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„Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“
Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine … Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“.
Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.
Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.
Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.
Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf.
Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen.
Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.
Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage.
Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.
Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben.
Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?
Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen.
So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen?
Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht.
Diese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung.
Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer
Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.
Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist
Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.
Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.
Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?
Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen.
Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins
Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.
Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.
Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.
Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys
Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.
In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?
Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte.
Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?
Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.
Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?
Ich kann da nicht einreisen.
Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen?
Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.
Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.
Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine.
Oh, ich stehe auch auf dieser Liste.
Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.
Das Sie jetzt nicht so gern hat?
Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte.
Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?
Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut.
Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?
Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.
Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe.
Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.
Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden.
Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts
Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.
Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.
Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet.
Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben.
Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.
Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.
Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.
Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet.
Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.
Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied
Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.
Und bis dahin?
Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.
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„Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“
„In Belarus, meinem Heimatland“, sagt Alexandra Soldatova, „lieben es die Menschen, wenn alles ordentlich, sauber und schön aussieht.“ Die Fotografin und Künstlerin beschloss, sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Tatsache zu machen. Sie begann, durch die belarussische Provinz zu reisen. Zwei Jahre hat diese Reise schließlich gedauert. Dabei stieß sie auf Bushaltestellen und Findlinge, die offenbar von lokalen Bewohnern mit Blumen, Tieren oder mit Frühlingsszenen bemalt worden waren. So entstand das Fotoprojekt It must be beautiful.
Wir haben Alexandra Soldatova zu diesem Projekt befragt. Zudem zeigen wir eine Auswahl an Bildern.
dekoder: Worum geht es in dem Projekt It must be beautiful?
Alexandra Soldatova: Die Straßen in der Peripherie des Landes sind typische Un-Orte, einerseits interessieren sie niemanden, andererseits gehören sie formal jemandem, der dort für Ordnung, Instandhaltung, Pflege sorgen muss. Kurz gesagt, in diesem Projekt geht es darum, wie die allgemeinen Gewohnheiten und die Mentalität der Belarussen Ausdruck finden in kollektiver naiver Kunst. Diese Kunst entsteht an Orten, die für mich eine Metapher für Belarus als Land auf der Karte des modernen Europa darstellen, – eine Kreuzung, ein Begegnungsort für Fremde aus verschiedenen Kulturen und Traditionen.
Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?
2012 fuhr ich in die Oblast Witebsk und fotografierte beim staatlichen Erntefestival Doshinki. Diese große Feier ist sehr beliebt bei den offiziellen Landesvertretern. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich dort konkret tun und fotografieren würde. Und wie zu erwarten, war es eine sehr seltsame Kombination aus Mähdrescherfahrern in strengen, schwarzen Anzügen, einer aus Würsten gelegten Karte des Landes, tanzenden Kindern und einer großen Zahl Menschen, die Essen und Getränke zu ergattern versuchten. Solche Feste findet man tatsächlich in vielen Ländern, mit gewisser Variation im nationalen Kolorit.
Wirklich fasziniert haben mich damals die frischgestrichenen, rosafarbenen Hausfassaden an der Hauptstraße. Auch die Straße, die in die Kleinstadt führte, war „frisch zurechtgemacht“, die Haltestellen waren geputzt, die Abfalleimer sorgfältig gestrichen, und an einigen Stellen waren Skulpturen aus Stroh aufgestellt worden. Damals begann ich, Haltstellen zu fotografieren, und wenn mich Leute fragten, warum ich sie fotografiere, antwortete ich: „Weil es schön ist.“
Findet man diese bemalten Bushaltestellen im ganzen Land?
Wie ich später herausfand, stammten einige Malereien noch aus den 1980er Jahren, sie blieben an den alten Haltestellen erhalten – die waren aus Beton. Im Umland von Minsk und anderen großen Städten sind diese Haltestellen schon vor langer Zeit gegen moderne Varianten aus Metall oder Kunststoff ausgetauscht worden. Die Blumen- und Tiermotive, die mich interessieren, findet man eher in der Peripherie von Belarus, sodass ich einige Zeit im Auto verbringen musste – aber das hat mir Spaß gemacht.
Zuerst fuhr ich ein paar Landstraßen ab, die zu den Orten führen, an denen schon einmal Doshinki stattgefunden haben. Später gab es einige Zufallsfunde während touristischer Ausflüge mit der Familie. Und bis heute bekomme ich noch Tipps von Freunden, wo etwas zu finden ist.
Was erzählen uns diese Objekte vom Leben in der belarussischen Provinz und den ästhetischen Vorlieben, die Umgebung zu schmücken?
Einerseits neigen die Belarussen dazu, auch die kleinste Sehenswürdigkeit herauszustellen, da unser Land auf dem Gebiet an einer historischen Wegkreuzung liegt und viele Male zerstört worden ist. Heute müssen wir tatsächlich um alles kämpfen, was Aufmerksamkeit weckt.
Andererseits gibt es in der Provinz nicht gerade viele Museen, Kulturveranstaltungen und Ausdrucksmöglichkeiten, den Menschen ist es aber wichtig, wie andere sie sehen. Wenn Sie in ein belarussisches Dorf kommen, wird man mit aller Kraft versuchen, Ihnen „irgendetwas Schönes“ zu zeigen. So entstehen rosafarbene Gartenzäune, Palmen aus Bierflaschen und Schwäne aus Reifen.
Die Malereien an den Haltestellen und auf Findlingen sind vermutlich auf ähnliche Weise entstanden. Jemand in der Institution, die für die Straße zuständig war, wollte wohl, dass es in seinem Abschnitt schön aussieht. Dann setzte es der angestellte Dorfkünstler oder ein Mitarbeiter, der malen konnte, so um, wie er es selbst für schön hielt. Und das geschah häufig, in ganz verschiedenen Gebieten des Landes. Die in gewisser Art naiven Malereien haben keinen gemeinsamen Autor oder eine Gruppe, die das konzipiert hat, und doch ähneln sie sich im Stil. In gewisser Weise sind diese Malereien ein Produkt des Kulturraumes. Und aus diesem Grund fotografiere ich sie.
Haben Sie jemals einen der Menschen getroffen, die eine Haltestelle bemalt haben?
