kommen konnte. Das schmerzt, es ist auch eine Art von Gefängnis. Ich kann nicht normal leben, wenn ich nicht nach Hause kann. Mein Leben steht einfach auf Pause.

    Die Phrase Ja chatschu da domu, Ich will nach Hause, hört man häufig von den Belarussen, die ihre Heimat wegen der Repressionen verlassen mussten. Symbolisiert dieser Ausruf die Hoffnung, dass eine Rückkehr bald möglich ist?

    Ja, das glaube ich. Ich kenne viele, die zurückkehren werden, egal, wie lang sie im Ausland gelebt haben. Sie wollen nach Hause in ihr Land, um es mit aufzubauen und auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Ein Propagandamedium des Regimes hat zu unserer Ausstellung geschrieben: „Haha, diese Versager, jetzt stellen sie plötzlich fest, dass sie nach Hause wollen“ und so weiter. Ich finde, genau das ist unsere Stärke – offen und laut zu sagen: Ja, wir wollen nach Hause. Es ist unsere Heimat, und wir haben das Recht dazu; ihr habt sie vielleicht gestohlen, aber nicht für lange Zeit. Wir können warten. Wir werden nicht dorthin gehen, um uns von euch einsperren zu lassen. Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt. „Asgard ist kein Ort, Asgard ist, wo unsere Leute sind“, sagt Odin in einem dieser Marvel-Filme. Belarus ist so eine Art Asgard.

    Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt

    Wie ist die Lage in Warschau und Polen für die emigrierten Belarussen?

    Die Lage in Polen ist leider gespalten. Es gibt eine ganze Menge Leute, die uns verstehen und unterstützen. Aber ein großer Teil der polnischen Gesellschaft hat grundsätzlich etwas gegen Einwanderer und findet, dass sie entweder zurück in ihre Heimat müssen (egal, ob sie dort verhaftet oder getötet werden, solche Einzelheiten interessieren diese Leute nicht) oder die Drecksarbeit machen sollten – ihr seid ja schließlich Immigranten, oder? Was redet ihr da von guten Jobs – seid doch dankbar, dass ihr überhaupt hier sein dürft. Ich denke, der Krieg und die Tausenden von Kriegsflüchtlingen haben die Situation da sehr stark beeinflusst, und sie war vorher schon nicht besonders stabil. Also, da sind großartige Menschen, die wirklich helfen und wir sind dankbar für ihre Unterstützung und einfach dafür, dass sie da sind. Aber manchmal hat man auch schlicht Angst, im Bus oder auf der Straße auf Russisch oder Belarussisch mit der eigenen Mutter zu telefonieren. Das fühlt sich wirklich seltsam an. 

    Gibt es schon neue Pläne für weitere Kulturprojekte?

    Klar, wenn unsere finanziellen und psychischen Möglichkeiten es erlauben, möchten wir die Ausstellung gern in andere Städte bringen, wo es viele Menschen aus Belarus gibt. Und wir hoffen, dass wir so etwas später auch zu anderen belarussischen Städten und Orten machen können, für diejenigen, die nicht aus Minsk sind. Wir planen schon, die Ausstellung in Vilnius zu zeigen und sind dabei, das ehemalige Restaurant „Minsk“ in Potsdam zu kontaktieren, das vor einiger Zeit als Kunsthaus wiedereröffnet wurde. Das scheint uns der ideale Ort für ein solches Projekt zu sein!

     „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    Kein Fang  / Foto © Maksim Bahdanovich
    Kein Fang / Foto © Maksim Bahdanovich
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart  / Foto © Mikita Kiryienka
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart / Foto © Mikita Kiryienka
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk  / Foto © Andrey Dubinin
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk / Foto © Andrey Dubinin
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Street Art / Foto © Malyavko
    Street Art / Foto © Malyavko

    Interview: dekoder-Redaktion
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am 08.11.2022

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    Hier kommt Belarus!

  • Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki wird mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kurz nach Bekanntgabe durch das Nobelkomitee in Oslo äußerte sich die belarusissche Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch dazu auf Pozirk, dem neuen Telegram-Portal des liquidierten Naviny.by

    Der Belarusse Ales Bjaljazki wird zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland) ausgezeichnet.

    [bilingbox]Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes. Er hat es verdient – das ist noch zu wenig gesagt. Das ist schon lange sein Preis.

    Was die von ihm gegründete Menschenrechtsorganisation Wjasna gemacht hat und unter den gegenwärtigen Umständen weiter tut, ist in seinem Geiste, nach seiner Philosophie. Das freut mich sehr.

