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Belarus – die Geschichte eines Namens
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Durch die Nacht, durch den Sturm
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„Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”
Hunderttausende Belarussen haben nach den historischen Protesten von 2020 ihre Heimat verlassen müssen, um Verfolgung und Festnahme zu entgehen. Was macht das Leben in der Emigration mit der eigenen Sprache, mit der eigenen Kultur? Wie die Hoffnung auf einen politischen Wandel hochhalten, der die Rückkehr ermöglichen würde?
Mit welchen Herausforderungen das Leben im Exil verbunden ist, wenn man nicht weiß, ob man jemals in seine Heimat zurückkehren kann, darüber spricht die Sängerin Ketevan, die im Alter von fünf Jahren aus Georgien nach Belarus kam und aktuell in Polen lebt, mit dem belarussischen Online-Portal Budzma.
Die belarussische Sängerin Ketevan / Foto © privat/Instagram
Budzma: Wie verlief deine Emigration? Abgesehen davon, dass du schon als Kind aus Georgien nach Belarus gezogen bist.
Ketevan: Das ist eine komplizierte Geschichte. Seit 2020 habe ich mehrfach das Land gewechselt. Zuerst bin ich nach Kyjiw gegangen, ohne auch nur irgendwie zu begreifen, was da vor sich geht. Ich nahm nicht einmal Sommersachen mit, suchte mir kein Zimmer – ich dachte überhaupt nicht in diese Richtung. Aber in der Ukraine lief es gut, wir probten sogar für ein Theaterstück. Mit einem Regisseur vom SChT (dt. Modernes Künstlertheater) in Minsk, zu einer Hälfte mit Belarussen, zur anderen mit Ukrainern besetzt. Ich war von Anfang an in dieses Projekt involviert, trat sogar mit auf. Ab und zu stellte sich das Gefühl ein, endlich aufzuwachen. Aber dann kehrte wieder dieses seltsame Unverständnis zurück.
Nach einiger Zeit zog ich nach Gdańsk, weil dort mein Freund war. Ich unterhielt mich gern mit dem Meer, aber ich hatte absolut nichts zu tun. Zum Glück konnte ich dann eine Künstlerresidenz am Theater in Warschau beginnen, da war ich unter Gleichgesinnten. Um mich herum waren Schauspieler, sensible Menschen, mit feiner Seelenstruktur. Wenn sie nicht zu Hause sind, noch dazu gegen ihren Willen, nehmen sie das doppelt schwer. Mir wurde klar, dass ich kein dummes kleines Mädchen bin, sondern einfach verloren, wie alle um mich herum.
Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum
Einen Monat später war Krieg. Ich begann, am Bahnhof in Przemyśl, nahe der Grenze, als Freiwillige zu helfen. Tausende Menschen, verlorene Gesichter – das war eine furchtbare, aber auch gute Erfahrung. Ich hatte dort wenigstens ein bisschen das Gefühl, die Realität zu begreifen. Das Gefühl, zu tun, was getan werden muss. Ich war sehr müde, in den ersten Monaten des Krieges leisteten wir 15 bis 16 Stunden Hilfe am Tag.
Einige Zeit später packte ich meine Sachen und fuhr nach Vilnius – um wieder im Unbekannten zu landen und von Null zu beginnen (lacht). In Litauen wohnte ich drei Monate lang bei Freunden, dann fuhr ich als Freiwillige an die Grenze, weil ich mich wieder nutzlos fühlte. Dann folgte noch ein Umzug nach Warschau – in Polen ist es einfacher mit der Bürokratie.
Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum. Alles ist in Bewegung, und du weißt nie, was dich morgen erwartet. Ich liebe mein Leben, ich jammere nicht, ich finde, mir geht es super. Aber dieses Leben ist surreal.
Fühlst du dich „zu Hause“? Verspürst du den Wunsch, nach Belarus zurückzukehren?
Der Surrealismus meines Lebens im Exil besteht wohl am ehesten darin, dass ich nicht das Gefühl habe, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Mein Leben im Ausland ist sehr seltsam – ich treffe mich mit Belarussen, mache belarussische Musik, lese belarussische Bücher. Dass ich nicht zu Hause bin, wird mir bewusst, wenn es um Bürokratie geht. Wital Karaban, ein belarussischer Dramaturg und Regisseur, hat mit uns das Stück Masaika (dt. Mosaik) inszeniert. Der Text basiert auf unseren Gesprächen, ich spiele darin letztlich mich selbst.
In dem Stück erzählen wir von den unangenehmen Seiten der Emigration, es richtet sich in erster Linie an das polnische Publikum, damit dieses die andere Seite unseres Lebens hier sieht. Manchmal sieht es aus, als würden wir hier durchdrehen, tanzen, trinken, und man könnte meinen: „Euch geht’s ja gut hier!“ Uns allen im Exil ist nicht immer klar, wie man solche verrückten Partys überhaupt noch feiern kann. Mit unserem Stück beleuchten wir viele solcher Fragen. Wir erhalten viel Dank für diese Möglichkeit, die Belarussen besser zu verstehen.
Durch künstlerisches Schaffen können wir die Verbindung zwischen den Belarussen im Ausland und den im Land Gebliebenen aufrechterhalten. Wir wollen wissen, was zu Hause passiert, und umgekehrt. Wir glauben immer, wir haben uns verändert, aber eigentlich sind wir absolut dieselben geblieben und werden auch so bleiben, wie wir immer waren.
Da wir über das künstlerische Schaffen sprechen: Kommen wir zu deiner Zusammenarbeit mit Lavon Volski und seinem Projekt Emihranty. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Lavon habe ich zufällig kennengelernt. Er suchte für sein neues Album eine Frauenstimme. Beim ersten Treffen sang ich die betreffenden Songs und obwohl ich sie noch gar nicht richtig kannte, wusste ich: Ich verstehe das alles. Volski gefiel es, und wir nahmen sehr schnell alles auf.
Emihranty, das ist nicht nur Musik, das sind Szenen, die ich auch schon erlebt habe. Ich erhalte oft Nachrichten wie „Meine Mama klingt am Telefon genauso!“, „Meine Freundin sagt, dass ihr genauso alles zuwider ist wie der Frau in dem Lied“. Ich freue mich, wenn Kunst eine Reaktion auslöst.
In dem Lied Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) imitieren Ketevan und ihr Gegenpart Lavon Volski ein Telefongespräch zweier Belarussen, von denen sich die eine im Exil und der andere noch in Belarus befindet. Der erklärt zur Verwunderung der Gesprächspartnerin immer wieder, dass bei ihnen „alles normal” sei.
Es gab auch die folgende Situation. Im Song Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) fragt eine Person die andere: „Wie läuft’s bei euch, wieder jemand verhaftet?“ und die Antwort lautet: „Nein, alles gut, wir nehmen gerade einen neuen Kredit auf.“ Hörer schrieben mir: „Sind bei uns etwa nur mehr solche Leute übrig? Warum singt ihr so was?“ Ich antwortete, solche Leute gebe es überall zur Genüge. Und solche Gespräche auch – unangenehme, schwierige, die davon zeugen, dass die Menschen sich mit ihrer Situation abgefunden haben. Ich habe auch Freunde, die so kaputt sind, dass sie diese ganze Realität ausblenden.
Volskis Album handelt von dem, was ist, nichts darin ist erfunden. Die Zusammenarbeit mit Lavon fand ich sehr schön, vor allem, wie respektvoll alle im Team miteinander umgehen, das sind diese echten belarussischen Intellektuellen! Ich bin immer gern hingegangen, habe ihren Gesprächen zugehört, bei ihnen sind sogar die einfachsten Gespräche interessant.
In einem der Songs geht es um eine Frau, die emigriert ist und der an ihrem neuen Wohnort buchstäblich nichts gefällt. Gibt es in der Emigration etwas, das dich stört? Wie nah ist dir dieser Text?
Es gibt da ein Thema bei mir, nämlich Ärzte. Ich weiß nicht, wie ich an medizinische Versorgung komme, ehrlich gesagt wusste ich auch in Belarus nicht genau, wo ich hinsoll, wenn ich krank bin. Aber zu Hause gab es eine Poliklinik und ich wusste, wenn etwas passiert, kann ich den Rettungswagen rufen. Alles, was Essen angeht oder dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind, stört mich nicht, weil mir in Belarus andere Dinge wichtig waren. Ich mag Nutella, in dieser Hinsicht ist jetzt alles paletti, weil es hier viel davon gibt (lacht). Bei einem Konzert in Wrocław haben Frauen im Publikum dieses Lied mitgesungen, vom Anfang bis zur letzten Zeile, und sehr professionell. Das war so krass!
Gab es zu diesem Songtext auch Fragen von Belarussen, die in Belarus geblieben sind, nach dem Motto: Wenn alles so schlimm ist, warum seid ihr dann noch dort?
Ja, die gab es wirklich. Mit Menschen, die solche Fragen stellen, gehe ich genauso um, wie mit denen, die überhaupt nicht verstehen, was abgeht. Ich antworte gar nicht. Wenn jemand sich für einen Freund hält und dann sagt: „Komm doch wieder zurück!“, was ist das dann für ein Freund? Er versteht offenbar gar nichts oder will, dass ich in den Knast komme.
Im Gegensatz dazu gibt es Belarussen, die sich im Ausland einleben, sich dort ein Leben aufbauen und gar nicht mehr vorhaben zurückzukehren. Was hältst du von denen?
Ich habe viele Freunde, die mit Kindern emigriert sind. Ich verstehe sie in dieser Hinsicht gut, weil sie für das Leben und die Zukunft ihrer Kinder Sorge tragen. Ich glaube weiterhin daran, dass der Wandel kommen wird – ich weiß, dass das einfach ein sehr langes Spiel ist. Was gerade auf der Welt passiert, ist ein Wahnsinn, und unsere Geschichte ist Teil dieses Wahnsinns, sie wird sich so schnell nicht ändern. Wenn alles gutgeht und wir nach Hause können, wird es auch noch einige Zeit dauern, bis alles bewältigt ist. Für kleine Kinder ist das alles nicht leicht. Ich freue mich sehr, wenn Leute sagen, dass sie zurückkehren wollen, darüber sprechen viele. Ich träume von langen Schlangen an den Grenzen, mit Gesängen und Flaggen.
An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst
Eines ist mir aufgefallen: Kinder zieht es, egal wo sie aufwachsen, immer in die Heimat. Ich bin eine Georgierin, die in Belarus aufgewachsen ist, und habe mich immer für meine Sprache und Kultur interessiert, wollte immer nach Georgien reisen. Aus gewissen Gründen möchte ich im Moment nicht dort leben. Aber ich habe immer den Wunsch, hinzufahren und die Energie meines Landes zu spüren, es ist für mich ein Kraftort. So wird es auch den belarussischen Kindern gehen, von denen viele jetzt in Polen leben. Sie werden ganz bestimmt den Wunsch verspüren, nach Belarus zu fahren, und so Gott will, werden sie dort ihre neuen Erfahrungen aus dem Leben in einem freien, demokratischen Land einbringen können.
Was kann man im Ausland tun, um seine Kultur zu bewahren, um das Belarussische nicht zu verlieren?
Tatsächlich ist das gerade leicht: Ich weiß, dass es Leute gibt, die die künstliche Intelligenz mit belarussischer Geschichte und Sprache füttern. Die Sprache ist sehr wichtig. Wenn ich in Warschau Belarussisch höre, denke ich sofort: „Alles in Ordnung!“ Zu unseren Konzerten kommen tolle Leute, die Atmosphäre ist immer heimelig, alle singen zusammen, umarmen sich. Man muss regelmäßig Landsleute treffen, das Eigene unterstützen, mehr auf Belarussisch lesen, neue Projekte initiieren. Wenn ich Songs schreibe, dann weiß ich, dass dadurch die politischen Häftlinge nicht freikommen, aber die Geschichte unseres Landes weitergeht. Das sind kleine Schritte, aber sie sind wichtig. Man muss auch die Kinder unterrichten, damit sie ihre Sprache lernen und weitertragen.
An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst. Wenn ich Georgier treffe, begrüße ich sie immer auf Georgisch. Dann drehen sich mir sofort glückliche Gesichter zu! Wenn wir einen Belarussen treffen und rufen „Oh, ein Belarusse!“ und ihn umarmen möchten, dann schreiben wir unsere Geschichte fort.
Ketevan bei einer Veranstaltung zum Dsen Woli im Jahr 2023 in Warschau
Woran arbeitest du gerade und welche Pläne hast du für die Zukunft?