Ich hatte keine Gelegenheit, die Künstler oder wenigstens die Restauratoren der Bilder zu treffen. Die wenigen lokalen Bewohner, die ich beim Warten auf den Bus antreffe, gehen in der Regel zur Seite, nicken verständnisvoll und sagen: „Richtig, fotografieren Sie nur, hier ist es schön“. Das ist sehr ungewöhnlich für Belarus, denn wenn ich eine Straße oder ein Feld fotografiere, höre ich meistens die Frage: „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“ Aber hier haben sich die Leute vorwiegend gefreut, dass ich gerade diesen Ort ausgewählt hatte.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Aus fotografischer Sicht war It must be beautiful ein unkompliziertes Projekt. Die Aufnahmen sind maximal ruhig, klassische Landschaft mit einem Objekt darin. Ich verwende ein mittleres Format, eine große Kamera, mit der man nicht schnell fotografieren kann und die dazu einlädt, das Bild aufmerksam zu betrachten. In den meisten Fällen fügen sich die Malereien an den Haltestellen oder Findlingen scheinbar fließend in die umgebende Landschaft ein, werden ein Teil von ihr, heben sich aber gleichzeitig auch von ihr ab. Natürlich suche ich solche Wechselbeziehungen, doch wichtiger für mich ist das Phänomen festzuhalten, da in der heutigen Zeit solche Dinge sehr schnell und unbemerkt verschwinden können.
Wie reagieren Ausstellungsbesucher auf Ihr Projekt?
Dieses Projekt wurde in vielen Ländern gezeigt, aber ich hatte keine einzige Offline-Ausstellung in Belarus, daher kann ich nicht sicher sagen, wie die normalen Leute reagieren würden. Ich kann nur vermuten, dass sich das wohl nicht so sehr von der Reaktion der Leute in Deutschland, England oder Russland unterscheiden würde, wo wir das Projekt gezeigt haben. Der eine findet es ungewöhnlich, irgendetwas überraschend treffend, jemand hält die Verschönerung der Landschaft für überflüssig, und ich freue mich jedes Mal, wenn jemand über meine Fotografien sagt: „Das ist schön“.
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Fake-Satire als Propaganda
Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral.
Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno (dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.
Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.
Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram
Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber …
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.
Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.
Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt
Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:
- Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
- Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
- Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
- Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“
Fakes mit veralteten Strichcodes
Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.
Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt
Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi [dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.
Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.
Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.
Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen:
Geräusche aus dem schwarzen Loch
Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor.
Graffitis mit schwarzem Loch
Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt.
Banner mit schwarzem Loch
Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.
Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky
Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017.
Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.
Crossover goes Propaganda
In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.
Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen.
Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.
Neonazis bei der Fußball WM
Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert.
Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst
Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“
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Bilder vom Krieg #9
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin
Links: Nach massiven Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur in der Ukraine kommt es im gesamten Land immer wieder zu Stromausfällen und Ausfällen der Wasserversorgung. Kyjiw, 24.11.2022. Rechts: Denys. Kyjiw, 04.12.2022. Fotos © Vsevolod Kazarin und Sebastian Wells/Ostkreuz
SEBASTIAN WELLS
„Es hat sich nicht richtig angefühlt, zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen“Seit meiner ersten Reise nach Kyjiw im April 2022 ist die Stadt wie zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ging mir darum, die Ukraine und den Krieg besser zu verstehen und herauszufinden, welche Rolle ich als Fotograf in einer solchen Situation haben kann – dabei wollte ich auf keinen Fall in Kampfgebiete. Ich konnte viele Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen. Zum Beispiel mit Vsevolod Kazarin, mit dem ich dieses Foto von Denys zusammen aufgenommen habe, und auch fast alle anderen Bilder, die in der Ukraine entstanden sind. Denys ist inzwischen 25 Jahre alt und kommt aus Donezk. 2016 floh er als Teenager aus der Stadt. Doch er wollte sie nicht sang- und klanglos verlassen, sagt er. Zusammen mit einem Freund, einer blauen und einer gelben Spraydose und einer Gesichtsmaske bewaffnet, lief er um 4 Uhr morgens zum Lenin-Denkmal im Stadtzentrum. Auf einem der am besten bewachten Orte der Stadt sprühten die beiden eine ukrainische Flagge auf den Sockel der großen Statue. Die beiden rannten zu einem Taxi, fuhren zum Bahnhof und erst nach Charkiw, dann nach Kyjiw.
„Wir waren naive Jugendliche“, sagt er dazu heute. „Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie gefährlich das war.“ Sie filmten ihre Aktion, die ein YouTube-Hit wurde – was für Denys zweifelsohne harte Konsequenzen seitens der russischen Besatzungsverwaltung haben könnte, würde er jetzt nach Donezk zurückkehren. Dann war er ganz allein in Kyjiw – im Winter, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Netzwerk. Fünf Jahre brauchte er, um in der Hauptstadt anzukommen. Heute hat er einen Vintage-Laden und ein Tattoo-Studio im Zentrum von Kyjiw. Von seiner Mutter, die noch in Donezk wohnt, hört er, dass sie dort nur noch einmal in der Woche Wasser haben und dass fast keine Männer mehr arbeiten, weil die meisten im Militär sind – oder bereits an der Front gestorben.
Während meiner Reisen nach Kyjiw habe ich nicht viel fotografiert, aber dafür umso mehr gelernt. Vor allem über die vielseitige Kunstgeschichte des Landes, die in den Breitengraden, in denen ich aufgewachsen bin, fast keine Rolle spielt – obwohl einst im selben Ostblock befindlich.
Es hat sich oft nicht richtig angefühlt, den Alltag zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen. Aus der Zusammenarbeit mit Vsevolod ist ein Magazin entstanden: soлomiya. Wir wollten eine Publikation machen, die sowohl für Ukrainer*innen als auch für Menschen in mittel- und westeuropäischen Ländern interessant ist. Das verbindende Mittel dabei ist der Fokus auf junge Menschen und künstlerische Ausdrucksformen. Inzwischen machen wir ein Crowdfunding für die zweite Ausgabe. Ein positives Gefühl in einem ansonsten durch und durch grässlichen Krieg.
SEBASTIAN WELLS
Sebastian Wells ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Als Mitglied des Berliner Fotografenkollektivs Ostkreuz und Künstler der Galerie Springer. Er arbeitet im Auftrag und an eigenen Projekten als Dokumentarfotograf. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin, der FH Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent.VSEVOLOD KAZARIN
Vsevolod Kazarin ist ein junger Fotograf, der an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten arbeitet. Er wurde in der Region Luhansk geboren und wuchs in einem Vorort von Kyjiw auf, wo er derzeit lebt. Nach einem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kyiv National University of Culture and Arts arbeitete er hauptsächlich in der ModefotografieGEMEINSAME AUSSTELLUNGEN
2022 Artist Talk and Group Exhibition, soлomiya № 1, Galerie Springer, Berlin
2022 Group Exhibition, soлomiya № 1, Feldfünf Projekträume, Berlin
Fotos: Sebastian Wells/Ostkreuz, Vsevolod Kazarin
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Veröffentlicht am 12.01.2023Weitere Themen
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„Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Mystischen“
Zehn Jahre ist der belarussische Fotograf Siarhej Leskiec durch seine Heimat gereist, hat recherchiert und fotografiert. So ist ein besonderes Projekt entstanden, das sich mit dem archaischen Heilritus des Flüsterns beschäftigt. Das Projekt und das daraus entstandene Buch haben in Belarus und in der belarussischen Exil-Gemeinschaft sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. So ist sogar ein Theaterstück auf Grundlage von Leskiec’ Recherchen entstanden, das von den Kupalaucy auf die Bühne gebracht wurde, dem Ensemble, das von den ehemaligen Angestellten des Janka Kupala-Theaters nach ihrer Entlassung infolge der Proteste 2020 gegründet worden war. Das Stück feierte in Stuttgart im November 2022 Premiere.