    Ich weiß, dass Ales [in Haft – dek] ernsthaft erkrankt ist. Wir alle müssen darüber sprechen, dass er in Freiheit sein sollte, mit seinem Volk. 
    Was die Staatsmacht mit ihm anstellen wird, ist schwer vorstellbar, aber ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht.~~~— Считаю Беляцкого мифологической фигурой белорусской борьбы. Заслужил — этого мало сказать. Это уже давно его премия, — сказала лауреат Нобелевской премии по литературе Светлана Алексиевич. — То, что сделала и делает в этих условиях созданная им «Вясна», — это в его духе, в его философии. Я очень рада.

    Алексиевич сомневается, что после этого Беляцкого выпустят из тюрьмы.

    — Знаю, что Алесь серьезно болен. Мы все должны говорить о том, что ему нужно быть на свободе, со своим народом, — считает Алексиевич. — Что сделает с ним власть, трудно представить, но такой человек не может быть в тюрьме — это унижение и народа, и самой власти, если она это понимает.[/bilingbox]

    Original und russische Übersetzung vom 07.10.2022;
    Übersetzung aus dem Russischen: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 07.10.2022

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    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

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    2021 – Jahr des Kampfes

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    Muratows Krawatte und der Friedensnobelpreis

    Ein Held ist, wer nicht schießt

  • „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“ 

    Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko

     

    dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?

    Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.

    Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?

    Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist. 

    Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.

    Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?

    Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR

    Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten. 

    Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.

    Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?

    Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.

    War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat? 

    Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.

    Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?

    Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.

    Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?

    Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.

     

    links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
    Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
    Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
    Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko

    Fotos: Sergej Bruschko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 04.10.2022

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    Abseits der Norm

    Bystro #24: Wie wird der Tag des Sieges in Belarus gefeiert?

    Leben und Sterben

    Einfache Momente – Alltag der Perestroika

  • „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    Die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen weiter gegen Dissidenten und normale Bürger vor, die an den Protesten 2020 teilgenommen haben. In den vergangenen Wochen kam es wieder zu zahlreichen Festnahmen, aber auch zu Urteilen mit langjährigen Haftstrafen. 

    In einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre wurden der Jurist und Aktivist Juri Senkowitsch zu elf Jahren sowie der Vorsitzende der Partei BNF Grigori Kostussew und der bekannte Philologe und Intellektuelle Alexander Feduta zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, ein Mordkomplott und einen Staatsstreich gegen Lukaschenko geplant zu haben. Der Fall klingt in seinen verwirrenden Details und Vorwürfen wie eine klassische Räuberpistole. Feduta ist eine prominente Persönlichkeit in Belarus, die zumindest anfänglich Teil des Systems Lukaschenko war. Er hatte 1994 den Wahlkampf geleitet und war daraufhin Lukaschenkos erster Pressesprecher geworden. Vom dann aufwallenden autoritären System sagte er sich los und trat immer wieder als scharfer Kritiker und Aktivist in Erscheinung. Er wurde im April 2021 durch den russischen Geheimdienst FSB in Moskau festgenommen, wohin er aus seinem polnischen Exil gereist war.

    In seinem Schlusswort vor Gericht sagte Feduta: „Legitime Regierungen halten ihre Amtseinführungen nicht heimlich ab; ein rechtmäßig gewählter Präsident läuft nicht mit einer Waffe herum. Lukaschenko ist so verängstigt, dass er selbst in dem Jahr, das er selbst zum Jahr der nationalen Einheit erklärt hat, nur das Schwungrad der Repression antreibt.“ 

    Noch höhere Strafen von bis zu 17 Jahren gab es in einem weiteren Urteil gegen eine Gruppe von jüngeren Leuten, die unmittelbar im Zuge der Proteste 2020 festgenommen worden waren, weil sie Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Staatsgewalt dokumentiert hatten. Dazu gehört auch Marfa Rabkowa, Koordinatorin der Menschenrechtsgruppe Wjasna96. Sie wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Offiziell wurde die Gruppe wegen der „Organisation von Massenunruhen, der Teilnahme daran und der Schulung anderer zur Teilnahme daran“ beziehungsweise der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ für schuldig befunden. Beide Prozesse und Urteile wurden von großer internationaler Kritik begleitet. Nach dem Urteil sagte Rabkowa: „Wir leben im Zeitalter der verdrehten Wahrheit – das Gute wird bestraft, das Böse gefeiert, die Freiheit ist nur im eigenen Kopf möglich, und selbst dort könnte sie über Artikel 13 des Strafgesetzbuchs, als  ,Vorsatz´, angegriffen werden. Gedankenverbrechen gibt es nicht nur in der dystopischen Fiktion, sondern auch in der belarussischen Realität.“

    Wie lebt man mit solch schlechten Nachrichten und furchtbaren Urteilen, die einen von Tag zu Tag begleiten und die in gewisser Weise zum Alltag für viele Belarussen werden? Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič sucht auf solche schwierigen Fragen in einem Facebook-Post eine Antwort und verschafft sich deutlich Luft.

    Der Krieg der Unmenschen gegen die Menschen geht weiter. Ein Krieg auf Leben und Tod. Ein Krieg bis zum Letzten. 

