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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Verbannt und verboten

    Verbannt und verboten

    Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.

    Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.

    Русская версия

    Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič

    Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken. 

    Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien
     

    Der Verleger Andrej Januschkewitsch / Foto © Andrej Radoman

    Die Eintagsbuchhandlung von Minsk

    Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.

    „Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“

    Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein. 

    Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.

    „Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch. 

    Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr

    Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen. 

    „Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.

    Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch. 

    Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch. 

    In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er. 

    Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus

    Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten. 

    In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
     
    Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki. 

    „Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
     
    Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er. 

    Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch. 

    Das belarussische Regime ist antibelarussisch

    Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“

    Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage. 

    „Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten. 

    „Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.

    Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert

    Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger. 

    „Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“

    Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“

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  • „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Wir spielen ehrliche Musik.“ Das sagte Dimitri Golowatsch, Gitarrist der belarussischen Band Tor Band, in einem Interview. Mit ins Ohr gehenden Refrains und Melodien und Texten, die das Gefühl der Proteste von 2020 aufgreifen, wurde das bis dato völlig unbekannte Trio zu einer der populärsten Bands, ihre Songs wurden Hymnen der damaligen Demokratiebewegung. Trotz der Repressionen, die sich auch gegen Kulturschaffende richten, blieben die Musiker in Belarus. Im Januar 2023 wurde die Band zur „extremistischen Vereinigung“ erklärt, bereits im Oktober 2022 waren die Musiker festgenommen worden, seit Mitte September läuft hinter verschlossenen Türen ein Prozess gegen die Mitglieder der Band – ihnen drohen bis zu zwölf Jahre Haft.

    Der Journalist Michail Polosnjakow hat sich in einem Beitrag für Mediazona Belarus eingehend mit der weitgehend unbekannten Geschichte der Band und den Repressionen gegen die Musiker beschäftigt, die der Lukaschenko-Staat anscheinend derart fürchtet.

    Tor Band aus der ostbelarussischen Kleinstadt Rogatschow (bel. Rahatschou), das sind Dimitri Golowatsch, Jewgeni Burlo und Andrej Jaremtschik. Sie schrieben den Songtext „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, wir sind das lebendige Volk, wir sind die Belarussen“. Das Musikvideo bekam mehr als eine Million Klicks, aufgenommen wurde es mit einzelnen Clips der Fans.

    Als die Proteste abgeflaut waren, blieb Tor Band in Belarus, Dimitri Golowatsch arbeitete weiterhin im Kulturhaus von Rogatschow. Doch irgendwann kamen sie auch an die Reihe: zuerst ein eintägiger Gewahrsam, aus dem die Musiker nicht freigelassen wurden, später wurde die Rockband zur „extremistischen Formierung“ erklärt. Den Bandmitgliedern werden mehrere Straftaten vorgeworfen, darunter auch die Diskreditierung von Belarus. 
    Mediazona stellt die Geschichte der Band vor, die die Hymne der Proteste schrieb, und sprach dazu mit Denis Daschkewitsch, ein Aktivist aus Rogatschow und ehemaliger Direktor des Kulturzentrums im Dorf Pobolowo. 

    Auftritt auf der Hauptbühne in Rogatschow am Unabhängigkeitstag

    Zu Beginn des Sommers 2020 ging Denis Daschkewitsch mit seiner Familie in Gomel im Park spazieren. An diesem Tag hörte er aus „allen Autos“ das Lied Uchodi (dt. Hau ab) von Tor Band.
    „Damals bekam ich sofort Angst um die Jungs“, sagt Daschkewitsch. 

    „Hau ab! Friedlich, still und leise
    Hau ab! Wir finden neue Ehrenleute
    Hau ab! Jetzt ist die Zeit der Mutigen, nicht der Feiglinge
    Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“ 

    Als 2019 in Rogatschow der Unabhängigkeitstag begangen wurde, bespielte Tor Band den zentralen Platz neben der Stadtverwaltung und donnerte mit einem mehrstündigen Konzert los. Daschkewitsch erinnert sich, dass „die Jugendlichen fast durchdrehten“.
     
    Bandmitglied Dimitri Golowatsch erzählte in einem Interview. „Wir haben einen Song mit dem Text: 
    Die Revolution reift in uns heran, 
    im Innern reift Veränderung.
    Weg mit den offenen Metastasen, 
    brich die Mechanismen des Systems.
    Diesen Titel haben wir auf dem zentralen Platz von Rogatschow am Unabhängigkeitstag gespielt, Organisator war die städtische Ideologieabteilung!“

    Daschkewitsch sagt: „Bis 2020 gab es keinerlei Verdacht auf Opposition oder Terrorismus oder Extremismus. Das war eine Band, auf die die Stadtverwaltung von Rogatschow stolz war, über die in der Kreiszeitung geschrieben wurde.“ 

    Dieselbe Zeitung schrieb im März 2023 über die Band: „Ab 2020 verstärkte das eingeschworene Kollektiv aus Rogatschow seine destruktive Aktivität enorm, indem es die Interessen verschiedenster oppositioneller Strukturen bediente, und die Belarussen buchstäblich zu Brudermord und anderen rechtswidrigen Handlungen drängte.“

    Bevor sie Tor Band gründeten, spielten die Musiker in der Band Sex. Damals hatten sie Probleme mit der lokalen Verwaltung. Der Band wurde vorgeworfen, Drogenkonsum zu propagieren und Pornografie zu verbreiten. 2014 änderte die Band ihren Namen dann in Ojra. In den Texten dieser Gruppen kamen auch politische Motive vor. 

    Aus dem Titel Königreich der glücklichen Sklaven:

    „Ich sitz auf meinem Arsch an einem geilen Platz, 
    ich bin der coole Gockel auf der gold’nen Hühnerstange, 
    Jetzt verbiete ich mal all die Festivals, 
    hab kein‘ Bock zu rackern, ihr könnt mich alle mal!“

    Im Song Ach, Leute fragen die Musiker: „Wie soll man da nicht fluchen, bei 200 Dollar Monatslohn“, und „in der Glotze tönen sie, alles sei so wie es soll“. 2014 spielte die Band Konzerte in Moskau, gemeinsam mit Lyapis Trubetskoy und der Band Lumen. Außerdem gingen sie auf Tour durch die Ukraine. Bis dahin war Jewgeni Burlo der Schlagzeuger, Dimitri Golowatsch sang und spielte Gitarre – heute sind sie zwei von drei Bandmitgliedern, die im Fall der 2017 gegründeten Tor Band angeklagt sind. 

    Jewgeni Burlo hatte bis 2020 etwa zehn Jahre lang als Tontechniker im Kulturhaus von Rogatschow gearbeitet. „Er war der wichtigste Tontechniker der ganzen Stadt“, erinnert sich Denis Daschekwitsch. 
    „Alle betonten sein hohes Niveau bei Tontechnik, Bühnentechnik und Ausstattung. Woanders mussten für größere Veranstaltungen Experten aus Minsk oder Gomel kommen. In Rogatschow war das nie ein Problem.“

    Dimitri Golowatsch machte derweil Fotos und Videos auf Hochzeiten. Daschkewitsch zufolge war die Musik nicht seine Haupteinkommensquelle, sondern eher ein Hobby, in das er viel Geld hineinsteckte. 

    Ein Lied wird zum Protesthit 

    Den Titel My – ne narodez (dt. Wir sind kein Völkchen), der zu einer der Hymnen der Proteste wurde und die Band bekannt machte, hatten sie im Juni veröffentlicht. 

    „Die Leute schreiben uns: ‚Was für ein cooler Protestsong!‘ Aber es ist ein patriotischer Song, kein Protestsong. Es ist ein Song darüber, was die Leute wirklich von sich selbst denken. Seine [Lukaschenkos] Phrasen über das ‚Völkchen‘ riefen bei mir und bei vielen anderen Leuten Empörung hervor. Das hat die Selbstliebe des belarussischen Volkes wirklich stark getroffen“, sagte Golowatsch in einem Interview mit Onliner im September 2020 (der Artikel ist von der Seite gelöscht, aber noch im Webarchiv auffindbar). 

    „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, 
    Wir sind ein lebendiges Volk, wir sind die Belarussen.
    Mit Glauben im Herzen halten wir stand, 
    die Flamme der Freiheit über uns!“

    Für den Videoclip von My – ne narodez lud die Band ihre Fans ein, Videos davon aufzunehmen, wie sie den Refrain singen. Dimitri Golowatsch zufolge haben nicht alle mitgemacht, aber diejenigen, die in den Clip aufgenommen wurden, seien „die mutigsten und verwegensten“.

    Vor dem Videodreh zu Shywje! (dt. Es lebe!) luden die Musiker per Insta-Livestream ihre Fans ein, nach Rogatschow zu kommen und im Video aufzutreten. „Als wir dann am Dnepr-Ufer die Unmenge von Autos sahen, wurden unsere Augen immer größer und in der Stadt ging das Gerücht um, eine Gang sei angerückt und bald würde wohl eine Schlägerei beginnen“, erzählte Golowatsch. 