Kürzlich habe ich den Song Datschka sonza (dt. Sonnentochter) veröffentlicht, das war super. Wir bereiten ein Album vor, an dem wir schon sehr lange arbeiten. Darauf geht es um soziale Themen – um die Freiheit des Lebens und ihre Einschränkungen. Auch um Liebe wird es gehen. Bei Musik und Kunst geht es für mich immer um Liebe. Es gibt einfache, aber großartige Songs über Verliebtheit, in guter, moderner belarussischer Sprache, manche basieren auf Gedichten von Dascha Bjalkewitsch. Wenn Teenager diese Songs hören, wundern sie sich, dass es im Belarussischen solche Wörter gibt. Ich habe auch einige Einpersonenstücke, die ich ins Belarussische übersetzen werde. Wir arbeiten, sind kreativ, tun was.
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Sound des Aufbruchs: Rockmusik im Belarus der 1990er Jahre
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Belarus und die Geister der „wilden Jagd“
Andrej Chadanowitsch, 1973 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter zeitgenössischer belarussischer Lyrik. Seine Dichtkunst zeichnet sich durch Wortspiele, Humor, ihre stilistische Experimentierfreude und sensorische Tiefenschärfe aus. Auch hat er Gedichte und Werke von englischen, französischen oder polnischen sowie ukrainischen Lyrikern wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch ins Belarussische übersetzt. Er betreibt zudem einen populären YouTube-Kanal, in dem er Klassiker der belarussischen Literatur und Kultur vorstellt, aber auch gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Dieser Kanal wurde von den Machthabern in Belarus im Oktober 2023 als „extremistisch“ klassifiziert, also quasi verboten.
Chadanowitsch hat wie viele belarussische Kulturschaffende seine Heimat infolge der Repressionen verlassen müssen und lebt nun im Ausland. In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft beschäftigt er sich mit Literatur und Schriftstellern, die in Belarus verboten wurden. Dabei stößt er auf geradezu unheimliche Hinweise darauf, wie nahe sich Literatur und Realität kommen können.
Warum werden heutzutage in Belarus Bücher und Autorenlesungen, Kunstausstellungen und Musikkonzerte verboten? Warum landen Dichter und Denker wieder und wieder hinter Gittern? Warum besteht ein Großteil unseres heutigen Schrifttums – genau wie der der hundertjährigen Klassiker – aus Gefängnisliteratur? Warum wird die belarussische Sprache diskriminiert, marginalisiert und letztlich noch konsequenter vernichtet, als zu Sowjetzeiten – und das in einem Land, das immerhin Belarus heißt?
Manche sagen: Weil bei uns ein ewiger und gnadenloser Kulturkampf herrscht, in dem sich eine der beiden Kulturen für überlegen hält und die andere zu unterwerfen und zu zerstören versucht. Andere sagen, man müsse eher von einem Krieg sprechen, den etwas gegen unsere Kultur führt, das der Kultur völlig entledigt ist. Ich möchte hier keine endgültigen Schlüsse ziehen, sondern beschränke mich darauf, zwei Leitgedanken zu entfalten. Zum einen, wohin die Angst vor Kultur und der Hass auf Bücher führen können. Zum anderen, wozu diese Kultur und diese Bücher manchmal fähig sind.
1) Calibanismus
Nein, diese Zwischenüberschrift ist kein Tippfehler.
Oscar Wildes Aphorismus, die Kunst würde nicht das Leben, sondern den Betrachter spiegeln, fand ich immer hübsch, aber auf paradoxe Weise überspitzt. So spricht der Schriftsteller in diesem Zusammenhang von der Wut des shakespeare’schen Caliban, der im Spiegel sein Abbild erkennt (oder eben nicht).Heute weiß ich, dass der Meister des Paradoxen keineswegs übertrieben hat. Denn jetzt haben die Belarussen diesen Caliban mit eigenen Augen gesehen, mehr noch – wir haben es mit dem Phänomen eines Staats-Calibanismus zu tun: Eine aus lauter Calibans bestehende Minsker Staatsanwaltschaft hat im August eine Reihe von literarischen Werken als „extremistisch“ verurteilt.
Auf der Liste landeten sowohl zeitgenössische Werke als auch Klassiker des 20. und sogar des 19. Jahrhunderts. Es kommt selten vor, dass längst verstorbene Autoren verurteilt werden; darunter beispielsweise der bekannte Dramaturg Winzent Dunin-Marzinkewitsch (1808-1884), nach dem zahlreiche Straßen in Belarus benannt sind und dessen Denkmäler die Stadtzentren zieren. Bislang musste das nicht einmal geändert werden – man fand eine elegantere Lösung für das Problem: Nicht das ganze Buch wurde als verbrecherisch eingestuft, sondern nur ein Fragment daraus, nämlich zwei Gedichte und das Vorwort zum Buch, das von einem zeitgenössischen Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Fast wie im Club der toten Dichter: Und jetzt, liebe Studenten, reißen Sie alle zusammen die Seiten dieses Vorwortes aus Ihren Büchern, los, nicht so schüchtern, und vergessen Sie auch diese zwei Gedichte nicht, schön sauber entfernen!
Manchmal ist das Motiv, nämlich der Hass des Regimes auf den Autor, offensichtlich. Wie bei unserem Zeitgenossen Uladsimir Njakljajeu, der nicht nur als Dichter bekannt ist, sondern auch als politische Person, die 2010 für das Präsidentenamt kandidierte. Just am Wahltag wurde er von vermummten Geheimdienstmitarbeitern überfallen und musste in der Notaufnahme versorgt werden, von wo er dann entführt wurde; seine Angehörigen wussten tagelang nicht, ob er am Leben war. Njakljajeu saß derweil im Gefängnis des KGB; nach 40 Tagen Haft stand er noch mehrere Monate unter Hausarrest. Obwohl der Dichter an der Wahlkampagne 2020 nicht direkt beteiligt war, wurde er mehrfach zu Verhören abgeholt und faktisch aus dem Land getrieben. Jetzt lebt er bereits seit zwei Jahren in der Emigration (und das nicht zum ersten Mal in seiner Biografie). Ganz klar, ein Extremist!
Ebenfalls für „extremistisch“ erklärt wurde ein Buch von Laryssa Henijusch, einer Schriftstellerin und Emigrantin, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus der Tschechoslowakei in die UdSSR zurückgeholt und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, von denen sie achteinhalb tatsächlich verbüßte. Doch sie ließ sich nicht brechen, schrieb Gedichte zur Unterstützung anderer Häftlinge, die diese als „Glukose“ bezeichneten, so sehr halfen sie. Nach ihrer Freilassung weigerte sie sich, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und verbrachte ihr gesamtes Leben unter geheimdienstlicher Aufsicht. Bis heute wurde sie nicht rehabilitiert, das Urteil wurde lediglich auf die Haftstrafe reduziert, die sie tatsächlich abgesessen hat. Kein Zweifel, eine Extremistin!
Oder das Buch der Exil-Poetin Natallja Arsennewa, deren patriotisches Gedichtgebet Mahutny Bosha (dt. O mächtiger Gott) zur inoffiziellen Hymne mehrerer Generationen der belarussischen Opposition wurde, seinen größten Ruhm aber während der belarussischen Straßenmärsche 2020 erlangte. Es war dieses Gedicht, das bei Protestauftritten von maskierten Musikern und Sängern an belebten Plätzen vorgetragen wurde, dem Vorläufer des berühmten Wolny chor (dt. „Freier Chor“). Selbstverständlich muss die Autorin dieses durch und durch extremistischen Werks auch selbst eine Extremistin sein!
Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020
Als man mit denen fertig war, begann der interessanteste Teil: Der Staatsanwalts-Caliban trat selbst vor den Spiegel. Denn an fünfter Stelle in der Liste der extremistischen Literatur erscheint eine Sammlung von Werken der, so möchte man meinen, für das Regime absolut harmlosen Schriftstellerin Lidsija Arabei. Als ich das las, fiel ich fast vom Stuhl, denn ich war seinerzeit mit ihren Kinderbüchern aufgewachsen und konnte darin beim besten Willen nichts Anstößiges erkennen. Ein paar Tage später fiel mir das „verurteilte“ Buch in die Hände, ich blätterte es aufmerksam durch – und wäre wieder fast vom Stuhl gekippt, denn ich entdeckte eine Erzählung namens Der weiße Spitz.
Hier sei mir ein kleiner Exkurs in die Hundewissenschaft erlaubt. Es ist nämlich so, dass das drittbeliebteste Motiv für Witze und Memes in Belarus ein weißer Spitz ist, gleich nach dem illegitimen Präsidenten und seinem unehelichen Sohn. Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020 als Haustier und – wie es schien – einziger treuer Freund Lukaschenkas. Wenige Monate vor der jüngsten Wahlfälschung und dem Ausbruch der Proteste und Repressionen und auf dem Höhepunkt der Pandemie.
Der Diktator, der als einer von wenigen Politikern weltweit offen die Existenz des Coronavirus leugnete, pflanzte im April 2020 vor laufenden Fernsehkameras friedlich Kiefernbäumchen und hielt dabei ein Körbchen mit einem kleinen weißen Hund. Sofort fanden sich Verschwörungstheoretiker, die behaupteten, diese beiden – Hündchen und Diktator – wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Problem der Epidemie ablenken.
In einem anderen Fernsehbeitrag hackte Lukaschenka Holz, und neben ihm lief wieder fröhlich bellend der weiße Spitz herum. Später saß er (der Spitz, nicht Lukaschenka) herrschaftlich auf dem Tisch und naschte von Tellerchen, während sein Freund ausländischen Journalisten ein Interview gab. Am Dreikönigstag bot der Politiker dem Hündchen gar an, gemeinsam mit ihm vom geweihten Wasser zu trinken. Doch der weiße Spitz lehnte zu seinem großen Bedauern ab. Kurzum, Belarus hatte nun neben „Koljas Papa“ und „Kolja“ selbst einen dritten gehypten Medienstar.
Und hier kommt Lidsija Arabeis Erzählung ins Spiel. Stellen wir uns einmal die Reaktion der Calibans aus der Staatsanwaltschaft vor, als sie im Inhaltsverzeichnis des Buches diesen furchtbaren Titel entdecken. Sie schlagen den Band an der entsprechenden Seite auf und überzeugen sich davon, dass es keine Halluzination war, sondern der Text tatsächlich mit den Worten „Der weiße Spitz“ beginnt und zudem noch viel schrecklicher endet, nämlich mit den Worten: „Verrecken soll er“. Dass dieser Fluch nicht dem Spitz und auch nicht seinem Herrchen gilt, interessiert da niemanden mehr …
Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten!
Der Text stammt von 1975 und versetzt uns nach Minsk im Winter 1943, unter Nazibesatzung und Hungersnot, wo der Schwarzmarkt die einzige Überlebenschance ist. Eine Frau bringt eine große Kasserolle mit heißen, dampfenden Kartoffelpuffern … Das belarussische Zensorenherz beginnt freudig zu schlagen, beruhigt sich fast, doch dann taucht leider der vermaledeite weiße Spitz auf, und dann heißt es auch noch, er habe sein Herrchen verloren.
Wie kann das sein – das Herrchen verlieren? Das hieße ja, auch sie, die Staatsbeamten, die als Einzige das Unerlaubte suchen und ihn beschützen können, blieben ohne Arbeitgeber? Was sollten sie dann tun? Ihre Empathie mit dem Protagonisten der Erzählung wächst ins Unermessliche, doch was geschieht dann mit dem Spitz? Ich zitiere besser die „Extremistin“ Lidsija Arabei:
„Da wandte sich der Hund der Frau zu, der Herrscherin über die Kartoffelpuffer, und als würde er sich an etwas erinnern, stellte er sich auf die Hinterpfoten und machte Männchen.
Er tat es lange und ausdauernd, gleichsam stolz, es so lange in einer so unbequemen Haltung auszuhalten. Seine Augen blickten unterwürfig und ehrlich, voller Freude und Hoffnung …
Seine Pfoten hingen schlaff herunter und zitterten, genau wie seine rosige Zunge; aus dem Maul tropfte Speichel, der Hund hielt sich tapfer, sein ganzer Anblick sagte: Schaut her, wie ich mich anstrenge, wie ich es euch recht machen will, habe ich dafür etwa keine Belohnung verdient?
‚Verschwinde!‘, rief die Frau schließlich und drohte mit der Gabel.“Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten! Aber dann lesen die Staatsbeamten das Finale: Das Hündchen kennt offenbar ein Gefühl, das stärker ist als Hunger. Als plötzlich ein Besatzer vorbeiläuft, beginnt das Hündchen ihn aus voller Kehle anzukläffen. Schließlich bekommt der Soldat in der Feindesuniform Angst und zieht von dannen. Das gefällt den Belarussen auf dem Markt so sehr, dass das Hündchen eine unerwartete (und doch so lang ersehnte!) Belohnung erhält:
„Das Hündchen stand noch lange da und kläffte ihm nach, bellte mit all seinem Hundezorn, bis zur Heiserkeit, bis zur Verzweiflung. Als es sich ein wenig beruhigt hatte, hörte es hinter sich eine unbekannte Stimme:
‚Hier hast du, Hündchen …‘
Da landete neben ihm im Schnee ein Stückchen warmer, duftender Puffer.