    Ich denke an sie. An die Feinde. Schaut man die Bilder an, sind sie noch jung. Einer mehr, einer weniger – doch die Mehrheit ist in den besten Jahren. Die Zeit ist eine gerissene Sache: Indem sie gehorsam Unschuldige bestrafen, scheint ihnen, sie würden ihre eigenen Tage verlängern. Sie, die strengen „Richter“ und die harten „Staatsanwälte“, die „Gesetzeshüter“ und andere Unmenschen … Die Teilhabe an den Repressionen ermöglicht ihnen wohl ein besseres Lebensniveau, garantiert ihnen Sicherheit und schützt die Gesundheit. Doch hier kommt das Problem mit der Zeit ins Spiel. Ihr Alter erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Tag der Abrechnung noch erleben. Auch wir werden ihn erleben – und ihnen in die Augen schauen. Die Zeit ist eine furchtbare Sache. Denn wir vergeben und vergessen nichts.

    Ich denke heute an Aljaxandr Fjaduta. Das letzte Mal habe ich ihm im Herbst 2020 die Hand gedrückt, auf dem Bahnhofsvorplatz in Minsk. Damals hatte ich mich schon längst aus literarischen Konflikten von Fjaduta distanziert. Das hinderte uns jedoch nicht daran, einander zu grüßen, uns zu unterhalten und uns respektvoll zu begegnen. Im vergangenen Jahr schrieb ich ihm einige Briefe [ins Gefängnis] – als sie noch ankamen. Wir schrieben einander ausschließlich über Literatur. Und doch drang sie durch die Zeilen – die Zeit. Durch seine Scherze. Durch seinen Schmerz. 

    Eine Verschwörung gegen den Staat? In der Zukunft wird sie in denselben Kapiteln beschrieben werden, in denen man heute über die Attentate auf Hitler lesen kann – unter der Rubrik „Widerstand“.

    Ich denke an Maryna Schybko [Ehefrau von Aljaxander Fjaduta – dek.]. Wie sehr ich sie unterstützen möchte – aber die Worte nicht finden kann. Ich denke an Maryna Adamowitsch [Ehefrau des belarussischen Oppositionspolitikers Mikalaj Statkewitsch – dek.]. Wo finden sie die Kraft, das auszuhalten. Und wie kann man einen Weg finden, die Zeit zu beschleunigen. 

    Ich denke an alle, die in Gefangenschaft sind.

    Ich denke an alle Anarchisten. Ich denke an Mao, Legende des belarussischen Punk, der heute von denen gepeinigt wird, die kraft ihrer beschränkten Vernunft entschieden haben, dass keine Zeit mehr ist. Dass es nur den Dienstherrn und das Auskommen gibt. Aber nein, die Zeit rennt. An das, was sie heute tun, werden wir uns morgen erinnern. Die dummen Diener meinen, dass Bücher nichts bedeuten. Nein. Bücher sind die Komplizen der Zeit. Bücher sind Zeit, die so festgeschrieben wurde, dass sie nicht mehr auszulöschen ist. 

    Journalisten zufolge war das letzte Konzert von Mao und seiner Band im Jahr 2000, gemeinsam mit meiner Band Prawakazyja. Ich erinnerte mich an den Saal im Wohnheim der Pädagogischen Uni. „Der Chef ist hysterisch“, sang ich damals. Oder schrie ich. Ich kann schließlich nicht singen. 
    Aus der Hysterie ist Agonie geworden. Das Ende noch erleben. Die Abrechnung noch erleben. 

    Ich denke an Fedsja Shywaleuski
    Keine Politik? 
    Alles ist Politik. Die Lebenden gegen die Toten.
    Ein talentierter und lebensfroher Musiker ist die beste Zielscheibe. 

    Während ich an all das dachte, beendete ich mein Buch. 
    Für alle, die in Gefangenschaft sind. Für alle, die sich nicht ergeben haben. Für alle, die, wie ich, das Land verließen, sobald klar war, dass die Gefahr allzu nah herangekommen war.
    Für alle, die geblieben sind
    Für alle, die, wie ich, um sich selbst und die Nächsten fürchteten.
    Für alle, die die Angst überwanden, und sei es für eine Minute.
    Für alle, die hier sind. Für alle, die dort sind.
    Und für alle, die denken, dass die Zeit ihnen gnädig sein wird. „Richter“ und „Staatsanwälte“, die „Kulturarbeiter“ mit ihren Literaturspektakeln und -propagandisten. 
    Für die „Pisshosenpublizisten“ und die „Staatspreisträger“.