Wir haben Siarhej Leskiec zu seiner Arbeit und zur Tradition des Flüsterns befragt und zeigen dazu eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
dekoder: Ihr neuestes Fotoprojekt trägt den Titel Flüstern, auf Belarussisch Schept. Worum geht es in dem Projekt?
Siarhej Leskiec: Dieses Projekt beschäftigt sich mit der sehr alten und verschlossenen Tradition der Heilkunde. Es geht um die Menschen, die dieses Wissen pflegen. Dem Glauben nach besitzen sie alle die höhere göttliche Gabe, Menschen mit Worten und Handlungen zu heilen. Als wäre es nichts Übernatürliches, spricht der Heiler im Flüsterton geheimnisvolle Worte und heilt damit Menschen und auch Haustiere, zum Beispiel Kühe und Pferde. Die Gabe wird immer an die übernächste Generation weitergegeben, von der Großmutter auf die Enkelin, vom Großvater auf den Enkel. Diese Tradition ist fast ohne Unterbrechung aus der Tiefe der Jahrhunderte und Jahrtausende bis zu uns heute durchgedrungen. Diese Tradition ist nie abgebrochen, trotz des jahrtausendelangen Drucks seitens der christlichen Kirche, der Inquisition, des sowjetischen Atheismus und der Repressionen. Das hat mich inspiriert, denn viele bei uns haben schon von dieser Tradition gehört oder sind ihr begegnet, aber noch niemand hat je diese Menschen fotografiert.
Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Geheimnisvollen und Mystischen. Dank der Kamera bekam ich Zugang zu dieser verschwindenden Welt meiner Ahnen. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wovon ich vorher nur in anthropologischen und ethnografischen Büchern gelesen hatte.
Wie sind Sie auf diese Art des Heilens aufmerksam geworden?
Auf die eine oder andere Weise stammen wir Belarussen alle aus dem Dorf und sind dort tief verwurzelt, das ist wie ein genetisches Gedächtnis. Selbst in der Bezeichnung liegt eine tiefere Bedeutung. Babka nennen wir unsere eigene Großmutter, aber auch die Heilerin. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen. Wenn zum Beispiel ein kleines Kind schlecht schläft, nachts schreit und die ganze Zeit weint, dann gibt man ihm ein bisschen von dem Wasser zu trinken, das der Heiler mit seinen Worten beflüstert hat. Häufiger behandeln sie Ausrenkungen, Zerrungen, Infektionskrankheiten (Ausschlag, Wundrose), oder sie versuchen, bei Unfruchtbarkeit zu helfen.
Ich selbst hatte schon als Kind davon gehört und gewusst, aber es nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich dann zum ersten Mal eine solche Frau besuchte, war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht fotografieren konnte. Ich brauchte einige Jahre für die Vorbereitung und das Eintauchen in dieses Thema. Ich habe unheimlich viel gelesen, bin herumgefahren und habe gesucht, wieder und wieder. Und eines Tages gelang es mir dann schließlich, mit dieser ersten Heilerin zu sprechen und ein Porträt von ihr zu machen. Ich wollte eigentlich schon nach Hause fahren, als zu dieser Heilerin Patienten zur Behandlung kamen und mir erlaubten, dabei zu sein. Stellen Sie sich vor, zwei Jahre sitzt du nur da und liest Bücher, und dann kommt der Moment, in dem man dir erlaubt, das zu sehen, was für andere tabu ist. Das war auf eine Art, so seltsam das klingen mag, meine Initiation. Danach war alles einfacher, ich traf öfter die richtigen Leute, und alle waren bereit zu Gesprächen. Denn ich war nicht mehr nur ein neugieriger Mensch, sondern trug schon etwas von ihrem Wissen in mir.
Was passiert beim Flüstern genau?
Wie sie heilen, kann man jemandem, der in der rationalen Welt lebt, nur schwer erklären. Es folgt keiner Logik und auch nicht dem Verständnis der modernen Medizin und Wissenschaft. Die Heiler leben bis heute in einer mystisch-poetischen Welt, einer Welt der Märchen und Legenden, wie unsere Vorfahren sie kannten. Für sie basiert jedes Verständnis der Umwelt auf Empfindungen und Gefühlen.
Früher wurde die Tradition stets an die übernächste Generation weitergegeben, vom Großvater zum Enkel. Der Nachfolger musste der Älteste oder der Jüngste sein, nie der Mittlere. Er musste ein gutes Gedächtnis und einen anständigen Charakter haben, Mitgefühl und den Wunsch, anderen zu helfen. Der zukünftige Heiler wurde von früher Jugend an ausgebildet, ab dem Alter von sieben bis zwölf Jahren. In diesem Alter hat der Mensch ein kristallklares Gedächtnis, was er hört, merkt er sich sein Leben lang. Erst kurz vor dem Tod übergab der alte Heiler dann seine Gabe, ohne die das gesamte Wissen nutzlos wäre. Es gab auch eine andere Kategorie von Heilern, die ihre Gabe nicht durch Erbfolge bekamen, sondern von der Natur. Sie waren mächtiger. Diese Menschen erhielten ihre heilenden Kräfte und Worte im Schlaf, von höheren Mächten.
Wie heilen sie also? Meistens spricht der Heiler flüsternd seine Gebete über Wasser, das er aus dem Brunnen geholt hat. Danach muss der Kranke dieses Wasser trinken oder sein Gesicht damit waschen. Einige Heiler sprechen die Worte auch direkt über dem Patienten.
Es gibt zahlreiche und sehr vielfältige Methoden. Hautausschlag zum Beispiel wird mit Kondenswasser von der Fensterscheibe eingerieben. Dabei werden natürlich die notwendigen Worte geflüstert. Wundrose, eine Infektionskrankheit, wird in der Regel so behandelt: Man legt ein rotes Tuch auf die betroffene Hautstelle und rollt aus Leinenfasern kleine Kügelchen, die man beim Sprechen der Gebete über diesem roten Tuch verbrennt. Bei einigen Krankheiten werden zur Behandlung auch Kräuter eingesetzt. Sie werden entweder als Tee getrunken, in Form einer Tinktur verabreicht oder angezündet, sodass der Qualm die Kranken umhüllt.