Und die Stimme fügte hinzu:
‚Was für ein kluges Hündchen! Verrecken sollst du …‘“Die echten Kenner von Lidsija Arabeis Werk mögen vielleicht eine andere Erklärung für ihren „Extremismus“ vorschlagen. Sie mögen darauf hinweisen, dass es im Buch Erzählungen über die Epoche des Stalinismus und die Repressionen gibt, über die Verurteilungen der „Volksfeinde“ und die Trennung von Familien, als Kindern entweder befohlen wurde, sich von den „Verbrechereltern“ loszusagen oder sie neue Namen und Familiengeschichten bekamen, damit die Eltern sie nach ihrer Rehabilitierung nicht wiederfinden konnten. Es gibt die Erzählung Der kalte Mai, in dem die Arbeit der Geheimdienste beschrieben wird, die die Menschen zwingen, ihre eigenen Verwandten auszuspionieren und sie zu verraten. Ich stimme ihnen zu und ergänze, dass sich die heutigen Diener des diktatorischen Regimes als Nachfolger und Stammhalter der stalinschen Henker verstehen, weshalb Repressionen wieder zum Tabuthema geworden sind.
Und doch stelle ich mir lieber vor, wie unsere Calibans gerade an der Erzählung vom weißen Spitz hängenbleiben, an dem Gedanken, dass jedes Herrchen unausweichlich stirbt und seine Diener dann brotlos zurückbleiben, dass ihr Männchenmachen mit dem Ausruf „Verschwinde!“ enden kann. Und dass es schon lange an der Zeit ist zu entscheiden, ob man weiter Männchen machen soll oder doch den Besatzer anbellen. Vermutlich kam ihnen genau bei diesem Gedanken der Zorn auf die Autorin. Und er wird sie nie mehr verlassen.
2) Briefe der Hoffnung
Die Werke des großen belarussischen Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch (1930-1984) brennen noch nicht auf dem Scheiterhaufen, werden noch nicht in Speziallager der Bibliotheken verbannt und sind auch noch nicht als „extremistisch“ eingestuft. Doch sein wichtigster Roman, Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) verschwand dieses Jahr plötzlich vom Schullehrplan. Vielleicht, weil sich die belarussischen Staatscalibans in seinem Spiegel zweifelsfrei erkannten und die Gefahr sahen. Denn das Werk ist der geistigen und intellektuellen Abhärtung der belarussischen Elite gewidmet, jener jungen Generation, die am antirussischen Aufstand von 1863 beteiligt war. Ein Aufstand, der von den imperialen Truppen brutal niedergeschlagen und dessen Anführer – darunter auch Kastus Kalinouski, den der Schriftsteller in seinem Roman auftreten lässt – vernichtet wurden. Vielleicht hat Karatkewitsch keinen dritten Band verfasst, um den Mord an seinen geliebten Helden nicht beschreiben zu müssen.
Der Roman erlangte Kultstatus, genau wie die anderen Werke des Schriftstellers – zu Sowjetzeiten standen die Menschen in langen Schlangen nach jedem neuen Werk Karatkewitschs an. (Er selbst sagte einmal: „Man muss so schreiben, dass die Leute deine Bücher aus den Bibliotheken klauen. Das habe ich geschafft.“) Die Leserinnen und Leser, besonders Jugendliche, waren so stark beeindruckt, dass sie sich für die belarussische Geschichte und Kultur zu interessieren begannen und oft – auch wenn sie in russischsprachigen Familien aufwuchsen – ins Belarussische wechselten.Im Jahr 2020, im Vorfeld der Wahlfälschungen, Massenproteste und brutalen Repressionen, zitierten die belarussischen Internetnutzer besonders gerne eine Stelle aus dem Roman, in der die reaktionäre Epoche des russischen Imperiums in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen charakterisiert wird:
„Es war eine furchtbare und schwere Zeit. Das ganze unermessliche Imperium erstarrte und verknöcherte unter dem schrecklichen politischen Frost, der es schon im sechsundzwanzigsten Jahr fest im Griff hatte. Jedem, der versuchte, aus voller Brust zu atmen, fror die Lunge ein. […] Glücklich war niemand. Alles wurde dem Abgott der Staatsmacht geopfert.“
Der Schlüsselbegriff hier ist „im sechsundzwanzigsten Jahr“, denn genau so lange herrschte zu diesem Zeitpunkt der illegitime Präsident über Belarus. Nach der erneuten Wahlfälschung und der Niederschlagung des Aufstands 2020 durch das Regime nahmen die Repressionen in ungesehenem Ausmaß zu, die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit hörten auf zu funktionieren, und die Präsenz des russischen Imperiums in Belarus wurde immer offensichtlicher.
Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden.
Der Beginn von Putins Krieg in der Ukraine zeigte, dass es kein politisch unabhängiges Belarus mehr gab, und die Diktatorenmarionette, fast gänzlich dem russischen Aggressor unterstehend, nur noch eine einzige Freiheit besaß: das eigene Volk uneingeschränkt zu terrorisieren. Tausende politische Gefangene, von denen einige unter ungeklärten Umständen in Haft starben; Hunderttausende Belarussen, die ihr Land verlassen mussten, während der Rest zu innerer Emigration verdammt wurde. Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden. Und immer öfter ist zu hören, in Belarus herrsche „die wilde Jagd“.
Dieses Bild führt uns wieder zu Karatkewisch und seinem historischen Thriller König Stachs wilde Jagd (Dsikaje palawannje Karalja Stacha). Warum sich Literatur und Realität immer wieder so nah kommen, könnte man ewig diskutieren. Liegt es an der Hellsichtigkeit des Schriftstellers oder seiner Fähigkeit, universell zu formulieren und dadurch nie an Dringlichkeit zu verlieren? Oder an der Geschichte selbst, die sich im Kreis dreht und keinen Ausweg aus dem ewigen Albtraum bietet? So oder so, jeder Belarusse, der bei klarem Verstand ist, spürt, dass Karatkewitschs Geschichte wieder aktuell geworden ist. Der koloniale Druck; der Verfall der „Elite“, die das eigene Volk unterjocht und dabei einem fremden Herren dient; die Mechanismen der Angst, die lähmt und unfrei macht; aber auch die kulturelle Rolle der Intellektuellen, die uns die von den Aggressoren und Besatzern schon fast ausgelöschte Erinnerung zurückgeben. Die Macht der Machtlosen, der gewaltfreie Widerstand, der eines Tages vielleicht nicht mehr genügen und keinen anderen Ausweg zulassen wird, als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Die „sanfte Macht“ von Liebe und Freundschaft, die im tiefsten Dunkel vor dem Wahnsinn bewahren. Die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller, die unter demselben Feind leiden. In Karatkewitschs Geschichte geht es, genau wie heute, um die Belarussen und die Ukrainer.
Als junger Mann kam Karatkewitsch aus Belarus an die Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität, wo er sich unter dem Einfluss befreundeter Kyjiwer Intellektueller, die sich für die ukrainische Kultur begeisterten, für die belarussische Kultur zu interessieren begann. In dieser Zeit reifte sein Roman heran, durch den sich das Motiv der belarussisch-ukrainischen Einheit zieht, und dessen Schlüsselfigur, der junge Intellektuelle Andrej Swezilowitsch, ein ehemaliger Student der Kyjiwer Universität, autobiografische Züge trägt. Hier ein Dialog zwischen Swezilowitsch und dem Protagonisten des Romans, Andrej Belarezki:
„Weswegen hat man Sie exmatrikuliert, Pan Swezilowitsch?“
„[…] Es begann damit, dass wir beschlossen, das Andenken Schewtschenkos zu ehren. Wir Studenten waren, wie bekannt, unter den ersten. Man drohte uns, dass die Polizei in die Universität einziehen würde.“ Ihm stieg die Röte ins Gesicht. „Wir meuterten. Ich rief, wenn sie das in unseren heiligen Mauern wagen, würden wir diese Schande mit Blut abwaschen, und die erste Kugel werde dem gelten, der den Befehl dazu erteilte. Dann strömten wir aus dem Gebäude, es gab einen Aufruhr, ich wurde festgenommen. Als die Polizei nach meiner Nationalität fragte, antwortete ich: ‚Schreib auf: Ukrainer‘.“
„Sehr gut gesagt.“
„Ich weiß, das war sehr unvorsichtig gegenüber denjenigen, die sich zum Kampf erhoben hatten.“
„Nein, das ist auch gut für sie. Eine solche Antwort ist ein Dutzend Kugeln wert. Und es bedeutet, dass wir alle einen gemeinsamen Feind haben.“ 1In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung?
Die jungen Belarussinnen und Belarussen, die 2006, inspiriert vom ukrainischen Maidan, ihre Zelte auf dem Minsker Oktoberplatz aufstellten und ihn in Kalinouski-Platz umbenannten, hatten zweifellos Karatkewitsch gelesen. Und auch jene haben ihn gelesen, die heute für die Ukraine im Kalinouski-Regiment kämpfen.
Als man in der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges nachvollziehbarerweise begann, Straßen umzubenennen, startete Wjatscheslaw Lewyzki, ein ukrainischer Lyriker, Übersetzer und Karatkewitsch-Experte, eine Initiative, mit der er schließlich erreichte, dass die Dobroljubow-Straße in Kyjiw in Karatkewitsch-Straße umbenannt wurde.
„Ich hoffe“, so schrieb der Dichter, „dass dieses Toponym wenigstens etwas dazu beiträgt, die Missverständnisse zwischen Ukrainern und Belarussen, die sich den Diktaturen in ihrem Land widersetzen, zu nivellieren. Ich möchte, dass diese Umbenennung ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Kalinouski-Korps und dessen Mut ist, gegenüber den belarussischen Partisanen und allen freiheitlich denkenden Belarussen, die die Möglichkeit finden, den Ukrainern zu helfen.“
In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung? Dafür gibt es jetzt gleich zwei Opern auf der Grundlage von Karatkewitschs Erzählung König Stachs wilde Jagd. Die erste stammt aus der Feder des Komponisten Uladsimir Soltan und feierte bereits 1989 im Minsker Opernhaus Premiere. 2021 kehrte sie nach einer Pause auf die Bühne zurück, erweitert um Archivmaterial des Komponisten, mit neuem Bühnenbild und Spezialeffekten im klassischen Horror-Stil. Den wichtigsten Gruseleffekt trug allerdings das Leben selbst bei, als die Operninszenierung von der calibanistischen Zensur getroffen wurde.
Aus dem Libretto verschwand ein zentraler Satz, der Ruf, mit dem die Reiter der wilden Jagd die Palastherrin erschrecken: „Raman im zwanzigsten Glied, komm heraus!“ Vielleicht, weil am 11. November 2020, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, „Unbekannte“ Raman Bandarenka getötet hatten, der in den Innenhof seines Hauses gekommen war, nachdem er im Telegram-Chat geschrieben hatte: „Ich gehe raus!“ Seine maskierten Mörder erinnerten auffällig an die Antihelden aus Karatkewitschs Buch.Die zweite Version der Oper entstand 2023, und ich hatte das Glück, an der Entstehung des Libretto mitzuwirken. Die Musik komponierte Volha Padhajskaja, Regie führten Mikalaj Chalesin und Natallja Kaljada, es dirigierte Wital Aleksjajonak. Die Uraufführung fand im Londoner Barbican Centre statt, und man hätte sich nur schwer ein besseres Ensemble für die heutige Zeit ausdenken können: belarussische Schauspielerinnen und Schauspieler des Belarus Free Theatre, das in der erzwungenen Emigration weitermacht, standen gemeinsam mit Opernsängern und -sängerinnen aus der Ukraine auf der Bühne.
Die belarussischen Theaterschauspieler sprachen den Text, die Ukrainer sangen – in belarussischer Sprache. In einer Zeit der Herausforderungen, Traumata, Verletzungen und künstlichen Spaltungen war es für die Belarussen sehr wichtig, das zu hören. Und ich denke, auch für die Ukrainer war es gut zu sehen, dass die Ukraine dem beliebten belarussischen Schriftsteller so viel bedeutete.
Der Autor des Librettos hatte die Freude und Ehre, mit den Ukrainern an der belarussischen Aussprache zu arbeiten. Unsere Sprachen ähneln sich in der Lexik stark, phonetisch sind sie aber völlig unterschiedlich, so dass man leicht ausmachen kann, wenn ein Ausländer spricht. Doch das musische Gespür der ukrainischen Künstler wirkte Wunder – und um ihre Aussprache auf der Bühne hätten sie selbst viele Belarussen beneidet.Ich weiß nicht, welchen Anteil die hervorragende Komponistin und welchen die brillanten Sängerinnen Tamara Kalinkina und Alena Arbusawa daran hatten, aber die Figur der Nadseja Janouskaja wirkte auf der Opernbühne stärker, emanzipierter und strahlender als es die eher blasse Figur der Heldin in der Buchvorlage tut. Ihre Partien waren für meinen bescheidenen Geschmack die unvergesslichsten des Abends. Vielleicht war es nach den Protesten von 2020 und der Rolle, die die Frauen dabei spielten, auch gar nicht anders möglich.