    Die Zeit ist Krieg. Sie ist Widerstand. Und ein Gerichtsprozess, der bereits im Gange ist.
    Wenn wir es nicht erleben, dann erleben es die, die nach uns kommen.
    Bücher sind keine Menschen, man kann sie nicht vergessen. Deshalb fürchtet ihr sie so sehr. Menschen sind keine Bücher, sie sind zerbrechlich. Deshalb wollt ihr sie so sehr vernichten. 
    Die Zeit aber vergeht.
    Und wir alle stecken mittendrin, in ihrem Mechanismus, dessen Rädchen sich drehen.

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    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

  • Bilder vom Krieg #7

    Bilder vom Krieg #7

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Julia Kochetova

    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022
    Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022

    JULIA KOCHETOVA
    „Der Krieg hat ein konkretes Gesicht. Es kann nicht allgemein sein“

    [bilingbox]Ich war auf dem Weg in den Donbas, als ich auf Telegram von Explosionen in Winnyzja las. Ich rief meine Mutter an und sie sagte: „Alle Fenster sind zersprungen.“ Das war einer der dunkelsten Tage meines Lebens und eines der schwierigsten Gespräche. 27 Menschen auf dem Platz wurden von einer russischen Kalibr-Rakete getötet. Darunter waren drei Kinder.

    Wir fuhren neun Stunden, um aus Winnyzja zu berichten, und am Morgen nach dem Einschlag machte ich dieses Bild. Ich habe es zwei Meter vom Haus meiner Eltern entfernt aufgenommen. Das Auto hatte direkt daneben in der Wynnytschenka-Straße geparkt.

    Es war ein „close call“, wie wir Reporter zu sagen pflegen. Buchstäblich von zu Hause zu berichten – das ist keine leichte Aufgabe. Vielleicht empfindet ein Chirurg etwas Ähnliches, wenn er einen Verwandten operiert. Man muss in etwas hineinschneiden, das man liebt. 

    Das Ukraine-Länderkennzeichen inmitten lilafarbener Glassplitter im Auto – das erinnert an das, was wir als Nation empfinden: Tod, Ruinen, Zerstörung, Kämpfe, Verluste und Siege. Doch nichts konnte mein Land auslöschen. Selbst, wenn der Krieg so nah ist, selbst wenn er zu nah ist.

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein

    Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein – ich glaube nicht an Kunst ohne einen Autor oder eine Autorin, die dahinter steht; und ich glaube nicht an Kunst ohne Politik. Ich berichte als Ukrainerin aus der Kriegszone und das zeichnet mich aus: Mein Bild ist ein Foto, aufgenommen von dem Mädchen aus diesem Hof, neben dem vier Raketen heruntergekommen sind. Es kann nicht außerhalb meiner persönlichen Erfahrung liegen, es kann nicht gleichgültig sein, nicht nicht-subjektiv.

    Meine Kriegserfahrung ähnelt der Kriegserfahrung meines Landes. Ich habe erst von der Revolution berichtet, weil meine Kamera meine stärkste Waffe ist. Dann begann Russland seinen hybriden Krieg auf der Krim – ich habe über die Annexion berichtet. Dann marschierte Russland in den Donbas ein – ich begann darüber zu berichten. Russlands nächste offene Invasion folgte, und acht Jahre später packe ich wieder Objektive und Verbandspäckchen. Dazu gehören der Verlust mir nahestehender Personen, Kollegen, posttraumatische Zustände, wir sagen „bis bald“ ohne die Sicherheit, dass wir uns lebendig wiedersehen.

    Ich bin ein offener Mensch und teile intime Dinge – denn ich glaube, dass der Krieg ein konkretes Gesicht hat. Es kann nicht allgemein sein. Hinter Zahlen wie „10 Millionen Geflüchtete, 9000 in Kampf getötete ukrainische Soldaten, 383 getötete Kinder, 742 Verletzte“ stehen konkrete Menschen und ihre Geschichten. Du darfst die Geschichten der Menschen erzählen, die Grenze dessen, was du zeigen darfst, hängt davon ab, wer du bist.

    Meinen Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt

    Ich habe erlebt, dass sich Reporter in der Ukraine (meistens Ausländer) unangemessen verhielten, ohne Respekt meinem Volk gegenüber, was zu zusätzlichen Traumatisierungen führt – da kann ich nur schreien. Im Krieg musst du Schmerz und Tod respektvoll begegnen, speziell, wenn du die Erlaubnis hast, Zeuge zu sein und es zu zeigen.

    Kunst muss immer laut sein. Vor allem dann, wenn das Artilleriefeuer so laut ist.

    Nein, ich bin nicht interessiert und glaube nicht an Brücken zu Russland. Ich würde mir wünschen, diese Frage bliebe auf Jahrzehnte irrelevant, und Raschismus, koloniale Politik und die von den Russen begangenen Kriegsverbrechen würden jegliche Wege in die zivilisierte Welt kappen. Wir kämpfen und sterben für unsere Freiheit und auch für die der übrigen Welt.

    Früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen

    Mein Leben hat sich stark verändert – früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen. Das Motiv ist ein anderes, die Umstände, der Rhythmus und ich persönlich auch – ich war reich beschenkt und habe seit 2014 aufgrund des Krieges viel verloren. Meine Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt.

    Bedaure ich etwas? Nein, niemals, das ist mein Weg, das ist der Weg meines Landes und fotografieren und beschreiben sollten ihn Stimmen von hier. Ich bin froh, dass ich meine noch habe.~~~I was on the road to Donbas when I read about explosions in Vynnytsia on Telegram. I called my mom and she said: “All the windows are shattered“. One of the darkest days I had so far and one of the toughest talks. 27 people were killed on the square cause of the Russian “Kalibr” missile. Among them – 3 kids. We drove 9 hours to report from Vinnytsya and I took this picture the next morning after the hit. 

    This picture was made 2 meters from my parent’s home. The car was parked next to it on Vynnychenka Street.
    It was a “close call”, as we usually say among reporters. To report literally from your homeplace – it’s not an easy task. Maybe a surgeon feels something close to that while operating on a relative. You literally need to cut something you love. 

    This “UA” sign in a mess of violet glass fragments inside the car – reminds what we experience as a nation – death, ruins, destruction, fights, losses and victories – but nothing could erase my country. Even when war is so close, even when it’s too close. 

    As a photographer, you should stay sharp and honest – I don’t believe in art without the author behind it, and I don’t believe in the art without policy. I’m reporting from the war zone as a Ukrainian, and it highlights me. My picture is a photo made by the girl from this yard, next to which four missiles have fallen. It can’t be outside of my personal experience, it can’t be indifferent, and non-subjective. 

    My war experience is similar to the war experience of my country. I was covering revolution, cause my camera was the strongest weapon I have. Then Russia started the hybrid war in Crimea – I was covering the annexation. Then Russia invaded in Donbas – I started to report. Russia invaded openly again and 8 years after I’m packing my lenses and IFAK again.  All inclusive, unfortunately – losing the closest, colleagues, dealing with post-trauma, saying “see you later” without confidence that you will meet again alive. 

    I’m an open person and share intimate things – cause I believe that war has an exact face. It can’t be general, behind numbers – “10 millions refugees”, “9 thousands Ukrainian soldiers killed in action”, “383 kids killed, 742 wounded” – behind that – exact people and their stories. You are allowed to tell people’s stories, the boundaries depend on who you are. 
    I faced inappropriate behavior of reporters in Ukraine (mostly, foreigners), with additional traumatization and zero respect for my people – that’s something that I jelling about. In war, you should be respectful for pain and death, especially if you are allowed to witness it and share.

    Art should always stay loud. Especially if the artillery duel is so loud.

    No, I’m not interested and don’t believe in any bridges like that with Russia. I wish this question would be not relevant for decades and Rashism, colonial policy and war crimes committed by Russians cut any possible paths to the civilized world. We are fighting and dying for our freedom and for this world as well. 


    My life has changed a lot – I’ve photographed portraits before, and now I’m photographing funerals.
    The object has changed, the circumstances, the rhythm, and me personally – I was gifted and lost a lot because of this war since 2014. My vision and professional path are shaped via war. Do I have any regrets? No, never, that’s my way, that’s the way of my country and it should be written and photographed by a local voice. 
    I’m glad to still have mine.[/bilingbox]

    JULIA KOCHETOVA

    geboren 1993 in Winnyzja, aufgewachsen in Kyjiw, arbeitet als Fotojournalistin und Dokumentarfilmerin. Sie hat Journalismus in Kyjiw studiert und war Teilnehmerin der IDFAcademy (Niederlande).
    Seit dem 24. Februar 2022 führt sie auf Instagram ein visuelles Tagebuch, „weil ich wirklich ans Geschichtenerzählen aus erster Hand glaube“.
     
    AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
     
    2022 – Gruppenausstellung URGENCY! Ukraine, Bronx Documentary Center, New York, USA
    2022 – Gruppenausstellung The Captured House, Brüssel, Berlin, Amsterdam, Paris, Rom
    2020 – Civilians, Veteran Hub, Kyjiw, Ukraine
    2019 – Femm in East, Invogue Art, Odessa, Ukraine
    2016 – 2017 Gruppenausstellung RAW: A History of Changes in Ukrainians and in the Ukrainian Armed Forces, Kyjiw, Paris, New York
    2015 – Gruppenausstellung Ukraine 24. War&Peace, Los Angeles, New York
    2015 – Gruppenausstellung Conflict zone: Ukraine, Chicago, USA
    2014 – Gruppenausstellung Maidan, Kyjiw, Ukraine
    2014 – Gruppenausstellung Together we are Ukraine, Washington DC, USA
    2014 – Gruppenausstellung Ukrainian Crisis, London, UK
     
    BÜCHER
     
    2017 – Voice of War
    2017 – RAW. Story of changes of Ukrainians and army, kuratiert von Yaroslav Hrytsak and Donald Weber

    PUBLIKATIONEN in internationalen Medien, darunter Vice News, Der Spiegel, Zeit, Bloomberg, Vanity Fair.
     