Ist diese Tradition in ganz Belarus verbreitet?
Die Tradition verschwindet so schnell wie das Dorf. Schon heute sind diese Bräuche nicht mehr überall gleich stark verbreitet. Im Westen von Belarus zum Beispiel, wo die katholische Bevölkerung überwiegt, gibt es sehr wenige Träger dieser Tradition. Der Katholizismus hat dort gut „gewirkt“. Stärker ist die Heilkunde in den Grenzregionen erhalten, zum Beispiel auf dem Gebiet Palessiens. Dort trifft man noch Heiler an. Früher gab es fast in jedem größeren Dorf eine solche Person.
In den Städten gibt es heute wie überall auf der Welt Vertreter des modernen Neoschamanismus und Heilpraktiker, doch das hat mit unserer Tradition überhaupt nichts gemein.
Wo liegen die Wurzeln dieser Heilpraxis, und wie konnte sie die Zeit der Sowjetunion überdauern?
Man kann heute kaum mehr sagen, in welcher Zeit der Ursprung liegt. Wissenschaftler verorten ihn in der ursprünglichen Magie des Wortes, sehen in dieser Heilmethode eine der ersten Formen der Folklore. Der Ursprung liegt also in der Zeit, in der das Wort selbst entstand und seine sozusagen magischen Kräfte erlangte. Als der Mensch begann, seine Umgebung zu benennen und zu bezeichnen.
In dieser oder anderer Form gab es in allen Völkern in einem bestimmten Entwicklungsstadium Heiler, also Menschen, die dabei halfen, mentale, geistige und körperliche Gesundheit zu erlangen. Während zum Beispiel in Europa die Inquisition diese Menschen weitgehend umgebracht hat, war in unserer Region die Kirche milder eingestellt. Dadurch konnte die Tradition über die tausendjährige Herrschaft des Christentums hinweg bewahrt werden. Als die sowjetische Ideologie an die Macht kam, setzte sich der Druck fort. Die Heiler waren denselben Repressionen wie die Priester ausgesetzt, wurden nach Sibirien deportiert.
Das führte aber nicht zum Abbruch der Tradition, sie fand einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurde geheim gehalten. Die Behandlungen wurden nachts vorgenommen, damit niemand davon erfuhr. Mir ist zu Ohren gekommen, dass beispielsweise ein Kommunist heimlich zu einer Heilerin ging, um einen giftigen Schlangenbiss behandeln zu lassen, da es nicht möglich war, da kein Krankenhaus in Reichweite war. Das war für beide Seiten gefährlich. Die Heilerin konnte verhaftet werden, der Kommunist konnte seinen Status und seine Arbeit verlieren.
Viele Nachkommen weigerten sich, die göttliche Gabe zu übernehmen. Denn natürlich war die damalige Jugend gegenüber solchen Kenntnissen eher skeptisch. Auch das hat zum langsamen Verschwinden der Tradition beigetragen.
Alles in allem hat die Sowjetmacht ein System errichtet, das zum katastrophalen Verschwinden des belarussischen Dorfes führte. Während 1970 noch 75 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Dörfern lebte, sind es heute nur noch 25 Prozent, und auch diese Zahl sinkt weiterhin.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Das mag vielleicht unglaublich klingen, aber die visuelle Sprache hat sich während der Arbeit am Projekt von selbst entwickelt. Ich wollte im Mittelformat arbeiten und habe zu Beginn noch Buntfilm verwendet. Die Digitalkamera hielt ich hier für überflüssig. Doch nach einigen Expeditionen waren die Filme einfach leer geblieben, ohne ein einziges Bild. Magie also …
Beim nächsten Mal verwendete ich Schwarzweißfilm und entwickelte die Negative selbst, mit allen chemischen Prozessen. Das kam mir wie eine besondere Alchimie vor, ein Spiel mit den Sinnen. Meine fotografische Magie hält die Magie der Heilerinnen fest. Das Licht in den Dorfhäusern ist zudem oft sehr schwach, sodass die Arbeit mit Schwarzweißfilm einfacher war. Es gab auch einen lustigen Vorfall: Verwandte hatten mich gebeten, etwas besprochenes Wasser mitzubringen. Auf dem Heimweg verwechselte ich vor Müdigkeit die Flaschen, füllte meinen Verwandten meine Chemikalien zum Film-Entwickeln ein und verwendete das Heilwasser dann zum Entwickeln der Negative. So liegen die geheimnisvollen Gebete nun als unsichtbare Schicht über den Porträtfotos.
Wie reagieren die Ausstellungsbesucher in Belarus auf das Projekt?
Die Reaktion der Belarussen hat mich schlichtweg schockiert. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Die Buchveröffentlichung war für mich ein Abenteuer. Ich bin ja kein Schriftsteller, sondern habe einfach meine Eindrücke des Gehörten und Gesehenen auf Papier festgehalten. Zehn Jahre Reisen, Recherchen, Entdeckungen. Die gesamte Auflage des Buchs war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft.
Auch die Ausstellung sorgte für viele erfreuliche Momente. Wir mussten fünf Lesungen machen, weil immer wieder Leute in der Galerie anriefen und nachfragten. Wir mussten sogar Voranmeldungen aufnehmen, weil nicht genug Platz für alle Interessierten war. Die Ausstellung wurde drei Mal verlängert, sie war letztlich drei Monate lang zu sehen. Doch auch nach Ende der Ausstellung rufen die Leute noch in der Galerie an und wünschen sich weitere Lesungen.
Das ist aber alles gar nicht so sehr mein Verdienst, sondern vielmehr das meiner Heldinnen, ihres Schicksals, ihrer Bestimmung. Manche Leute lasen das Buch und kamen dann in die Ausstellung, um die Porträts zu betrachten, bei anderen war es umgekehrt, sie kauften das Buch nach der Ausstellung. Hier kommt wieder das genetische Gedächtnis ins Spiel, viele hatten von den Heilerinnen gehört, manche hatten welche in der Verwandtschaft, aber niemand kannte die Geheimnisse der Tradition. Mein Buch und die Ausstellung haben Einblick in die vergessene und verschwindende mystische Welt der belarussischen Heiltradition eröffnet. Wahrscheinlich war das der Grund für den Erfolg.