Zur Premiere reisten Belarussen aus verschiedenen Städten, Ländern und gar Kontinenten an, es kamen Belarussen und Ukrainer aus London. Den Großteil des Publikums machten aber dennoch die Briten aus. Alle vier Spieltermine waren ausverkauft. Am Ende jedes Mal die Rufe: „Slawa Ukraini!“ und „Shywe Belarus!“ Und natürlich die Antworten: „Ruhm den Helden!“ und „Ewig lebe es!“ Ein paar Mal fand auch ein gewisses Kriegsschiff eines anderen Landes Erwähnung.
Jeden Zuschauer erwartete auf seinem Sitz ein Brief der Hoffnung – eine Postkarte, gestaltet und beschrieben von ukrainischen Kindern, die der Krieg getroffen hatte. Das eine hatte sein Haus verloren, das andere seinen Vater an der Front, das dritte beide Eltern bei einem Raketenangriff. Doch die Briefe beklagten nicht den Schmerz, sondern wurden vielmehr von dem Wunsch getragen, dem Lesenden Hoffnung zu geben – vielleicht hatte auch er es nicht leicht. Es waren Briefe voller Herzlichkeit, hier und da sogar mit einer Prise Humor.
„Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas Neues zu finden.“ – Lew, 14 Jahre.
„Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da!“ – Sascha.
„Tu Gutes, und es kehrt zu dir zurück.“ – Walik, 9.
Und Artjom aus dem Gebiet Cherson schrieb: „Gib niemals auf. Respektiere deine Familie. Wenn du sie nicht respektierst, komme ich und reiße dir ein Ohr ab.“Der Saal des Barbican hat 1.500 Plätze, das macht bei vier Vorstellungen also insgesamt 6.000 Briefe.
Ich habe vier davon und bewahre sie gut auf.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
1.Übersetzung in Anlehnung an die deutsche Ausgabe, übersetzt aus dem Russischen von Ingeborg und Oleg Kolinko, Verlag Neues Leben, Berlin 1985 ↑
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Verbannt und verboten
Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.
Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.
Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič.
Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken.
Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien.
Der Verleger Andrej Januschkewitsch / Foto © Andrej Radoman
Die Eintagsbuchhandlung von Minsk
Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.
„Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“
Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein.
Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.
„Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch.
Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr
Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen.
„Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.
Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch.
Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch.
In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er.
Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus
Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten.
In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki.„Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er.Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch.
Das belarussische Regime ist antibelarussisch
Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“
Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage.
„Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten.
„Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.
Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert
Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger.
„Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“
Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“
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„Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“
„Wir spielen ehrliche Musik.“ Das sagte Dimitri Golowatsch, Gitarrist der belarussischen Band Tor Band, in einem Interview. Mit ins Ohr gehenden Refrains und Melodien und Texten, die das Gefühl der Proteste von 2020 aufgreifen, wurde das bis dato völlig unbekannte Trio zu einer der populärsten Bands, ihre Songs wurden Hymnen der damaligen Demokratiebewegung. Trotz der Repressionen, die sich auch gegen Kulturschaffende richten, blieben die Musiker in Belarus. Im Januar 2023 wurde die Band zur „extremistischen Vereinigung“ erklärt, bereits im Oktober 2022 waren die Musiker festgenommen worden, seit Mitte September läuft hinter verschlossenen Türen ein Prozess gegen die Mitglieder der Band – ihnen drohen bis zu zwölf Jahre Haft.
Der Journalist Michail Polosnjakow hat sich in einem Beitrag für Mediazona Belarus eingehend mit der weitgehend unbekannten Geschichte der Band und den Repressionen gegen die Musiker beschäftigt, die der Lukaschenko-Staat anscheinend derart fürchtet.
Tor Band aus der ostbelarussischen Kleinstadt Rogatschow (bel. Rahatschou), das sind Dimitri Golowatsch, Jewgeni Burlo und Andrej Jaremtschik. Sie schrieben den Songtext „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, wir sind das lebendige Volk, wir sind die Belarussen“. Das Musikvideo bekam mehr als eine Million Klicks, aufgenommen wurde es mit einzelnen Clips der Fans.
Als die Proteste abgeflaut waren, blieb Tor Band in Belarus, Dimitri Golowatsch arbeitete weiterhin im Kulturhaus von Rogatschow. Doch irgendwann kamen sie auch an die Reihe: zuerst ein eintägiger Gewahrsam, aus dem die Musiker nicht freigelassen wurden, später wurde die Rockband zur „extremistischen Formierung“ erklärt. Den Bandmitgliedern werden mehrere Straftaten vorgeworfen, darunter auch die Diskreditierung von Belarus.
Mediazona stellt die Geschichte der Band vor, die die Hymne der Proteste schrieb, und sprach dazu mit Denis Daschkewitsch, ein Aktivist aus Rogatschow und ehemaliger Direktor des Kulturzentrums im Dorf Pobolowo.Auftritt auf der Hauptbühne in Rogatschow am Unabhängigkeitstag
Zu Beginn des Sommers 2020 ging Denis Daschkewitsch mit seiner Familie in Gomel im Park spazieren. An diesem Tag hörte er aus „allen Autos“ das Lied Uchodi (dt. Hau ab) von Tor Band.
„Damals bekam ich sofort Angst um die Jungs“, sagt Daschkewitsch.„Hau ab! Friedlich, still und leise
Hau ab! Wir finden neue Ehrenleute
Hau ab! Jetzt ist die Zeit der Mutigen, nicht der Feiglinge
Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“Als 2019 in Rogatschow der Unabhängigkeitstag begangen wurde, bespielte Tor Band den zentralen Platz neben der Stadtverwaltung und donnerte mit einem mehrstündigen Konzert los. Daschkewitsch erinnert sich, dass „die Jugendlichen fast durchdrehten“.
Bandmitglied Dimitri Golowatsch erzählte in einem Interview. „Wir haben einen Song mit dem Text:
Die Revolution reift in uns heran,
im Innern reift Veränderung.
Weg mit den offenen Metastasen,
brich die Mechanismen des Systems.
Diesen Titel haben wir auf dem zentralen Platz von Rogatschow am Unabhängigkeitstag gespielt, Organisator war die städtische Ideologieabteilung!“Daschkewitsch sagt: „Bis 2020 gab es keinerlei Verdacht auf Opposition oder Terrorismus oder Extremismus. Das war eine Band, auf die die Stadtverwaltung von Rogatschow stolz war, über die in der Kreiszeitung geschrieben wurde.“
Dieselbe Zeitung schrieb im März 2023 über die Band: „Ab 2020 verstärkte das eingeschworene Kollektiv aus Rogatschow seine destruktive Aktivität enorm, indem es die Interessen verschiedenster oppositioneller Strukturen bediente, und die Belarussen buchstäblich zu Brudermord und anderen rechtswidrigen Handlungen drängte.“
Bevor sie Tor Band gründeten, spielten die Musiker in der Band Sex. Damals hatten sie Probleme mit der lokalen Verwaltung. Der Band wurde vorgeworfen, Drogenkonsum zu propagieren und Pornografie zu verbreiten. 2014 änderte die Band ihren Namen dann in Ojra. In den Texten dieser Gruppen kamen auch politische Motive vor.
Aus dem Titel Königreich der glücklichen Sklaven:
„Ich sitz auf meinem Arsch an einem geilen Platz,
ich bin der coole Gockel auf der gold’nen Hühnerstange,
Jetzt verbiete ich mal all die Festivals,
hab kein‘ Bock zu rackern, ihr könnt mich alle mal!“Im Song Ach, Leute fragen die Musiker: „Wie soll man da nicht fluchen, bei 200 Dollar Monatslohn“, und „in der Glotze tönen sie, alles sei so wie es soll“. 2014 spielte die Band Konzerte in Moskau, gemeinsam mit Lyapis Trubetskoy und der Band Lumen. Außerdem gingen sie auf Tour durch die Ukraine. Bis dahin war Jewgeni Burlo der Schlagzeuger, Dimitri Golowatsch sang und spielte Gitarre – heute sind sie zwei von drei Bandmitgliedern, die im Fall der 2017 gegründeten Tor Band angeklagt sind.
Jewgeni Burlo hatte bis 2020 etwa zehn Jahre lang als Tontechniker im Kulturhaus von Rogatschow gearbeitet. „Er war der wichtigste Tontechniker der ganzen Stadt“, erinnert sich Denis Daschekwitsch.
„Alle betonten sein hohes Niveau bei Tontechnik, Bühnentechnik und Ausstattung. Woanders mussten für größere Veranstaltungen Experten aus Minsk oder Gomel kommen. In Rogatschow war das nie ein Problem.“Dimitri Golowatsch machte derweil Fotos und Videos auf Hochzeiten. Daschkewitsch zufolge war die Musik nicht seine Haupteinkommensquelle, sondern eher ein Hobby, in das er viel Geld hineinsteckte.
Ein Lied wird zum Protesthit
Den Titel My – ne narodez (dt. Wir sind kein Völkchen), der zu einer der Hymnen der Proteste wurde und die Band bekannt machte, hatten sie im Juni veröffentlicht.
„Die Leute schreiben uns: ‚Was für ein cooler Protestsong!‘ Aber es ist ein patriotischer Song, kein Protestsong. Es ist ein Song darüber, was die Leute wirklich von sich selbst denken. Seine [Lukaschenkos] Phrasen über das ‚Völkchen‘ riefen bei mir und bei vielen anderen Leuten Empörung hervor. Das hat die Selbstliebe des belarussischen Volkes wirklich stark getroffen“, sagte Golowatsch in einem Interview mit Onliner im September 2020 (der Artikel ist von der Seite gelöscht, aber noch im Webarchiv auffindbar).
„Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge,
Wir sind ein lebendiges Volk, wir sind die Belarussen.
Mit Glauben im Herzen halten wir stand,
die Flamme der Freiheit über uns!“Für den Videoclip von My – ne narodez lud die Band ihre Fans ein, Videos davon aufzunehmen, wie sie den Refrain singen. Dimitri Golowatsch zufolge haben nicht alle mitgemacht, aber diejenigen, die in den Clip aufgenommen wurden, seien „die mutigsten und verwegensten“.
Vor dem Videodreh zu Shywje! (dt. Es lebe!) luden die Musiker per Insta-Livestream ihre Fans ein, nach Rogatschow zu kommen und im Video aufzutreten. „Als wir dann am Dnepr-Ufer die Unmenge von Autos sahen, wurden unsere Augen immer größer und in der Stadt ging das Gerücht um, eine Gang sei angerückt und bald würde wohl eine Schlägerei beginnen“, erzählte Golowatsch.
Noch vor dem Song My – ne narodez waren die lokalen Behörden auf die Band aufmerksam geworden. Dimitri Golowatsch berichtet, die Kreisverwaltung habe ihn angerufen und darum gebeten, weniger Aufmerksamkeit auf die Stadt Rogatschow zu lenken: „Die zentrale Aussage war: Wir wollen, dass in Rogatschow alles ruhig ist.“
Tor Band nahmen weiterhin Songs auf und produzierten Videos. Im Clip zu Kto, jesli ne ty (dt. Wer, wenn nicht du) treten 23 Familien auf. Kinder, Eltern und Musiker singen zusammen:
„Wer denn sonst, wenn nicht du?
Man schenkt uns wieder Glauben
Wir malen alles ganz weiß an
Und vertreiben all das Grau.“Im Interview mit Nasha Niva sagte Dimitri Golowatsch, Tor Band habe zum Ziel, „die stabile emotionale Haltung unseres Volkes zu unterstützen“.
Im März 2021 brachte die Band ein Album mit allen Protesthits heraus: Finita La Commedia.Wir waren überzeugt, dass alles vergessen sei
„Die Musiker waren davon überzeugt, dass alles vorbei sei – und Schluss. Jewgeni Burlo nahm einen Kredit auf und kaufte sich wenige Monate vor seiner Verhaftung noch ein teures Motorrad“, erzählt Daschkewitsch. Golowatsch arbeitete auch nach den Protesten weiter als Hochzeitsfotograf, und Burlo blieb Tontechniker im Kulturhaus. Er kündigte dort Anfang Oktober 2022, wenige Wochen vor seiner Festnahme.
Laut Denis Daschkewitsch war eine lokale Beamtin darüber sehr empört. Nachdem die Musiker festgenommen worden waren, hatte Daschkewitsch die Beamtin angerufen. Daschkewitsch gibt an, sie habe im Gespräch zugegeben, Jewgeni Burlo schriftlich denunziert zu haben.