    Foto: ​​Julia Kochetova
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 16.09.2022

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #5

    Bilder vom Krieg #6

  • Bilder vom Krieg #6

    Bilder vom Krieg #6

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lisa Bukreyeva

     

    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva
    „Wo du auch hinschaust – überall Einschusslöcher. Überall“, schreibt Lisa Bukreyeva auf Instagram. Ukraine, Juli 2022 / Foto © Lisa Bukreyeva

     

    Lisa Bukreyeva
    „Krieg ändert alles“

    [bilingbox]Krieg ändert alles. Er berührt alles, was du gewohnt bist und kennst. Die Stadt ändert sich, als würden ihr Zähne wachsen. Ich habe mein ganzes Leben in Kyjiw gelebt, doch hat es niemals so desolat und aggressiv gewirkt. Viele Kontrollposten, Gräben, Panzersperren und Sandsäcke. Überall. Ich spürte, dass Kyjiw bereit war zum Kampf.

    Krieg ist die schrecklichste Erscheinungsform des Menschseins. Kein Film, kein Buch, kein Foto kann den Schrecken dessen vermitteln, was da geschieht. Selbst ein Mensch, der es erlebt, ist sich nicht des gesamten Schmerzes bewusst, denn es ist unmöglich, damit zu leben. Doch ich denke, eine Künstlerin kann und sollte darüber sprechen, meine Arbeit ist dokumentarisch, aber auch emotional.
    Gleichzeitig denke ich, dass Fotografie Herzen berühren kann. Haben Sie Fotos aus Butscha oder Mariupol oder Asowstal gesehen? Jedes Mal, wenn ich die Namen dieser Städte ausspreche, habe ich diese Bilder vor Augen. Brauchen wir ein solches Foto? Ganz, ganz sicher. Das Mindeste, was es schafft: Es fängt ein, wie fragil die Menschlichkeit ist.

    In jedem Fall ist Fotografie subjektiv. Wir können diesen Krieg auf einer politischen Ebene gewinnen, doch wir werden ihn nie in den Köpfen der Russen gewinnen. Sie werden weiter nach einem Genozid lechzen. Daher ist eine Brücke zwischen unseren Kulturen unmöglich. Und es gab nie eine. Die Ukrainer sind immer zu dieser Freundschaft gezwungen worden, unsere Identität und Kultur wurden dabei ausradiert.

    Seit Beginn von Russlands Großinvasion bin ich in Kyjiw. Und bin immer noch hier. Ich glaube, meine Erfahrung gleicht der anderer Ukrainer. Es ist ein grenzenloser Schmerz und Schrecken. Die Zeit steht still. Es ist immer noch der 24. Februar, der 25. Februar beginnt erst, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.

    Es ist auch nicht einfach zu fotografieren, denn hinter jedem Einschussloch in einer Mauer, einem Zaun oder einem Fenster verbirgt sich Tragik. Dann triffst du Menschen, die die Besatzung überlebt haben, du unterhältst dich mit ihnen, und in ihren Augen spiegelt sich der gesamte Horror dessen, was sie durchgemacht haben.~~~War changes everything. It touches absolutely everything you are used to. The city is changing, it’s like his teeth are growing. I’ve lived my whole life in Kyiv, but he’s never looked so desolate and aggressive. Many checkpoints, trenches, anti-tank hedgehogs and sandbags. They were literally everywhere. It felt like Kyiv was ready to fight.

    War is the most terrible manifestation of humanity. No film, book or photograph can convey the horror of what is happening. Even the person living in it is not fully aware of all this pain, because it is impossible to live with it. But I think an artist can and should talk about it, and my work is documentary, but it’s also emotional. 
    At the same time I believe that the photograph is capable of breaking hearts. Have you seen pictures from Bucha or Mariupol, Azovstal? Every time I say the names of these cities I have before my eyes these shots. Do we need such a photo? Absolutely sure. At the very least, it encapsulates how fragile humanity is. 

    In any case, photography is subjective. We can win this war at the political level, but we will never win it in the minds of the Russians. They will still be hungry for genocide. So no bridges between our cultures are possible. And they never existed. Ukrainians have always been forced into this friendship, while erasing our identity and culture. 

    Since the beginning of Russia’s full-scale invasion, I have been in Kiev. And I’m still here. I think my experience is similar to other Ukrainians. It’s endless pain and horror. Time has stopped for us, we still have the 24th of February, and the 25th will come when the last Russian soldier leaves our land.