Das Frauenkreuz und die Flüsterin Babka Fedora. Jedes Jahr werden an dem Kreuz Stoffe und Ruschniki geopfert. Nach einem Jahr werden sie verbrannt und neue aufgehängt. Dies ist ein Heil- und Opferritual, das dafür sorgen soll, dass das ganze Dorf von schrecklichen Krankheiten verschont bleibt / Foto © Siarhej Leskiec
links: Eines der Heilungsrituale besteht darin, durch eine Baum- oder Tierhöhle zu klettern, eine Höhle, die an der Grenze zwischen Wald und Feld gegraben wurde / rechts: Wandas Großmutter stammte aus einem alten Hexengeschlecht. Doch ihre Mutter gab diese Tradition auf und praktizierte nur noch Heilung. Ihre Tochter führt die Tradition ihrer Mutter im Alter von 92 Jahren fort / Fotos © Siarhej Leskiec
Holzglut in einer Tasse. Durch die Glut wird Wasser gefiltert oder ein in der Kirche gesegnetes Kraut wird in die Glut geworfen, mit dem Rauch wird die kranke Person geräuchert / Foto © Siarhej Leskiec
Elenas Großmutter flüstert Zaubersprüche. Sie trägt mehrere Kreuze und Amulette auf der Brust, die ihrer Meinung nach ihre Heilkraft verstärken / Foto © Siarhej Leskiec
Brotopfer für ein Erntejahr (Pilze, Beeren). Eine der Heilerinnen zeigt, was sie tut. Auf einem Tuch bringt sie ein Stück Brot dar und legt es auf eine Lichtung / Foto © Siarhej Leskiec
links: Großmutter Anna lebt in Podlasie (was seit 1945 zu Polen gehört), sieht sich aber als orthodoxe Belarussin. Die Heilworte, so sagt sie, seien ihr von den verstorbenen Heiligen Kuzma und Demjan beigebracht worden / rechts: Heilerin mit neun unterschiedlichen Ähren. Es gehört zu ihrer Familientradition, auf Kupalle neun unterschiedliche Ähren zu sammeln und sie in der Kirche zu weihen. Sie helfen ihr bei der Heilung von Kranken / Fotos © Siarhej Leskiec
Papier mit Beschwörungsformeln. In verschiedenen Traditionen werden sie verbrannt und geräuchert, oder sie werden in Wasser eingeweicht und das Wasser dann getrunken, womit der Mensch die Worte in sich aufnehmen soll / Foto © Siarhej Leskiec
Laut Legende ist der Sumpf vom Teufel erschaffen worden, der die Samen des Lebens aus dem Mund Gottes nahm, woraufhin diese zu wachsen begannen und der Teufel sie ausspucken musste. Deswegen ist der Sumpf also das Gegenteil von Frieden und Harmonie – ursprüngliches Chaos. Dorthin verbannen die Heilerinnen alle Krankheiten. Dort wohnt nach ihrer Vorstellung der Teufel und dort haben Krankheiten ihren Ursprung / Foto © Siarhej Leskiec
Direkt am Haus der Flüsterin Elena befindet sich der Dedowa Gora, der Berg der Ahnen, wo die Einheimischen seit jeher Kupalle feiern. Wissenschaftler meinen, dass ein Ort mit solch einem Namen in der Vergangenheit ein heidnischer Tempel gewesen sei / Foto © Siarhej Leskiec
links: Mütterchen Elena zeigt die Kräuter, die sie zum Heilen verwendet / rechts: Eine der wenigen Heilerinnen, die – so wird es überliefert – Epilepsie bei Kindern heilen konnte / Fotos © Siarhej Leskiec
Der Wald ist seit Jahrtausenden Nahrungsgeber und Lebensraum der Belarussen. Deswegen kommt er so oft in Märchen, Bylinas und Beschwörungen vor / Foto © Siarhej Leskiec
Die Buchstaben der Heiligen Drei Könige gelten in der Heiltradition als Talisman. Kreide gilt als heiliges Attribut und kann zur Heilung und zum Hexenaustreiben verwendet werden / Foto © Siarhej Leskiec
links: „Die andere Welt ist nicht darstellbar oder beschreibbar, sondern ist ein Spiegelbild unserer eigenen.“ / rechts: Mütterchen Elena – Gott, so erzählt sie, sei ihr im Traum erschienen und habe ihr Worte gegeben, um Menschen und Tiere zu heilen / Fotos © Siarhej Leskiec
Fotos: Siarhej Leskiec
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Tina Wünschmann
Veröffentlicht am 03.01.2023Weitere Themen
Blick in das Innere von Belarus
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Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage
Unter schwierigen politischen Bedingungen konnte sich die belarussische Kultur in den vergangenen 20 Jahren bedeutende Freiräume erobern, die zwar immer wieder von den Machthabern mit punktuellen Repressionen attackiert wurden, die aber trotz der feindlichen Umgebung erstaunlich lebendig und wandlungsfähig waren. Das Theater, die Musik, Literatur und Kunst konnten auf diese Weise wichtige Impulse setzen. Seit den Protesten im Jahr 2020 und der darauffolgenden Repressionswelle, die bis heute andauert, hat Kultur in Belarus abseits staatlicher Kontrolle kaum noch eine Überlebenschance. Viele Künstler und Kulturschaffende wurden inhaftiert, ihre Kunst verboten, viele haben das Land verlassen und versuchen nun im Exil, ihre künstlerische Arbeit aufrechtzuerhalten. Andere haben sich trotz allem entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben.
Der bekannte Autor Alexey Strelnicov hat für den russischsprachigen dekoder mit zahlreichen Kulturschaffenden über die aktuelle Lage der Kultur und das Leben im Exil gesprochen. Strelnicov hat sich mit seinen Texten zum zeitgenössischen belarussischen Theater einen Namen gemacht, er lebte bis zuletzt in Belarus und inszenierte dort in Privatwohnungen kleine Theateraufführungen. Es ist einer der letzten Texte von Strelnicov, den wir nun auf Deutsch zugänglich machen. Alexey Strelnicov verstarb unerwartet am 17. Dezember 2022. Er wurde nur 39 Jahre alt.
Nach Wahlen gab es jedes Mal eine kulturelle Emigration
„Als wir in Warschau das erste Konzert nach der Pause spielten, sah ich die gesamte Minsker Clique. Und da waren die Grenzen (wegen Corona – Anm. der Red.) noch dicht! Dieselben Typen, die in Minsk die ganze Zeit Backstage abgehangen hatten, waren auch da. Das war wie ein Schock für mich: Menschen, die gerade erst ausgereist waren, hatten das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Heimat“, sagt einer der bekanntesten belarussischen Musiker, Lavon Volski.
Bereits seit 2006 standen Volskis Musikprojekte mal unter starkem Druck der Regierung, mal wurden sie wegen seiner politischen Haltung rundweg verboten. Aber an Repressionen solcher Ausmaße wie jetzt kann er sich nicht erinnern. Als klar wurde, dass es kein einziges Format gibt, mit dem er in Belarus noch auftreten könnte, ging Volski ins Ausland, wo er von seinen Fans bereits erwartet wurde.