    Noch vor dem Song My – ne narodez waren die lokalen Behörden auf die Band aufmerksam geworden. Dimitri Golowatsch berichtet, die Kreisverwaltung habe ihn angerufen und darum gebeten, weniger Aufmerksamkeit auf die Stadt Rogatschow zu lenken: „Die zentrale Aussage war: Wir wollen, dass in Rogatschow alles ruhig ist.“

    Tor Band nahmen weiterhin Songs auf und produzierten Videos. Im Clip zu Kto, jesli ne ty (dt. Wer, wenn nicht du) treten 23 Familien auf. Kinder, Eltern und Musiker singen zusammen:

    „Wer denn sonst, wenn nicht du?
    Man schenkt uns wieder Glauben
    Wir malen alles ganz weiß an
    Und vertreiben all das Grau.“

    Im Interview mit Nasha Niva sagte Dimitri Golowatsch, Tor Band habe zum Ziel, „die stabile emotionale Haltung unseres Volkes zu unterstützen“. 
    Im März 2021 brachte die Band ein Album mit allen Protesthits heraus: Finita La Commedia

    Wir waren überzeugt, dass alles vergessen sei

    „Die Musiker waren davon überzeugt, dass alles vorbei sei – und Schluss. Jewgeni Burlo nahm einen Kredit auf und kaufte sich wenige Monate vor seiner Verhaftung noch ein teures Motorrad“, erzählt Daschkewitsch. Golowatsch arbeitete auch nach den Protesten weiter als Hochzeitsfotograf, und Burlo blieb Tontechniker im Kulturhaus. Er kündigte dort Anfang Oktober 2022, wenige Wochen vor seiner Festnahme. 

    Laut Denis Daschkewitsch war eine lokale Beamtin darüber sehr empört. Nachdem die Musiker festgenommen worden waren, hatte Daschkewitsch die Beamtin angerufen. Daschkewitsch gibt an, sie habe im Gespräch zugegeben, Jewgeni Burlo schriftlich denunziert zu haben. 
    Daschkewitsch gibt ihre Worte so wieder: Er habe nicht einfach nur gekündigt. Erstens habe er den Staat verraten, der ihm auf die Beine geholfen hat. Und zweitens sei er noch so dreist gewesen, die digitale Infrastruktur zu entfernen. Mit „digitaler Insfrastruktur“ meine sie eine lizenzpflichtige Software, die Burlo nach seinem Weggang als Tontechniker im Kulturhaus deinstalliert habe. 

    „Ich sagte ihr, dass man dieses Programm zur Audioaufzeichnung aus dem Internet herunterladen kann. Habt ihr in der Kreisverwaltung  etwa alle lizensierte Windows-Versionen? Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten“, erinnert sich Daschkewitsch. 

    Tor Band hatte noch ein weiteres Bandmitglied – den Bassisten Andrej Jaremtschik. Mediazona konnte nicht herausfinden, wann genau er zur Band gestoßen ist, und ob er 2020 dazugehörte. Neben seinem Musiker-Leben arbeitete Jaremtschik als Geschichtslehrer in der Mittelschule Nr. 5 in Rogatschow. Auf der Mitarbeiterliste der Schulwebseite ist er nach wie vor verzeichnet. 

    Plötzlich waren sie „Extremisten“ und Straftatverdächtige

    Am 28. Oktober 2022 nahmen die Silowiki alle drei Bandmitglieder sowie zwei der Ehefrauen fest. Bei den Hausdurchsuchungen wurde das komplette Musik- und Computerequipment mitgenommen, sagt Daschkewitsch. 

    „Die hätten fast einen LKW gebraucht, um das alles wegzubringen. Allein bei Golowatsch haben sie sieben Gitarren mitgenommen“, erzählt eine Bekannte der Band. 

    Damals schrieb das Menschenrechtszentrum Wjasna, dass auch die Wohnungen jener durchsucht würden, die in den Videos der Band aufgetreten waren. Dimitri Golowatschs Ehefrau Julia wurde vom Gericht zu 960 Rubel Strafe verurteilt. Die Bandmitglieder und Jaremtschuks Frau Anna Musyka wurden für 15 Tage in Gewahrsam genommen, vorgeworfen wurde ihnen die Verbreitung „extremistischen“ Materials. Bis dahin war Tor Band in keinerlei „extremistischen Listen“ aufgetaucht, aber diese Informationen verbreiteten sich in den Betrieben von Rogatschow.

    Am 4. November wurde die republikweite Liste der extremistischen Materialien um den Gerichtsbeschluss des Bezirksgerichts Gomel vom 29. August ergänzt. Die Social-Media-Seiten, der Youtube-Kanal und zehn Songs der Band wurden für „extremistisch“ erklärt. Am nächsten Tag wurden die Videos, die millionenmal angeschaut wurden, vom Youtube-Kanal der Band gelöscht. 

    Die Musiker kamen nicht nach 15 Tagen Gewahrsam frei, auch nicht nach 60 Tagen. Am 16. Januar erklärte der KGB die Band zu einer „extremistischen Vereinigung“. Neben den drei Bandmitgliedern nahm der KGB auch Julia Golowatsch in die Liste auf. 

    Die Bandmitglieder wurden in Untersuchungshaft überführt, gegen sie wurde Anklage erhoben. Man wirft ihnen Volksverhetzung, Bildung einer extremistischen Vereinigung, Diskreditierung des Landes und Beleidigung Alexander Lukaschenkos vor. Auf einen der Anklagepunkte stehen zwölf Jahre Freiheitsentzug. Der Gerichtsprozess begann am 14. September 2023 und wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. 
     
    Laut Daschkewitsch hat sich Jewgeni Burlos Gesundheitszustand in der Untersuchungshaft ernsthaft verschlechtert. Er habe bereits früher an einer Krebserkrankung gelitten, aber „ohne kritischen Verlauf“. Zudem leide der Musiker dauerhaft unter Rückenschmerzen und nehme Schmerzmittel. Informationen von Wjasna zufolge wurde bei Burlo in der U-Haft eine Hüftgelenknekrose diagnostiziert, er wurde im Gefängniskrankenhaus behandelt. 

    Über den Zustand der anderen Mitglieder von Tor Band ist nichts bekannt. 

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    Der Abgrund ist bodenlos

  • Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Moskauer gericht hat die beiden Theatermacherinnen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch am 8. Juli 2024 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ihr Theaterstück Finist jasny sokol (dt. Finist, heller Falke) soll nach Auffassung des Gerichts Terrorismus gerechtfertigt haben. Es basiert auf einem klassischen russischen Märchen und handelt von russischen Frauen, die über das Internet mit Männern des IS in Kontakt kommen, nach Syrien reisen und dort heiraten. Swetlana Petriitschuk hatte das Stück auf der Grundlage von Gerichtsakten aus Verfahren gegen solche Frauen geschrieben. Shenja Berkowitsch hatte es inszeniert. Die Uraufführung war 2020.

    Im Frühjahr 2022 erhielt es den größten nationalen Theaterpreis, die Goldene Maske (Solotaja maska). Swetlana Petriitschuk wurde im Rahmen der Goldenen Maske außerdem persönlich für das beste dramatische Werk ausgezeichnet. 2023 zeichnete die Novaya Gazeta die Inszenierung mit dem Kammerton-Preis aus. In der Begründung der Jury heißt es: „… für die Wahrheit im Leben und auf der Bühne.“ Zum ersten Mal wurde der Preis nicht an Journalisten verliehen – und außerdem in Abwesenheit der Preisträgerinnen. Denn die saßen zu diesem Zeitpunkt bereits in Untersuchungshaft. 

    Mit Finist wurde erstmals in Russland ein Theaterstück vor Gericht gebracht. Das Gericht stützte sich auf Paragraph 205.2 Absatz 2 des russischen Strafgesetzbuchs. Darin geht es um „öffentlichen Aufruf zu terroristischen Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propaganda für den Terrorismus“.

    Entlastende Aussagen von Zeugen sowohl der Verteidigung als auch der Anklage wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen stützte sich die Anklage auf ein „destruktologisches Gutachtens“ des Religionswissenschaftlers Roman Silantjew, der ein entsprechendes Fach der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität lehrt. „Destruktologie“ ist weder international noch in Russland als Wissenschaft anerkannt. dekoder-Gnosistin Henrike Schmidt hat gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Verbands der deutschen Slavistik  ein Gegengutachten erstellt. 

    Die Slavistinnen und Slavisten zeigen als Experten für Literatur und damit für fiktionale Texte, wie in dem Gutachten die Aussagen von literarischen Figuren willkürlich als solche der Autorin beziehungsweise der Regisseurin missinterpretiert werden. Sie unterstreichen, dass die „Destruktologie“ eine Pseudowissenschaft ohne ausformulierte Methode ist. Das wurde im Juni 2023 sogar vom Zentrum für gerichtliche Expertisen des russischen Justizministeriums in einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt.