    It’s not easy to take pictures either, because behind every bullet hole in the fence or window is tragedy. Then you meet the people who survived the occupation, you talk to them, and all the horror they’ve been through is reflected in their eyes.[/bilingbox]

    LISA BUKREYEVA

    geboren 1993, lebt und arbeitet seit 2019 als Fotografin in Kyjiw

    AUSZEICHNUNGEN

    2021 Italian Street Photography festival |finalist
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL | Gewinnerin der Kategorie Street Art Photo 
    2021 PEP New Talents | shortlist
    2022 Baku Street Photography festival 

    AUSSTELLUNGEN 

    2022 Nulid Gallery, Island
    2022 PEP, Kommunale Galerie, Berlin
    2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL
    2020 ICP Concerned, New York, USA
    2019 Kyiv Photo Fair, Ukraine

    VERÖFFENTLICHUNGEN u. a. in The New York Magazine, Der Spiegel, Die Zeit, Blind, Bird In Flight u.v.m.

    BÜCHER

    2021 ICP Concerned. Global Images for Global Crisis
    2021 Ukraine XYZ


    Foto: ​​Lisa Bukreyeva
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 27.07.2022

    Weitere Themen

    Fototagebuch aus Kyjiw

    Bilder vom Krieg #1

    Bilder vom Krieg #2

    Bilder vom Krieg #3

    Bilder vom Krieg #4

    Bilder vom Krieg #5

  • Cancel Culture im Namen des „Z“

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Ich beteilige mich nicht am Krieg, so lautete der Titel des Theaterstücks, das am Moskauer Gogol Center am 29. Juni aufgeführt wurde. Dann fiel der Vorhang. Es war der letzte – für das Gogol Center selbst. Die Moskauer Stadtverwaltung tauschte den künstlerischen Leiter aus, gab dem Haus wieder seinen alten Namen Gogol Theater, wollte aber nicht von „Schließung“ sprechen.

    Zum experimentellen und schließlich international ausgezeichneten und renommierten Gogol Center war das Theater 2012 geworden, als Kirill Serebrennikow die Leitung übernahm. So viel künstlerische Freiheit jedoch währte nicht lange, 2017 wurde Serebrennikow verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Im Juni 2020 wurde er wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. 2022 hat Serebrennikow Russland verlassen. Im Mai eröffnete der Wettbewerb in Cannes mit seinem Film Tchaikovsky's Wife. Dabei sprach sich Serebrennikow nicht nur gegen den Krieg aus, sondern auch gegen ein Verbot russischer Kultur. Außerdem forderte er, den Oligarchen Roman Abramowitsch wieder von der EU-Sanktionsliste zu nehmen – was ihm heftige Kritik einbrachte.

    Um Konzertabsagen und „Verbote“ russischer Kultur im Ausland ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Michail Piotrowski etwa, Direktor der Sankt Petersburger Eremitage, heizte diese kürzlich in einem Interview mit der staatlichen Rossijskaja Gaseta an – das die Zeitschrift Osteuropa ins Deutsche übersetzt hat: Darin bezeichnete er den „Angriff auf unsere Kultur“ als „Abziehbild von dem, was zu Sowjetzeiten bei uns los war“. 

    Solche Kritik greift Alexander Baunow auf, bis zum Angriffskrieg in der Ukraine Chefredakteur von Carnegie.ru, und fragt: Wer ist es tatsächlich, der heute die russische Kultur zerstört?

    Viele finden es seltsam, über die Schließung eines Theaters zu weinen, während woanders Theater zerbombt werden. Dennoch wissen wir alle, dass der Angriff auf das Gogol Center von denselben Leuten initiiert und unterstützt wird wie der Angriff auf Mariupol, wobei das Gogol Center schon früher angegriffen wurde. Der Fall Serebrennikow war offenbar nur die Probe für die folgenden Schließungen, Verbannungen, Bombardierungen und Angriffe.

    Wenn man sich anschaut, wie die russischen Politiker bei ihrer Suche nach Vorwürfen gegen Feinde und Kampfziele mit Schaum vor dem Mund zwischen Faschisten, der NATO, den Angelsachsen und Transpersonen wechseln, fällt auf, dass sie sich neuerdings für die Wörter Cancelling und Cancel Culture begeistern. Im Namen der Kultur, in der alles erlaubt ist, kämpfen sie nun für die Freiheit und gegen „die Verbotskultur“.

    Ein Ende ist nicht in Sicht

    Dieser Kampf begann schon Ende Februar mit der Schließung von Grisha Bruskins Einzelausstellung in der Tretjakowka, als man es weltweit noch gar nicht geschafft hatte, auch nur eine einzige russische Ausstellung abzusagen. Und an dem Tag, an dem das Gogol Center und noch drei weitere Theater geschlossen wurden, erreichte der Kampf seinen vermeintlichen Höhepunkt – vermeintlich, weil das Ende noch nicht in Sicht ist. Uns erwarten noch die Entfernung russischer und ausländischer Bücher aus den Buchhandlungen, die Änderung der Lehrpläne, Verbote von Konzerten, Filme, die im Giftschrank landen, Kunsträte und Samisdat. 