Im Ausland Fuß zu fassen, gelingt längst nicht jedem. „Alle pfeifen drauf, ob du geflüchtet bist oder nicht, die Frage ist, wie gut deine Arbeit ist“, sagt der Dramaturg und Kunstmanager Nikolaj Cholesin, der sich seit 2011 erzwungenermaßen im Exil befindet und das Belarus Free Theatre leitet. Die Ausrichtung darauf, dass ein belarussisches Kulturprodukt nachgefragt wird, wenn es gut gemacht ist, hat Erfolg. Das Free Theatre spricht aktuelle Themen in einer modernen Sprache an. Die Künstler treten jetzt bei den wichtigsten Festivals auf. Und lange schafften sie es sogar, ihre Stücke heimlich in Minsk zu zeigen.
In nächster Zeit werden sie wohl kaum in der Heimat auftreten können. In dem Dokumentarfilm Courage des Regisseurs Aliaksei Paluyan wird gezeigt, wie schwer die Entscheidung zur Ausreise selbst für jene war, die schon lange im Untergrund waren und meinten, sie seien auf alles vorbereitet. Nach der Premiere verließ der gesamte belarussische Teil des Filmteams das Land.
Als das Ensemble des Janka-Kupala-Theaters, des führenden Theaters in Belarus, wegen eines öffentlichen Protests Ende August 2020 nahezu vollständig entlassen wurde, war der Satz zu hören: „Ein weiteres Theater ist jetzt frei.“ Ein großer Teil der entlassenen Künstler arbeitete weiterhin zusammen und nannte sich „freie Kupalianer“. In Belarus konnten ihre Arbeiten nur als Aufzeichnung oder online gezeigt werden. Und auch wenn jetzt jede ihrer Premieren von sehr viel mehr Zuschauern „besucht“ wird, als der größte Theatersaal fassen könnte, ist ihnen keine Möglichkeit geblieben, vollwertig in der Heimat zu arbeiten.
Dafür werden dem neuen unabhängigen Theater diese Möglichkeiten im Ausland geboten. Das Theater beteiligt sich an Experimentalgruppen, erhält Stipendien, arbeitet an neuen Stücken und zeigt sie auf Festivals. Mithilfe belarussischer Emigranten ist es gelungen, im Ausland vollwertige nationale Kulturprozesse in Gang zu setzen. Es werden Bücher verlegt, Theaterstücke inszeniert, und es finden Ausstellungen und Konzerte statt.
Die Künstler versuchen, sich selbständig an die neuen Realitäten anzupassen. Eine Schauspielerin des Kupala-Theaters erinnert sich an ihre Ausreise nach Polen: „Mein Ziel war es vor allem, bei meiner belarussischen Identität zu bleiben. Wo sonst könnte ich sie noch bewahren? In Belarus ist das jetzt ein Verbrechen. Hier aber gibt es noch Chancen und Möglichkeiten.“
Jenen, denen es gelungen ist, sich zu etablieren, die ihr Publikum und ihre Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben, mag das Leben im Ausland wie eine lange Dienstreise erscheinen. Viele sind noch nicht so weit, die Emigration als solche zu akzeptieren.
Bühne gegen Kloschüsseln getauscht …
Jene, die nicht vorhatten, das Land zu verlassen, sondern zwangsläufig emigrierten, standen nun vor der drängenden Frage der Selbstfindung.
In einer schwierigen Situation sind jetzt jene, die in die Ukraine emigriert waren und dann vor dem Krieg nach Polen flohen. Sie wurden zwar als Flüchtende ins Land gelassen, standen aber de facto als Bürger eines Staates da, der an der Aggression beteiligt ist. Viele hatten Probleme, Dokumente zu bekommen.
Kulturschaffende sehen sich in der Emigration gezwungen, sich irgendeinen anderen Beruf zu suchen. Dmitry Gajdel, Schauspieler und Puppentheaterregisseur, hat in Polen den Beruf eines Heizungsmonteurs erlernt. „Mir wird oft gesagt, dass ich wohl die Bühne gegen die Kloschüssel getauscht habe. Ich war ein Großer und bin jetzt ein kleiner Malocher. Mir gefällt’s aber. Ist doch toll, sein Leben von Grund auf zu ändern. Überhaupt denke ich, dass man sein Leben sehr viel häufiger ändern sollte,“ meint Dmitry.
Der Theaterschauspieler Alexander Ratko aus Hrodna wurde im ganzen Land berühmt, als er sich vor der OMON rettete, indem er durch den Njoman (dt. Memel) schwamm. Er wanderte nach Litauen aus, erhielt dort ein Künstlerstipendium, studiert Schauspiel an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius und wirkt an Inszenierungen des Russischen Theaters Litauens mit. Er gehört zu jenen, die einen Platz in ihrem Bereich gefunden haben. Aber es fällt ihm schwer, sich an das Leben in der neuen Umgebung anzupassen. „Ich wohne mitten in der Altstadt. Ich habe jetzt nicht die Probleme, die ich in Belarus hätte haben können. Also bitte: Genieße die Stadt, geh ins Theater, ins Museum. Aber! Es bringt nicht die Freude, die es bringen könnte.“ In einem ähnlichen Zustand sind viele, die unerwartet gezwungen waren, das Land zu verlassen: eine unbekannte Sprache, ein Publikum, das man nicht kennt, Heimweh, die Aufgabe, im fortgeschrittenen Alter eine Karriere ganz neu anzufangen …
„Wenn ein Künstler auswandert, und umso mehr, wenn er dazu gezwungen wird, dann findet er nur selten seinen Platz. Das erfordert nicht nur Superkräfte, sondern auch die entsprechenden Marktbedingungen“, kommentiert Sergej Budkin, Leiter des Belarusian Council for Culture, die Schwierigkeiten für Kunstschaffende, sich im Ausland einzurichten.
Leichter fällt es jenen, die mental darauf vorbereitet sind. Die Schauspielerin Kristina Drobysch fand sich in einem Projekt wieder, das Bücher und Filme ins Belarussische vertont. Sie weiß aber um die Notwendigkeit, sich am neuen Wohnort einzuleben. „Mir ist klar, dass es trotzdem zu einer gewissen Integration kommen wird. Es geht darum, Respekt für das Land zu zeigen, das mich aufnahm. Man muss die Sprache lernen und versuchen, die örtliche Kultur zu verstehen.“
In den sozialen Netzwerken zählt sie bis heute die Tage, die seit ihrer Vertreibung aus dem Kupala-Theater vergangen sind. Jeder versucht auf seine Weise, eine Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. „Aus Belarus kannst du nicht weglaufen“, sagt Alhierd Bacharevič. „Das ist wie ein Fluch, wie ein Omen!“
In einer Situation, da aufgrund drohender Repressionen und durch den Krieg ganz viele Gemeinschaften oder informelle Vereinigungen in noch kleinere Scherben zerschlagen sind, setzen die Koordinationsstrukturen der belarussischen Aktivisten die Prioritäten wie folgt: Als Erstes muss für Kulturschaffende eine sichere Umgebung geschaffen werden; zweitens sollen Möglichkeiten gefunden werden, wie sie in ihrem Beruf weiterarbeiten können; drittens sollen für jene, die sich an neue Umstände anpassen müssen, Anpassungsmöglichkeiten organisiert werden; und viertens muss langfristig ein Netzwerk aufgebaut werden, das Chancen auf künstlerische Entwicklung bietet.