    Zu Darstellung des behaupteten Straftatbestands veröffentlicht dekoder einen Ausschnitt aus dem Theatertext in deutscher Übersetzung.

    Shenja Berkowitsch und Swetlana Petriitschuk werden der „Rechtfertigung von Terrorismus“ beschuldigt / Foto © Stanislav Krasilnikov/SNA/imago images 

    PERSONEN

    MARJUSCHKA (steht stellvertretend für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre [vom IS – dek] angeworben wurden)
    RICHTERIN
    AUGUSTINUS VON HIPPO
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]

    Dramaturgische Notiz

    Zum Märchen

    Zentral für das Stück ist das russische Zaubermärchen Die Feder von Finist, dem lichten Falken aus der Märchensammlung Narodnyje russkije skaski (1855–1863; Russische Volksmärchen) von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sowie Finist, heller Falke von Nikolaj Schestakow (1894–1974). Das Märchen gehört zur russischen Volksliteratur. Es ähnelt in den Motiven am ehesten dem Märchen der Brüder Grimm Das singende, springende Löweneckerchen.

    Die jüngste von drei Töchtern wünscht sich von ihrem Vater eine Feder von Finist, dem hellen Falken. Als die jüngste Tochter die Feder abends fallen lässt, verwandelt sie sich in einen Zarensohn. Ihre Schwestern sind eifersüchtig und verletzen den Falken, der daraufhin fortfliegt und der jüngsten Tochter nur noch zurufen kann, dass sie hinter dreimal neun Ländern nach ihm suchen soll, dass sie drei Paar eiserne Schuhe durchlaufen, drei eiserne Wanderstäbe durchbrechen und drei eisenharte geweihte Brote essen muss, bevor sie ihn finden kann. Sie macht sich auf den beschwerlichen Weg, um ihn zu finden und muss viele Hindernisse überwinden, bis beide endlich heiraten können.

    Zu den Namen [Name gelöscht]

    Die Autorin hat sich entschieden, den Angeklagten keine Namen zu geben, die Personen heißen Angeklagte oder [Name gelöscht]:

    Swetlana Petriitschuk: „[Name gelöscht] ist eine häufig verwendete Formulierung in gerichtlichen Entscheidungen, die in Russland veröffentlicht werden, wenn die Ermittlungen nicht vollständig abgeschlossen sind. Solche Formulierungen finden sich häufig in Sätzen über Fälle, in denen Terrorismus unterstützt wird – einschließlich den realen Dokumenten, die im Stück vorkommen. Diese Formulierung ist eine Metapher für die jungen Frauen selbst, die ihren richtigen Namen verweigern, zu einer anderen Religion konvertieren und, beeinflusst von neuen Ideen, ihre Persönlichkeit auslöschen.“

    Marjuschka steht stellvertretend für alle Angeklagten, sie steht für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre angeworben wurden. Die Gerichtsurteile, die in dem Stück genannt werden, sind dokumentarisch und basieren unter anderem auf der Geschichte der damals neunzehnjährigen Warwara Karaulowa, die vom IS angworben und von Interpol zunächst als vermisst gesucht wurde, später als Zeugin vernommen und dann selbst angeklagt wurde.

    Zum dreißigsten Königreich

    Der Ausdruck wird synonym für „In einem fernen Land“ oder „Hinter den sieben Bergen“ gebraucht. Im Russischen ist er zugleich ein Synonym für den IS und wird immer mit dem Hinweis versehen, dass die Organisation in Russland verboten ist.


    1
    Anweisung №1:
    Wie der Ritus der islamischen Ehe, Nikāḥ, über Skype durchzuführen ist

    Viele islamische Wissenschaftler erkennen die islamische Ehe, Nikāḥ, über Skype nicht an. Dies wird mit Stellen aus der Schrift „Rawzat at-Talibin“ begründet:

    Das Angebot und die Annahme von Nikāḥ müssen in Anwesenheit von Zeugen im selben geografischen Raum erfolgen. „Wenn eine Person die Worte der feierlichen Eheschließung an jemanden geschrieben hat, der nicht anwesend ist, dann wird eine solche Ehe nicht als gültig angesehen …, da sie unter eine Kategorie fällt, die als Kinayat bekannt ist, was ein indirekter Ausdruck ist. Und die Ehe durch indirekte Wörter wird nicht als gültig angesehen. Die technischen Neuheiten unserer Zeit eröffnen allerdings ganz andere Möglichkeiten, als die erste Generation von Muslimen überhaupt erahnen konnte. Grundlegend bei der Eheschließung ist die Anwesenheit des Bräutigams, der Braut und der Zeugen; die Zeugen sollen den Heiratsantrag hören können und bestätigen, dass sie ihn gehört haben. Wenn die eheschließenden Parteien und die Zeugen an einer gemeinsamen Skype-Sitzung teilnehmen, wenn die Zeugen die Braut und den Bräutigam „live“ sehen und gleichzeitig die Rede der beiden hören, ist eine solche Eheschließung gültig, da Schummeln oder blindes Vertrauen in eine Stimme ausgeschlossen werden können. Die Verfahrensweise des Online-Ritus ist äußerst einfach. Am vereinbarten Tag wird in unserem Büro ein Notar für Eheangelegenheiten anwesend sein. Die Zeremonie findet in einer geschmückten Empfangshalle statt, wo Sie und Ihr Bräutigam auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von mindestens 72 cm zu sehen sein werden. Die Halle ist mit technischen Neuheiten für Ton- und Videoübertragung eingerichtet, so dass Sie ohne jegliche Hindernisse die nötigen Worte austauschen können. Nach der Zeremonie erhalten Sie ein Zertifikat und, falls erwünscht, das Video der Frontkamera. Bei Fragen wenden Sie sich bitte telefonisch an unsere Firma [Name gelöscht].

    2

    RICHTERIN
    Angeklagte, unter welchen Umständen haben Sie versucht, unbefugt die Grenze der Türkei und der Syrischen Arabischen Republik zu überqueren und ins Territorium zu gelangen, welches von der in Russland verbotenen terroristischen Vereinigung kontrolliert wird?

    ANGEKLAGTE
    Es war neben der Stadt Batman. Die Kurden nennen sie Elich. Wir fuhren lange mit dem Auto. Der Innenraum roch nach Benzin, alle Türgriffe waren abgesprengt, neben mir saßen zwei Frauen, bei einer ist das Kind müde vom Weinen eingeschlafen. Es wurde dunkel. Der Fahrer stoppte, zeigte in Feldrichtung, sagte: „Dahin gehen wir“. Es war nichts zu sehen, ich musste pinkeln. Das Kind begann wieder zu weinen. Die Grillen schrillten. Der Rock hakte an den Dornen. Ich fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Damit ich mich nicht so furchtbar fühlte und um mich zu beruhigen, wiederholte ich den Abzählreim „Aten Baten, ging´n Soldaten“, – kennen Sie den? Der Fahrer sagte, uns treffe ein bestimmter Mann. Deshalb freuten wir uns, als die Lichter auftauchten und der Hund bellte. Aber es war die kurdische Streife. Sie begannen zu schreien, alle sollten sich auf den Boden hinlegen, sie stießen uns mit den Gewehrläufen, ich fiel hin und mein Gesicht wurde zerkratzt. Wir wurden verhaftet.

    RICHTERIN
    Sie sind nach Syrien gefahren, um eine Terroristin zu werden?

    ANGEKLAGTE
    Ich bin hingefahren, um zu heiraten.

    RICHTERIN
    Wen?

    ANGEKLAGTE
    Finist. Wlad. Karim. Nadir – ich kenne seinen Namen nicht. Aber er ist mein Zukünftiger, mein Glück, mein heller Falke.

    RICHTERIN
    Unter welchen Umständen haben Sie beide sich kennengelernt?

    ANGEKLAGTE
    Er hat mir in der Gruppe Spartak auf Vkontakte geschrieben. Er hat gesagt, er ist 21 und Nationalist. Wir? Wir haben über das Leben und über Fußball gesprochen. Ich ging mit meinem Hund etwas früher raus, sperrte mich dann im Zimmer ein, machte den Laptop an, und ein Supertyp erschien am Bildschirm. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.

    RICHTERIN
    Wegen Fußball?

    ANGEKLAGTE
    Wegen dem Schaumkuchen. Er hat nie über seine Familie gesprochen, aber einmal hat er gesagt, als er klein war, hat seine Mutter für ihn immer Schaumkuchen gebacken. Und seine Frau soll ihm auch Schaumkuchen backen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie ich für ihn Schaumkuchen backe, das Rezept habe ich im Internet gefunden. Ich habe mich dabei so gut gefühlt. Und da habe ich verstanden, dass wir beide seelenverwandt sind.

    RICHTERIN
    Was wissen Sie noch über ihn?