    Paul McCartneys Songtitel ‚Back in the USSR‘ war offenbar prophetisch

    Die karnevaleske Verbrennung von Sorokins Büchern durch die Jugendorganisation Naschi 2004 im Park beim Bolschoi Theater erwies sich im Nachhinein als genauso prophetisch wie Sorokins Bücher selbst. Insofern ist es nicht überraschend, dass wir in einem Land leben, in dem es kein Gogol Center geben kann. Wir leben in einem Land, in dem Grebenschtschikow und DDT wieder zu Musikern geworden sind, die man nur in Privatwohnungen hören, und in das Paul McCartney erneut nicht einreisen kann. Wäre die Verbreitung von Musik, wie damals, vom Plattenverkauf abhängig, würden diese Platten längst nicht mehr verkauft. Auch Paul McCartneys Songtitel Back in the USSR war offenbar prophetisch. Denn streng genommen wird die Sowjethaftigkeit nicht anhand der Flaggenfarbe bestimmt, sondern genau daran: Sind die Beatles und ein Gogol Center dort möglich? Die Antwort ist: negativ. 

    Dieses Moskau und dieses Land gibt es nicht mehr

    Das Gogol Center ist natürlich der Ort, an dem ich häufiger war als an jedem anderen Ort in Moskau in den letzten zehn Jahren, und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass es dieses Moskau (und dieses Land) nicht mehr gibt. Menschen, die in Nostalgie nach der realen (oder meistens eher imaginären) Sowjetunion schwelgen, klagen gern, unsichtbare Feinde hätten ihnen ihr Land gestohlen, und sind blind dafür, dass sie selbst einigen Dutzend Millionen ziemlich konkreter Menschen das Land gestohlen haben. Vielleicht sogar der Mehrheit – hieß es doch, dass es vor dem Krieg nicht nur ein paar Exoten gut ging, sondern tatsächlich der Mehrheit. Aber jetzt heißt es plötzlich, ohne den Krieg sei es ihnen schlecht gegangen. Wobei sich ein paar gerade sehr darüber freuen, wie sie sich am unsichtbaren Feind rächen, indem sie ihren Mitbürgern geliebte Dinge wegnehmen.

    Unauflöslicher Widerspruch

    Die Zerstörung der russischen Kultur in Russland geschieht unter Wehklagen über die ach so schlimme Cancel Culture gegen alles Freie und Russische, und wird begleitet von eifrigen Gesprächen über Importsubstitution. Der unauflösliche Widerspruch liegt auf der Hand. Stellen Sie sich mal ein Konstruktionsbüro oder eine Fabrik vor, wo erfolgreiche, konkurrenzfähige Autos produziert werden, die bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet werden und auf dem inländischen und internationalen Markt gefragt sind. Genau so eine Fabrik war, wenn man so will, das Gogol Center, und so ein Industriezweig war das russische Theater. Seltsamerweise sind wir es gewohnt, herausragend im Ballett zu sein, dabei waren wir in den letzten Jahren im Theater nicht weniger erfolgreich. Und während man darüber spricht, dass die Russen vom internationalen Markt ausgeschlossen werden, nur weil sie Russen sind, macht man jetzt eben jene Fabrik dicht, die auf dem Markt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Das ist es nämlich, was gerade mit dem Gogol Center und dem gesamten Theater geschieht – einem der wenigen Industriezweige, die auf internationalem Niveau konkurrenzfähig waren.

    Das unsichtbare Z um den Hals

    Und das geschieht nicht wegen der Qualität des Produkts, sondern wegen des stereotypen Denkens im Obkom (ein echter Kerl fährt einen Moskwitsch), und weil die Erzeuger und die Käufer dieses Produkts sich niemals ein unsichtbares oder ein sichtbares Z um den Hals hängen würden. 

    Aber das gilt auch für alle anderen Industriezweige: Es wird keinen technischen Fortschritt oder sonst irgendeinen Durchbruch in Russland geben, solange das wesentliche Kriterium nicht das Wissen oder die Kompetenz eines Menschen ist, und auch nicht, was er herstellt. Sondern nur, ob er willens ist, sich den letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets umzuhängen. 

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  • „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

    Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

    Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
    Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

    Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

    Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

    Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
     
    Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

    Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
     
    Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

    Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
     
    Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

    Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

    Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

    Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
     

     
    Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

    Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
    Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

    Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

    Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
     
    Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

    Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

    Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

    Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

    Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

    Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

    Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

    Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

    Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

    Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

    Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

    Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

    Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

    Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

    Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

    Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

    Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

    Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

    Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

    Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

    Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

    Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

    Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

    Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

    Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

    Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

    Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

    Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

    In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

    Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

    Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

    Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

    Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

    Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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