Auf der Internetseite des Belarusian Council for Culture können Künstler ihre Projekte relativ formlos einreichen. Über hundert Projekte wurden gefördert. Und für die angekündigte „Woche der belarussischen Kultur in der Welt“ sind sogar 120 Anträge eingegangen.
Nicht bleiben können, nicht fortgehen können
„Ich unterteile Kulturschaffende nicht in solche, die ausgewandert sind, und solche, die bleiben. Sie alle zusammen schaffen einen gemeinsamen Kulturraum und arbeiten für ein gemeinsames Ziel“, meint der Leiter des Council for Culture, Sergej Budkin.
Die Kreativen, die in Belarus geblieben sind, haben keine große Wahl. Dutzende Kulturschaffende sind nach wie vor im Gefängnis. Die Regierung unternimmt alles, um jene, die geblieben sind, einzuschüchtern, ihnen das Recht auf Protest und auf eine von der „staatlichen“ abweichende Position zu nehmen. Nicht alle haben die Möglichkeit auszuwandern, viele müssen weiterhin in offiziellen Kulturinstitutionen arbeiten und dabei versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben.
Viele Schriftsteller, Kritiker und Kunsthistoriker nutzen die Möglichkeit, mit westlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Einige griffen auf ihre pädagogische Ausbildung zurück und wechselten zur Online-Nachhilfe oder in eine Privatschule. Allerdings sind bis September 2022 fast sämtliche Privatschulen in Belarus geschlossen worden.
In Belarus gibt es jetzt wieder das Phänomen, dass im Untergrund Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gespielt werden, die alle nur schwer aufzuspüren sind und über die erst irgendwann später offen gesprochen werden kann. Daher können wir hier und jetzt keine Einzelheiten erzählen. Meist bestehen die Teilnehmer darauf, nirgendwo erwähnt zu werden. „Uns erzählen Zuschauer, ihnen werde bei unseren Aufführungen bewusst, dass man ihnen die Freiheit nicht nehmen kann“, sagt einer der Organisatoren von Untergrundveranstaltungen.
Untergrundkultur ohne Grenzen
Die Belarussen, die durch Grenzen getrennt sind, streben jetzt danach, ihre Identität zu wahren. Kunstprojekte erlauben es ihnen, sich in der Emigration als Belarussen zu erkennen zu geben, den Belarussen, die ihre Heimat verlassen haben, eine Stimme zu verleihen, sie im Weltmeer der Emigration sichtbar zu machen. Ob die belarussische Kultur im Ausland eine Exilkultur sein wird oder ein Katalysator für Veränderungen innerhalb des Landes, wird sich erst später zeigen.
In welcher Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, lässt sich daran feststellen, dass die Europäer jetzt nach belarussischer Kunst verlangen. Der bekannte Schriftsteller Alhierd Bacharevič sagt: „In letzter Zeit ändern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Osteuropa. Langsam, aber unaufhaltbar entdeckt die Welt für sich auch unsere „blutigen Länder“. Gleichgültigkeit wird jetzt von Interesse abgelöst, von Versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind. Früher hat der Westen ausschließlich mit Russland gesprochen, über unsere Köpfe hinweg. Jetzt sind wir auf den kulturellen und politischen Landkarten vorhanden“, resümiert Bacharevič.
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„Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“
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ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“
Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.
Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.
Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?
Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.
Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?
Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.
Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?
LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen.
Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?
Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!
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„Ich erlaube mir, ich zu sein“
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Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine
Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. Kunstkritiker Anton Dolin hat sie für Meduza besucht.
Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 81 x 61 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
Heute, da alle Augen auf die Ereignisse in der Ukraine gerichtet sind, könnte man in der umfassenden Retrospektive des Fotografen Boris Mikhailov eine opportunistische Geste sehen. Doch der 84-jährige Charkiwer gilt längst – spätestens seit Anfang der 1990er Jahre – als lebender Klassiker und als ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat. Von allen Preisträgern des renommierten Hasselblad Foundation Awards (so etwas wie der Nobelpreis für Fotografie), stammt er als Einziger aus dem postsowjetischen Raum. Boris Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt.
Ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat
Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Mikhailov in der UdSSR verbracht, dann ging er nach Deutschland, wo er auch heute noch lebt. Er bezeichnet sich jedoch ausschließlich als Ukrainer. Und wer würde ihm da widersprechen.
Er dokumentierte den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit so schonungslos und poetisch wie kein anderer. Mikhailov fasst seine Bilder stets in Zyklen oder Serien zusammen: U Semli (Am Boden, 1991) ist inspiriert von Gorkis Na dne (dt. Am Boden bzw. Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe). Sumerki (Dämmerung, 1993) wirkt wie durchdrungen von blauem Dunst. Das monumentale Promsona (dt. Industriegebiet, 2011) entstand im Donbass. Und Tschai, Kofe, Kaputschino (dt. Tee, Kaffee, Cappuccino, 2000–2010) ist eine scharfsichtige Chronik des postsowjetischen Chaos in seiner Heimatstadt Charkiw.
Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt
All diese Bilder sind noch bis 15. Januar 2023 in der Pariser Retrospektive zu sehen. Nach einem Besuch der Ausstellung scheint es, als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich.
In der UdSSR dokumentierte Mikhailov unermüdlich die sapreschtschjonka – also alles, was verboten war (russ. sapret – Verbot). Weil man bei ihm Aktaufnahmen fand, verlor er seine Arbeit als Elektroingenieur. Er war immer darauf aus, das Unscheinbare, Ungeschönte – scheinbar Zufällige – aufzuspüren und sichtbar zu machen. In der Fotoserie Luriki (1971–1985) kolorierte und „verschönerte“ Mikhailov wiederum fremde Familienfotos. Und in SozArt (1975–1985) hübschte er auf diese Weise seine eigenen Reportagefotos von Demonstrationen und anderen offiziellen Veranstaltungen auf.