    ANGEKLAGTE
    Da, wo er geboren wurde, ziehen die Frauen Ende März ihre Stiefel aus und ihre Schuhe an. Es bedeutet, dass Frühling ist. Dass alle Männer aus seiner Familie mal graue, mal grüne Augen haben, abhängig vom Wochentag. Dass er ein Held ist, und dass ich ein Nichts bin, er mich aber so liebt, so minderwertig wie ich bin. Vorgestellt hat er sich unterschiedlich. Ein Videobild von ihm habe ich nie gesehen. Hat er nicht geschickt, weil die Kamera lügt und das Herz – nicht. Finist hat mir verboten, mit anderen Männern zu sprechen, und ich habe verstanden, dass er es ernst meint mit mir.

    Einmal hat er mich geblockt dafür, dass ich einen Wanja in Vkontakte als Freund bestätigt habe. So sind drei Jahre vergangen. Dann begann er über den Islam zu sprechen. Am Anfang nur ab und zu und danach immer häufiger. Über andere Dinge zu sprechen, weigerte er sich. Er erklärte mir alles so schön, und alles war für mich interessant. Besonders über die Frauen. Er sagte, dass die Rechtlosigkeit der Frauen im Islam nur ein Klischee sei, dass eine Frau immer von ihrem Mann behütet wird und wenn sie arbeiten möchte – dann arbeitet sie, wenn nicht, dann nicht, und der Mann soll sie umsorgen. Ich mochte diese Ideen. Und dann habe ich mich dafür entschieden, mich zu seiner Religion zu bekehren. Er sagte, dafür bräuchte ich niemanden, in die Moschee müsse ich auch nicht gehen, man müsse lediglich spezielle Worte sprechen und eine Waschung in einer Waschschüssel machen. Ich habe mir einen neuen Namen ausgedacht, habe beschlossen, dass ich [Name gelöscht] genannt werde. Er hat es genehmigt.

    RICHTERIN
    Wie sind Sie zu dem Entschluss gekommen auszureisen?

    ANGEKLAGTE
    Finist mein Falke verschwand auf einmal – kein Brief, keine Nachricht. Ich habe kiloweise Schaumkuchen gegessen, bin nicht mehr mit meinem Hund Gassi gegangen, habe fünf Mal am Tag gebetet und sündhafte Gedanken vertrieben, er tauchte aber nicht mehr auf. Und nach einigen Monaten kam eine Nachricht von einem neuen Profil, in dem stand, dass er sich in das Dreißigste Königreich aufgemacht hat, um für sein Glauben zu kämpfen. Er begann, mich einzuladen. Sagte, ich würde seine Frau sein, ich würde behütet sein, ich würde viele Freundinnen haben und das Leben würde schön sein, mit dem Krieg hätte ich nichts zu tun. Er sagte, im Dreißigsten Königreich lebten die echten Muslime, kein Trinken, kein Rauchen, die Leute behandelten einander gut, ohne Ausnahme. Er hat gefragt, ob ich ihn liebe. Er hat gesagt, wenn eine ihn liebt, findet sie ihn, und wenn sie dabei drei Paar eiserne Schuhe auftragen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrechen, drei eiserne Kappen abreißen und drei eisenharte geweihte Brote essen müsse.

    RICHTERIN
    Und da haben Sie beschlossen, sich auf den Weg ins Dreißigste Königreich zu machen?

    ANGEKLAGTE
    Ich habe mir drei Paar eiserne Schuhe, drei eiserne Wanderstäbe, drei eiserne Kappen bestellt, habe 20 Dollar, die von meinem Geburtstag übrig waren, aus der Spardose genommen. Am vereinbarten Tag wurde ich kontaktiert, mir wurde das Flugticket geschickt und gesagt, ich solle abreisen. Ich hab meiner Mutter geschrieben, dass ich in die Uni fahre, habe einen zweiten Rock in die Tasche gepackt, und neue Dessous auch – die hatte ich schon länger mal bei Intimissimi für eine besondere Gelegenheit gekauft – und habe mich auf den Weg über Berg und Tal gemacht, um den ersehnten Finist, den hellen Falken, zu suchen. Im Flughafen von Istanbul, nach der Passkontrolle, Tuch übergezogen, festgesteckt, Handy angeschaltet – und da waren bereits alle weiteren Anweisungen.

    3
    Anweisung № 2:
    Wie ein Hidschab richtig anzuziehen ist

    Sie brauchen ein Tuch viereckiger Form. Wählen Sie ein Tuch aus Satin oder Baumwolle für warme und heiße Tage und ein dichteres Wolltuch für kalte Tage. Sie benötigen auch zwei Haarklammern oder Haarnadeln. Falten Sie die obere rechte Ecke mit der unteren linken Ecke. So wird das Tuch in Form eines Dreiecks gefaltet. Legen Sie das Tuch über den Kopf. Zwei Spitzen sollen auf die Schultern fallen. Heften Sie das Tuch unter dem Kinn fest. Öffnen Sie den Mund in der Weise, als ob Sie ein „O“ sagen, so ist es Ihnen möglich, Ihren Kiefer zu bewegen, ohne dass der Hidschab verrutscht. Legen Sie die linke Spitze des Tuches nach rechts um und die rechte Spitze nach links. Vergewissern Sie sich, dass der Hidschab festsitzt und nicht rutscht. Denken Sie daran, dass die Haare und der untere Teil des Kinns nicht zu sehen sein sollen: dieser Bereich gehört zum Gesicht und soll folglich bedeckt bleiben, genau wie der Hals. Die Frauen, deren Hals und Haare zu sehen sind, sind Sündige, da sie von fremden Männern gesehen werden.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Ich bin in der Familie eines Chirurgen aufgewachsen, am Gymnasium hatte ich Mathe und Physik als Schwerpunkt, ich habe Punk und Hardcore gehört und die Filme von DC und Marvel geliebt. Und danach habe ich den Koran gelesen, und es wurde zum Schock: Dort steht geschrieben, dass unser Weltall sich ausdehnt, dass unser Himmel und unsere Erde am Anfang eine einheitliche „Wolke“ waren und danach getrennt wurden, dort ist der Ursprung der Fötus-Entstehung und noch vieles andere. Und ich habe gespürt, dass diese Lehre keine Schöpfung eines Menschen sein kann, dass es etwas unvergleichbar Größeres ist. Auf diese Weise nahm ich den Glauben an, habe die Schahāda gesprochen, bin Muslima geworden, habe begonnen den Salāt zu lesen. Die Frage nach dem Hidschab habe ich wie die Sorge des Schöpfers über mich wahrgenommen. Ich begann zu beten, damit der Schöpfer mir helfen würde mich so zu verschleiern, dass es ein Segen für mein jetziges Leben und für das nächste nach dem Tod werde.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    In einem Hidschab fühle ich mich unter göttlicher Schirmherrschaft, geborgen vor der äußeren Hektik. Er gibt mir eine Empfindung von Einheit, von Ruhe. Keine Sehnsucht danach, dass der Wind durch mein Haar weht. Selbst im Sommer juckt die Kopfhaut nicht. Manchmal fahre ich U-Bahn und es scheint mir ein Wahnsinn, dass die Frauen sich zeigen. Alle Religionen sagen doch, dass eine Frau wie in einem Kokon sein muss, umhüllt sein muss. Der Hidschab schützt Frauen nicht nur vor fremden Blicken, sondern auch vor sich selbst. Eine Frau ist eben ein schwaches Wesen, von ihr geht die meiste Verwirrung und das Schlechte aus, darum obliegt uns eine große Verantwortung – wir sollen unsere Schönheit lieber nicht zur Schau stellen.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Hätte ich figurbetonte Kleidung an, würde ich mich wie eine Diebin fühlen. Ich hätte das Gefühl, meinem Mann etwas zu stehlen und es einem Fremden zu schenken, einem, der in keiner Weise Sorge um mich getragen und mir nie einen Cent gegeben hat. Der Hidschab schützt vor den Blicken der Männer, vor denen, die dich wie ein Stück Fleisch anschauen, und verbirgt dich vor den Sünden der Welt. Der Hidschab hat mich glorifiziert und nicht erniedrigt. Falls ich eine Tochter bekomme, erkläre ich ihr von Kindheit an, dass ein Hidschab eine Verpflichtung ist, die ihr selbst zugute kommt.

    4
    Anweisung № 3:
    Wie man eine Halal Torte backt

    Damit Backwaren den Halal-Anforderungen entsprechen, vergewissern Sie sich, dass bei der Zubereitung keine alkoholischen Zutaten verwendet werden. Auch geringe Mengen von Alkohol, zum Beispiel wenn der Fondant damit bestrichen oder Lebensmittelfarbe verdünnt wird, sind verboten und die Torte darf nicht verzehrt werden. Oft wird Gelatine verwendet, die aus Schweineknorpel zubereitet wird, was sie auch verboten macht. Auf dem Produkt sollen keine Bildnisse lebender Kreaturen angebracht sein. Wichtig ist zudem, dass während jeder Essenszubereitung der Name des Schöpfers erwähnt wird.