Daschkewitsch gibt ihre Worte so wieder: Er habe nicht einfach nur gekündigt. Erstens habe er den Staat verraten, der ihm auf die Beine geholfen hat. Und zweitens sei er noch so dreist gewesen, die digitale Infrastruktur zu entfernen. Mit „digitaler Insfrastruktur“ meine sie eine lizenzpflichtige Software, die Burlo nach seinem Weggang als Tontechniker im Kulturhaus deinstalliert habe.„Ich sagte ihr, dass man dieses Programm zur Audioaufzeichnung aus dem Internet herunterladen kann. Habt ihr in der Kreisverwaltung etwa alle lizensierte Windows-Versionen? Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten“, erinnert sich Daschkewitsch.
Tor Band hatte noch ein weiteres Bandmitglied – den Bassisten Andrej Jaremtschik. Mediazona konnte nicht herausfinden, wann genau er zur Band gestoßen ist, und ob er 2020 dazugehörte. Neben seinem Musiker-Leben arbeitete Jaremtschik als Geschichtslehrer in der Mittelschule Nr. 5 in Rogatschow. Auf der Mitarbeiterliste der Schulwebseite ist er nach wie vor verzeichnet.
Plötzlich waren sie „Extremisten“ und Straftatverdächtige
Am 28. Oktober 2022 nahmen die Silowiki alle drei Bandmitglieder sowie zwei der Ehefrauen fest. Bei den Hausdurchsuchungen wurde das komplette Musik- und Computerequipment mitgenommen, sagt Daschkewitsch.
„Die hätten fast einen LKW gebraucht, um das alles wegzubringen. Allein bei Golowatsch haben sie sieben Gitarren mitgenommen“, erzählt eine Bekannte der Band.
Damals schrieb das Menschenrechtszentrum Wjasna, dass auch die Wohnungen jener durchsucht würden, die in den Videos der Band aufgetreten waren. Dimitri Golowatschs Ehefrau Julia wurde vom Gericht zu 960 Rubel Strafe verurteilt. Die Bandmitglieder und Jaremtschuks Frau Anna Musyka wurden für 15 Tage in Gewahrsam genommen, vorgeworfen wurde ihnen die Verbreitung „extremistischen“ Materials. Bis dahin war Tor Band in keinerlei „extremistischen Listen“ aufgetaucht, aber diese Informationen verbreiteten sich in den Betrieben von Rogatschow.
Am 4. November wurde die republikweite Liste der extremistischen Materialien um den Gerichtsbeschluss des Bezirksgerichts Gomel vom 29. August ergänzt. Die Social-Media-Seiten, der Youtube-Kanal und zehn Songs der Band wurden für „extremistisch“ erklärt. Am nächsten Tag wurden die Videos, die millionenmal angeschaut wurden, vom Youtube-Kanal der Band gelöscht.
Die Musiker kamen nicht nach 15 Tagen Gewahrsam frei, auch nicht nach 60 Tagen. Am 16. Januar erklärte der KGB die Band zu einer „extremistischen Vereinigung“. Neben den drei Bandmitgliedern nahm der KGB auch Julia Golowatsch in die Liste auf.
Die Bandmitglieder wurden in Untersuchungshaft überführt, gegen sie wurde Anklage erhoben. Man wirft ihnen Volksverhetzung, Bildung einer extremistischen Vereinigung, Diskreditierung des Landes und Beleidigung Alexander Lukaschenkos vor. Auf einen der Anklagepunkte stehen zwölf Jahre Freiheitsentzug. Der Gerichtsprozess begann am 14. September 2023 und wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt.
Laut Daschkewitsch hat sich Jewgeni Burlos Gesundheitszustand in der Untersuchungshaft ernsthaft verschlechtert. Er habe bereits früher an einer Krebserkrankung gelitten, aber „ohne kritischen Verlauf“. Zudem leide der Musiker dauerhaft unter Rückenschmerzen und nehme Schmerzmittel. Informationen von Wjasna zufolge wurde bei Burlo in der U-Haft eine Hüftgelenknekrose diagnostiziert, er wurde im Gefängniskrankenhaus behandelt.Über den Zustand der anderen Mitglieder von Tor Band ist nichts bekannt.
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Rahmen der Freiheit
Hunderttausende junge Russinnen und Russen haben nach Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine ihr Land verlassen – aus Angst vor der Einberufung oder weil sie politische Repressionen fürchten, wenn sie ihre Meinung offen sagen. Eine junge Künstlerin geht einen anderen Weg: Sie zieht aus Moskau zurück in den Ort, in dem sie aufgewachsen ist. In der Kleinstadt östlich von Kasan gründet sie mit Gleichgesinnten ein Kulturzentrum. Von der Stadtverwaltung gibt es keine Unterstützung. Hurra-Patrioten versuchen, ihre Veranstaltungen zu kapern. Politische Aussagen müssen sich die jungen Initiatoren verkneifen. Trotzdem sind sie überzeugt, dass Kunst die Menschen zu kritischem Denken anregen kann und wollen ihnen einen Freiraum bieten, um eigene Initiative zu entwickeln. Sie glauben, dass Veränderung damit beginnt, dass Menschen zusammenkommen und etwas Neues ausprobieren. Eine Reportage von The New Tab.
Im Juni 2023 wurde auf der frisch restaurierten Uferpromenade in der Kleinstadt Tschaikowski der Tag der Jugend gefeiert. Auf diesem „heißesten aller Feste“, wie es auf der Website des örtlichen Kulturpalastes hieß, standen Zelte von Jugendorganisationen, die in der Ukraine kämpfende russische Soldaten unterstützen. Bei einem Zelt der „Freiwilligen Helfer des Sieges“ stand eine Box mit Buchstabenkarten – die sich zu Lösungswörtern wie „Rus“ und „RF“ zusammenlegen ließen. Wer das schaffte, bekam einen Bonbon, weswegen sich dort viele Kinder drängten. „Wir gehen in die Schulen und schreiben zusammen mit den Schülern Briefe an die Soldaten. Die Kinder beteiligen sich aktiv, manche schreiben Witze, andere richten Grüße aus“, erzählte ein Freiwilliger von seiner Arbeit.
Vor dem nächsten Zelt tanzten Teenager der Bewegung der Ersten vor einem Plakat, das zum Dienst fürs Vaterland aufrief. Was das sei, der „Dienst fürs Vaterland“, konnten sie nicht beantworten. Sie sagten, sie „tanzen einfach“, wir sollten doch bitte die Älteren fragen. „Da bin ich überfragt“, gab eine der „Älteren“ zu, als wir sie fragten, was denn Patriotismus für ihre Organisation bedeute.
Ein Stück weiter am Ufer entlang hing an einem Baum hinter den Zelten ein Bild: eine Leinwand mit einem durchgestrichenen Symbol Z aufgemalt. Es wirkte deplatziert. Aufgehängt hatte es der Künstler Alexander Bessmertnych vom Kulturverein Gorisont, der seit 2022 in Tschaikowski aktiv ist. An Aktionen zur Unterstützung der „Spezialoperation“ nahmen die Vereinsmitglieder von Gorisont nicht teil: Sie haben, wie sie sagten, nichts übrig für das „unsinnige Pathos unter patriotischen Losungen“ und versuchen, die Entwicklungen in der Stadt zu fördern.
Gorisont wurde ein paar Monate nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine von der 25-jährigen Darja Kusnezowa gegründet, die aus Tschaikowski stammt und an der MGU in Moskau studiert hat. Als Studentin arbeitete sie dort in der Garage, einem Museum für moderne Kunst, wo sie eine junge Frau kennenlernte, die in ihrer Heimatstadt ein Kulturzentrum gegründet hatte – in der ehemaligen Konditorei ihres Großvaters. Diese Bekanntschaft inspirierte Kusnezowa, weil sie selbst immer davon träumte, so etwas in Tschaikowski anzufangen. Doch dann begann der Krieg.
„Die ersten zwei Wochen im Moskauer Februar war ich einfach nur apathisch, ein weißes Rauschen im Kopf. Ich war damals noch im Garage angestellt, da waren irgendwie alle so ambivalent“, erinnert sich Darja. „Ich stand vor der Entscheidung: Entweder wandere ich aus, oder ich gehe zurück nach Tschaikowski. In Moskau zu bleiben, war keine Option mehr.“
Ein Zentrum für moderne Kunst? Das Würde in Tschaikowski aufgenommen wie ein abgestürztes Ufo
Darja sagt, es sei ihr nach dem Februar 2022 leichter gefallen, in ihrer Heimatstadt zu leben als in Moskau. Dort fiel es ihr schwer, mit ihrer inneren Unruhe fertig zu werden. Sie zählt sich zur „Generation Boomerang“ – jenen Menschen, die nicht so gern in großen oder fremden Städten leben. Dinge wie Selbstreflexion fallen ihr in Tschaikowski viel leichter, vor allem jetzt, sagt sie.
Auf dem Weg nach Tschaikowski dachte Darja darüber nach, wie sie dort ein Zentrum für moderne Kunst gründen könnte, aber für die beste Idee hielt sie das nicht: In einer Kleinstadt wird so etwas aufgenommen „wie ein abgestürztes UFO“. Sie kam zu dem Schluss, dass die Bewohner eher Zugang zu Kunst finden würden, die sie selbst produzieren – das könnte ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Die Eröffnung eines solchen Zentrums nach Beginn des Kriegs erwies sich jedoch als schwierig.
„Einen Tag vor der Fahrt nach Tschaikowski las ich in den Nachrichten, wie unsere Stadt sich ‚hervorgetan hat‘: Im März 2022 der kyrillische Buchstabe З im Schriftzug des Busbahnhofs durch ein lateinisches Z ersetzt, das Symbol derer, die den Krieg unterstützen. Damals dachte ich: Mein Gott, ich fahre da mit der Hoffnung hin, die Kultur zu beleben, das Bewusstsein der Menschen zu erweitern, und dann so was …“
Doch Darja wollte es versuchen. Nach ihrer Ankunft in Tschaikowski führte sie gemeinsam mit dem Urbanisten Swjatoslaw Murunow und einem Team eine Umfrage in der Stadt durch, deren Ergebnisse sie bei einem Planungsseminar präsentierten. Murunow ist der Meinung, dass die Landschaft einer Stadt ihre Bewohner beeinflusst. Tschaikowski ist auf drei Seiten von Wasser umgeben, und von jedem Punkt aus ist der Horizont zu sehen – die Menschen neigen also zu einem Denken ohne starren Rahmen.
Zu dem Seminar waren auch Mitarbeiter der Stadtverwaltung eingeladen, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie Tschaikowski für seine Bewohner attraktiver werden könnte. Keiner der Beamten reagierte auf dieses Angebot.
„Angeblich habe der Bürgermeister gedroht, Mitarbeitern zu kündigen wenn sie zu unserem Seminar kommen, bei dem die Umfrageergebnisse der Stadtbewohner besprochen werden“, erinnert sich Darja. „Nur einen Spitzel haben sie geschickt – die Frau, die für die Pflege der Spielplätze zuständig ist und die Kanaldeckel austauscht. Aber die hatte mit dem Thema nichts zu tun, sie ist eher für die Haushaltsführung zuständig. Trotzdem war sie interessiert, sie ist sogar geblieben. Ich glaube, es gab da einfach ein politisches Moment.
Eine dann folgende Anfrage an die Stadtverwaltung von Tschaikowski, was sie von Kusnezowas Initiative hält, blieb unbeantwortet: Die Einen waren im Urlaub, die Anderen gingen nicht ans Telefon.
Die Mitglieder von Gorisont begriffen, dass von den Beamten keine finanzielle Unterstützung zu erwarten war, und entschieden mit Spenden von Einwohnern und Sponsoren zu arbeiten. Damit mieteten sie einen Raum neben dem ehemaligen Kino Gorisont an – ein graues, monumentales Gebäude, an dessen halbverfallener Fassade an Feiertagen wie dem Tag des Sieges Transparente mit Parolen aufgehängt werden oder Slogans über Tschaikowski als kulturelles Zentrum. In der Sowjetzeit war dieses Haus tatsächlich ein Jugendtreffpunkt. Der Kulturverein Gorisont hat nun den Namen übernommen, um der Jugend von heute neue Horizonte zu eröffnen, so Kusnezowas Idee.
Krieg und Politik spalten die Puschkin-Fans in zwei Lager
Die Gründer von Gorisont möchten die Jugend dazu anregen, in ihrer Stadt Kultur zu entwickeln – aber nicht im offiziellen Format, sondern kreativ und frei. Veranstaltungen, die mit Unterstützung des Kulturministeriums in Tschaikowski stattfinden, sind oftmals politisch. So organisierte zum Beispiel diesen Sommer die Stadtbücherei an Puschkins Geburtstag eine Lesung seiner Lyrik auf dem Puschkinplatz. Anhänger der „Spezialoperation“ kamen zu der Feier und behaupteten, Puschkin hätte den aktuellen politischen Konflikt vorhergesagt.