Sehr eindrucksvoll ist die Krassnaja serija (dt. Rote Serie, 1968–1975), die die offiziöse Sowjetwelt als ein Sammelsurium von wunderlichen Sonderlingen und Monstern à la Hieronymus Bosch zeigt. So ist Mikhailov bereits in seinen frühen Arbeiten ohne viele Worte mit seinen Zeitgenossen in einen Dialog über Ästhetik und Zweck der Kunst getreten.
Die Bruchstelle zwischen Sein und Bewusstsein spürt der Fotograf in der Serie Soljanyje osera (dt. Salzseen, 1986) auf. Sie zeigt Urlauber in der Gegend bei Slowjansk: Das Wasser des Stausees, in den die umliegenden Fabriken ihre giftigen Abfälle kippten, hielten die Menschen ganz aufrichtig für heilsam, seinem Schlamm schrieben sie Wunderqualitäten zu. Doch Mikhailovs Bandbreite erschöpft sich bei weitem nicht im grotesken Verlachen des einfachen Bürgers. Die Serie Tanzy (Tanz, 1978) dokumentiert eine Tanzveranstaltung im Charkiwer Stadtpark mit so viel Liebe und Ehrfurcht, dass man die müden, zerknitterten, vom Dauerstress zermürbten Helden dieser Bilder sofort umarmen möchte.
Mikhailovs gesammeltes Werk umfasst auch Arbeiten, die den Ereignissen auf dem Maidan gewidmet sind. In der höchst beeindruckenden Serie Teatr wojennych deistwi. Akt II. Antrakt (dt. Kriegsschauplatz. 2. Akt. Pause, 2013–2014) wirkt es, als würde er die Tatsachen heranzoomen, ihnen einen neuen Maßstab verleihen.
Die Pariser Ausstellung trägt nicht zufällig den Titel Ukrainisches Tagebuch: Ein eigener Saal ist Mikhailovs Fototagebuch gewidmet, das er schon sein ganzes Leben führt. Hier sind die Serien nicht chronologisch angeordnet – das liegt daran, dass viele der Bilder im Laufe von 20 bis 30 Jahren entstanden sind.
Als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich
In der Exposition mischt sich das Epische mit dem Lyrischen. Auf der einen Seite ist da der Zyklus Soljanyje osera, auf der anderen – der Krymski snobism (Snobismus auf der Krim, 1982), in dem der Künstler voller Selbstironie seine eigenen, ganz orthodox-sowjetischen Ferien am Meer zeigt. Auf der einen Seite das metaphysische Wjaskost (dt. Klebrigkeit, 1982), dessen Titel allein schon den Geist des Stillstands atmet, auf der anderen – das avangardistische Neokontschennaja dissertazija (dt. Unvollendete Dissertation, 1984), in dem Mikhailov eine unfertige wissenschaftliche Arbeit, die jemand weggeworfen hat, als Ready-Made benutzt und die Seitenränder mit wie zufälligen Fotos und philosophischen Kommentaren spickt.
Ein eigener Raum ist der Skandal-Reihe Istorija bolesni (dt. Krankengeschichte, 1997–1998) gewidmet: Sie zeigt Portraitaufnahmen von Obdachlosen, die durch Mikhailovs Kameraobjektiv an die tragischen Helden von Caravaggio oder Rembrandt erinnern. Von manchen provokanten Arbeiten möchte man den Blick abwenden, aber es geht nicht – sie brennen sich augenblicklich ins Gedächtnis ein, verbleiben dort wie Narben. Die Fähigkeit, das Sakrale im Profanen zu sehen, das Ergreifende im Abstoßenden, das Schöne im Hässlichen – das ist es, woran man ein großes Talent erkennt.
Die provokante Serie von Selbstportraits Ja ne Ja (dt. Ich bin nicht Ich, 1992), in der der Künstler nackt mit Dildos vor der Kamera posiert, ist im Stil eines Slapstick-Stummfilms gehalten. Oder die nach heutigem Maßstab noch gewagtere Serie Esli by ja byl nemzem (dt. Wenn ich Deutscher wäre, 1994): Mikhailov richtet die Kamera mit derselben bestechenden Ehrlichkeit und demselben vernichtenden Sarkasmus auf sich selbst wie auf seine Umgebung.
Letzten Endes lässt sich das Subjektive nicht vom Objektiven trennen, deshalb dokumentiert ein wahrer Fotograf die Wirklichkeit immer in dem gleichen Maße, in dem er sie bricht. Hervorragend illustriert wird dieser Gedanke in der Dia-Show Wtscheraschni Buterbrod (dt. Butterbrot von gestern, 1960er–1970er Jahre), in dem „mangelhafte“, ausgemusterte Aufnahmen sich zum psychedelischen Soundtrack von Pink Floyd abwechseln und plötzlich eine unerwartete, oft frappierende Schönheit entfalten.
Den Schlussakkord der Ausstellung bildet eine weitere Dia-Show: das prophetische Ispytanije smertju (dt. Prüfung durch Tod, 2014–2019), das von der modernistischen Architektur eines sowjetischen Krematoriums inspiriert ist.
Die Ausstellung präsentiert die künstlerische Biografie des Fotografen als von einer Idee durchdrungen, die besonders heute wichtig und wertvoll ist: Mikhailov zeigt, wie komisch, verletzlich und unvollkommen der menschliche Körper, der Krankheit und Alter unterworfen ist, sein kann. Und doch ist er stärker als die vermeintliche Unerschütterlichkeit ideologischer Konstrukte und der Schönheitsideale, die sie propagieren.
Die Bilder des Maidan fügen sich in diesen Gedanken gut ein: Sie handeln nicht von einem mystischen „Volk“, sondern von Menschen, die in der Lage sind, Trugbilder zu besiegen, allen voran den Mythos von der großartigen sowjetischen Vergangenheit. Mikhailov ist im Laufe seines langen Lebens Zeuge verschiedener Epochen geworden. Es bleibt zu hoffen, dass er bald das Ende des Krieges dokumentieren wird, der jetzt in seiner Heimat, der Ukraine, geführt wird.
Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 61 x 81 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
Suzanne Tarasiève, ParisAus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
Suzanne Tarasiève, ParisAus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, ParisAus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, ParisAus der Serie Wjaskost, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 30 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
Aus der Serie , 1991. Silbergelatine-Abzug, Sepia getönt, 11,5 x 29,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
National Hero, 1991. C-Print, 120 x 81cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Ja ne ja, 1992. Silberabzug, 30 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 15 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
Aus der Serie « Salt Lake », 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Soljanyje osera, 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print, 130 x 180 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print, 172 x 119 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Aus der Tagebuch-Serie, 1973–2016. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 29,7 x 21 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
Original: Meduza
Fotos: Boris Mikhailov
Text: Anton Dolin
Übersetzung: Jennie Seitz
Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am: 01.12.2022Weitere Themen