    RICHTERIN
    Nach dem bisherigen Ermittlungsstand des Strafverfahrens hat das Tljaratinsker Bezirksgericht bezüglich der Angeklagten, geboren 1990, gebürtig und wohnhaft in der Siedlung Wizjatli, Kreis Zuntin, wegen des Verdachts einer Straftat gemäß Artikel 208 Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

    a) die Angeklagte habe eine die Mitglieder einer illegalen, bewaffneten Vereinigung fördernde Handlung verübt, unter folgenden Umständen:

    aa) Im November 2011, ein genaueres Datum und die Zeit wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt, kam die Angeklagte zu Ihrer Schwester zu Besuch. In derselben Nacht, gegen 23 Uhr, kamen zu dem oben genanntem Haushalt vier Mitglieder der illegalen, bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya, und zwar [Name gelöscht]. Aus eigenem Antrieb, mit dem Ziel, die Tätigkeit der Vereinigung zu unterstützen, habe die Angeklagte den obengenannten Mitgliedern der Vereinigung Zuntinskaya zugesagt, Hilfe zu leisten. Und zwar habe sie für sie den Tisch gedeckt: zwei Brote, acht Stücke Käse, eine Dose Salzgurken. Aus persönlichen religiösen Motiven, im Bewusstsein ihrer rechtswidrigen Tätigkeit, buk die Angeklagte für die oben genannten Mitglieder der illegalen bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya einen Kuchen, den sie dann verzehrten.

    Rezept des Halal Schokoladenkuchens mit Mandeln und kandierten Früchten

    Um den Kuchenboden zuzubereiten, Mehl, Butter, Zucker und ein Ei zufügen, alles verrühren, den Teig mit einer Folie umhüllen und für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen. Den Ofen auf 190 °С anheizen, den Teig ausrollen, in eine Form legen, den Rand drei Zentimeter nach oben einrollen, dann 30 Minuten im Ofen backen. Für die Füllung Nelken in einer Kaffeemühle oder einer Mühle zermahlen, die Schokolade zerbröckeln, Butter und Schokolade in einem Wasserbad schmelzen lassen. Die Mandeln und einen Teil der kandierten Früchte zerkleinern, der Schokocreme zufügen, verrühren. Eier mit Zucker schlagen, mit der Schokocreme verrühren. Die Torte zwei Stunden nach der Zubereitung servieren. Ein Stück Halal-Torte aus Mürbeteig, gefüllt mit einer Schoko-Mandel-Creme und verfeinert mit kandierten Früchten ist ein Liebesbeweis und eine Aufmerksamkeit für Angehörige und Freunde.

    RICHTERIN
    In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht der Angeklagten im Wesentlichen folgendes zur Last:

    a) Die Angeklagte hat vorsätzlich eine nach Artikel 208, Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verbotene Straftat begangen – Unterstützung einer illegalen, bewaffneten Gruppierung. Mit Rücksicht auf den Charakter und den Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der begangenen Tat, auf den Charakter und auf den faktischen Grad der Mitwirkung der Angeklagten, die Bedeutung dieser Mitwirkung zur Durchsetzung der kriminellen Ziele der Straftat, beschließt das Gericht:

    aa) es ist von einer fehlenden Besserungsaussicht auszugehen, was die Freiheitsstrafe unentbehrlich macht
    bb) die Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt.

    5.
    RICHTERIN
    Ist es Ihnen Recht, wenn wir Sie weiter Marjuschka nennen?

    MARJUSCHKA
    Ich brauche mich nicht daran zu gewönnen.

    RICHTERIN
    Was planten Sie im Dreißigsten Königreich zu tun?

    MARJUSCHKA
    Zu kochen. Kleidung zu waschen. Eine Frau zu sein, wie der Schöpfer und meine Physiologie es befehlen. Und den Schaumkuchen zu backen, nun das habe ich bereits gesagt.

    RICHTERIN
    Gab es denn in Ihrem Heimatland niemanden daheim, für den Sie Kleidung waschen konnten?

    MARJUSCHKA
    In meinem Heimatland gibt es keine Männer, nur Steppenroller. Pflanzen ohne Wurzeln, vom Wind getrieben. Keine Überzeugungen, nur Halbherzigkeiten. Finist dagegen ist das Ideal eines Mannes, das äußerst schwierig zu finden ist in der modernen westlichen Gesellschaft, er ist die Gestalt eines kräftigen, furchtlosen Mannes, der bereit ist zu töten und für seine Ideale zu sterben.

    RICHTERIN:
    Nehmen wir also Folgendes an. Sie sind am Istanbuler Flughafen angekommen. Sie sind durch die Ebenen, durch den dunklen Wald und über hohe Gebirge gewandert. Der fröhliche Gesang der Vögel erfreute Ihr Herz, die Bäche wuschen Ihr Gesicht, die dunklen Wälder grüßten Sie. Niemand konnte Marjuschka etwas zuleide tun: Die grauen Wölfe, die Bären, die Füchse – alle Tiere sind ihr zugelaufen. War das alles so?

    MARJUSCHKA:
    Fast. Am Flughafen habe ich ein Taxi genommen. Dem Fahrer habe ich die Nummer gegeben, die mir per WhatsApp noch während des Fluges zugesandt wurde. Der Taxifahrer hat die Nummer gewählt und ihm wurde erklärt, wohin zu fahren ist. Er wollte zunächst nicht, doch es wurde ihm ausreichend Geld versprochen. Während er mich gefahren hat, habe ich meiner Mutter ein SMS gesandt, damit sie nicht vergessen würde, mit dem Hund rauszugehen. Bei der Einfahrt zum Haus hat mich ein Tschetschene empfangen, meine Tasche hat er nicht genommen, die habe sie selbst aus dem Kofferraum geholt. Der Taxifahrer ist sehr schnell weggefahren, ich glaube nicht, dass er nach Geld gefragt hat. Der Tschetschenen-Bruder hat gesagt, ich sei jetzt unter Gleichgesinnten und hat mich in die Wohnung geführt. Hinter der Tür waren viele Schuhe und in der Wohnung war es total still. Die Sofas waren durchgelegen, es war heiß und den Ventilator durfte man nicht benutzen. Es roch nach Erbsen und nach gewaschener Wäsche. In der Wohnung waren sechs Frauen, viele mit Kindern. Aus Russland, aus Kasachstan und auch aus Aserbaidschan. Mir wurde gesagt, meine SIM-Karte sei wegzuwerfen und Surfen im Internet sei verboten. Das Verlassen der Wohnung war untersagt. Ein Mädchen aus Baku hat die ganze Zeit geweint und mir war auch sehr nach Weinen zumute, aber ich hatte Angst, dass es jemand dem Finist erzählt. Zum Schlafen haben wir uns auf den Boden gelegt – alle Frauen in einem Zimmer, und die Kinder in der Mitte. Ich habe geträumt, dass ich an der Uni in der Philosophie Vorlesung sei. […] 
     

    Ende des Textausschnitts. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drei Masken Verlags

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    Zahnloses Raubtier

    Stars sind immer auch Identifikationsfiguren. Die russische Gesellschaft beobachtet sehr genau, wie sich Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler zum Krieg positionieren. Lassen sie sich vor den Karren der Propaganda spannen wie der Rockbarde Grigori Leps, die Sängerin Polina Gagarina oder der einstige Skandalrocker Sergej Schnurow? Ziehen sie sich zurück und schweigen, wie die Pop-Sängerin Olga Busowa? Oder sprechen sie sich klar gegen den Krieg aus und nehmen dafür auch Konsequenzen in Kauf, wie die Schlager-Ikone Alla Pugatschowa und ihr Mann, der Comedy-Star Maxim Galkin? Und was sind die Motive für die eine oder andere Haltung? Echte Überzeugung, Anbiederung oder Zwang vonseiten der Staatsmacht? 

    Wer sich öffentlich gegen den Krieg positioniert, dessen Karriere ist in Russland schnell beendet, Konzerte sind nicht mehr möglich. Ende August hat der Fall des Pop-Rockers Roman Bilyk für Aufsehen gesorgt, bekannt unter dem Künstlernamen Zver (dt. Raubtier). Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Bilyk wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen. Dann tauchte plötzlich ein Video auf, in dem Zver ein Konzert vor russischen Soldaten hinter der Front gibt und sich ansieht, wie die Artillerie ein paar Schüsse abfeuert. Für viele Fans eine schmerzhafte Enttäuschung. Wie auch für den Autor der Novaya Gazeta Europe, Wjatscheslaw Polowinko.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Roman Bilyk, Frontmann der Band Zveri, wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen, nun gab er ein Konzert für russische Soldaten an der Front / Foto © Sergei Bobylev/ITAR-Tass/imago images

    Am 21. August 2023 hat der Propangandist Semjon Pegow (auf Telegram bekannt unter dem Pseudonym War Gonzo) ein Video mit Roman Bilyk alias Roma Zver, dem Frontmann der Band Zveri verbreitet, auf dem zu sehen war, wie dieser seine Songs in der „Volksrepublik Donezk“ vor Soldaten hinter der Front spielte. Und Zver singt da nicht nur, sondern führt sich auf wie ein echter Kämpfer. Das rief heftige Reaktionen hervor, weil die Band Zveri bis dahin den umfassenden Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt hatte. 