„Man höre und staune: Puschkin ist heute der Erzfeind der Ukrainer, die gegen Russland kämpfen, ein Erzfeind der Faschisten. Vorige Woche wurde in Kyjiw das letzte Puschkin-Denkmal gestürzt – so sehr fürchten diese Nazis unseren glorreichen russischen Dichter“, verkündete ein 83-jähriger Lyriker aus Tschaikowski namens David Wolk. (Allerdings stimmt das gar nicht: In Kyjiw gibt es mehrere Puschkin-Denkmäler, eines davon wurde 2022 gestürzt, und im Juni 2023 unterstützten die Behörden eine Petition der Bevölkerung, ein weiteres zu demontieren. Doch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels stand diese Statue noch genauso auf ihrem Platz wie die restlichen.) Danach verlas Wolk ein Gedicht über „faschistisch verseuchte Chochly“ und Russlands siegreiche Kriege. Die Zuschauer – Erwachsene und Kinder – applaudierten.
Auch Kusnezowa und ihr Gorisont-Team organisierten zu Puschkins Geburtstag ein Fest. Es traten Lyriker aus der Umgebung und eine Gruppe von Musikern auf. Als aber eine Bühne mit Open Mic für Puschkins Gedichte angeboten wurde, betrat eine Frau die Bühne, die sich als „Kind des Krieges“ bezeichnete. Anstatt ein Gedicht vorzutragen, fing sie an, über die „Spezialoperation“ zu sprechen. Kusnezowa sagt, sie mussten behutsam eingreifen, weil ihr Vortrag nicht zum Thema passte. Nach diesem Vorfall gab es keine Open-Mic-Veranstaltungen mehr.
Früher gab es im Gorisont öfter mal solche Veranstaltungen mit offener Bühne. Jede Woche präsentierten dort ortsansässige Autoren, sowohl junge Lyriker als auch Schriftsteller, die seit langem in den städtischen Medien publizierten, ihre Texte. Doch in letzter Zeit sind sogar bei solchen Veranstaltungen immer öfter die Themen Krieg und Politik aufgekommen, und dann wurde gestritten. Darja erinnert sich, wie einmal einer begann, „irgendwas über Walküren, Arier und die Rus“ vorzutragen. Weil niemand den politischen Charakter seines Gedichts begrüßte, beschimpfte er alle als „dekadent“ und kam nie mehr wieder.
Politische Themen werden bei Veranstaltungen ausgespart
Um solche Konflikte zu vermeiden, beschloss man im Gorisont, bei öffentlichen Veranstaltungen das Thema Politik auszusparen. Die Vereinsmitglieder sagen, sie wüssten „ohne Worte“, welcher Meinung die anderen seien, aber es sei sicherer, nicht laut darüber zu sprechen. Sie wollen Menschen mit einer anderen Position nicht ausschließen, wollen aber gleichzeitig auf keinen Fall die staatliche Propagandamaschine bedienen.
„Vor dem Tag des Sieges hatten wir eine Teamsitzung, bei der ein Vereinsmitglied, das die Front unterstützt, einen Workshop vorschlug, in dem Geranienzweige an Georgsbändern befestigt werden sollten“, erzählt Darja. „Als wir daran erinnerten, dass wir nichts mit Politik und Religion machen wollen, kam die Antwort: ‚Wieso? Das ist ja keine Politik.‘ Die Menschen verstehen leider oft nicht, dass das Georgsband politisiert ist. Aber wir möchten betonen, dass der Krieg kein Fest ist.“
Schließlich veranstaltete Gorisont am 9. Mai 2023 gar nichts und machte einen Schließtag. Dafür gab es am 22. Juni eine Lesung von Gedichten zum Großen Vaterländischen Krieg. Die Vereinsmitglieder finden, dass allein ein anderes Datum für Gespräche über den Krieg neue Impulse bringt.
„Der 22. Juni ist ein Trauertag. Der Tag des Sieges hat in unserer Gegenwart eine ganz andere Stimmung – die Idee, dass wir das alles wiederholen könnten, obwohl das natürlich keiner will. Der 22. Juni steht für den Kummer, die Trauer und die Tragödie. Das ist ein sehr deutlicher Unterschied“, erklärt das Vereinsmitglied David Jakunin. An diesem Tag versammelten sich im Gorisont junge Menschen und Verwandte eines ortsansässigen Dichters und Kriegsveteranen, der Gedichte über den Krieg schrieb. „So saß ich mit Leuten an einem Tisch, mit denen ich in meinem normalen Leben wohl nie ein Wort gewechselt hätte. Ich glaube, keine Parade zum 9. Mai kann Menschen so in Verbindung bringen wie derartige Begegnungen“, erzählte eine Besucherin nach der Lesung.
Das ist so etwas Ähnliches wie Zivilgesellschaft, sagt eine Besucherin
Ganz außen vor lassen kann Gorisont die Politik allerdings nicht. Bei den Ausstellungen örtlicher Künstler zum Beispiel, die häufig im Kulturzentrum stattfinden, stehen natürlich Kreativität und künstlerische Freiheit im Vordergrund. Einer der originellsten Maler, dessen Bilder im Gorisont zu sehen sind, ist Alexander Bessmertnych. Dessen Ausstellung Temporäres Fehlen einer Farbe, die im Frühjahr 2023 stattfand, war eine Reaktion auf die gesellschaftspolitischen Ereignisse in Russland. Alle Bilder waren zweifarbig: weiß und blau. „Das bezieht sich auf unsere Trikolore, das Rot ist ausgeschlossen“, erklärt der Künstler.
Vor ein paar Jahren gab es in Tschaikowski Street-Art-Kurse, und in den Straßen der Stadt tauchten immer wieder gesellschaftspolitische Graffiti auf. Vor Kriegsbeginn konnte man auf vielen Häusern Portrait-Stencils des Fernsehmoderators Wladimir Solowjow mit dem Schriftzug „Lüge“ sehen. Sie stammten von einem Einheimischen, der seine Arbeiten mit dem Pseudonym Deks signiert. Der Künstler und Street-Artist sane46 (er möchte nicht mit seinem echten Namen genannt werden), der aus Sankt Petersburg nach Tschaikowski zurückgekehrt ist, erzählt, dass an einem Eckhaus im Stadtzentrum an einer Wand dieses Porträt und an der anderen eine Verkaufsanzeige für Drogen war. Nach dem 24. Februar 2022 wurden die gesprayten Solowjows überstrichen. Die Werbung des Drogendealers durfte bleiben.
Wenn ein Bild aus vielen Punkten besteht – genau das ist Meinungspluralismus
„Ein Mensch, der in der Lage ist, sich auf Kunst einzulassen und etwas daraus für sich mitzunehmen, neigt von vornherein eher zu kritischem Denken“, ist sane46 überzeugt. In Ufernähe findet man auf einer Betonplatte eine Arbeit von ihm im Dotwork-Stil, aus lauter Farbtupfen zusammengesetzt. Sie heißt Blickpunkte. „Wir sehen jetzt, was aus einer Region wird, wenn eine Perspektive dominiert“, überlegt der Künstler. „Wenn ein Blickpunkt maßgeblich wird und alle anderen verdrängt, dann bleibt nur ein großer Fleck. Aber wenn das Bild aus vielen Punkten besteht, ergibt sich ein Porträt. Genau das ist, wie ich glaube, Meinungspluralismus und der Weg zu einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz.“
Zu lernen, verschiedene Perspektiven zu akzeptieren, sei ein Ziel von Gorisont, erklären die Mitglieder, daher gebe es unter ihnen Leute verschiedener Ansichten, auch was die Politik angeht. „Das ist so etwas Ähnliches wie Zivilgesellschaft“, sagt eine junge Frau, die das Kulturzentrum zum ersten Mal besucht. Sie glaubt, dass dank Organisationen wie dieser irgendwann einmal eine „menschliche Gesellschaft“ möglich sein wird.
„Wir würden gern unabhängig bleiben“, begründet Kusnezowa, warum sie nicht um Unterstützung der Gemeinde ansuchen, obwohl es finanziell manchmal schwierig ist. Jeden Monat wieder machen sie sich auf das Schlimmste gefasst: Die 63.000 Rubel Raummiete [etwa 600 Euro – dek] hatten sie noch nie im Vorfeld beisammen.
Im Juni 2023 erhielt das Kulturzentrum Gorisont vom Gouvernement eine Förderung für ein Festival der Urbanistik, Ökologie und Kunst. Unter den geförderten Projekten waren auch patriotische Initiativen. Das führte bei Gorisont zu einem internen Konflikt: Einerseits sind sie mit der aktuellen Politik ihres Landes nicht einverstanden, andererseits brauchen sie Geld vom Staat.
Noch kommen nicht viele Besucher, aber es werden langsam mehr
„Wenn dieses Geld schon irgendwo hinfließen muss, dann doch lieber zu uns als in die patriotische Erziehung oder ein idiotisches Kriegsspiele-Festival“, meint David Jakunin. Viele Gorisont-Mitglieder sehen das genauso. „Mir gefällt der Gedanke, dass das Geld, das sie uns für das Festival zuschießen, auch wenn es nur 500.000 Rubel [knapp 5000 Euro – dek] sind, eine Summe ist, die sie nicht für irgendeinen widerlichen Scheißdreck ausgeben können“, erklärt sane46.
Seiner Meinung nach ist es das Wichtigste, die Grenzen zu kennen, die man nicht überschreiten darf. „Direkt vor unserem Gespräch fragte mich eine Frau, ob ich nicht etwas zur Spezialoperation zeichnen will. Mach ich nicht, ich hab dazu meine festen Ansichten“, erzählt sane46. Er hätte sich an der Gestaltung der neu eröffneten „Gedenkwand“ beteiligen sollen, einer Installation zu Ehren der Soldaten, die in Afghanistan, Tschetschenien und der Ukraine gefallen sind.
Noch kommen nicht so viele Besucher ins Gorisont, aber die Mitglieder merken schon, dass es mehr werden. „Wir wollen zeigen, dass es nicht schwer ist, eigene Events und eine eigene Szene zu schaffen“, erzählt David Jakunin. Die Passivität der Stadtbewohner führen sie darauf zurück, dass es in Russland generell schwierig geworden ist, Initiative zu zeigen: Sie wird sofort unterdrückt. Doch solange es Gorisont gibt, wollen seine Mitglieder „der Bevölkerung jenen Freiraum zeigen, in dem man immer noch etwas Eigenes machen kann“:
„Wir alle haben ein Recht auf unsere Stadt, auf unser Land“, sagt Darja inspiriert. „Ihr braucht nicht darauf zu warten, dass etwas von oben kommt. Ihr könnt hier und jetzt die Verantwortung übernehmen und selbst anpacken. Und ich würde mir wünschen, dass die heranwachsende Generation begreift, dass sie nicht Geisel ihres Landes ist.“
Nach unserem Hinweis, dass die jungen Russen, die für ihre künstlerischen Aktionen vor Gericht stehen, sehr wohl Geiseln des Staates geworden sind, räumt Darja ein, dass es momentan besser sei, seine Ideen nur „im Rahmen des Erlaubten“ zu verwirklichen. „Künstler haben manchmal das Bedürfnis, provokative Bilder zu malen. Wir versuchen, das zu vermeiden, um die Möglichkeit nicht zu verlieren, uns vorsichtig zusammenzutun und zu zeigen, dass es in Russland immer noch Menschen gibt, die etwas machen möchten.“
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Ein Theaterstück vor Gericht
Seit dem 5. Mai sitzen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch wegen des Theaterstücks Finist jasny sokol (dt. Finist, heller Falke) in Moskau in Untersuchungshaft. Swetlana Petriitschuk hat das Stück geschrieben, Shenja Berkowitsch hat es inszeniert. Am 31. August wurde den Theaterfrauen der von der Novaya Gazeta ins Leben gerufene Kammerton-Preis verliehen, der nach Anna Politkowskaja benannt ist. In der Preisbegründung heißt es: „… für die Wahrheit im Leben und auf der Bühne.“ Zum ersten Mal wurde der Preis nicht an Journalisten verliehen – und außerdem in Abwesenheit der Preisträgerinnen. Denn die Untersuchungshaft der beiden wurde bei der gerichtlichen Anhörung am 6. September zum zweiten Mal verlängert: diesmal bis zum 4. November.
Das Theaterstück Finist, heller Falke nach dem Text von Swetlana Petriitschuk und unter der Regie von Shenja Berkowitsch lief in Moskau seit 2020. Im Frühjahr 2022 erhielt es den größten nationalen Theaterpreis, die Goldene Maske (Solotaja maska). Swetlana Petriitschuk wurde im Rahmen der Goldenen Maske außerdem persönlich für das beste dramatische Werk ausgezeichnet. Das Stück basiert auf einem klassischen russischen Märchen und handelt von russischen Frauen, die über das Internet mit Männern des IS in Kontakt kommen, heiraten und nach Syrien gehen. Dem Dokumentartheaterstück liegen neben dem Märchen Gerichtsunterlagen aus Prozessen gegen diese Frauen zugrunde.