    Um die Metamorphose von Roma Zver zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Ende Mai machte der Zveri-Leadsänger in einer Bar in Samara heftig Randale, warf mit Stühlen und Sonnenblumenkernen (!), fluchte derb – mit einem Wort, er führte sich auf wie ein echter Punk. Wie steht es um die psychische Verfassung eines Menschen, der sich so verhält? Entweder ist ihm von Vornherein klar, dass das für ihn keine Folgen haben wird, oder er kann sich aufgrund von Stress (und einer nicht zu verachtenden Menge von hartem Alkohol) nicht mehr beherrschen. In Zvers Fall ist Zweiteres wahrscheinlicher: Der Musiker hatte nach Kriegsbeginn über ein Jahr lang im Netz antimilitaristische Statements veröffentlicht, und obwohl sich die Zahl seiner Konzerte nicht wirklich verringerte, standen die Zveri vonseiten der „patriotischen“ Öffentlichkeit doch ordentlich unter Druck. Ein paar Wochen nach dem Vorfall in Samara wurde ein geplantes Konzert auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum abgesagt und durch die eindeutig staatskonforme Band Tschish & Co ersetzt. Parallel dazu wurde gefordert, zu überprüfen, ob Roma Zver die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hat. Die absolute Katastrophe für einen, der Russland nicht verlassen will.

    Und plötzlich taucht Bilyk vor ein paar Wochen in Anton Beljajews Projekt LAB mit einem Song von Jegor Letow auf: Pro duratschka – (dt. Über einen Dummkopf). LAB ist ein Großprojekt zur Produktion von Coverversionen, sozusagen von Neuinterpretationen. Wichtig ist jedoch: Zu Beginn werden diese Coverversionen auf VKontakte veröffentlicht, und Roma Zver ist der einzige Interpret mit explizit antimilitaristischer Haltung. 

    Sowohl Zvers Teilnahme an diesem Projekt als auch das Lied darüber, dass es „im Feuer des Schützengrabens keine Atheisten“ gebe, waren bereits ein Signal, dass sich etwas verändert hatte – aber was da genau passiert war, war nicht ganz klar. 

    Und jetzt ist Roma Zver in die „Volksrepublik Donezk“ gefahren und ist nicht nur vor Soldaten aus Russland aufgetreten, sondern hat auch in Helm und Panzerweste beim Kanonenbeschuss mitgemacht (nur die Munition hatte ihm schon jemand zurechtgelegt). „Sehr tiefe Frequenzen, und dann das ganze Spektrum“, kommentierte er den Sound. Und dann sang er:

    Genieße deine Siege, 
    rede, verdränge, dass du schwach bist. 
    Spar dir deine Ratschläge, Kleiner! 
    Erzähl, erzähl, wie toll du bist.

    Die ehemaligen Fans verbergen im Netz ihren Schock hinter Spott: „Der harte Alkohol zeigt Folgen“, „Alles, was mit dir zu tun hat, geht den Bach runter“, „Mädels und Jungs kämpfen – eins-zwei-drei“, „Iskander-Regen“ – und so weiter. Mit einer Zeile aus einem Zveri-Song lässt sich auch erklären, was mit Bilyk los ist: So ist es einfacher, so ist es leichter. Du löschst die Postings gegen den Krieg, singst für Russlands Soldaten, bekommst Anerkennung von Sachar Prilepin und hast mit deinen Konzerten von nun an keine Sorgen mehr. Zwei Konzerte in Moskau und Sankt Petersburg sind ausverkauft.

    Doch das Drama besteht bei Roman Bilyk nicht nur darin, dass er seine Instagram-Posts gelöscht hat und an der Front für die Russen singt. Vor dem Krieg trat Roma Zver zum Beispiel für Kirill Serebrennikow ein, als dieser mit seinem Theaterlab Sedmaja studija vor Gericht stand. Dort äußerte Roma Zver Folgendes:

    • „Dieser Prozess lässt erkennen, was die Staatsmacht von uns hält. Wir zählen für sie gar nicht.“
    • „Alle Massenmedien, alle staatlichen Kanäle verbreiten Propaganda.“
    • „Es fühlt sich an, als wären wir alle für sie nichts als Vieh, lauter ungebildete Leute: Ihr seid Vieh, haltet still und schweigt.“
    • „Peskows Märchen glaube ich nicht und will sie nicht hören, weil das auch wieder lauter Geschichten für Leute sind, die Lichtjahre entfernt sind von dem, was tatsächlich bei uns passiert.“

    Alles, was Zver da beschreibt, wurde nach dem 24. Februar 2022 nur noch schlimmer – und bis zu seiner Fahrt in die „Volksrepublik Donezk“ war ihm das auch völlig klar. Und trotzdem sagte er sich bewusst von seinen eigenen Ansichten los, knickte ein und verbog sich. Bedenkt man, dass Roman einen beträchtlichen Teil seiner Jugend in Mariupol und Kyjiw verbracht hat, wird sein Sinneswandel umso fataler. 

    Möglicherweise sitzt der Zveri-Frontmann dem Irrglauben auf, dass „es mein Land ist, auch wenn es Fehler begeht“. Vielleicht versucht Roman Bilyk, sich damit zu beruhigen, dass auch Russland offiziell gegen Kriege ist: Wie uns das staatliche Fernsehen erzählt, fängt Russland ja Kriege nicht an, sondern beendet sie nur.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass Bilyk ein Strafverfahren angedroht und ein Angebot gemacht wurde, das er nicht ausschlagen konnte. Wir wissen es nicht, aber das ist jetzt auch egal.  

    Wie ein wucherndes Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs

    Der Kompromiss, zu dem viele Prominente gezwungen sind, die in Russland geblieben sind, ließ Roman in Schäbigkeit und Heuchelei abrutschen (was den „Patrioten“ nach wie vor missfallen könnte, aber mit ihrem Repertoire an Negativität werden sie sich Bilyks Meinungsumschwung mit der Phrase „Hat er’s endlich kapiert“ erklären). Was mit dem Frontmann von Zveri passiert, ist zudem insofern doppelt traurig, als hier vor unseren Augen ein Mensch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Wie bei einem wuchernden Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs. Und es bleibt einem nichts anderes übrig als zuzusehen, wie das Ende naht. 

    Roma Zver ist natürlich nicht der Erste, der sich so verändert. Nicht nur durch psychologische Manipulation sagt man sich von seiner Meinung und seiner Vergangenheit los, sondern auch aus banaler Dummheit: Erinnern wir uns nur an Maria Schukschina, die ihr Gedenken des eigenen unter Stalin erschossenen Großvaters gegen eine Vergötterung Stalins für seine „Bewahrung der Kirche“ (!) eintauschte. Aber weder Schukschina noch Grigori Leps oder Dima Bilan, die in Videos über Kinder aus dem Donbass mitspielen, noch Valentina Talysina und Alexander Paschutin lösen eine so schwere Enttäuschung aus: Von denen war nichts anderes zu erwarten. Hier jedoch wird ein Jugendidol dekonstruiert – noch dazu ein Rocker (wenn auch ein sehr poppiger). Viele glauben – übrigens zu Unrecht –, dass einer, der Rock spielt, automatisch etwas vom Leben begriffen hat. Das ist eine absolute Illusion: Die Leute aus der Rock-Szene, die sich gegen den Krieg geäußert haben, kann man an einer Hand abzählen. Auf jeden Juri Schewtschuk kommt ein Dutzend Bands wie KnjaZz und Tschaif.    

    Das größte Unglück für Roma Zver aber ist, dass er mit dem Bewusstsein weiterleben muss, dass eine Kanone seiner ersten Heimat seine zweite Heimat beschossen und er mit Vergnügen dabei zugesehen hat. Schlimm ist nicht nur, dass Roma Zver den Krieg unterstützt, sondern dass er das auch noch geil findet. Kannibalismus ist ekelhaft – bis du den ersten Bissen Menschenfleisch kostest. Roman Bilyk scheint tief in sich drinnen einen tierischen Hunger verspürt zu haben. 

    Wessen Jugend beim Sound von Rajony-kwartaly (dt. Bezirke und Wohnblocks) blühte, der steht jetzt ebenfalls vor der Wahl. Die Musik der Zveri weiterhören, als ob nichts gewesen wäre, weil es „einfach eine so große Liebe“ ist? Oder „Sorry, Roma, ich hau ab“? Die Entscheidung scheint eindeutig – aber das scheint nur so, denn wir wissen nicht, wie viele Menschen, die eine ähnliche Verzweiflung durchgemacht haben wie der „echte Punk“ Roma Zver, genau solche Kompromisse eingehen wie ihr Idol. Nachdem auch „Helden bereit sind, für Geld zu sterben“, wieso sollen die anderen besser sein? Erst recht, wo doch die Menschen in der großen Masse gar keine Helden sind.  