Wie kann nun ein Theaterstück vermeintlich zur Straftat werden? Beschuldigt werden die beiden Theaterfrauen der „Rechtfertigung von Terrorismus“ oder genauer nach Artikel 205.2 Paragraph 2 des russischen Strafgesetzbuchs: Darin geht es um „öffentlichen Aufruf zu terroristischen Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propaganda für den Terrorismus“. Mit dem Fall Finist wird erstmals in Russland ein Theaterstück als Text vor Gericht gebracht.
Die Verhaftung der Theaterfrauen im Mai erfolgte auf Grundlage eines „komplexen destruktologischen Gutachtens“ des Religionswissenschaftlers Roman Silantjew und seiner Kollegen, der ein entsprechendes Fach der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität leitet. Die „Destruktologie“ ist keine international oder in Russland anerkannte Wissenschaft. dekoder-Gnosistin Henrike Schmidt hat gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Verbands der deutschen Slavistik ein Gegengutachten erstellt.
Die Slavistinnen und Slavisten zeigen als Experten für Literatur und damit für fiktionale Texte, wie in dem Gutachten die Aussagen von literarischen Figuren willkürlich als solche der Autorin (Regisseurin) missinterpretiert werden. Sie unterstreichen, dass die „Destruktologie“ eine Pseudowissenschaft ohne ausformulierte Methode ist. Das wurde im Juni 2023 sogar vom Zentrum für gerichtliche Expertisen des russischen Justizministeriums in einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt.
Zu Darstellung des behaupteten Straftatbestands veröffentlicht dekoder einen Ausschnitt aus dem Theatertext in deutscher Übersetzung.
Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch werden der „Rechtfertigung von Terrorismus“ beschuldigt / Foto © Stanislav Krasilnikov/SNA/imago images
PERSONEN
MARJUSCHKA (steht stellvertretend für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre [vom IS – dek] angeworben wurden)
RICHTERIN
AUGUSTINUS VON HIPPO
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]Dramaturgische Notiz
Zum Märchen
Zentral für das Stück ist das russische Zaubermärchen Die Feder von Finist, dem lichten Falken aus der Märchensammlung Narodnyje russkije skaski (1855–1863; Russische Volksmärchen) von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sowie Finist, heller Falke von Nikolaj Schestakow (1894–1974). Das Märchen gehört zur russischen Volksliteratur. Es ähnelt in den Motiven am ehesten dem Märchen der Brüder Grimm Das singende, springende Löweneckerchen.
Die jüngste von drei Töchtern wünscht sich von ihrem Vater eine Feder von Finist, dem hellen Falken. Als die jüngste Tochter die Feder abends fallen lässt, verwandelt sie sich in einen Zarensohn. Ihre Schwestern sind eifersüchtig und verletzen den Falken, der daraufhin fortfliegt und der jüngsten Tochter nur noch zurufen kann, dass sie hinter dreimal neun Ländern nach ihm suchen soll, dass sie drei Paar eiserne Schuhe durchlaufen, drei eiserne Wanderstäbe durchbrechen und drei eisenharte geweihte Brote essen muss, bevor sie ihn finden kann. Sie macht sich auf den beschwerlichen Weg, um ihn zu finden und muss viele Hindernisse überwinden, bis beide endlich heiraten können.
Zu den Namen [Name gelöscht]
Die Autorin hat sich entschieden, den Angeklagten keine Namen zu geben, die Personen heißen Angeklagte oder [Name gelöscht]:
Swetlana Petriitschuk: „[Name gelöscht] ist eine häufig verwendete Formulierung in gerichtlichen Entscheidungen, die in Russland veröffentlicht werden, wenn die Ermittlungen nicht vollständig abgeschlossen sind. Solche Formulierungen finden sich häufig in Sätzen über Fälle, in denen Terrorismus unterstützt wird – einschließlich den realen Dokumenten, die im Stück vorkommen. Diese Formulierung ist eine Metapher für die jungen Frauen selbst, die ihren richtigen Namen verweigern, zu einer anderen Religion konvertieren und, beeinflusst von neuen Ideen, ihre Persönlichkeit auslöschen.“
Marjuschka steht stellvertretend für alle Angeklagten, sie steht für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre angeworben wurden. Die Gerichtsurteile, die in dem Stück genannt werden, sind dokumentarisch und basieren unter anderem auf der Geschichte der damals neunzehnjährigen Warwara Karaulowa, die vom IS angworben und von Interpol zunächst als vermisst gesucht wurde, später als Zeugin vernommen und dann selbst angeklagt wurde.
Zum dreißigsten Königreich
Der Ausdruck wird synonym für „In einem fernen Land“ oder „Hinter den sieben Bergen“ gebraucht. Im Russischen ist er zugleich ein Synonym für den IS und wird immer mit dem Hinweis versehen, dass die Organisation in Russland verboten ist.
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Anweisung №1:
Wie der Ritus der islamischen Ehe, Nikāḥ, über Skype durchzuführen istViele islamische Wissenschaftler erkennen die islamische Ehe, Nikāḥ, über Skype nicht an. Dies wird mit Stellen aus der Schrift „Rawzat at-Talibin“ begründet:
Das Angebot und die Annahme von Nikāḥ müssen in Anwesenheit von Zeugen im selben geografischen Raum erfolgen. „Wenn eine Person die Worte der feierlichen Eheschließung an jemanden geschrieben hat, der nicht anwesend ist, dann wird eine solche Ehe nicht als gültig angesehen …, da sie unter eine Kategorie fällt, die als Kinayat bekannt ist, was ein indirekter Ausdruck ist. Und die Ehe durch indirekte Wörter wird nicht als gültig angesehen. Die technischen Neuheiten unserer Zeit eröffnen allerdings ganz andere Möglichkeiten, als die erste Generation von Muslimen überhaupt erahnen konnte. Grundlegend bei der Eheschließung ist die Anwesenheit des Bräutigams, der Braut und der Zeugen; die Zeugen sollen den Heiratsantrag hören können und bestätigen, dass sie ihn gehört haben. Wenn die eheschließenden Parteien und die Zeugen an einer gemeinsamen Skype-Sitzung teilnehmen, wenn die Zeugen die Braut und den Bräutigam „live“ sehen und gleichzeitig die Rede der beiden hören, ist eine solche Eheschließung gültig, da Schummeln oder blindes Vertrauen in eine Stimme ausgeschlossen werden können. Die Verfahrensweise des Online-Ritus ist äußerst einfach. Am vereinbarten Tag wird in unserem Büro ein Notar für Eheangelegenheiten anwesend sein. Die Zeremonie findet in einer geschmückten Empfangshalle statt, wo Sie und Ihr Bräutigam auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von mindestens 72 cm zu sehen sein werden. Die Halle ist mit technischen Neuheiten für Ton- und Videoübertragung eingerichtet, so dass Sie ohne jegliche Hindernisse die nötigen Worte austauschen können. Nach der Zeremonie erhalten Sie ein Zertifikat und, falls erwünscht, das Video der Frontkamera. Bei Fragen wenden Sie sich bitte telefonisch an unsere Firma [Name gelöscht].
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RICHTERIN
Angeklagte, unter welchen Umständen haben Sie versucht, unbefugt die Grenze der Türkei und der Syrischen Arabischen Republik zu überqueren und ins Territorium zu gelangen, welches von der in Russland verbotenen terroristischen Vereinigung kontrolliert wird?ANGEKLAGTE
Es war neben der Stadt Batman. Die Kurden nennen sie Elich. Wir fuhren lange mit dem Auto. Der Innenraum roch nach Benzin, alle Türgriffe waren abgesprengt, neben mir saßen zwei Frauen, bei einer ist das Kind müde vom Weinen eingeschlafen. Es wurde dunkel. Der Fahrer stoppte, zeigte in Feldrichtung, sagte: „Dahin gehen wir“. Es war nichts zu sehen, ich musste pinkeln. Das Kind begann wieder zu weinen. Die Grillen schrillten. Der Rock hakte an den Dornen. Ich fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Damit ich mich nicht so furchtbar fühlte und um mich zu beruhigen, wiederholte ich den Abzählreim „Aten Baten, ging´n Soldaten“, – kennen Sie den? Der Fahrer sagte, uns treffe ein bestimmter Mann. Deshalb freuten wir uns, als die Lichter auftauchten und der Hund bellte. Aber es war die kurdische Streife. Sie begannen zu schreien, alle sollten sich auf den Boden hinlegen, sie stießen uns mit den Gewehrläufen, ich fiel hin und mein Gesicht wurde zerkratzt. Wir wurden verhaftet.RICHTERIN
Sie sind nach Syrien gefahren, um eine Terroristin zu werden?ANGEKLAGTE
Ich bin hingefahren, um zu heiraten.RICHTERIN
Wen?ANGEKLAGTE
Finist. Wlad. Karim. Nadir – ich kenne seinen Namen nicht. Aber er ist mein Zukünftiger, mein Glück, mein heller Falke.RICHTERIN
Unter welchen Umständen haben Sie beide sich kennengelernt?ANGEKLAGTE
Er hat mir in der Gruppe Spartak auf Vkontakte geschrieben. Er hat gesagt, er ist 21 und Nationalist. Wir? Wir haben über das Leben und über Fußball gesprochen. Ich ging mit meinem Hund etwas früher raus, sperrte mich dann im Zimmer ein, machte den Laptop an, und ein Supertyp erschien am Bildschirm. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.RICHTERIN
Wegen Fußball?ANGEKLAGTE
Wegen dem Schaumkuchen. Er hat nie über seine Familie gesprochen, aber einmal hat er gesagt, als er klein war, hat seine Mutter für ihn immer Schaumkuchen gebacken. Und seine Frau soll ihm auch Schaumkuchen backen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie ich für ihn Schaumkuchen backe, das Rezept habe ich im Internet gefunden. Ich habe mich dabei so gut gefühlt. Und da habe ich verstanden, dass wir beide seelenverwandt sind.RICHTERIN
Was wissen Sie noch über ihn?ANGEKLAGTE
Da, wo er geboren wurde, ziehen die Frauen Ende März ihre Stiefel aus und ihre Schuhe an. Es bedeutet, dass Frühling ist. Dass alle Männer aus seiner Familie mal graue, mal grüne Augen haben, abhängig vom Wochentag. Dass er ein Held ist, und dass ich ein Nichts bin, er mich aber so liebt, so minderwertig wie ich bin. Vorgestellt hat er sich unterschiedlich. Ein Videobild von ihm habe ich nie gesehen. Hat er nicht geschickt, weil die Kamera lügt und das Herz – nicht. Finist hat mir verboten, mit anderen Männern zu sprechen, und ich habe verstanden, dass er es ernst meint mit mir.Einmal hat er mich geblockt dafür, dass ich einen Wanja in Vkontakte als Freund bestätigt habe. So sind drei Jahre vergangen. Dann begann er über den Islam zu sprechen. Am Anfang nur ab und zu und danach immer häufiger. Über andere Dinge zu sprechen, weigerte er sich. Er erklärte mir alles so schön, und alles war für mich interessant. Besonders über die Frauen. Er sagte, dass die Rechtlosigkeit der Frauen im Islam nur ein Klischee sei, dass eine Frau immer von ihrem Mann behütet wird und wenn sie arbeiten möchte – dann arbeitet sie, wenn nicht, dann nicht, und der Mann soll sie umsorgen. Ich mochte diese Ideen. Und dann habe ich mich dafür entschieden, mich zu seiner Religion zu bekehren. Er sagte, dafür bräuchte ich niemanden, in die Moschee müsse ich auch nicht gehen, man müsse lediglich spezielle Worte sprechen und eine Waschung in einer Waschschüssel machen. Ich habe mir einen neuen Namen ausgedacht, habe beschlossen, dass ich [Name gelöscht] genannt werde. Er hat es genehmigt.