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  • Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft. 

    dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.

    Verteidigungsministerium der Russischen Föderation vom Gorki-Park aus gesehen, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?

    Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar. 

    Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?

    Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.

    Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?

    Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.

    Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?

    Nein, den Eindruck habe ich nicht. 

    Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?

    Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
         

    Gedenkmarsch „Unsterbliches Regiment“ auf der Twerskaja Straße, 9. Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Riesiger Bildschirm an der Fassade eines Verwaltungsgebäudes zur Ausstrahlung von Putins alljährlicher Rede an sein „Parlament“ / Foto © Alexander Gronsky
    Bolschoi-Theater am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges „geschmückt“ mit einer vergrößerten Kopie des sowjetischen Marschallordens „Sieg“ und Bannern sowjetischer Fronten im Zweiten Weltkrieg / Foto © Alexander Gronsky
    Haus des Unternehmers. Das Plakat wirbt für die Teilnahme an einem Wettbewerb für Drohnenentwickler. Links eine Bushaltestelle mit Werbung für den Dienst als Vertragssoldat in der russischen Armee / Foto © Alexander Gronsky
    Reklametafel mit Werbung für den neuen russischen Propagandafilm „Nürnberg“ – laut Kritikern ein antiamerikanischer Blockbuster voller Verschwörungen, dessen Handlung vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse spielt, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Probe für die Siegesparade am 8. Mai 2023 — Atomrakete „Jars“. Im Hintergrund ein Werbeslogan der staatsnahen Alfa-Bank: „Für die Klugen und Freien“ / Foto © Alexander Gronsky
    Militaristisches Wandbild, das auf „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow aus dem späten 19. Jahrhundert anspielt, wobei es eher wie eine Parodie darauf aussieht, Juli 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Figur eines altrussischen Kriegers mit einem Z, dem Symbol der Kriegspropaganda, auf dem Schild. Eisskulpturenausstellung im Museon-Park neben der neuen Tretjakow-Galerie, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Erdbeer-Kiosk. Links daneben ein Stand, an dem man sich zur Armee melden kann, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Betonzaun mit propagandistischer Bemalung und Überschrift „Befreiung Europas“. Mit Georgsbändern, die zum Symbol der putinistischen Aggression und Propaganda geworden sind, und einem Wegweiser nach Berlin, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Bildschirm mit Werbung der Söldnertruppe Wagner mit dem Slogan „Schließ dich der Siegermannschaft an“, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm auf der Eissportarena des Zentralen Sportclubs der Armee ZSKA. Vor dem Hintergrund eines noch aus vorrevolutionären Zeiten allen russischen Staatsbürgern bekannten Gemäldes von Iwan Schischkin und Konstantin Sawizki, „Morgen im Kiefernwald“, aus dem Jahr 1886. Dazu ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Michail Scholochow: „Geliebtes, lichtes Vaterland! All unsere unendliche Liebe gilt dir. All unsre Gedanken sind bei dir“, Juni 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Porträt eines russischen Soldaten mit der Losung „Dank der Heldentat“, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Propagandistische „Installation“ zum Tag des Sieges. Im Hintergrund schimmert  durch ein Baustellennetz ein altes sowjetisches Propaganda-Wandbild: „Wir bauen den Kommunismus“, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Komposition: Fenster eines Verwaltungsgebäudes leuchten in Form des Buchstaben Z, dem Symbol der russischen Aggression, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Wort „Jetzt“ an der Wand eines Gebäudes aus der Breshnew-Zeit. Juni 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    Fotografie: Alexander Gronsky
    Bildredaktion: Maksim Sher
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 31.08.2023

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  • Verbot eines Klassikers

    Verbot eines Klassikers

    Noch im September 2016 wurde für den Dramatiker und Mitbegründer der belarussischen Oper Winzent Dunin-Marzinkewitsch und den Komponisten Stanislaw Monjuschko ein Denkmal im Zentrum von Minsk enthüllt. Damals betonte der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Stadt Minsk, Igor Karpenko, in seiner Rede die Bedeutung dieses Ereignisses, das am Tag der Stadt Minsk stattfand: „Am Geburtstag unserer Hauptstadt sind wir stolz darauf, dass es in der Geschichte unseres Landes so große Namen wie Stanislaw Monjuschko und Winzent Dunin-Marzinkewitsch gibt.“ Fast sieben Jahre später gilt Dunin-Marzinkewitsch, nach dem auch zahlreiche Straßen in ganz Belarus benannt sind, als „Extremist“, zwei seiner Gedichte und das Vorwort zur Gesamtausgabe des Schriftstellers wurden im August 2023 von den belarussischen Behörden als „extremistisch“ eingestuft.

    Er ist damit der erste belarussische Literaturklassiker, dessen Werke im Zuge der Repressionen nach den Protesten von 2020 de facto verboten wurden, neben dutzenden Medien, Telegramkanälen, Webseiten, Publikationen oder Büchern. Was könnten die Gründe für diese Entscheidung sein? Hat das Verbot möglicherweise mit der generellen Angst der belarussischen Machthaber vor Aufständen gegen das herrschende System zu tun? Schließlich soll Dunin-Marzinkewitsch auch an den Aufständen von 1863–1864 gegen das Zarenreich beteiligt gewesen sein. Mit diesen Fragen und mit den historischen und möglichen aktuellen politischen Hintergründen des Verbots beschäftigt sich das Online-Medium Reform.by

    Die belarussischen Gesetzeshüter graben nun in den Tiefen der Jahrhunderte und befassen sich mit den Klassikern der Nationalliteratur. Wie die Staatsanwaltschaft der Oblast Minsk mitteilte, wurden das Vorwort zur Werkausgabe sowie zwei Gedichte von Winzent Dunin-Marzinkewitsch für extremistisch erklärt. Was haben Generalstaatsanwalt Schwed und seine Mitstreiter damit im Sinn? Und warum riecht dieser Vorgang verdächtig nach dem fragwürdigen russischen Pseudohistoriker Alexander Djukow, der seine Ohren überall hat?

    Ein unbelehrbarer „Extremist“ 

    Foto © Anton Prušynski/Public Domain
    Foto © Anton Prušynski/Public Domain

    Den „Krawall“ fand die Staatsanwaltschaft in den zwei Texten Es wehen die Winde [Płynuć wietry] und Rede eines alten Mannes [Hutarka staroha dzieda]. Schon zu Lebzeiten war Dunin-Marzinkewitsch dafür vom Zarenregime abgestraft worden. Im März 1862 sandte Generalmajor Kuschaljow, interimistischer Militärgouverneur in Minsk, ein Rundschreiben aus, in dem es hieß: „Es sind mir glaubhafte Hinweise zugegangen, denen zufolge der Gutsbesitzer Marzinkewitsch in der belarussischen Volkssprache ein empörendes Gedicht schrieb, namentlich ‚Rede eines alten Mannes‘, das darauf abzielt, die Bauern der westlichen Gubernien gegen die Regierung aufzuwiegeln … und dass der Herr Marzinkewitsch versucht, sein Werk unter dem einfachen Volk zu verbreiten“.

    Dunin-Marzinkewitschs Werk erzürnte die russischen Machthaber in jeder Hinsicht, zum einen die belarussische „Volks“-Sprache, in der der Autor nicht nur schrieb, sondern sogar ein Theaterstück zur Aufführung brachte, das natürlich umgehend verboten wurde. Zum anderen stellten die Gedanken des „alten Mannes“ einen „Krawall“ auf ganzer Linie dar, einen direkten Aufruf an die Bauern, nicht dem russischen Väterchen Zar zu glauben, sondern den in Vorbereitung befindlichen Januaraufstand unter Führung Kastus Kalinouskis zu unterstützen:

    Sie sagen, die Moskalen wollen
    unser Los zum Bess’ren drehen.
    Oje! Glaubt nicht daran, ihr Leute, 
    nichts davon werden wir sehen.
    Wenn sie es denn wirklich wollten, 
    wär’s schon lange so geschehen.

    Dieses Werk entstand vermutlich Anfang 1861, wurde in der Latinica [Łacinka, auf Belarussisch in lateinischer Schrift – dek] gedruckt und im Vorfeld des Aufstands von 1863–1864 in Form eines Flugblatts unter der Bauernschaft verteilt. Dieselben Zeilen rufen offensichtlich auch heute noch Zorn in der mittlerweile belarussischen Staatsanwaltschaft hervor, die sie zu extremistischem Material erklärt. Der Kreis hat sich geschlossen – anderthalb Jahrhunderte später solidarisieren sich die hiesigen Staatsanwälte wieder mit dem russischen imperialen Regime und unterstellen demselben Schriftsteller wieder Umsturzgedanken. Ein wohl anerkannter Klassiker der belarussischen Literatur ist also ein unbelehrbarer „Extremist“. 

    Es sagt viel aus, dass auf der heute veröffentlichten Liste der extremistischen Materialien neben Dunin-Marzinkewitsch auch Bücher von Laryssa Henijusch, Natallja Arsennewa, Lidsija Arabei und Uladsimir Njakljajeu stehen. Es ist ganz klar der Versuch, eine Brücke zu schlagen von den „Extremisten“ des 19. Jahrhunderts über die „Extremisten“ des Zweiten Weltkriegs bis in unsere Zeit und über die Epochen hinweg einen „roten Faden des Hasses“ zu spannen – vom Kalinouski-Aufstand bis hin zu den Protesten von 2020.

    Wonach suchen sie eigentlich?

    Was hat die Staatsanwaltschaft vor? Und warum kommen sie plötzlich auf Dunin-Marzinkewitsch? Vielleicht steckt wirklich die Tatsache dahinter, dass der Schriftsteller eng mit dem Aufstand von 1863–1864 verbunden ist. Nach dessen Niederschlagung wurde der Poet verhaftet und saß mehr als ein Jahr in der zu trauriger Berühmtheit gelangten Pischtschalauski-Burg [dem heutigen Minsker KGB-Untersuchungsgefängnis –dek]. Eine Schuld konnten ihm die Ermittler des Zaren jedoch nicht nachweisen. Der Schriftsteller wurde freigelassen, lebte danach aber noch viele Jahre unter Überwachung der russischen Polizei. Seine Tochter Kamilla verbannten die Zaristen in den Ural, der Vorwurf lautete, in der von ihr gegründeten Schule sei Agitationsarbeit unter Soldaten und Bevölkerung geleistet worden.

    Die Angriffe auf Dunin-Marzinkewitschs Werk zeugen also davon, dass das belarussische Regime bereit ist, sich intensiv mit einer Umschreibung der Geschichte des Aufstands von 1863–1864 und seiner Teilnehmer zu beschäftigen. Dunin-Marzinkewitsch des „Extremismus“ zu bezichtigen, ist erst der erste Schritt in diese Richtung. 

    Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann weiterreichende Folgen haben. Heute gibt es zum Beispiel in vielen belarussischen Städten, darunter auch in Minsk, nach dem Schriftsteller benannte Straßen. Doch wie sieht das aus, wenn Straßen nach Autoren „extremistischen Materials“ benannt sind? Ist die Umbenennung der nächste Schritt?

    Danach kann man sich daran machen, die Rolle und Bedeutung des Aufstands neu zu bewerten. Da daran durch die Bank weg „Extremisten“ teilgenommen haben, kann man auch die Befreiungsbewegung insgesamt so bezeichnen. Erst die Ereignisse negativ konnotieren, um sie dann vollständig aus dem Gedächtnis der Belarussen zu streichen. Allen Helden ihren Status nehmen, bis zum Schluss auch Kastus Kalinouski an die Reihe kommt. 

    Damit wird endlich auch ein langjähriger Traum der russischen Imperialisten erfüllt, bei denen allein die Erwähnung des Aufstandes und des Namens Kalinouski abgrundtiefen Hass hervorruft. In wessen Auftrag handelt die belarussische Staatsanwaltschaft also heute?

    Imperiale Intrigen und der „Terrorist“ Kalinouski

    Den Aufstand von 1863–1864 instrumentalisieren die russischen Imperialisten schon lange und intensiv. 2020 veröffentlichte Alexander Djukow, Direktor der Stiftung Istoritscheskaja pamjat [dt. Historisches Gedächtnis], eine Liste von einfachen Menschen, die auf dem Territorium des heutigen Belarus, Litauen und Lettland von den Aufständischen ermordet wurden. Derselbe Djukow gab auch ein Buch heraus mit dem Titel Neiswestny Kalinowski. Propaganda nenawisti i powstantscheski terror na belarusskich semljach, 1862–1864 gody [dt. Der unbekannte Kalinowski. Hasspropaganda und aufständischer Terror auf dem Gebiet Belarus‘, 1862–1864].

    Die Diskreditierung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, die der russischen Geschichtsversion widersprechen oder nicht genehm sind, ist eine der zentralen Stoßrichtungen der von Djukow geleiteten Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine der Hauptaufgaben dieser Organisation ist die „Entwicklung von Vorstellungen, die Russlands Interessen entsprechen und die gemeinsame Geschichte beider Staaten wissenschaftlich korrekt darstellen“. Die gesamte Tätigkeit der Stiftung kann man charakterisieren als „aktive Maßnahmen“, um den russischen Einfluss in unserem Land zu verstärken. 
     
    Djukow beschreibt Kastus Kalinouski als einen Menschen, der eine Agenda des Terrors verfolgt habe und in seinen Veröffentlichungen „zielstrebig Hass säte“. Laut Djukow sieht die „Stilisierung dieses Menschen zum Helden, die sich in der Sowjetzeit vollzog und sich jetzt fortsetzt, einigermaßen seltsam aus und sollte überprüft werden“. Djukows Thesen werden sehr gern von russischen, und mittlerweile auch von belarussischen staatlichen Medien übernommen und verbreitet. 

    Man sollte meinen, dass unwissenschaftliche Thesen zur Geschichte nur von wenigen Menschen auf der Welt vertreten werden? Doch Alexander Djukows Position findet heute Unterstützung in den oberen Etagen des belarussischen Regimes und die belarussische Vereinigung Snanije [dt. Wissen] unterzeichnete einen Kooperationsvertrag mit Djukows Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine ebensolche Vereinbarung schloss auch das Forschungspraktische Zentrum zur Stärkung von Recht und Ordnung der belarussischen Generalstaatsanwaltschaft. Wundert man sich da immer noch, dass die Werke von Dunin-Marzinkewitschs als „extremistisches Material“ eingestuft werden? 

    Djukows Thesen wiederholt auch Igor Sergejenko, der Vorsitzende der Präsidialadministration Lukaschenkos. Der ist nebenbei auch der Vorsitzende des Republikanischen Rates für Geschichtspolitik bei der Präsidialadministration. Bei ihm finden sich „der in der sowjetischen Historiographie geschaffene Mythos von Kalinowski“ und die Beschuldigung des Aufstandsanführers der „grausamen Abrechnung mit der belarussischen orthodoxen Bevölkerung“. Die Krone des Ganzen – der Vergleich Kalinouskis mit Bandera, Schuchewitsch und Romuald „Bury“ Rajs

    Das Regime bereitet den Boden, um den Aufstand und seine Anführer von verschiedenen Seiten anzugreifen. Mithilfe der Djukow‘schen „Forschungsergebnisse“ und mit Hilfe der Diskreditierung der bekannten Aufständischen als „Extremisten“. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, um am Ende den Aufstand selbst für „gesetzeswidrig“ zu erklären und seine Anführer damit post mortem wegen Terrorismus, Extremismus und Genozid an der Zivilbevölkerung anklagen zu können. Bislang gibt es keine Gesetze, die das zulassen, aber wer hindert sie daran, sich neue auszudenken? Ich fürchte, Winzent Dunin-Marzinkewitsch wird zwar der erste, aber nicht der letzte „Extremist“ unter den historischen Persönlichkeiten bleiben. Der Kampf um die belarussische Geschichte hat das nächste Level erreicht. 

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  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Shamans Kampf

    Shamans Kampf

    Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.

    Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen. 

    Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert. 

    Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“ durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.

    Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher

    Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist. 

    Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.

    „Wir sind hier Helden wie auch Opfer“

    Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.

    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images
    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images

    Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch:

     

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    In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben. 

    Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler. 

    Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.

    „Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.

    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin
    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin

    Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.

    Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.

    Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor. 

    Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.

    Benannt nach seinem toten Bruder

    Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.

    Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte. 

    Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen. 

    Kriegsdienst in Afghanistan

    Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang. 

    Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen. 

    Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.

    Einer der ersten politischen Gefangenen

    Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte. 

    Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen. 

    Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam. 

    Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein. 

    Die Galerie U Puschkina

    Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte. 

    An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben. 

    Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder

    Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.

    Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch. 

    1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden. 

    Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.

    Wandmalerei in der Kirche von Bobr

    Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet. 

    Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden. 

    Mist für Lukaschenka

    Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


    Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999

    2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft. 

    Foto © AP/picture alliance
    Foto © AP/picture alliance

    Das sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.

    Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird. 

    2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.

    Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. 

    Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat. 

    Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr. 

    Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren. 

    Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon. 

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    „Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur. 

    Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet. 

    Illustration © Taja L./Mediazona
    Illustration © Taja L./Mediazona

    Die im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.

    Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)

    Worum es geht: Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.

    „Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.

    Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen. 

    Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.

    Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.


    Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)

    Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben. 

    Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.

    Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“

    Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!

    Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist … Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“


    Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)

    Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen. 

    „Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.

    Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa). 

    Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde. 


    Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)

    Worum es geht: Das Buch handelt von Zimoch Wostrykau, einem Mitglied des Rates der Belarussischen Volksrepublik (BNR).

    „Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.

    Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.

    Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ). 

    Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht. 


    Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik

    Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.

    Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik. 

    Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt. 

    Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus … Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“

    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto  © Andrei Januschkewitsch / Facebook
    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto © Andrei Januschkewitsch / Facebook

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