RICHTERIN
Wie sind Sie zu dem Entschluss gekommen auszureisen?ANGEKLAGTE
Finist mein Falke verschwand auf einmal – kein Brief, keine Nachricht. Ich habe kiloweise Schaumkuchen gegessen, bin nicht mehr mit meinem Hund Gassi gegangen, habe fünf Mal am Tag gebetet und sündhafte Gedanken vertrieben, er tauchte aber nicht mehr auf. Und nach einigen Monaten kam eine Nachricht von einem neuen Profil, in dem stand, dass er sich in das Dreißigste Königreich aufgemacht hat, um für sein Glauben zu kämpfen. Er begann, mich einzuladen. Sagte, ich würde seine Frau sein, ich würde behütet sein, ich würde viele Freundinnen haben und das Leben würde schön sein, mit dem Krieg hätte ich nichts zu tun. Er sagte, im Dreißigsten Königreich lebten die echten Muslime, kein Trinken, kein Rauchen, die Leute behandelten einander gut, ohne Ausnahme. Er hat gefragt, ob ich ihn liebe. Er hat gesagt, wenn eine ihn liebt, findet sie ihn, und wenn sie dabei drei Paar eiserne Schuhe auftragen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrechen, drei eiserne Kappen abreißen und drei eisenharte geweihte Brote essen müsse.RICHTERIN
Und da haben Sie beschlossen, sich auf den Weg ins Dreißigste Königreich zu machen?ANGEKLAGTE
Ich habe mir drei Paar eiserne Schuhe, drei eiserne Wanderstäbe, drei eiserne Kappen bestellt, habe 20 Dollar, die von meinem Geburtstag übrig waren, aus der Spardose genommen. Am vereinbarten Tag wurde ich kontaktiert, mir wurde das Flugticket geschickt und gesagt, ich solle abreisen. Ich hab meiner Mutter geschrieben, dass ich in die Uni fahre, habe einen zweiten Rock in die Tasche gepackt, und neue Dessous auch – die hatte ich schon länger mal bei Intimissimi für eine besondere Gelegenheit gekauft – und habe mich auf den Weg über Berg und Tal gemacht, um den ersehnten Finist, den hellen Falken, zu suchen. Im Flughafen von Istanbul, nach der Passkontrolle, Tuch übergezogen, festgesteckt, Handy angeschaltet – und da waren bereits alle weiteren Anweisungen.3
Anweisung № 2:
Wie ein Hidschab richtig anzuziehen istSie brauchen ein Tuch viereckiger Form. Wählen Sie ein Tuch aus Satin oder Baumwolle für warme und heiße Tage und ein dichteres Wolltuch für kalte Tage. Sie benötigen auch zwei Haarklammern oder Haarnadeln. Falten Sie die obere rechte Ecke mit der unteren linken Ecke. So wird das Tuch in Form eines Dreiecks gefaltet. Legen Sie das Tuch über den Kopf. Zwei Spitzen sollen auf die Schultern fallen. Heften Sie das Tuch unter dem Kinn fest. Öffnen Sie den Mund in der Weise, als ob Sie ein „O“ sagen, so ist es Ihnen möglich, Ihren Kiefer zu bewegen, ohne dass der Hidschab verrutscht. Legen Sie die linke Spitze des Tuches nach rechts um und die rechte Spitze nach links. Vergewissern Sie sich, dass der Hidschab festsitzt und nicht rutscht. Denken Sie daran, dass die Haare und der untere Teil des Kinns nicht zu sehen sein sollen: dieser Bereich gehört zum Gesicht und soll folglich bedeckt bleiben, genau wie der Hals. Die Frauen, deren Hals und Haare zu sehen sind, sind Sündige, da sie von fremden Männern gesehen werden.
ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
Ich bin in der Familie eines Chirurgen aufgewachsen, am Gymnasium hatte ich Mathe und Physik als Schwerpunkt, ich habe Punk und Hardcore gehört und die Filme von DC und Marvel geliebt. Und danach habe ich den Koran gelesen, und es wurde zum Schock: Dort steht geschrieben, dass unser Weltall sich ausdehnt, dass unser Himmel und unsere Erde am Anfang eine einheitliche „Wolke“ waren und danach getrennt wurden, dort ist der Ursprung der Fötus-Entstehung und noch vieles andere. Und ich habe gespürt, dass diese Lehre keine Schöpfung eines Menschen sein kann, dass es etwas unvergleichbar Größeres ist. Auf diese Weise nahm ich den Glauben an, habe die Schahāda gesprochen, bin Muslima geworden, habe begonnen den Salāt zu lesen. Die Frage nach dem Hidschab habe ich wie die Sorge des Schöpfers über mich wahrgenommen. Ich begann zu beten, damit der Schöpfer mir helfen würde mich so zu verschleiern, dass es ein Segen für mein jetziges Leben und für das nächste nach dem Tod werde.ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
In einem Hidschab fühle ich mich unter göttlicher Schirmherrschaft, geborgen vor der äußeren Hektik. Er gibt mir eine Empfindung von Einheit, von Ruhe. Keine Sehnsucht danach, dass der Wind durch mein Haar weht. Selbst im Sommer juckt die Kopfhaut nicht. Manchmal fahre ich U-Bahn und es scheint mir ein Wahnsinn, dass die Frauen sich zeigen. Alle Religionen sagen doch, dass eine Frau wie in einem Kokon sein muss, umhüllt sein muss. Der Hidschab schützt Frauen nicht nur vor fremden Blicken, sondern auch vor sich selbst. Eine Frau ist eben ein schwaches Wesen, von ihr geht die meiste Verwirrung und das Schlechte aus, darum obliegt uns eine große Verantwortung – wir sollen unsere Schönheit lieber nicht zur Schau stellen.ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
Hätte ich figurbetonte Kleidung an, würde ich mich wie eine Diebin fühlen. Ich hätte das Gefühl, meinem Mann etwas zu stehlen und es einem Fremden zu schenken, einem, der in keiner Weise Sorge um mich getragen und mir nie einen Cent gegeben hat. Der Hidschab schützt vor den Blicken der Männer, vor denen, die dich wie ein Stück Fleisch anschauen, und verbirgt dich vor den Sünden der Welt. Der Hidschab hat mich glorifiziert und nicht erniedrigt. Falls ich eine Tochter bekomme, erkläre ich ihr von Kindheit an, dass ein Hidschab eine Verpflichtung ist, die ihr selbst zugute kommt.4
Anweisung № 3:
Wie man eine Halal Torte backtDamit Backwaren den Halal-Anforderungen entsprechen, vergewissern Sie sich, dass bei der Zubereitung keine alkoholischen Zutaten verwendet werden. Auch geringe Mengen von Alkohol, zum Beispiel wenn der Fondant damit bestrichen oder Lebensmittelfarbe verdünnt wird, sind verboten und die Torte darf nicht verzehrt werden. Oft wird Gelatine verwendet, die aus Schweineknorpel zubereitet wird, was sie auch verboten macht. Auf dem Produkt sollen keine Bildnisse lebender Kreaturen angebracht sein. Wichtig ist zudem, dass während jeder Essenszubereitung der Name des Schöpfers erwähnt wird.
RICHTERIN
Nach dem bisherigen Ermittlungsstand des Strafverfahrens hat das Tljaratinsker Bezirksgericht bezüglich der Angeklagten, geboren 1990, gebürtig und wohnhaft in der Siedlung Wizjatli, Kreis Zuntin, wegen des Verdachts einer Straftat gemäß Artikel 208 Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:a) die Angeklagte habe eine die Mitglieder einer illegalen, bewaffneten Vereinigung fördernde Handlung verübt, unter folgenden Umständen:
aa) Im November 2011, ein genaueres Datum und die Zeit wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt, kam die Angeklagte zu Ihrer Schwester zu Besuch. In derselben Nacht, gegen 23 Uhr, kamen zu dem oben genanntem Haushalt vier Mitglieder der illegalen, bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya, und zwar [Name gelöscht]. Aus eigenem Antrieb, mit dem Ziel, die Tätigkeit der Vereinigung zu unterstützen, habe die Angeklagte den obengenannten Mitgliedern der Vereinigung Zuntinskaya zugesagt, Hilfe zu leisten. Und zwar habe sie für sie den Tisch gedeckt: zwei Brote, acht Stücke Käse, eine Dose Salzgurken. Aus persönlichen religiösen Motiven, im Bewusstsein ihrer rechtswidrigen Tätigkeit, buk die Angeklagte für die oben genannten Mitglieder der illegalen bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya einen Kuchen, den sie dann verzehrten.
Rezept des Halal Schokoladenkuchens mit Mandeln und kandierten Früchten
Um den Kuchenboden zuzubereiten, Mehl, Butter, Zucker und ein Ei zufügen, alles verrühren, den Teig mit einer Folie umhüllen und für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen. Den Ofen auf 190 °С anheizen, den Teig ausrollen, in eine Form legen, den Rand drei Zentimeter nach oben einrollen, dann 30 Minuten im Ofen backen. Für die Füllung Nelken in einer Kaffeemühle oder einer Mühle zermahlen, die Schokolade zerbröckeln, Butter und Schokolade in einem Wasserbad schmelzen lassen. Die Mandeln und einen Teil der kandierten Früchte zerkleinern, der Schokocreme zufügen, verrühren. Eier mit Zucker schlagen, mit der Schokocreme verrühren. Die Torte zwei Stunden nach der Zubereitung servieren. Ein Stück Halal-Torte aus Mürbeteig, gefüllt mit einer Schoko-Mandel-Creme und verfeinert mit kandierten Früchten ist ein Liebesbeweis und eine Aufmerksamkeit für Angehörige und Freunde.
RICHTERIN
In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht der Angeklagten im Wesentlichen folgendes zur Last:a) Die Angeklagte hat vorsätzlich eine nach Artikel 208, Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verbotene Straftat begangen – Unterstützung einer illegalen, bewaffneten Gruppierung. Mit Rücksicht auf den Charakter und den Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der begangenen Tat, auf den Charakter und auf den faktischen Grad der Mitwirkung der Angeklagten, die Bedeutung dieser Mitwirkung zur Durchsetzung der kriminellen Ziele der Straftat, beschließt das Gericht:
aa) es ist von einer fehlenden Besserungsaussicht auszugehen, was die Freiheitsstrafe unentbehrlich macht
bb) die Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt.5.
RICHTERIN
Ist es Ihnen Recht, wenn wir Sie weiter Marjuschka nennen?MARJUSCHKA
Ich brauche mich nicht daran zu gewönnen.RICHTERIN
Was planten Sie im Dreißigsten Königreich zu tun?MARJUSCHKA
Zu kochen. Kleidung zu waschen. Eine Frau zu sein, wie der Schöpfer und meine Physiologie es befehlen. Und den Schaumkuchen zu backen, nun das habe ich bereits gesagt.RICHTERIN
Gab es denn in Ihrem Heimatland niemanden daheim, für den Sie Kleidung waschen konnten?MARJUSCHKA
In meinem Heimatland gibt es keine Männer, nur Steppenroller. Pflanzen ohne Wurzeln, vom Wind getrieben. Keine Überzeugungen, nur Halbherzigkeiten. Finist dagegen ist das Ideal eines Mannes, das äußerst schwierig zu finden ist in der modernen westlichen Gesellschaft, er ist die Gestalt eines kräftigen, furchtlosen Mannes, der bereit ist zu töten und für seine Ideale zu sterben.RICHTERIN:
Nehmen wir also Folgendes an. Sie sind am Istanbuler Flughafen angekommen. Sie sind durch die Ebenen, durch den dunklen Wald und über hohe Gebirge gewandert. Der fröhliche Gesang der Vögel erfreute Ihr Herz, die Bäche wuschen Ihr Gesicht, die dunklen Wälder grüßten Sie. Niemand konnte Marjuschka etwas zuleide tun: Die grauen Wölfe, die Bären, die Füchse – alle Tiere sind ihr zugelaufen. War das alles so?MARJUSCHKA:
Fast. Am Flughafen habe ich ein Taxi genommen. Dem Fahrer habe ich die Nummer gegeben, die mir per WhatsApp noch während des Fluges zugesandt wurde. Der Taxifahrer hat die Nummer gewählt und ihm wurde erklärt, wohin zu fahren ist. Er wollte zunächst nicht, doch es wurde ihm ausreichend Geld versprochen. Während er mich gefahren hat, habe ich meiner Mutter ein SMS gesandt, damit sie nicht vergessen würde, mit dem Hund rauszugehen. Bei der Einfahrt zum Haus hat mich ein Tschetschene empfangen, meine Tasche hat er nicht genommen, die habe sie selbst aus dem Kofferraum geholt. Der Taxifahrer ist sehr schnell weggefahren, ich glaube nicht, dass er nach Geld gefragt hat. Der Tschetschenen-Bruder hat gesagt, ich sei jetzt unter Gleichgesinnten und hat mich in die Wohnung geführt. Hinter der Tür waren viele Schuhe und in der Wohnung war es total still. Die Sofas waren durchgelegen, es war heiß und den Ventilator durfte man nicht benutzen. Es roch nach Erbsen und nach gewaschener Wäsche. In der Wohnung waren sechs Frauen, viele mit Kindern. Aus Russland, aus Kasachstan und auch aus Aserbaidschan. Mir wurde gesagt, meine SIM-Karte sei wegzuwerfen und Surfen im Internet sei verboten. Das Verlassen der Wohnung war untersagt. Ein Mädchen aus Baku hat die ganze Zeit geweint und mir war auch sehr nach Weinen zumute, aber ich hatte Angst, dass es jemand dem Finist erzählt. Zum Schlafen haben wir uns auf den Boden gelegt – alle Frauen in einem Zimmer, und die Kinder in der Mitte. Ich habe geträumt, dass ich an der Uni in der Philosophie Vorlesung sei. […]
Ende des Textausschnitts. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drei Masken Verlags
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